Dekadenz des Kapitalismus (1)

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Die Revolution ist seit einem Jahrhundert notwendig und möglich

1915, als die abscheuliche Realität des europäischen Krieges immer offensichtlicher wurde, schrieb Rosa Luxemburg „Die Krise der Sozialdemokratie“, einen Text, besser bekannt als Junius-Broschüre, abgeleitet von dem Pseudonym, unter welchem Luxemburg ihn publizierte. Das Pamphlet wurde im Gefängnis geschrieben und illegal durch die Gruppe Die Internationale verteilt, welche sich sofort nach Ausbruch des Krieges formierte. Es war eine flammende Anklage gegen die Positionen, welche sich die Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zueigen machte. An dem Tag, an dem die Feindseligkeiten begannen, am 4. August 1914, verriet die SPD ihre internationalistischen Prinzipien und stellte sich auf die Seite des der Vaterlandsverteidiger, indem sie zur Einstellung des Klassenkampfes und zur Partizipation im Krieg aufforderte. Das war ein fataler Rückschlag für die internationale sozialistische Bewegung, war die SPD doch der Stolz der ganzen Zweiten Internationale. Anstatt als Fanal der internationalen Arbeitersolidarität zu fungieren, wurde ihre Kapitulation vor der Kriegstreiberei als Rechtfertigung für ähnlich verräterische Aktionen in anderen Ländern benutzt. Das Resultat war der schändliche Kollaps der Internationalen.

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Der Erste Weltkrieg: Ein Wendepunkt der Geschichte

Die SPD formierte sich in den 1870ern als eine marxistische Partei und symbolisierte damit den wachsenden Einfluss des „wissenschaftlichen Sozialismus“ innerhalb der Arbeiterbewegung. An der Oberfläche blieb die SPD von 1914 dem marxistischen Credo treu, sogar als sie dessen Geist mit Füssen trat. Hatte nicht schon Marx seiner Tage vor der Gefahr des zaristischen Absolutismus, des Hauptpfeilers der Reaktion in Europa, gewarnt? Wurde nicht die Erste Internationale an einer Versammlung zur Unterstützung des Kampfes für die Unabhängigkeit Polens vom zaristischen Joch gegründet? Hatte nicht Engels, obwohl er vor der Gefahr eines Krieges in Europa warnte, dennoch die Ansicht vertreten, dass die deutschen Sozialisten eine „revolutionär defensive“ Position einnehmen sollten im Falle einer franko-russischen Aggression gegen Deutschland? Und nun rief die SPD auf zur nationalen Einheit um jeden Preis angesichts der Hauptbedrohung durch die Macht des zaristischen Despotismus, dessen Sieg, wie sie meinte, all die politischen und ökonomischen Errungenschaften rückgängig machen würde, welche die Arbeiterklasse durch Jahre geduldigen und zähen Kampfes erreicht hatte. Die SPD präsentierte sich also als legitimen Erben von Marx und Engels und deren resoluten Verteidigung all dessen, was progressiv war in der Europäischen Zivilisation.

Aber mit den Worten Lenins, eines anderen Revolutionärs, der nicht zögerte, den Verrat der „Sozialchauvinisten“ zu denunzieren: „Wer sich jetzt auf Marx’ Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ vergisst – diese Worte die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoise beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution – der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche“<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]-->. Luxemburg argumentierte exakt gleich. Der Krieg war nicht von derselben Art Krieg wie ihn Europa in der Mitte des letzten Jahrhunderts erlebt hatte. Jene Kriege waren kurz, begrenzt im Raum und in ihren Zielen und wurden meist zwischen professionellen Armeen ausgefochten; und, was wichtiger ist, der europäische Kontinent erlebte seit dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 eine noch nie dagewesene Ära des Friedens, der ökonomischen Expansion und eines stetigen Anstiegs des Lebensstandards. Hinzu kommt, dass jene Kriege, fern davon, ihre Antagonisten zu ruinieren, öfter dazu dienten, den Prozess der kapitalistischen Expansion zu beschleunigen, indem sie feudale Hindernisse der nationalen Einheit wegfegten und neuen Nationalstaaten erlaubten, sich als Rahmen geeignet für die Entwicklung des Kapitalismus zu konstituieren (die französischen Revolutionskriege und die Kriege zur Vereinigung Italiens sind klare Beispiele).

Solche Kriege – nationale Kriege, welche immer noch eine progressive Rolle für das Kapital selbst spielen konnten – gehörten der Vergangenheit an. Mit seiner mörderischen Zerstörungswut – 10 Millionen Menschen verschwanden auf den Schlachtfeldern Europas, beinahe alle von ihnen innerhalb eines blutigen und unnützen Patts; gleichzeitig starben Millionen von Zivilisten, vor allem als Resultat der Misere und des Hungers, welche der Krieg mit sich brachte. Mit dieser globalen Zerstörungswut als der eines Krieges zwischen weltumspannenden Imperien, und ebenso mit seinen praktisch unbegrenzten Zielen von Eroberung und totaler Niederlage des Feindes; mit seinem Charakter eines „totalen“ Krieges, welcher nicht nur Millionen von wehrpflichtigen Proletariern für die Front mobilisierte, sondern auch noch den Schweiß und das Blut von Millionen Arbeitern im Hinterland forderte, war dies ein Krieg neuen Typs, der die Vorhersagen der herrschenden Klasse zum Schweigen brachte, dass „alles an Weihnachten vorbei sei“. Das monströse Blutbad des Krieges wurde natürlich beträchtlich durch die hoch entwickelten technologischen Mittel der Kriegsparteien intensiviert, und die Tatsache, dass Letztere die Strategien und Taktiken klassischer Kriegsschulen längst überholt hatten, erhöhte die Abschlachtung noch weiter. Aber die Barbarei des Krieges widerspiegelte etwas viel tiefer Liegendes als die technologische Entwicklung des bürgerlichen Systems. Sie war ein Ausdruck einer Produktionsweise, welche in eine fundamentale historische Krise eintrat und damit die obsolete Natur der kapitalistischen sozialen Beziehungen enthüllte und die Menschheit vor die Alternative stellte: sozialistische Revolution oder Rückfall in die Barbarei. Daher eine der meist zitierten Passagen der Junius-Broschüre:

„Friedrich Engels sagte einmal: ‚Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.‘ Was bedeutet ein ‚Rückfall in die Barbarei‘ auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges, und endgültig, wenn die nun begonnene -Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder-Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluss des klassenbewussten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft.

In diesem Kriege hat der Imperialismus gesiegt. Sein blutiges Schwert des Völkermordes hat mit brutalem Übergewicht die Waagschale in den Abgrund des Jammers und der Schmach hinab gezogen. Der ganze Jammer und die ganze Schmach können nur dadurch aufgewogen werden, dass wir aus dem Kriege und im Kriege lernen, wie das Proletariat sich aus der Rolle eines Knechts in den Händen der herrschenden Klassen zum Herrn des eigenen Schicksals aufrafft.“

Diese epochale Wendung machte Marx’ Argumente für die Unterstützung nationaler Unabhängigkeit obsolet (welche er für die fortgeschrittenen europäischen Länder bereits nach der Pariser Kommune zu toten Buchstaben erklärte). Es konnte nicht mehr die Rede davon sein, sich die fortgeschrittenste Nation auszusuchen in diesem Konflikt, weil -nationale Konflikte selbst jegliche progressive Funktion verloren hatten und zu blossen Instrumenten imperialistischer Eroberung und des kapitalistischen Dranges zur Katastrophe wurden:

„Das nationale Programm hatte nur als -ideologischer Ausdruck der aufstrebenden, nach der Macht im Staate zielenden Bourgeoisie eine geschichtliche Rolle gespielt, bis sich die bürgerliche Klassenherrschaft in den Großstaaten Mitteleuropas schlecht und recht zurechtgesetzt, sich in ihnen die nötigen Werkzeuge und Bedingungen geschaffen hat.

Seitdem hat der Imperialismus das alte bürgerlich-demokratische Programm vollends zu Grabe getragen, indem er die Expansion über nationale Grenzen hinaus und ohne jede Rücksicht auf nationale Zusammenhänge zum Programm der Bourgeoisie aller Länder erhoben hat. Die nationale Phrase freilich ist geblieben. Ihr realer Inhalt, ihre Funktion ist aber in ihr Gegenteil verkehrt; sie fungiert nur noch als notdürftiger Deckmantel imperialistischer Bestrebungen und als Kampfschrei imperialistischer Rivalitäten, als einziges und letztes ideologisches Mittel, womit die Volksmassen für ihre Rolle des Kanonenfutters in den imperialistischen Kriegen eingefangen werden können.“

Nicht nur änderte sich die „nationale Taktik“ – auch alles andere wurde gründlich verändert durch den Krieg. Es gab kein Zurück mehr in die Epoche, wo die Sozialdemokratie geduldig und systematisch für seine Etablierung kämpfte, genauso wie das Proletariat in seiner Gesammtheit, das sich als organisierte Kraft innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft etabliert hatte.

„Eins ist sicher: der Weltkrieg ist eine Weltwende. Es ist ein törichter Wahn, sich die Dinge so vorzustellen, dass wir den Krieg nur zu überdauern brauchen, wie der Hase unter dem Strauch das Ende des Gewitters abwartet, um nachher munter wieder in alten Trott zu verfallen. Der Weltkrieg hat die Bedingungen unseres Kampfes verändert und uns selbst am meisten. Nicht als ob die Grundgesetze der kapitalistischen Entwicklung, der Krieg zwischen Kapital und Arbeit auf Tod und Leben eine Abweichung oder eine Milderung erfahren sollten. Schon jetzt, mitten im Kriege, fallen die Masken, und es grinsen uns die alten bekannten Züge an. Aber das Tempo der Entwicklung hat durch den Ausbruch des imperialistischen Vulkans einen gewaltigen Ruck erhalten, die Heftigkeit der Auseinandersetzungen im Schosse der Gesellschaft, die Grösse der Aufgaben, die vor dem sozialistischen Proletariat in unmittelbarer Nähe ragen – sie lassen alles bisherige in der Geschichte der Arbeiterbewegung als sanftes Idyll erscheinen.“ (Kapitel „Sozialismus oder Barbarei“)

Diese Aufgaben waren enorm, da sie mehr als nur die kurzsichtige Verteidigung gegen die Ausbeutung verlangten, sondern zu einem offensiven, revolutionären Kampf riefen, um die Ausbeutung ein für alle Mal zu beseitigen, um „im sozialen Leben des Menschen einen bewussten Gedanken zu etablieren, einen bestimmten Plan, den freien Willen der Menschheit“. Rosa Luxemburgs Bestehen auf der Eröffnung einer radikal neuen Epoche im Kampf der Arbeiterklasse wurde bald zu einer allseits anerkannten Richtlinie der internationalen revolutionären Bewegung, welche wieder auferstand von den Ruinen der So-
zialdemokratie und welche 1919 die Weltpartei der proletarischen Revolution gründete – die Kommunistische Internationale. An ihrem ersten Kongress in Moskau proklamierte die Komintern: „Eine neue Epoche ist geboren! Die Epoche des Zerfalls des Kapitalismus, seines inneren Kollapses. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“ Und sie ging genauso mit Luxemburg darin einig, dass wenn die proletarische Revolution – welche zu diesem Zeitpunkt ihren globalen Höhepunkt erreichte im Gefolge des Oktoberaufstandes in Russland und der revolutionären Welle, welche durch Deutschland, Ungarn und viele andere Länder rollte – den Kapitalismus nicht würde besiegen können, würde die Menschheit in einen weiteren Krieg gestürzt, in eine eigentliche Epoche nicht endenden Krieges, die die ganze Zukunft der menschlichen Kultur in Frage stellen würde.

Beinahe 100 Jahre später ist der Kapitalismus immer noch hier und ist, gemäß der offiziellen Propaganda, die einzig mögliche Form sozialer Organisation. Was wurde aus Luxemburgs Dilemma zwischen Sozialismus und Barbarei? Gemäß dem ideologischen Mainstream wurde der Sozialismus im
20. Jahrhundert ausprobiert und scheiterte. Die großen Hoffnungen, welche die Russische Revolution 1917 weckte, wurden zerschmettert im Stalinismus und zusammen mit dessen Opfern nach dem Kollaps des Ostblocks Ende der 1980er Jahre zu Grabe getragen. Nicht nur stellte sich der Sozialismus bestenfalls als Utopie und schlechtestenfalls als Alptraum dar. Sogar der Kampf der Arbeiterklasse, welcher für Marxisten dessen Grundlage war, verschwand in einem formlosen Nebel einer „neuen“ Form des Kapitalismus, gestützt nicht von einer ausgebeuteten Klasse von Produzenten, sondern von einer unendlichen Masse von Konsumenten und einer Ökonomie, welche oft eher virtuell denn materiell ist.

Das will man uns glauben machen. Ohne Zweifel wäre Luxemburg, könnte sie von den Toten wieder auferstehen, ziemlich überrascht, dass die kapitalistische Zivilisation den Planeten immer noch beherrscht. In einem weiteren Artikel werden wir die Mittel untersuchen, mit welchen sich das System trotz der Schwierigkeiten, mit welchen es im letzten Jahrhundert konfrontiert wurde, am Leben bleiben konnte. Aber wenn wir die verzerrende Brille der dominanten Ideologie wegwerfen und mit einem Minimum an Seriosität den Kurs betrachten, den das letzte Jahrhundert genommen hat, dann werden wir sehen, dass sich die Prognose Rosa Luxemburgs und der Mehrheit der damaligen revolutionären Sozialisten als richtig heraus stellte. Diese Epoche war – ohne den Sieg der proletarischen Revolution – bereits die barbarischste in der menschlichen Geschichte und birgt die Drohung eines noch tieferen Abstiegs in die Barbarei in sich, dessen letzte Konsequenz nicht nur der „Kollaps der Zivilisation“ sein könnte, sondern die Ausrottung menschlichen Lebens auf dem Planeten überhaupt.

Die Epoche der Kriege und Revolutionen

1915 war nur eine Minderheit der Sozialisten klar gegen den Krieg. Trotzki scherzte, dass die Internationalisten, welche sich in jenem Jahr in Zimmerwald trafen, alle in ein Taxi passen würden. Aber Zimmerwald selbst war ein Zeichen, dass sich etwas regte in der internationalen Arbeiterklasse. Die Unzufriedenheit mit dem Krieg, sowohl an, als auch hinter der Front, wurde immer offensichtlicher. Beweise dafür waren Streiks in Deutschland und England sowie die Arbeiterdemonstrationen in Deutschland zur Feier der Freilassung Karl Liebknechts, Luxemburgs Genosse, dessen Name zum Synonym für den Slogan „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ geworden war. Im Februar 1917 brach die Revolution aus in Russland und brachte die Herrschaft der Zaren an ihr Ende. Aber fern davon, ein russisches 1789, eine verspätete bürgerliche Revolution zu sein, machte der Februar nur den Weg für den Oktober frei: Die Machtübernahme der in Sowjets organisierten Arbeiterklasse und verkündete den ersten Schritt in Richtung Weltrevolution, welche nicht nur den Krieg sondern den Kapitalismus selbst beenden würde.

Die Russische Revolution steht oder fällt mit der Weltrevolution, wie Lenin und die Bolschewiki immer wieder unterstrichen. Und zuerst schien es, als würde ihr Ruf zu den Waffen beantwortet: Meutereien in der französischen Armee 1917 und die Revolution in Deutschland 1918 zwingen die bürgerlichen Regierungen der Welt zu einem hastigen Frieden um das Ausbreiten des bolschewistischen Geistes zu verhindern; Sowjetrepubliken entstehen 1919 in Bayern und Ungarn; Generalstreiks brechen aus in Seattle und Winnipeg; Panzer fahren auf als Antwort auf die Arbeiterunruhen in Clyde im selben Jahr; 1920 werden Fabriken besetzt in Italien. Das war eine offensichtliche Bestätigung der Ansicht der Komintern, dass die neue Ära eine Ära der Kriege und Revolutionen sein würde. Indem der Kapitalismus die Menschheit auf den Pfad von Zerstörung und Militarismus brachte, beförderte er auch die Notwendigkeit der proletarischen Revolution.

Aber das Bewusstsein der dynamischsten und weitsichtigsten Elemente der Arbeiterklasse, der Kommunisten, fällt selten zusammen mit dem Bewusststeinsniveau der Klasse als Ganzes. Die Mehrheit der Klasse verstand noch nicht, dass es kein zurück gab in die alte Ära der friedlichen, schrittweisen Reformen. Sie wollten zuallererst das Ende des Krieges und obwohl sie die Bourgeoisie dazu zwingen mussten, profitierte diese trotzdem von dem Gedanken, dass es möglich sei zum „Status quo ante bellum“ zurück zu kehren, wenn auch mit einigen als Errungenschaften der Arbeiter präsentierten Änderungen: In England kamen „homes fit for heroes“, das Frauenwahlrecht und die vierte Klausel im Labour-Programm, welche die Nationalisierung der Kommandohöhen der Wirtschaft versprach. In Deutschland, wo die Revolution bereits Form angenommen hatte, waren die Versprechungen radikaler. Ausdrücke wie Sozialisation und Arbeiterräte kamen ins Spiel, zusammen mit der Abdankung des Kaisers und der Gründung der Republik auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts.

Es waren fast ausschließlich die Sozialdemokraten, die deutsche „Arbeiterpartei“, diese vertrauenswürdigen Spezialisten des Reformismus, welche diese Illusionen an die Arbeiter verkauften. Illusionen, welche es ihnen ermöglichten zu behaupten, sie seien auf der Seite der Revolution, während sie Hand in Hand mit proto-faschistischen Banden die wahren Arbeiterrevolutionäre von Berlin und München massakrierten, inklusive Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Zur selben Zeit unterstützten die Sozialdemokraten die wirtschaftliche Strangulation und die militärische Offensive gegen die Sowjetmacht in Russland mit der trügerischen Rechtfertigung, dass die Bolschewiki den natürlichen Lauf der Geschichte untergruben, indem sie in einem rückständigen Land mit nur einer Minderheit von Arbeitern eine Revolution erzwungen hätten und so gegen die heiligen Prinzipien der Demokratie verstießen.

Zusammengefasst wurde die revolutionäre Welle mit einem Mix aus List und brutaler Repression in einer Serie separater Niederlagen zurück geschlagen. Abgeschnitten vom Sauerstoff der Weltrevolution, begann die Revolution in Russland zu ersticken und sich selbst aufzufressen. Die Vorgänge in Kronstadt, wo unzufriedene Arbeiter und Matrosen Neuwahlen für die Sowjets forderten und von der bolschewistischen Regierung zusammengeschossen wurden, stehen als Symbol für diese Wende. Der „Gewinner“ dieses Prozesses innerer Degeneration war Stalin und sein erstes Opfer die bolschewistische Partei selbst, endgültig und unwiderruflich transformiert in ein Instrument einer neuen Staats-Bourgeoisie, welche jegliche interna-tionalistischen Ambitionen zu Gunsten der betrügerischen Vorstellung eines „Sozialismus in einem Land“ aufgegeben hatte.

So überlebte der Kapitalismus also den Schock der revolutionären Welle, trotz der Nachbeben wie des Generalstreiks in England 1926 oder des Arbeiteraufstandes 1927 in Shanghai. Er gedachte fest, zur Normalität zurück zu kehren. Während des Krieges wurden die Prinzipien von Profit und Verlust temporär (und teilweise) ausgesetzt, als die ganze Produktion in die Kriegsmaschinerie gesteckt wurde und der Zentralstaat die Kontrolle über ganze Sektoren der Wirtschaft übernahm. In einem Report zuhanden des dritten Kongresses der Kommunistischen Internationale beschrieb Trotzki, wie der Krieg eine neue Funktionsweise für das kapitalistische System initiierte, welches hauptsächlich auf staatlicher Regulierung der Wirtschaft und der Generierung ganzer Berge von Schulden, von fiktivem Kapital, basierte: „Kapitalismus als ökonomisches System ist, das wissen sie, voller Widersprüche. Während der Kriegsjahre erreichten diese Widersprüche monströse Ausmaße. Um die für den Krieg nötigen Ressourcen zu bekommen, griff der Staat primär zu zwei Maßnahmen: Erstens, die Ausgabe von Papiergeld; Zweitens, das Ingangbringen von Anleihen. So trat eine immer größer werdende Anzahl so genannter „Wertpapiere“ (Sicherheiten) in die Zirkulation, während der Staat die realen Materialwerte aus dem Land schuf, um sie im Krieg zu zerstören. Umso größer die durch den Krieg verschlungenen Summen, desto größer der Umfang des Pseudo-Reichtums, der im Land akkumulierten fiktiven Werte. Staatsanleihen wuchsen ins Unermessliche. Oberflächlich konnte es scheinen, als sei das Land extrem reich geworden, aber in Wirklichkeit wurde der Boden unter der Wirtschaft weggezogen, wurde die Wirtschaft durchgeschüttelt und an den Rand des Kollapses gebracht. Staatsschulden kletterten auf ungefähr 1’000 Milliarden, die zu den ca. 62 Prozent, der nationalen Ressourcen, der kriegsführenden Ländern, hizukommen. Vor dem Krieg umfasste die weltweite Summe des Papier –und Kreditgeldes ungefähr 28 Milliarden Goldmark, heute zwischen 220 und 280 Milliarden, d.h. das Zehnfache. Und das noch ohne Russland, da wir nur über die kapitalistische Welt reden. All das gilt primär, wenn nicht ausschließlich, für die europäischen Länder, hauptsächlich Kontinentaleuropa und teilweise Zentraleuropa. Allgemein betrachtet hüllt sich Europa, ärmer und ärmer werdend – wie es bis zu diesem Tag geschieht –, in immer dickere Schichten von Papierwerten, oder anders gesagt, von fiktivem Kapital. Dieses fiktive Kapital – Papierwährung, Schatzbriefe, Kriegsanleihen, Bankanleihen und so weiter – repräsentierte entweder das Andenken toten Kapitals oder die Erwartung noch zu kommenden Kapitals. Aber zur gegenwärtigen Zeit entspricht es in keiner Weise real existierendem Kapital. Wie auch immer, es funktioniert als Geld und als Kapital und dies tendiert dazu, ein völlig verzerrtes Bild der Gesellschaft und der modernen Wirtschaft als Ganzes zu geben. Je ärmer diese Wirtschaft wird, umso reicher scheint das Bild im Spiegel dieses fiktiven Kapitals. Gleichzeitig bedeutet die Bildung dieses fiktiven Kapitals, wie wir sehen werden, dass die Klassen unterschiedlich in der Verteilung des graduell zusammengeschnürten Nationaleinkommens –und Vermögens Anteil nehmen. Das Nationaleinkommen wurde, genau wie das Nationalvermögen aber weniger stark, zusammengeschnürt. Die Erklärung dafür ist denkbar einfach: Die Kerze der kapitalistischen Wirtschaft wurde von beiden Seiten her abgebrannt.“

Solche Methoden waren ein Zeichen dafür, dass der Kapitalismus nur noch funktionieren konnte, indem er seiner eigenen Gesetze spottete. Die neuen Methoden wurden „Kriegssozialismus“ genannt, waren aber tatsächlich ein Instrument um den Kapitalismus am Leben zu erhalten in einer Ära, in welcher dieser bereits obsolet geworden war. Und somit waren diese Methoden eine verzweifelte Verteidigung gegen den Sozialismus, gegen den Aufstieg einer höheren sozialen Produktionsweise. Aber obwohl der „Kriegssozialismus“ als für den Sieg notwendig erachtet wurde, wurde er gleich danach umgehend demontiert.

Die Nachkriegsperiode bestätigte eine andere fundamental neue Charakteristik des imperialistischen Krieges. Während die Kriege des 19. Jahrhunderts ökonomisch normalerweise „Sinn machten“, also in einem Entwicklungsschub der Gewinnerseite resultierten, führten die gigantischen Materialkosten des Weltkrieges zu einer Schrumpfung, wenn nicht sogar zum totalen Ruin, der Wirtschaft sowohl des Gewinners als auch des Unterlegenen. Eine unstete Periode des Wiederaufbaus begann im kriegsversehrten Europa der frühen 20er Jahre, aber die Wirtschaft der alten Welt blieb träge: die spektakulären Wachstumsraten, welche die ersten kapitalistischen Länder vor dem Weltkrieg erreicht hatten, wurden nicht mehr erreicht. Arbeitslosigkeit wurde zu einem fixen Bestandteil der Wirtschaft in Ländern wie England, während die deutsche Wirtschaft, blankgescheuert von verwerflichen Reparationszahlungen, alle bisherigen Inflationsrekorde brach und nur noch durch Kredite flott gehalten wurde.

Die wichtigste Ausnahme war Amerika, welches während des Krieges prosperierte indem es, wie Trotzki es im selben Bericht nannte, den Quartiermeister Europas spielte. Es war nun definitiv die grösste Wirtschaftsmacht der Welt und profitierte genau davon, dass seine Rivalen von den gigantischen Kriegskosten, den sozialen Unruhen nach dem Krieg und dem effektiven Verschwinden des russischen Marktes zu Boden gedrückt wurden. Für Amerika war es das Zeitalter des Jazz, die goldenen Zwanziger: die Bilder der „Flapper“ und des in Henry Fords Fabriken massenproduzierten Modells T spiegelten die Realität der schwindelerregenden Wachstumsraten wider. Nachdem es das Ende der internen Expansion erreicht und von der Stagnation der alten europäischen Mächte profitiert hatte, überfielen amerikanisches Kapital und amerikanische Waren den Globus, überschwemmten sowohl Europa als auch die unterentwickelten und oft noch vorkapitalistischen Regionen. Vom Netto-Schuldner des 19. Jahrhunderts wurden die USA zum weltgrößten Kreditgeber – es waren hauptsächlich amerikanische Kredite, welche Deutschland auf den Beinen hielten in den 1920ern. Obwohl die US-Landwirtschaft zum großen Teil hinter dem Boom zurück blieb, gab es ein wahrnehmbares Wachstum der Konsumkraft der urbanen und proletarischen Bevölkerung. All das war offensichtlich der Beweis, dass man zum laissez-faire-Kapitalismus zurückkehren konnte, der im 19. Jahrhundert eine solch außergewöhnliche Expansion mit sich gebracht hatte. Die beruhigende Theorie von Calvin Coolidge hatte triumphiert. Und so wandte sich der Präsident im Dezember 1928 an den Kongress:

„Kein jemals zur Evaluation des „State of the Union“ zusammen gekommener Kongress der Vereinigten Staaten traf eine gefälligere Aussicht als jene, welche sich zur Zeit bietet. In der Innenpolitik herrscht Ruhe und Zufriedenheit, harmonische Beziehungen zwischen Management und Lohnempfängern, Freiheit von industriellem Hader und die höchstem Wachstumsraten seit Jahren. In der Außenpolitik herrscht Frieden, guter Wille zu gegenseitigem Verständnis und das Wissen, dass die kurz zuvor noch riesig erscheinenden Probleme zu einer echten Freundschaft führen. Der große Reichtum, der von unseren Unternehmungen und Industrie kreiert und von unserer Wirtschaft bewahrt wurde, fand die weiteste Verteilung unter unserem Volk und geht hinaus in einem stetigen Strom, um der Wohltätigkeit und der Wirtschaft der Welt zu dienen. Die Existenzgrundlagen gingen über den Standard der Notwendigkeit hinaus in die Sphäre des Luxus. Wachsende Produktion wird konsumiert von einer erhöhten Nachfrage im Innern und einem expandierenden Handel im Äußern. Das Land kann der Gegenwart mit Zufriedenheit und der Zukunft mit Optimismus entgegen schauen.“

Die berühmten letzten Worte! 1929 dann der Crash. Das fieberhafte Wachstum der US-Wirtschaft erreichte die Grenzen des Marktes und manche von jenen, welche an das unbegrenzte Wachstum, an ewige kapitalistische Märkte glaubten und all ihre Ersparnisse auf der Basis dieser Mythologie investierten, sprangen nun von Wolkenkratzern. Darüber hinaus war dies keine Krise wie diejenigen des 19. Jahrhunderts mit ihrer Regelmäßigkeit, dass es möglich wurde, von „Zehnjahreszyklen“ zu reden. In jener Zeit wurden nach einer kurzen Baisse neue Märkte auf der ganzen Welt gefunden und neue noch stärkere Wachstumsphasen setzten ein. Außerdem waren die Krisen der 1870er Jahre bis 1914, einer Zeit charakterisiert von beschleunigten imperialistischen Kämpfen zur Eroberung der noch verbleibenden nicht-kapitalistischen Regionen, bei weitem weniger gewaltig, obwohl sie das Zentrum des Systems betrafen, als diejenigen Krisen, welche den Kapitalismus in seiner Jugend trafen. Und das trotz des Geredes um die „große Depression“ der 1870er und 1890er Jahre, welche in gewissem Ausmaß das Ende der britischen Vorherrschaft über die Weltwirtschaft widerspiegelte.

Auf keinen Fall aber ist ein Vergleich möglich zwischen den ökonomischen Problemen des 19. Jahrhunderts und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Es war ein qualitativ neues Level: die Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation änderten sich fundamental. Es war eine weltweite Depression. Von ihrem Ausgangspunkt, den USA, traf sie das fast vollständig von Amerika abhängige Deutschland und das restliche Europa. Die Krise war ebenso zerstörerisch in den Kolonien oder semi-abhängigen Regionen, welche von ihren imperialistischen „Besitzern“ genötigt waren die Produkte zu produzieren, welche in den Metropolen nachgefragt wurden. Der plötzliche Sturz der Weltmarktpreise ruinierte die Mehrheit dieser Regionen.

Als Maßstab für das Ausmaß der Krise kann die Tatsache genommen werden, dass die Weltproduktion während des Ersten Weltkrieges um 10% sank, als Resultat der Krise jedoch um nicht weniger als 36.2%<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]-->. In den USA, welche stark vom Krieg profitiert hatten, fiel die industrielle Produktion um 53.8%. Schätzungen zur Arbeitslosigkeit variieren, aber nach Sternbergs Quellen waren es 40 Millionen in den wichtigen kapitalistischen Ländern. Der Rückgang des Welthandels war ähnlich katastrophal, er sank auf einen Drittel des vor-1929-Levels. Aber der hauptsächliche Unterschied zwischen der Weltwirtschaftskrise und den Krisen des 19. Jahrhunderts war, dass es keinen Automatismus mehr gab, der zu einem neuen Expansionszyklus in bisher nicht-kapitalistische Regionen des Globus geführt hätte. Die Bourgeoisie begriff bald, dass die „unsichtbare Hand“ des Marktes die Wirtschaft sobald nicht mehr heilen würde. Also musste sie den naiven Liberalismus eines Coolidge oder Hoover über Bord werfen und erkennen, dass der Staat fortan despotisch in die Wirtschaft würde eingreifen müssen, um das kapitalistische System zu bewahren. Diese Erkenntnis wurde hauptsächlich von Keynes in die Form einer Theorie gegossen. Keynes verstand, dass der Staat serbelnde Industrien aufpeppen musste und einen künstlichen Markt kreieren sollte, um die Unfähigkeit des Systems, sich neue Märkte zu erschliessen, zu kompensieren: das war die Bedeutung der massiven „öffentlichen Arbeiten“ von Roosevelts New Deal, der Unterstützung der neuen CIO Gewerkschaften zur Vereinfachung der Ankurbelung der Konsumnachfrage und so weiter. In Frankreich nahm die neue Politik die Form der Volksfront an. In Deutschland und Italien stand der Faschismus genauso für diese neu Politik wie in Russland der Stalinismus. Die zugrunde liegende Bedeutung war dieselbe. Die neue Epoche des Kapitalismus war die Epoche des Staatskapitalismus.

Aber Staatskapitalismus existiert in keinem Land isoliert vom Rest. Im Gegenteil ist er definiert durch die Notwendigkeit die nationale Wirtschaft in Konkurrenz mit anderen Nationen zu zentralisieren und zu verteidigen. In den 30ern hatte dies einen ökonomischen Aspekt – Protektionismus wurde als Mittel gesehen, die eigenen Märkte und Industrien gegen den Übergriff von Industrien und Märkten anderer Länder zu beschützen. Aber es hatte einen noch signifikanteren militärischen Aspekt, da die ökonomische Konkurrenz das Abgleiten in einen weiteren Weltkrieg beschleunigte. Staatskapitalismus ist in seiner Essenz eine Kriegsökonomie. Der Faschismus, welcher laut mit den Vorteilen des Krieges prahlte, war der offensichtlichste Ausdruck dieser Tendenz. Unter dem Hitlerregime reagierte das deutsche Kapital auf seine schwere wirtschaftliche Situation mit dem Einstieg in eine wahnsinnige Wiederaufrüstung. Dies hatte den „Vorteil“, die Arbeitslosigkeit rapide zu senken. Aber das war nicht das Ziel der Kriegsökonomie selbst; viel mehr war es ihr Ziel, sich auf eine neue gewalttätige Aufteilung der Märkte vorzubereiten. In ähnlicher Weise bereitete sich das stalinistische System in Russland mit seiner rücksichtslosen Unterordnung des proletarischen Lebensstandards unter die Produktion der Schwerindustrie darauf vor, eine militärische Macht zu werden, mit der man rechnen musste. Zusammen mit Nazideutschland und dem militaristischen Japan (welches schon mitten in einer militärischen Kampagne zur Eroberung der Mandschurei 1931 und des Restes von China 1937 stand) war der „Erfolg“ dieser Regime, der ökonomischen Krise zu entkommen, direkt verbunden mit ihrem Willen, alle Produktion den Bedürfnissen des Krieges zu unterordnen. Die Entwicklung einer Kriegswirtschaft war aber auch der wahre Hintergrund der massiven öffentlichen Programme in den Ländern des „New Deals“ und der Einheitsfront. Diese waren einfach um einiges langsamer darin, ihre Fabriken auf die massive Produktion von Waffen und Kriegsmaterial auszurichten.

Victor Serge beschrieb die Zeit der 30er Jahre einmal als „Mitternacht des Jahrhunderts“. Nicht weniger als der Erste Weltkrieg bewies die Krise von 1929 die Senilität der kapitalistischen Produktionsweise. Hier hatte man in einem viel größeren Ausmaß als im
19. Jahrhundert eine „Epidemie, welche in allen vorangegangenen Epochen absurd erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion“
<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]-->. Millionen hungerten und wurden in eine erzwungene Untätigkeit geworfen. Nicht weil die Fabriken und Felder zu wenig produzierten, sondern weil „zu viel“ produzierten als dass es der Markt noch hätte absorbieren können. Es war eine weitere Bestätigung der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution.

Aber der erste Versuch des Proletariats, die historische Notwendigkeit herbeizuführen, war in den späten 20ern definitiv besiegt und überall triumphierte die Konterrevolution. Diese erreichte die schrecklichste Ausprägung genau in den Ländern, in welchen die Revolution am weitesten gekommen war. In Russland nahm sie die Form der Arbeitslager und Massenexekutionen an; die Deportation ganzer Volksgruppen, vorsätzliches zu Tode Hungern von Millionen von Bauern; Stachanovsche Super-Ausbeutung in den Fabriken. Auf dem kulturellen Level nahm die Konterrevolution die Form der Zurückweisung all der sozialen und künstlerischen Experimente der frühen Revolutionsjahre und der Rückkehr zu höchst philisterhaften bürgerlichen Gewohnheiten und offiziell verfügtem realsozialistischem „Geschmack“ an.

In Deutschland und Italien war das Proletariat näher an der Revolution als in allen anderen europäischen Ländern. Die Konsequenz seiner Niederlage war die Errichtung brutalster Polizeiregime. Der Faschismus war eine weitgreifende Bürokratie von Informanten, eine barbarische Verfolgung von Dissidenten sowie sozialen und ethnischen Minderheiten. Darunter am prominentesten und hässlichsten vertreten, ist die Verfolgung der Juden in Deutschland. Das Naziregime zertrampelte Jahrhunderte von Kultur und wälzte sich in okkulten und pseudo-wissenschaftlichen Theorien über die zivilisierende Mission der arischen Rasse, verbrannte Bücher mit undeutschen Inhalten und verherrlichte die Tugenden von Blut, Boden und Eroberung. Trotzki sah die Zerstörung der Kultur in Deutschland als äußerst beredten Beweis für die Dekadenz der bürgerlichen Kultur an:

„Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder zwölfte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein. Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken, tragen unter dem Sweater Amulette. Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.“<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]-->

Aber genau weil der Faschismus der konzentrierte Ausdruck des Zerfalls des Kapitalismus war, war es ein purer Mythos zu denken, dass man den Faschismus bekämpfen könne, ohne den Kapitalismus anzugreifen, wie dies verschiedene „Anti-Faschisten“ dachten. Das zeigte sich sehr klar in Spanien 1936: Die Arbeiter von Barcelona antworteten auf den Staatsstreich des rechten Generals Franco mit ihren eigenen Methoden des Klassenkampfes – Generalstreik, Verbrüderung mit den Truppen, Bewaffnung der Arbeiter – und lähmten die faschistische Offensive innerhalb von Tagen. In dem Moment, in welchem sie ihren Kampf der demokratischen Bourgeoisie, der Volksfront, übergaben, waren sie verloren, wurden in einen zwischen-imperialistischen Wettbewerb gezwungen, welcher die Probe für ein noch größeres Massaker werden sollte. Wie die Italienische Linke nüchtern konstatierte, war der Krieg in Spanien eine schreckliche Bestätigung ihrer Prognose, dass das Weltproletariat besiegt war; und da das Proletariat das einzige Hindernis für den Kapitalismus auf seinem Weg in den Krieg war, standen die Tore nun weit offen für einen weiteren Weltkrieg.

Eine neue Stufe der Barbarei

Das Bild Guernica von Pablo Picasso ist berechtigterweise bekannt als bahnbrechende Darstellung des modernen Krieges. Die blinde Bombardierung der Bevölkerung dieser spanischen Stadt durch deutsche Flugzeuge die Francos Armee unterstützen war ein grosser Schock, denn es war ein relativ neues Phänomen. Die Bombardierung von zivilen Zielen aus der Luft war im Ersten Weltkrieg beschränkt und militärisch ineffektiv gewesen. Die grosse Mehrzahl der Gefallenen waren in diesem Krieg Soldaten auf den Schlachtfeldern. Der Zweite Weltkrieg zeigte, dass der niedergehende Kapitalismus seine Fähigkeit zur Barbarei steigerte, denn nun war die grosse Mehrheit der Gefallenen Zivilpersonen: „Die geschätzte Zahl der im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Personen, unabhängig vom Kriegslager, belief sich auf etwa 72 Millionen. Die Anzahl Zivilpersonen betrug davon rund 42 Millionen, eingeschlossen der 20 Millionen durch Hunger und durch den Krieg hervorgerufene Krankheiten Umgekommene. Die militärischen Verluste beliefen sich auf rund 25 Millionen und ca. 5 Millionen Kriegsgefangene“<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]-->.

Der schrecklichste und konzentrierteste Ausdruck dieses Horrors war die industriell vollführte Ermordung von Millionen von Juden und anderen Minoritäten durch das Nazi-Regime. Sie wurden in Gruppen in den Ghettos und Wäldern Osteuropas erschossen, geknüppelt und zu Tode geschuftet als Sklavenarbeiter und zu Hundertausenden in den Lagern von Auschwitz, Bergen-Belsen und Treblinka vergast. Der Tod von Zivilpersonen durch die Bombardierung der Städte durch beide Kriegslager war nun Beweis, dass die systematische Ermordung von Unschuldigen die allgemeine Zukunft des Krieges darstellte. Auf dieser Ebene überrundeten die Demokratien die Abscheulichkeiten der faschistischen Staaten mit ihren Flächen- und Feuerbombardierungen deutscher und japanischer Städte und sie machten den deutschen „Blitzkrieg“ im Gegensatz dazu fast zu einem Amateurakt. Der symbolische Höhepunkt dieser neuen Methode der Massenschlächterei war die atomare Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki, doch was die Zahl der Opfer angeht waren die „konventionellen“ Bombardierungen von Tokio, Hamburg und Dresden noch tödlicher.

Der Einsatz von Atomwaffen durch die USA eröffnete auf zweierlei Weise eine neue Ära. Erstens bestätigte es, dass der Kapitalismus ein System des permanenten Krieges war. Auch wenn die Atombomben den endgültigen Kollaps der Achsenmächte noch besiegelten, so eröffneten sie gleichzeitig eine neue Kriegsfront. Das wirkliche Ziel von Hiroshima war nicht Japan, das schon in den Knien war und einen Friedensvertrag ersuchte, sondern die UdSSR. Es war eine Warnung an Russland seine imperialistischen Ambitionen im Fernen Osten und in Europa zu mässigen. Denn, „die amerikanische Staatsspitze erarbeitete einen Plan, nach dem die 20 grössten sowjetischen Städte in den ersten 10 Wochen nach dem Krieg mit Atombomben zerstört werden konnten“<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]-->. Oder in anderen Worten ausgedrückt, die Atombomben wurden zu Ende des Zweiten Weltkrieges nur deshalb eingesetzt um die Frontlinien für einen dritten zu diktieren. Es füllte die Warnung Rosa Luxemburgs über die „letzten Konsequenzen“ des Zeitalters des unbegrenzten Krieges mit einer neuen und beängstigenden Realität. Die Atombomben demonstrierten die Fähigkeit des kapitalistischen Systems das Leben auf diesem Planeten auszulöschen.

Die Jahre zwischen 1914 und 1945, die Hobsbawm als das „Zeitalter der Katastrophe“ beschrieb, waren eine klare Bestätigung der Diagnose, dass der Kapitalismus ein dekadentes soziales System geworden war, so wie das alte Rom oder der Feudalismus. Die Revolutionäre welche die Verfolgungen und Demoralisierungen der 30er und 40er Jahre überlebt hatten und vor und während des Krieges für internationalistische Prinzipien gegen beide Kriegslager eintraten, waren nur eine Handvoll. Doch für die meisten von ihnen war es ein absolutes Prinzip. Zwei Weltkriege, die unmittelbare Gefahr eines dritten, sowie eine Erfahrung einer ökonomischen Krise von unglaublichem Ausmass schienen es für sie für immer bestätigt zu haben.

In den folgenden Jahrzehnten kamen aber dennoch Zweifel auf. Das Weiterbestehen des Kapitalismus beutete jetzt, dass die Menschheit unter einer permanenten Zerstörung leben musste. Die darauf folgenden 40 Jahre waren geprägt durch einen nie endenden Konflikt und eine Feindschaft zwischen den beiden neuen imperialistischen Blöcken, auch wenn sie nicht direkt einen dritten Weltkrieg entfachten. Eine ganze Serie von Stellvertreterkriegen im Mittleren- und Fernen Osten und in Afrika brach aus, und sie brachten die Welt verschiedentlich an den Rand einer Katastrophe, besonders während der kubanischen Raketenkrise 1962. Nach offiziellen Schätzungen starben in all diesen Kriegen mehr als 20 Millionen Menschen, oft werden auch mehr angegeben.

Diese Kriege spielten sich in den unterentwickelten Teilen der Erde ab und in den Nachkriegszeiten litt die Bevölkerung unter massiver Armut und Unterernährung. In den mächtigsten westlichen kapitalistischen Ländern fand ein spektakulärer Boom statt, den die bürgerlichen Experten rückblickend „Die Jahre des Wirtschaftswunders“ nannten. Die Wachstumsraten erreichten oder übertrafen oft sogar diejenigen des 19. Jahrhunderts, die Löhne stiegen, Sozialeinrichtungen und Krankenversorgung wurden unter der Ägide des Wohlfahrtsstaates eingeführt… 1960 gab in England Premierminister Harold Macmillan der Arbeiterklasse bekannt, dass „sie es noch nie so gut gehabt habe“. Die Soziologen entwickelten neue Theorien über den Eintritt des Kapitalismus in die „Konsumgesellschaft“ in der die Arbeiterklasse „verbürgerlicht“ sei durch eine niemals endende Wohlstandsflut von Fernsehern, Waschmaschinen, Autos und Ferienangeboten. Für viele, eingeschlossen einige aus dem Lager der revolutionären Bewegung, schien diese Periode zu bestätigen, dass die Auffassung eines Eintritts des Kapitalismus in seine Dekadenz nicht mehr gültig sei und es schien als Beweis eines fast unlimitierten Wachstums des Kapitalismus. „Radikale“ Theoretiker wie Marcuse begannen sich anderswo als bei der Arbeiterklasse nach einem revolutionären Subjekt umzusehen – bei den Bauern der Dritten Welt oder den rebellierenden Studenten der kapitalistischen Grossstädte.

Eine Gesellschaft im Zerfall

Wir werden noch auf eine genauere Erklärung dieses Nachkriegsbooms zurückkommen, indem wir die Mittel des dekadenten Kapitalismus untersuchen, die er zur Besänftigung der unmittelbaren Konsequenzen seiner Widersprüche ergreift. Wie auch immer, diejenigen die meinten, dass der Kapitalismus seine Widersprüche abschaffen kann, wurden Ende der 1960er Jahre als oberflächliche Empiriker entlarvt, denn damals tauchten die ersten klaren Symptome einer neuen ökonomischen Krise in den westlichen Ländern auf. Mitte der 1970er Jahre wurde die Geschichte handfest: Die Inflation begann die meisten Ökonomien zu bedrängen und führte zu einer Abkehr von den keynesianistischen Methoden des direkten Einsatzes der Staatsmacht zur Steuerung der Wirtschaft, wie es in den vorangegangenen Jahrzehnten gut gewirkt hatte. Die 80er Jahre waren die Jahre des Thatcher- und Reaganismus, die grundsätzlich beinhalteten, dass die Krise sich selber überlassen wurde und die schwächsten Unternehmen verschwinden mussten. Die Inflation wurde durch die Rezession kuriert. Seither erlebten wir verschiedene Mini-Booms und Mini-Rezessionen und die Ideologie des Thatcherismus lebt in der Form des Neo-Liberalismus und der Privatisierungen weiter. Doch hinter all den Sprüchen über ein Zurück zu den ökonomischen Werten des freien Unternehmertums der Zeit von Königin Victoria bleibt die Rolle des Staates so bestimmend wie immer. Er manipuliert das wirtschaftliche Wachstum mit allen möglichen finanziellen Manövern die auf einem anwachsenden Berg von Schulden beruhen. Dies wird vor allem in den USA ersichtlich, deren weltweite Macht vom Wechsel von einem Geber- zu einem Schuldnerstaat begleitet wurde und das heute unter Rund 36’000 Milliarden Dollar Schulden leidet<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]-->. „Dieser Schuldenberg stellt nicht nur in Japan, sondern auch in den anderen entwickelten Ländern ein potenziell destabilisierendes Pulverfass dar. Eine grobe Schätzung der weltweiten Verschuldung der Gesamtheit aller Wirtschaftsakteure (Staaten, Unternehmen, Haushalte, Banken) schwankt zwischen 200 und 300% des Weltsozialprodukts. Das bedeutet konkret zweierlei Dinge: Einerseits hat das System ein monetäres Äquivalent im Umfang des zwei- bis dreifachen Wertes der gesamten globalen Produktion vorgeschossen, um der drückenden Überproduktion entgegenzutreten; anderseits müsste man zwei bis drei Jahre gratis arbeiten, um diese Schulden zu begleichen. Eine solch massive Verschuldung können die entwickelten Ökonomien heute noch ertragen, die „aufstrebenden“ Länder hingegen drohen eines nach dem anderen daran zu ersticken. Diese auf Weltebene phänomenale Verschuldung ist historisch beispiellos und drückt gleichzeitig sowohl die Tiefe der Ausweglosigkeit aus, in der sich der Kapitalismus befindet, als auch seine Fähigkeit zur Manipulation des Wertgesetzes, um die Zahlungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.“<!--[if !supportFootnotes]-->[8]<!--[endif]-->

Während uns die Bourgeoisie glauben machen will, wir sollten doch Vertrauen haben in ihre Bluffs wie die „Computer-Ökonomie“ oder andere „technologische Revolutionen“, erzeugt die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von den Schulden unterirdische Probleme welche in der Zukunft unweigerlich gewaltige Eruptionen hervorbringen werden. Wir haben das immer wieder gesehen. Die 1997 in die Knie gegangenen asiatischen „Tiger- und Drachenstaaten“ waren wohl das deutlichste Beispiel. Doch heute wird wiederum behauptet, dass die spektakulären Wachstumszahlen Chinas und Indiens den Weg in die Zukunft bedeuten würden. Doch im selben Atemzug kommt schon die Angst über ein eventuelles Scheitern zum Vorschein. Chinas Wachstum basiert vor allem auf billigen Exporten in den Westen und die Konsumfähigkeit des Westens basiert auf einer massiven Verschuldung… Was also geschieht wenn die Schulden zurückgefordert werden? Hinter dem durch Schulden ermöglichten Wachstum der letzten zwei Jahrzehnte ist die Empfindlichkeit der ganzen Geschichte an einigen seiner negativen Aspekte offen zu erkennen: die Desindustrialisierung ganzer Gebiete der westlichen Ökonomien, die eine Reihe von unproduktiven und oft prekären Arbeitsplätzen hervorbringt, welche immer mehr mit den parasitären Gebieten der Wirtschaft verhängt sind; die zunehmende Armutsschere nicht nur zwischen den zentralen kapitalistischen Ländern und den ärmsten Region, sondern auch innerhalb der entwickeltsten Ökonomien; die Unfähigkeit die permanente Massenarbeitslosigkeit zu beheben, welche mit statistischen Tricks verschleiert wird (Umschulungsprogramme die nirgendwohin führen oder die andauernde Neudefinition von Arbeitslosigkeit, usw.).

Auf der ökonomischen Ebene hat der Kapitalismus also keineswegs seine Tendenz hin zur Katastrophe überwunden. Dasselbe gilt für die imperialistischen Konflikte. Als der Ostblock zu Ende der 1980er Jahre kollabierte, das dramatische Ende von vier Jahrzehnten „Kalter Krieg“, kündigte der damalige US-Präsident Bush Senior großartig den Beginn einer neuen Weltordnung des Friedens und des Wachstums an. Doch weil der dekadente Kapitalismus permanenter Krieg bedeutet, können imperialistische Konflikte ihr Gesicht ändern, doch sie können nicht verschwinden. Wir sahen dies 1945 und ebenfalls 1991. Anstelle relativ „disziplinierter“ Konflikte zwischen zwei Blöcken existieren heute die zunehmend chaotischen Kriege des „Jeder gegen Jeden“. Die einzig übrig gebliebene Supermacht USA ist mehr und mehr gezwungen sich in militärische Wagnisse zu stürzen, um ihre schwindende Autorität zu sichern. Doch immer wenn die USA die Karte der militärischen Überlegenheit auszuspielen versucht, führt dies zu einer Verstärkung des Widerstandes dagegen. Dies war der Fall nach dem ersten Golfkrieg 1991. Auch wenn die ehemaligen Alliierten Deutschland und Frankreich gezwungen waren für eine beschränkte Zeit den Feldzug gegen Saddam Hussein zu unterstützen, so wurde es innert weniger Jahre offensichtlich, wie die alte Blockdisziplin für immer zerfiel. In den Kriegen auf dem Balkan führten zuerst Deutschland (mit seiner Unterstützung für Kroatien und Slowenien) und dann Frankreich (durch seine permanente Unterstützung für Serbien, während die USA begann Bosnien den Rücken zu stärken) einen Stellvertreterkrieg gegen die USA. Selbst England, der „Handlanger“ der USA, befand sich auf der anderen Seite, indem es Serbien so lange unterstützte, bis es am Ende die amerikanischen Bombardierungen Serbiens nicht mehr verhindern konnte. Der gegenwärtige „Krieg gegen den Terrorismus“ – ausgelöst durch die Zerstörung der Twin Towers durch ein Selbstmordkommando am 11. September 2001 (welches eventuell sogar durch den amerikanischen Staat manipuliert wurde), ein weiteres Zeugnis der heutigen Barbarei – hat diese Differenzen noch vertieft. Frankreich, Deutschland und Russland formierten eine Koalition gegen die Eröffnung des Krieges im Irak. Und die Konsequenzen der Invasion von 2003 sind schlimmer als je gedacht. Weit davon entfernt die Kontrolle der USA im Mittleren Osten zu festigen und damit die „allgegenwärtige Dominanz“, von der die Neo-Konservativen und die Bush-Administration träumten, hat die Invasion die gesamte Region in ein Chaos gestürzt und auch eine zunehmende Instabilität in Israel/Palästina, Libanon, Iran, Türkei, Afghanistan und Pakistan mit sich gebracht. In der Zwischenzeit wurde das imperialistische Gleichgewicht durch das Auftauchen von Indien und Pakistan als Atommächte verändert. Und auch der Iran, der durch den Zerfall seines großen Rivalen Irak seine imperialistischen Ambitionen verstärkt sieht, wird diesen Schritt eventuell bald machen. Das imperialistische Gleichgewicht wurde auch aus den alten Fugen gebracht durch das erneute rivalisierende Auftreten Russlands gegenüber seinen westlichen Konkurrenten, durch Chinas wachsendes Gewicht weltweit, durch die Vermehrung der so genannten „Schurkenstaaten“ im Mittleren- und Fernen-Osten und in Afrika und die Ausbreitung des Terrorismus im Namen des Islams (der oft im Dienste großer imperialistischer Staaten steht, aber auch als unberechenbarer Faktor für sich selber agiert). Die Welt ist seit dem Ende des Kalten Krieges nur zunehmend gefährlicher geworden.

Während des gesamten 20. Jahrhunderts war man sich schon der Gefahr der ökonomischen Krisen und der imperialistischen Kriege für die Menschheit bewusst. Doch in den letzten Jahrzehnten wurde eine dritte Dimension des kapitalistischen Desasters augenscheinlich: die ökologische Zerstörung. Die kapitalistische Produktionsweise, gekennzeichnet durch die irrwitzige Konkurrenz um die letzten Marktanteile, dehnte sich in jede Ecke des Planeten aus, um alle Ressourcen auszuplündern, koste es was es wolle. Das gepriesene „Wachstum“ ist mehr und mehr wie ein Krebsgeschwür, das an der Welt haftet. In den letzten zwei Jahrzehnten rückte dieses Problem zunehmend in das öffentliche Bewusstsein, denn was wir heute sehen ist das Resultat eines schon lange andauernden Prozesses und das ökologische Problem steigert sich heute auf eine höhere Stufe. Die Verschmutzung der Luft, der Flüsse und der Meere durch industrielle Emissionen und den Warentransport, die Zerstörung der Regenwälder und anderer Naturgebiete, die Ausrottung unzähliger Tierarten, sind heute alarmierend. Sie kommen zusammen mit dem Klimawandel, der zunehmende Überschwemmungen ganzer Gebiete der Menschheit erzeugt und Dürren, Hunger und Seuchen auslöst. Der Klimawandel selber kann eine Spirale von Katastrophen auslösen, wie es unter anderem der gerühmte Physiker Stephen Hawking beschrieb. In einem ABC-News Interview erklärte er im August 2006: „Es besteht die Gefahr einer Rückkoppelung der globalen Erwärmung, wenn dies nicht bereits schon der Fall ist. Das Abschmelzen des arktischen und antarktischen Eises reduziert den Anteil der Sonnenenergie welche in die Atmosphäre zurückgestrahlt wird, und dies erhöht erneut die Temperatur. Der Klimawandel kann den Amazonas und andere Regenwälder zerstören und damit einen der einzigen Wege eliminieren auf dem CO2 aus der Atmosphäre absorbiert wird. Der Anstieg der Meerestemperatur kann die Freisetzung großer Mengen von Methan bewirken, welche in Form von Hydraten auf dem Meeresboden gebunden sind. Diese Phänomene verstärken den Treibhauseffekt und damit die globale Erwärmung. Wir müssen die globale Erwärmung sofort stoppen, falls dies überhaupt noch möglich ist.“

Die Dynamiken des ökonomischen, militärischen und ökologischen Kollapses sind nicht getrennt – sie haben einen engen Zusammenhang. Kapitalistische Länder, die mit dem wirtschaftlichen Ruin und ökologischen Katastrophen konfrontiert sind, werden ihren Absturz nicht friedlich hinnehmen, sondern nach militärischen Lösungen auf Kosten der Nachbarn suchen.

Es stellt sich für uns heute mehr denn je die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“. Und wenn nach den Worten Rosa Luxemburgs der Erste Weltkrieg schon die Barbarei war, so besteht heute die Gefahr, dass die Menschheit und im speziellen ihre einzige Kraft, die sie retten kann, das Proletariat, in den weltweiten Strudel der Barbarei gerissen wird bevor es seine Lösung durchsetzen kann.

Das ökologische Desaster zeigt dies deutlich auf. Der Kampf der Arbeiterklasse kann darauf kaum einen Einfluss haben, bevor das Proletariat die Macht ergriffen hat und in der Lage ist die Produktion und den Verbrauch auf Weltebene anders zu organisieren. Je länger eine Revolution hinausgezögert wird, desto größer ist die Gefahr, dass die Zerstörung der Umwelt die Grundlagen für eine kommunistische Umwälzung zunichte macht. Dasselbe gilt für die sozialen Auswirkungen der heutigen Phase der Dekadenz. In den Städten gibt es eine wachsende Tendenz hin zum Verlust der Klassenidentität als Arbeiterklasse. Die junge Generation ist mit dem Problem, Opfer der Gangmentalität zu werden konfrontiert, mit irrationalen Ideologien und nihilistischer Hoffnungslosigkeit. Und auch hier besteht die Gefahr, dass es für die Arbeiterklasse einmal zu spät sein kann, sich als revolutionäre soziale Kraft zu formieren.

Die Arbeiterklasse darf ihr wirkliches Potential nie vergessen. Die herrschende Klasse war sich darüber immer sehr bewusst. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wartete die Bourgeoisie ängstlich auf die Antwort der Sozialdemokratie, denn sie wusste genau, dass sie ohne deren aktive Unterstützung die Arbeiter nicht in den Krieg mobilisieren konnte. Diese ideologische Niederlage, welche von Rosa Luxemburg angeprangert wurde, war die unabdingbare Bedingung zur Auslösung des Krieges. Erst das erneute Erwachen der Arbeiterklasse ab 1916 beendete den Krieg schließlich wieder. Umgekehrt war es die Niederlage und die Demoralisierung nach dem Zurückfluten der weltrevolutionären Welle, welche den Weg hin zum Zweiten Weltkrieg ebnete und es bedurfte einer langen Periode der Repression und ideologischen Vergiftung, bis sich die Arbeiterklasse in die zweite weltweite Schlächterei treiben ließ. Die herrschende Klasse war sich damals auch der Notwendigkeit von Präventivschlägen gegen die Gefahr einer Wiederholung der Revolution von 1917 und einer Kriegsbeendigung durch das Proletariat bestens bewusst. Dieses „Klassenbewusstsein“ der Bourgeoisie wurde vor allem durch den sog. „Größten aller Briten“, Winston Churchill, repräsentiert, welcher gut aus seiner Erfahrung bei der Zerschlagung der Gefahr des Bolschewismus von 1917-1920 gelernt hatte. Nach den Massenstreiks der Arbeiter in Norditalien 1943 war es Churchill, der die Leitlinie formulierte „die Italiener in ihrem eigenen Saft schmoren zu lassen“. Dazu wurde das Vorrücken der Alliierten von Süd- nach Norditalien verzögert, um den Nazis die Niederschlagung der italienischen Arbeiter zu erlauben. Churchill verstand auch am besten die Absicht der grauenvollen Bombardierungen Deutschlands in der letzten Phase des Krieges: es ging darum, jegliche Gefahr einer Revolution im Keim zu ersticken, dort wo die Bourgeoisie am meisten Angst davor hatte.

Die weltweite Niederlage und die Konterevolution dauerten vier Jahrzehnte an. Doch bedeutete es nicht das Ende des Klassenkampfes, wie gewisse Leute zu behaupten begannen. Mit dem erneuten Ausbruch der Krise zu Ende der 1960er Jahre begann auch eine neue Generation von Arbeitern für ihre Interessen zu kämpfen. Die „Ereignisse“ des Mai 68, offiziell als „Studentenrevolte“ bekannt, brachten den französischen Staat nur deshalb ins Zittern, weil die Revolte in den Universitäten durch den größten Massenstreik begleitet wurde, den die Geschichte bis dahin gesehen hatte. In den darauf folgenden Jahren erlebten Italien, Argentinien, Polen, Spanien, England und viele andere Länder große Mobilisierungen der Arbeiterklasse, welche oft die „offiziellen Vertreter der Arbeit“, die Gewerkschaften und linken Parteien, im Regen stehen ließen. „Wilde“ Streiks wurden zur Tagesordnung gegen die „disziplinierten“ Mobilisierungen der Gewerkschaften. Arbeiter begannen neue Formen des Kampfes zu entwickeln um dem erstickenden Schema der Gewerkschaften zu entfliehen: Vollversammlungen, selbst gewählte Streikkomitees und die Entsendung von großen Delegationen in andere Betriebe. In den mächtigen Streiks von 1980 in Polen verwendeten die Arbeiter diese Mittel, um ihren Kampf über das ganze Land hinweg zu koordinieren.

Was die unmittelbaren Forderungen angeht, endeten die Kämpfe in den Jahren zwischen 1968 und 1989 oft in Niederlagen. Doch ohne Zweifel, wenn sie nicht stattgefunden hätten, wäre der herrschenden Klasse noch viel mehr Spielraum für Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse offen geblieben, dies besonders in den am höchsten entwickelten Ländern. Der Widerstand der Arbeiterklasse, alle Auswirkungen der kapitalistischen Krise ausbaden zu müssen, bedeutete aber auch eine Ablehnung gegen die Mobilisierung in einen neuen Krieg. Denn das Wiederauftauchen der Krise bedeutete ab den 70er Jahren, und noch mehr in den 80er Jahren, eine deutliche Verschärfung der imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Blöcken. Der imperialistische Krieg ist untrennbar von der ökonomischen Krise des Systems, auch wenn der Krieg keine „Lösung“ für die Krise bringt, sondern nur einen noch größeren Ruin. Doch um einen Krieg direkt gegen die Hauptgegner führen zu können, braucht die herrschende Klasse einen Verbündeten in Form eines ideologisch unterworfenen Proletariates, und dies hatte sie damals nicht. Dies zeigte sich am deutlichsten im damaligen Ostblock: Die russische Bourgeoisie, am heftigsten zur Suche nach einer militärischen Lösung ihres ökonomischen Kollapses und der zunehmenden militärischen Umzingelung gedrängt, musste einsehen, dass sie ihre Arbeiterklasse nicht als Kanonenfutter in einen Krieg gegen den Westen führen konnte. Die Massenstreiks in Polen 1980 waren ein klares Signal dafür. Es war diese Sackgasse, welche 1989-91 zum Zusammenbruch des Ostblocks führte.

Das Proletariat selber war aber auch nicht in der Lage seine eigene Lösung gegenüber all den Widersprüchen des Kapitalismus durchzusetzen: Die Perspektive einer neuen Gesellschaft. Gewiss, der Mai 68 brachte diese Frage massiv aufs Tapet und erzeugte eine neue Generation von Revolutionären. Diese blieben aber eine verschwindend kleine Minderheit. Angesichts der Zuspitzung der ökonomischen Krise blieben die meisten Kämpfe der 1970er und 80er Jahre aber auf einem Niveau der Defensive und auf der Ebene der wirtschaftlichen Forderungen stehen. Zugleich hatten Jahrzehnte von Enttäuschungen über die „traditionellen“ linken Parteien in den Reihen der Arbeiterklasse ein tiefes Misstrauen gegenüber jeglicher „Politik“ erzeugt.

Damit entstand eine Art Blockade im Klassenkampf: Die Bourgeoisie hat der Menschheit keine Perspektive mehr anzubieten und das Proletariat hat seine eigene Zukunft noch nicht wieder entdeckt. Doch die Krise des Systems steht nicht still und das Resultat dieser Blockade ist ein Zerfall der Gesellschaft auf allen Ebenen. Auf der imperialistischen Ebene äußerte sich dies Ende der 1980er Jahre in der Auflösung der zwei Blöcke und damit rückte die Gefahr eines Weltkriegs zwischen großen Blöcken für unbestimmte Zeit in den Hintergrund. Wie wir aber sehen, setzt dies das Proletariat und die gesamte Menschheit einer neuen Gefahr aus, einer schleichenden Barbarei, die in vielen Belangen heimtückischer ist.

Die Menschheit befindet sich an einem Scheidepunkt. Die Jahre und Jahrzehnte vor uns können die wegweisendsten der Geschichte sein. Sie werden darüber entscheiden, ob die menschliche Gesellschaft in einen unaufhaltbaren Rückschritt oder gar einen Untergang eintritt, oder ob sie den Schritt auf eine neue Stufe der Entwicklung schafft, in der die Menschheit wenigstens in der Lage ist, die eigenen sozialen Kräfte zu kontrollieren. Wo sie fähig wird eine Welt zu schaffen, welche in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Menschheit steht.

Es ist unsere Überzeugung als Kommunisten, dass es für die zweite Alternative noch nicht zu spät ist und dass die Arbeiterklasse trotz all der materiellen und ideologischen Angriffe, unter denen sie in den letzten Jahrzehnten gelitten hat noch fähig ist zu widerstehen. Sie ist die einzige Klasse, welche dem Abgleiten in den Abgrund entgegentreten kann. Seit 2003 gibt es eine bemerkenswerte Entwicklung von Arbeiterkämpfen auf der ganzen Welt. Gleichzeitig erleben wir das Auftauchen einer neuen Generation von Gruppen und Einzelpersonen, welche das heutige System grundlegend in Frage stellen und gewissenhaft nach einem fundamentalen sozialen Wechsel streben. Mit anderen Worten: wir sehen greifbare Anzeichen einer Reifung des Klassenbewusstseins.

In dieser chaotischen Welt fehlt es nicht an falschen Erklärungen für die gegenwärtige Krise. Religiöser Fundamentalismus – seien es muslimische oder christliche Varianten – und der ganze Wulst von okkultistischen und verschwörerischen Erklärungen der Geschichte grassieren heute deshalb so stark, weil die Anzeichen eines apokalyptischen Endes der Welt schwer zu leugnen sind. Doch dieser Rückschritt zur Mythologie führt lediglich in eine Passivität und Hoffnungslosigkeit, denn er ordnet die Fähigkeit der Menschen zur Selbstbestimmung irgendwelchen Kräften unter, die angeblich über die Menschheit bestimmen würden. Die wohl charakteristischsten Ausdrücke dieses Kults sind die islamischen Selbstmordkommandos, deren Aktionen nur Ausdruck der Hoffnungslosigkeit sind, oder die Evangelisten in den USA, welche den Krieg und die ökologischen Zerstörung als Vorboten einer zukünftigen Ekstase glorifizieren. Und während sich die Vernunft und der „gesunde Menschenverstand“ der Bourgeoisie über diese Fanatiker lustig macht trifft sein Spott auch all jene, die aus den vernünftigsten und wissenschaftlichsten Gründen immer mehr zur Überzeugung geraten, dass das gegenwärtige soziale System nicht ewig bestehen wird – und nicht darf. Gegen die Phrasendrescherei der religiösen Kults und gegen die blanke Ignoranz des bürgerlichen Optimismus ist es mehr denn je notwendig, ein tief greifendes Verständnis darüber zu entwickeln, was Rosa Luxemburg das „Dilemma der Menschheitsgeschichte“ nannte. Wie Luxemburg sind auch wir davon überzeugt, dass ein solches Verständnis ausschließlich in der revolutionären Theorie des Proletariates – dem Marxismus und seiner materialistischen Konzeption der Geschichte – zu finden ist.
Gerrard

 


<!--[endif]-->[1]<!--[endif]--> Lenin: Sozialismus und Krieg, Kapitel 1, „Falsche Berufungen auf Marx und Engels“, 1915.
<!--[endif]-->[2]<!--[endif]--> Diese Zahlen schliessen die UdSSR nicht ein. Entnommen aus Sternbergs Buch: Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Rowohlt 1951, S. 227-232.
[3]<!--[endif]--> Kommunistisches Manifest <!--[endif]-->
[4]<!--[endif]--> Trotzki: Portrait des Nationalsozialismus 1933
[6]<!--[endif]--> Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, Achtes Kapitel: „Der Kalte Krieg“.
[7]<!--[endif]--> Summe für das dritte Quartal 2003, geschätzt vom „Council of Governers of the Federal Reserve“ und anderen Staatsstellen. Die Schulden haben seit 1970 um das 23-fache zugenommen. Quelle: https://solidariteeprogres.online.fr/News/Etats-Unis/breve_908.html
[8]<!--[endif]--> Internationale Revue Nr. 32 deutsch, November 2003, „Die Festtage der „Wirtschaftsblüte“ brutal beendet“.