Spanien, Griechenland, Portugal: Wachsende Wut über die Krise

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Am 15. September gingen über 700.000 Menschen auf die Straßen Lissabons und anderer portugiesischer Städte, um gegen die Sparpolitik der neuen Regierung von Pedro Coelho zu demonstrieren. Ein siebenprozentiger Anstieg der TSU – eine einheitliche Sozialversicherungssteuer – für ArbeiterInnen zusammen mit einer 5,75%-igen Kürzung der Beiträge der Bosse stand hinter diesem spontanen Zornesausbruch, der die offiziellen Gewerkschaften außen vor ließ. Die Demonstrationen waren vorwiegend durch soziale Netzwerke organisiert worden. Angesichts des massiven Ausmaßes der Demonstrationen schien die Regierung zeitweilig den Rückzug anzutreten. Jedoch sollte man sich keine Illusionen machen: Dies macht sie nur, um morgen noch effektiver mit denselben Maßnahmen aufzuwarten, dies zudem mit dem Beistand von Gewerkschaften wie die CGTP (Allgemeine Konföderation der portugiesischen Arbeiter), die nächstes Mal besser positioniert sein werden, um das Terrain zu besetzen, wie sie dies mehr als ein Jahr lang getan haben, und die ihren eigenen Beitrag leisten, um die Sparmaßnahmen durchzupauken. Die CGTP reagierte schnell, um die Kontrolle über die Bewegung zu erlangen. Sie rief sofort zu einer neuen Demonstration für den 29. September auf, die diesmal von ihren eigenen Vertrauensleuten beaufsichtigt werden und unter ihren eigenen Schlachtrufen stehen sollte – eine Demonstration, die allerdings weitaus weniger Zulauf hatte.

In Griechenland gab es am 26. September im Anschluss an den dritten Generalstreik, zu dem die Gewerkschaften, insbesondere die PAME, aufgerufen hatten, neue Demonstrationen in Saloniki und Athen mit mehr als 30.000 ArbeiterInnen. Die Wut war so groß, dass es erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei kam, einschließlich Auseinandersetzungen zwischen streikenden Polizeibeamten und den Ordnungskräften!

In Spanien demonstrierten Zehntausende am 25. September vor dem Parlament, das von 2.000 Polizeikräften beschützt wurde, um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen. Es gab Ausbrüche unkontrollierter Polizeigewalt „wie zu Zeiten Francos“, wie Augenzeugen berichten. Fünf Tage später, am 29. September, wurde das Parlament erneut umzingelt.

In Italien waren 30.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst auf den Straßen Roms unterwegs, um gegen eine neue Serie von Sparmaßnahmen (Rentenkürzungen und „Abstufungen“) zu protestieren.

Kurzum, die letzte Septemberwoche hatte eine steigende Wut in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern als Reaktion auf die brutalen Angriffe und die endlose Abfolge von Sparplänen erlebt.

Diese Kämpfe sind UNSERE Kämpfe

Die Regierungen wie auch die Oppositionsparteien und Gewerkschaften schieben sich gegenseitig die Verantwortung für diese Maßnahmen der aus der EU, der Europäischen Zentralbank und dem IWF zusammengesetzten „Troika“ zu. All diese Leute wollen uns glauben machen, dass das Problem der Krise von Land zu Land gelöst werden könne, und versuchen, unsere Köpfe mit der Illusion zu benebeln, dass die Welt nicht im gleichen Boot sitzt, dass manche Länder das Schlimmste vermeiden können, ihre Wirtschaft wieder zum Laufen bringen können, wenn sie die notwendigen Anstrengungen unternähmen. Die Berichterstattung über die wirtschaftliche Lage der PIGS (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) verfolgt den Zweck, die Illusion zu verstärken, dass die Dinge in Großbritannien oder Frankreich gar nicht so schlimm sind, obwohl auch dort Angriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen stattfinden. Und dies ist das Los der Arbeiterklasse überall auf der Welt: wachsende Ausbeutung, eine immer schlimmere Schlacht ums Überleben und die Geißel der Repression, falls wir aufbegehren.

Die Bourgeoisie tut alles, um zu verhindern, dass wir uns darüber bewusst werden, dass überall ArbeiterInnen angegriffen werden, um den Lernprozess zu blockieren, dass wir einer internationalen Klasse angehören. Daher berichten die Medien sehr wenig über Widerstandsbewegungen gegen die Austerität, es sei denn, diese sind zu groß, um verborgen zu bleiben. Und wenn, dann lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf angsteinflößende Bilder der Gewalt oder auf diese oder jene Schwäche der Bewegung. Daher ist es für uns, die Ausgebeuteten, umso wichtiger, über die Grenzen zu schauen, die Erfahrungen aus den gegenwärtigen und vergangenen Kämpfen zu diskutieren und die Lehren für die vor uns liegenden Kämpfe zu ziehen.

Wer sind unsere Feinde?

Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise. Dies muss unmissverständlich klar sein. Auch wenn sich jeder insgeheim eine schönere wirtschaftliche Zukunft wünscht – dieses kapitalistische System kann uns lediglich Armut und Elend anbieten. 30 Jahre lang haben sie uns weismachen wollen, dass morgen alles besser werden wird, wenn wir nur den Opfern von heute zustimmen. Aber dann öffnete jedes Opfer die Tür zu weiteren Opfern, die gar noch schlimmer waren! Es handelt sich hier aber nicht einfach um böswillige Absicht der Bosse oder des Staates. Es ist der unaufhaltsame Sturz in den Bankrott, der dem gesamten System diese unerbittliche Logik aufzwingt. (1)

Was also können wir tun, wie können wir kämpfen?

Trotz des wachsenden Zorns, der sich in immer häufigeren Auseinandersetzungen mit der Polizei ausdrückte, haben sich die offiziellen „Aktionstage“ als nutzlos erwiesen. Jahrzehntelang haben wir erlebt, dass diese Art von „Aktionen“ als ein Mittel zur Sterilisierung und Eindämmung des Klassenkampfes dienten, die uns hinter den Gewerkschaftsflaggen aufreihen, uns in verschiedene Sektoren spalten und uns einzwängen zwischen den Polizeireihen und den Gewerkschaftslautsprechern, die jegliche wirkliche Diskussion verhindern.

Die Arbeiterklasse weiß dies mehr oder weniger, doch hat sie noch nicht klar und bewusst begriffen, dass sie ihre Kämpfe in eigene Regie nehmen muss, dass sie ihre eigenen Forderungen aufstellen muss, andernfalls die Bewegung verpuffen wird.

Hier ist das Beispiel Spaniens sehr aufschlussreich. Im vergangenen Jahr war die Bewegung der Indignados eine reale und mächtige Demonstration des Willens der Bevölkerung und der Arbeiterklasse, auf kollektive Weise, außerhalb der Gewerkschaften, zusammenzukommen, um gemeinsam darüber zu diskutieren, wie man sich gegen die Angriffe zur Wehr setzen und seiner Empörung über die elenden Bedingungen Ausdruck verleihen kann, die vom spanischen Staat durchgesetzt worden wurden. Der bedeutendste Aspekt war die Schaffung eines Raumes für Diskussionen auf der Straße durch eine ganze Reihe von Generalversammlungen, die jedermann und allen Kämpfen, die im Rest der Welt ausgefochten wurden, offen standen. In Spanien war, wenn ein(e) Arbeiter(in) aus dem „Ausland“ das Mikrophon ergriff, um seine/ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen und manchmal zu schildern, was im eigenen Land vor sich ging, die Sympathie unvermittelt und greifbar, der Empfang warm und enthusiastisch. An diesem Punkt waren die wenigen nationalen oder regionalen Fahnen und jene, die den Kampf auf die Forderung nach regionaler Unabhängigkeit reduzieren wollten, nicht besonders willkommen; jedenfalls wurden ihre Reden nicht großartig beklatscht. Und die Indignados-Bewegung ließ sich nicht innerhalb der spanischen Grenzen einsperren. Sie hatte in vielen Ländern, von Israel bis hin zu den USA und Großbritannien mit der Occupy-Bewegung, Ableger.

Die Bourgeoisie ist sich der potenziellen Gefahr wohl bewusst, die in der Reifung solch absonderlicher Ideen in den Köpfen der Ausgebeuteten steckt: Von ihrem Standpunkt aus ist es eine ungute Sache, wenn Gefühle der Solidarität im Verlaufe von Arbeiterkämpfen entstehen, vor allem wenn dies auf internationaler Ebene geschieht. Nun erleben wir eine Gegenoffensive durch die Bourgeoisie, die darauf abzielt, der Arbeiterklasse das Gift des Nationalismus und Regionalismus einzuflößen. So wurde während des Aktionstages am 15. September unter dem Slogan „Wir dürfen uns nicht das Land von ihnen stehlen lassen“ zum „Sozialgipfel“ (CO, UGT [2] und 200 weitere Plattformen) in Madrid aufgerufen. Am 25. September organisierte eine Dachorganisation, die sich aus einer ganzen Reihe von Gruppen zusammensetzte, von der klassischen Linken des Kapitals wie die KP bis hin zu den zerfallenden Überresten der 15M-Bewegung, eine Protestaktion vor dem Abgeordnetenhaus „gegen die Beschlagnahme der nationalen Souveränität durch die Märkte“. All dies endete in Konfrontationen mit den Bullen (wobei Provokationen durch zwielichtige Elemente unübersehbar waren). Einen Tag später riefen die radikalsten Gewerkschaften (mit anderen Worten: die CGT und die CNT [3]) zusammen mit nationalistischen Gewerkschaften wie die ELA, LAB (4), etc. zu einem weiteren Generalstreik in ausgesuchten Teilen des Staates und zum Tag des Kampfes in anderen Teilen auf. Mit anderen Worten: sie riefen die ArbeiterInnen auf, für nationale Interessen zu kämpfen, die nicht die ihren sind. Die reale und ernste Gefahr dieser Art von Vereinnahmung wurde von der Tatsache unterstrichen, dass am 15. September eine Million Menschen an einer nationalistischen katalanischen Demonstration teilnahmen.

Am vielversprechendsten an der Indignados-Bewegung und den Diskussionen, die in ihr stattgefunden hatten, war die Hoffnung auf eine andere Welt. Diese Hoffnung, dieses Selbstvertrauen, das die Arbeiterklasse entwickeln muss, ist ein mächtiger Hebel, um aus den Fallen auszubrechen, die von einer verzweifelten Bourgeoisie gestellt werden. Dies wird es ermöglichen, über Methoden hinauszugehen, die nur in der Demoralisierung enden.

Dies wird jedoch nicht durch Zauberhand zustande kommen, sondern durch die tiefe Überzeugung, dass die einzige Perspektive für die Menschheit von einer Arbeiterklasse offeriert wird, die international vereint ist und sich auf den Sturz dieser verwesenden Gesellschaftsordnung zubewegt. Der Ernst der Krise bringt eine Menge Wut mit sich, hat aber auch einen Furcht einflößenden Aspekt: Er macht klar, dass es nicht darum geht, diesen oder jenen Boss zu verprügeln, diesen oder jenen Minister hinauszuwerfen, sondern um einen radikalen Wechsel des Systems, um ein Ringen für die Befreiung der gesamten Menschheit von den Ketten der Ausbeutung.

Sind wir dazu in der Lage? Können wir, die Arbeiterklasse, solch eine Aufgabe durchführen? Wie kann dies bewerkstelligt werden? Angesichts der Tatsache, dass der Kapitalismus nichts anderes anbieten kann als wachsende Barbarei, stellen wir uns, ob bewusst oder nicht, diese Fragen. Das Proletariat hat die Fähigkeit, sich zu vereinen, Solidarität zu etwas Handfesten zu machen, doch der Weg dahin ist niemals ein glatter, wie Karl Marx in den frühen Jahren der Arbeiterbewegung bemerkt hatte:

„Proletarische Revolutionen (…) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen:

Hic Rhodus, hic salta!
Hier ist die Rose, hier tanze!“

Wilma    28. September 2010

(1) So müssen wir das letzte Editorial der „revolutionären“ Zeitung Lutte Ouvrière unter die Überschrift „Kann es noch eine größere Lüge geben?“ setzen, erklärt es doch, dass es keine Krise gebe, dass alles an den Bossen liege, die sich ihre Taschen vollstopfen…

(2) Die CO (Arbeiterkommissionen) und die UGT (Allgemeine Arbeitergewerkschaft) sind die Mehrheitsgewerkschaften in Spanien. Erstere ist mit der Kommunistischen Partei verknüpft, Letztere mit den Sozialisten.

(3) Die CGT in Spanien ist eine anarchistische Gewerkschaft, eine Abspaltung von der historischen anarchistischen Gewerkschaft, der CNT.

(4) ELA und LAB sind zwei nationalistische baskische Gewerkschaften: Die erste ist „moderat“ (ursprünglich gegründet, um den „marxistischen“ und anarchistischen Gewerkschaften zu begegnen); die zweite ist Teil der abertzale, der (patriotischen) Linken.

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