Kommentare der IKS zum Leserbrief über Religion

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Wir haben uns über den Beitrag des Genossen Riga zur Frage der Religion sehr gefreut, vornehmlich aus drei Gründen.

Erstens, weil der Text den Geist einer proletarischen Debattenkultur ausstrahlt. Es geht nicht um die Profilierung der eigenen Person oder darum, jemand anderem eins auszuwischen, sondern es geht um die gemeinsame, kollektive Klärung von Fragen des Klassenkampfes.

Zweitens, weil dieser Text die Erkenntnis verkörpert, dass theoretische Arbeit unerlässlich ist, um die Standpunkte und Interessen des Proletariats klar sehen zu können.

Drittens ist der Genosse sich nicht zu schade, um von der vergangenen Arbeiterbewegung – nicht nur von Marx, sondern beispielsweise auch von Vertretern des linken Flügels der Zweiten Internationalen vor 1914 zu lernen. Es gibt eine Methode, um Fragen zu klären, welche der Arbeiterbewegung eigen und zugleich die einzige wissenschaftliche Methode ist; eine Methode, die u.a. darin besteht, zunächst zu untersuchen, welche Erkenntnisse und Debatten zu einer gegebenen Frage bereits vorliegen.

Die Gottlosigkeit des Marxismus

Indem der Genosse Riga diese Methode anwendet, fördert er eine wichtige Erkenntnis zu Tage, welche jahrzehntelang durch den Einfluss des Stalinismus verdrängt wurde: dass die Gottlosigkeit des Marxismus ganz anders geartet ist als der Atheismus der Bourgeoisie. Während diese Teile der Bourgeoisie ihr Weltbild, wenn auch negativ, immer noch gegenüber dem Himmel definieren, ist der Marxismus durch eine radikale Hinwendung zum diesseitigen Leben gekennzeichnet. Das gibt dem Proletariat ganz andere Mittel in die Hand, um sich von den Fesseln der Religion zu befreien. Es ermöglicht die Erkenntnis, dass die Religion schädlich ist, weil sie uns mit unserer Ausbeutung und Misere aussöhnen lässt, weil sie den Klasseninteressen des Proletariats zuwider läuft.

Das ist auch wichtig, um die Klassenautonomie der Arbeiterbewegung verteidigen zu können. Bereits im 19. Jahrhundert haben Vertreter der radikalen Bourgeoisie den Atheismus und Antiklerikalismus als klassenversöhnende Ideologie eingesetzt, d.h. um einen klassenübergreifenden Zusammenschluss aller „laizistischen“ Kräfte (und somit der Arbeiterbewegung mit der liberalen Bourgeoisie) zu bewirken. Wie bitter nötig die im Beitrag Rigas zitierten Warnungen der Marxisten vor den Gefahren eines vom proletarischen Klassenkampf abgekoppelten Kampfes gegen Kirche und Religion waren, zeigten später die Erfahrungen des spanischen Bürgerkrieges. Die „antiklerikalen“ Vorstellungen des spanischen Anarchosyndikalismus begünstigten jedenfalls die fatale Teilnahme des CNT an der „laizistischen“ republikanischen, bürgerlichen Volksfrontregierung gegen die von der Kirche unterstützten Francoputschisten.

Vor allem der Stalinismus hat den Atheismus benutzt, um sich so besser als revolutionär und marxistisch verkaufen zu können. Dabei ist der Stalinismus nicht nur selbst ganz gut mit den traditionellen religiösen Kräften wie der orthodoxen Kirche ausgekommen, sondern hat auch selbst eine Art Ersatzreligion gestiftet, ausgestattet mit allen dazugehörigen Attributen (Dogmen und Glaubensartikel, Inquisition, eine strenge, allwissende und allmächtige, beinahe himmlische Vaterfigur à la Stalin, Mao oder Kim Il-Sung). Unserer Meinung nach liegt die Bedeutung des Textes von Riga nicht zuletzt darin, dass er eine kritisch gewordene Generation von in die Fänge des Stalinismus geratenen Proletariern helfen kann, sich von diesem Einfluss zu befreien.

Bürgerlicher oder proletarischer Materialismus

Der Unterschied zwischen bürgerlichem und proletarischem Materialismus in Bezug auf die Religion ist gleichzeitig prinzipieller und methodischer Natur. Für den bürgerlichen Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts in England oder Frankreich war die Religion nichts als Aberglaube und Unsinn. Dieser Materialismus war noch unhistorisch, sprich: in einer statischen Sicht der Geschichte gefangen, welche der Religion nicht unähnlich ist. Die bürgerlichen Aufklärer konnten und können auch heute ihr eigenes Erscheinen in der Geschichte nicht erklären. Es ist fast so, als ob sie selbst vom Himmel geschickt oder erleuchtet worden wären, um mit dem Aberglauben von einst aufzuräumen.

Für den Marxismus hingegen ist die Religion ein historisches Produkt, ja eine geschichtliche Notwendigkeit auf einer gewissen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und der Kultur, ein oft primitiver, sehr irriger, manchmal aber auch großartiger Versuch, das noch Unerklärliche begreifbar zu machen. Der Marxismus befasst sich nicht mit Gott. Er befasst sich aber sehr wohl mit der Religion als einem äußerst bedeutenden gesellschaftlichen, historischen Phänomen.

Und hier wirft der Genosse einen wichtigen Aspekt der marxistischen Auffassung auf, indem er die Ansicht von Marx über Religion als Droge thematisiert. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Der bürgerliche Materialismus geht zumeist davon aus, dass die Wurzeln der Religion allein in der Unkenntnis der Naturgesetze liegen, so dass die Entwicklung der Wissenschaft und der Bildung allein ausreichten, um die Religion überflüssig zu machen. Aber das ist nur eine der Ursachen der Macht der Religion. Die Entwicklung der Wissenschaft allein reicht keineswegs aus, um die Sehnsucht nach dem Himmel hinfällig zu machen.

Wir finden, dass Riga sich zu lange bei der Frage aufhält, ob Marx dabei die Religion als Opium des Volkes oder als Opium für das Volk bezeichnete (mehr dazu unten). Wichtiger ist die Einsicht, dass die Religion die Rolle eines geistigen Rauschmittels übernimmt. Diese Einsicht, einschließlich des Vergleiches zwischen Religion und Opium, wurde bereits vor Marx durch den Dichter Heinrich Heine gewonnen.

Wir betonen diesen Punkt, weil der Marxismus oft in dem Sinne missverstanden wird, dass der Kapitalismus allein oder aber die Ausbeutung in der Klassengesellschaft die einzige Ursache für den Bedarf an Religion wäre. Aber die Religion ist älter als der Kapitalismus, älter auch als die Klassengesellschaft. Das Elend, vor welchem der Mensch in die Religion flüchtet, ist nicht nur eine wirtschaftliche Misere, es ist das ganze Elend einer Menschheit, die noch ihre Vorgeschichte bestreitet, die noch nicht zu sich selbst gefunden hat; ein gesellschaftliches Wesen, das noch nicht in einer wirklich menschlichen Gesellschaft lebt. Die Religion, dass ist auch die kindliche Unreife der Menschheit, die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe, die Angst vor dem Tod. Die Religion ist das Herz einer herzlosen Welt, wie Marx bereits sagte.

Die Stellung der II. Internationalen zur Religion

Die Besprechung der Stellung der II. Internationale zur Religion ist einer der interessantesten und lehrreichsten Abschnitte des Textes. Es bleibt uns hier nur übrig, auf den zum Teil zeitlich bedingten Charakter dieser Stellung hinzuweisen. Die geschichtliche Besonderheit der II. Internationale liegt darin, dass sie zu einem Zeitpunkt gegründet wurde, als die Arbeiterbewegung erkannt hatte, dass die sozialistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand, so dass es notwendig wurde, sich u.a. durch einen Kampf um Reformen innerhalb des Systems und durch die Massenorganisation der Klasse in großen Parteien und in Gewerkschaften auf die Revolution langsam vorzubereiten. So standen die Sozialisten beispielsweise vor der Aufgabe, im Parlament zu entscheiden, ob sie für oder gegen die Gesetzgebung Bismarcks gegen die katholische Kirche abstimmen (sie stimmten dagegen, wie Genosse Riga ausführt). Heute steht das revolutionäre Proletariat nicht mehr vor dieser Frage, sondern vor der Notwendigkeit, die gesamte bürgerliche Welt mitsamt ihrer Legislatur und ihrem parlamentarischen Zirkus den Garaus zu machen. Hinfällig ist ebenfalls die damalige Auffassung, derzufolge für die Mitglieder der sozialistischen Massenparteien die Religion als „Privatsache“ betrachtet wurde. In der Klassenpartei der revolutionären Epoche kann es nur für Marxisten Platz geben, dies schließt somit religiöse Ausfassungen von vornherein aus.

Der Genosse Riga wirft Lenin und den Bolschewiki in Russland vor, im Widerspruch zur Haltung von Marx und auch der 2. Internationalen zu stehen, dass man niemals Menschen aufgrund ihres Glaubens verfolgen oder auch beleidigen darf. Unserer Meinung nach übersieht Riga, dass die Bolschewiki sich in einer anderen Lage befanden als etwa Marx oder Bebel, da sie durch eine proletarische Revolution an die Macht gebracht wurden und die Aufgabe hatten, den bürgerlichen Staat und seine Institutionen – einschließlich der Kirchen – zu zerschlagen. Zu Lenins Zeiten waren sich die russischen Revolutionäre stets bewusst, dass sie die heikle Aufgabe hatten, gegen die kirchlichen Institutionen als Teil der alten Ordnung vorzugehen, ohne die Gläubigen zu verfolgen oder zu beleidigen.

„Opium für das Volk“ oder „Opium des Volkes“?

Hier rächt sich vielleicht, dass der Genosse im ersten Teil seines Beitrags die oben erwähnten Konzepte von der Religion als „Opium des Volkes“ und als „Opium für das Volk“ einander gegenüberstellt. Es handelt sich dabei um die Frage, ob die Religion existiert, weil der Einzelne im Kapitalismus aufgrund des Elends glaubt, sie nicht entbehren zu können, oder ob die Religion als Teil der Ideologie der herrschenden Klasse bewusst und systematisch gegen die Arbeiterklasse in Stellung gebracht wird. Warum dieses Entweder - Oder? In der Klassengesellschaft hat die Religion in dieser Hinsicht eine Doppelfunktion. Einerseits ist sie Opium des Volkes, um die Widrigkeiten des Lebens ertragen zu können. Andererseits ist sie Opium für das Volk, eine letztendlich unentbehrliche Waffe der Herrschenden, um ihre Herrschaft nach innen und nach außen abzusichern. So ist heute noch die Religion neben dem Nationalismus das wichtigste ideologische Mobilisierungsmittel für den imperialistischen Krieg. Rigas Text beginnt mit einer Kritik an einer Formulierung in einem Artikel der IKS, in der es um die Verurteilung des bewussten Einsatzes der Religion durch die Bourgeoisie und für den Krieg geht. Der Genosse übersieht, dass diese Aussage der IKS an dieser Stelle vollauf berechtigt war und dass dies keineswegs bedeutet, dass wir das Bedürfnis einzelner Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft und auch der Arbeiterklasse nach religiösem Trost verleugnen.

Sehr lesenswert ist die Behandlung der Rolle von religiösen Sekten im Kapitalismus in Rigas Text. Wir sind ganz einverstanden, wenn der Genosse den wachsenden Einfluss dieses Phänomens als Ausdruck der Dekadenz und heutzutage auch des Zerfalls des Kapitalismus identifiziert. Bereits in der Niedergangsphase der antiken Gesellschaft gab es eine wahre Explosion von gegeneinander konkurrierenden religiösen Sekten, von denen das Christentum nur eine war. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle noch einfügen, dass religiöse Bewegungen im Rahmen der Klassengesellschaft nicht immer Ausdruck der Interessen der herrschenden Klassen sein müssen. Das Christentum liefert uns immerhin ein Beispiel hierfür, denn es entstand zum Teil als Opposition der unterdrückten Schichten. Der „Kommunismus“ des Christentums – vornehmlich ein Kommunismus des Konsums, nicht der Produktion – hatte zwar subversives Potenzial, blieb aber in der Antike und auch im Mittelalter Ausdruck von Klassen ohne eigene gesellschaftliche Perspektive. Auch in der Anfangszeit der modernen Arbeiterbewegung, im Frühkapitalismus, nahm der – notwendigerweise noch utopische – Sozialismus oft einen religiösen, oft direkt christlichen Charakter an. Dies war allerdings noch Ausdruck der Unreife der Arbeiterklasse. Seit der Entstehung des wissenschaftlichen Sozialismus mit Marx und Engels ist jedenfalls klar geworden, dass der Sozialismus des modernen Proletariats keinen religiösen Charakter mehr haben kann. Es ist auch kein Kommunismus des Konsums allein, sondern auch und vor allem der Produktion. Diese kollektive Produktion und dieser kollektive Konsum können nicht mehr in kleinen religiösen Gemeinden wie die der Shakers in den USA im 18. und 19. Jahrhundert realisiert werden, sondern einzig und allein auf Weltebene. Viele der Sekten von heute sind gerade deshalb so erfolgreich, weil sie die Sehnsucht der Menschen nach Gemeinschaft, nach Menschlichkeit – sprich: nach Kommunismus – ausnutzen. Sie sind aber heute ein Teil des Apparates der herrschenden Klasse, um die Arbeiterklasse vom Klassenkampf, vom Kampf für den Kommunismus abzuhalten.

 

Hiller, für Weltrevolution, IKS.

 

 

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