Klassenbewusstsein und die Rolle der Revolutionäre

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Klassenbewusstsein und die Rolle der Revolutionäre

 

"Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung" (Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“; MEW Band 1, S.391)

Diese Auflösung kann jedoch auf keinen Fall ein blinder und streng vorherbestimmter Akt sein – irgendwie das direkte Ergebnis, das schematische Resultat einer bestimmten Anzahl von wirtschaftlichen Ursachen. Im Gegenteil, sie verlangt von ihrem Subjekt ein voll entwickeltes Bewusstsein des zu verwirklichenden Ziels. Wenn man aber eine bürgerliche Betrachtungsweise der Geschichte vertritt, geht dieses Bewusstsein, definiert als ein Empfinden der eigenen Existenz, nicht über eine subjektive und intellektuelle Kategorie, einer Summe von Ideen hinaus, die bei der Interpretation der Realität Anwendung findet.

Denn für jede bürgerliche Wissenschaft ist das Denken, das Bewusstsein getrennt von der allgemeinen Bewegung der Materie, ist es vor allem eine Angelegenheit von isolierten Individuen oder Gruppen von Individuen mit einem vagen gemeinsamen Interesse. Da ihre Argumentation unfähig ist, sich von den groben Verzerrungen der herrschenden Ideologie zu befreien, kann sich die bürgerliche Wissenschaft den Bewusstseinsbildungsprozess deshalb nur als einen rein geistigen Mechanismus vorstellen, der ein Individuum oder gar eine ganze Gruppe mittels einer Kette von Reiz-Reaktion-Nachdenken-Aktion dazu bringt, zu einem Bewusstsein von dem, was er oder sie ist, zu gelangen. Durch die Übertragung dieser Bewegung von einem Individuum auf die Dynamik einer ganzen Gesellschaftsklasse führt diese Betrachtungsweise dazu, Gesellschaftsklassen in individuellen und mythischen Begriffen darzustellen und zu fixieren. Die Arbeiterklasse erscheint somit als erstarrt, als eine ökonomische Kategorie vergegenständlicht. Sie wird auf eine Art dichte Masse reduziert, die wie ein homogenes Wesen ein „Bewusstsein erlangen“ soll, dessen, was sie ist und was sie zu vollbringen hat. Und aus dieser gelehrten zweidimensionalen Betrachtungsweise der Gesellschaft wird die Schlussfolgerung gezogen, dass die Arbeiterklasse nun ganz einfach eine „Klasse für das Kapital“ sei, dass es ausreicht, in der Eigenschaft als wimmelnde Masse zu warten, bis das Bewusstsein sich gleichzeitig und gleichartig im Gehirn eines jeden Arbeiters einfindet, oder dass sie nicht anderes ist als ein menschlicher Körper, mit der Partei als dem Kopf und den Arbeiterräten als den Füßen usw.

Diese vollständig irrige Vorstellung von der historischen Entwicklung einer gesellschaftlichen Klasse, schon von Marx in den Thesen über Feuerbach kritisiert, erklärt sich aus der Tatsache, dass die Bourgeoisie unfähig ist, ihre eigene Existenz in Frage zu stellen, dass sie nur in Begriffen wie Schichten, Kategorien und willkürlichen Unterscheidungen denken kann. Für die Bourgeoisie existiert nur die vollendete und fertige Wirklichkeit einer Welt, die von der Praxis getrennt ist, eine unveränderliche und tote Materie, ein Denken, das die Wirklichkeit wie ein Schleier umspannt, unfähig, sich selbst oder die Realität umzuwandeln. Form und Inhalt, wahrgenommenes Objekt und denkendes Subjekt, Geist und Materie, Theorie und Praxis kleben aufeinander und sind als Paare untrennbar verbunden, aber sie sind ebenso verschieden und werden als eine eigenständige Existenz aufgefasst. Die Welt der Konzepte bildet und verbreitet sich; im Gegensatz dazu begnügt sich die Welt der Objekte, die im Hintergrund des Bewusstseins platziert ist,  damit, "da zu sein". Was ihre Einheit betrifft, die gemäß dem bürgerlichen Geist nichts anderes als jene von zwei parallelen Linien sein kann, die sich irgendwo im Unendlichen treffen, so ist diese auf nichts anderem als einem intellektuellen Zauberkunststück reduziert.

Tatsächlich besteht der Fehler jeglichen Vulgärmaterialismus, selbst wenn er die Bestimmung der Stoffe anerkennt, darin, dass er das Objekt nur unter der äußeren und vom Subjekt unabhängigen Form betrachtet und nicht als menschliche Praxis. Das Klassenbewusstsein braucht angeblich nur in einem theoretischen Programm zusammengefasst und von einer Minderheit vertreten zu werden, während die Arbeiterklasse in der materiellen Welt agiert, unfähig, ohne die Hilfe einer vermittelnden und unverzichtbaren Instanz, die Partei, die für die Vermittlung zwischen der Erfahrung und dem Klassenbewusstsein sorgt, zu einem Bewusstsein zu gelangen. Oder aber das proletarische Bewusstsein ist nichts anderes als eine Art instinktive, unmittelbare Antwort auf  äußere Reize, und die Revolutionäre - aus Angst, diesen natürlichen Stoffwechsel zu stören und zu verletzen - können nur den Kopf in den Sand stecken und warten, bis die Dinge ihren Lauf genommen haben.

Die Revolutionäre ihrerseits geben sich mit dieser grob vereinfachenden Betrachtungsweise nicht zufrieden, da sie sich bewusst sind, dass ihr Bild von der Realität kein Zufallsprodukt und auch nicht das Produkt eines individuellen Willens ist; da ihre Hauptrolle, die sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit spielen, sich nicht auf intellektuelle oder empirische Schilderungen der objektiven und subjektiven Bedingungen der kommunistischen Revolution beschränkt. Und was in ihren Überlegungen als zu abstrakt und zu theoretisch erscheinen mag, ist lediglich als ein notwendiger Schritt, ein Moment in der Praxis ihrer organisierten Intervention. Denn sich eine Bewegung theoretisch vorzustellen, sich das geistiges „Abbild“ einer Entwicklung auszudenken wäre vergleichbar damit, einen Fluss hinunterfahren zu wollen, ohne sich jemals vom Ufer zu lösen. Deshalb begnügen sich die Revolutionäre, da sie keine separaten Interessen gegenüber jenen des Proletariats haben, nicht mit Vorstellungen oder abstrakten Schemen, mit journalistischen oder Alltagsschilderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Als aktiver Teil eines Ganzen, als Produkte und Faktoren einer historischen Entwicklung stellen ihre historischen Überlegungen letzten Endes eine politische Meinungsbildung über die Realität dar, den Wunsch nach radikaler Umwälzung der Gesellschaft. Heute, in der Ära der sozialen Revolution, des Comebacks des Proletariats auf der Bühne der Geschichte, ist die Intervention der Revolutionäre wichtiger denn je - nach einem halben Jahrhundert der Konterrevolution und der Konfusionen, die schwer auf dem Klassenkampf gelastet haben und die durch die grobe Verfälschung der revolutionären Theorie einige Gruppen in die Degeneration führten. Für die heutigen revolutionären Minderheiten ist eine theoretische Klärung Vorbedingung für ihre Aktivitäten innerhalb der Klasse.     

Aus diesem Grund dürfen Überlegungen über das Klassenbewusstsein und die Rolle der Revolutionäre sowie der Partei auf keinen Fall von einer rein theoretischen Seite aus erörtert werden. Wenn die ersten Elemente der hier vorgebrachten Analyse sich noch darauf beschränken, die großen Umrisse zu zeichnen, werden andere Faktoren, die aus der unmittelbaren Erfahrung des Klassenkampfes selbst gewonnen werden, zahlreiche Punkte bejahen, abändern und erklären. Letzten Endes kann nur die Aktivität der Klasse die revolutionäre Theorie bestätigen oder entkräften. Wie Marx in den Thesen über Feuerbach schrieb: „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“ (These Nr. 8)

Die Bedingungen der kommunistischen Revolution

1. Seitdem die kapitalistische Produktionsweise ihre Nützlichkeit aufgebraucht hat, kann sie nur durch die Aktion einer Klasse, die ein generalisiertes Bewusstsein hat und auf Weltebene vereint ist, überwunden werden: das Proletariat. Und diese Bedingung hat solch eine zentrale Bedeutung, dass sie die einzige ist, die den besonderen Charakter der kommunistischen Revolution und den Übergang von einer Produktionsweise, die auf dem Wertgesetz fußt, zu einer höheren Existenzweise verständlich machen kann. Es besteht in der Tat eine große Kluft zwischen dem, was die Menschheit bis heute auf der Ebene ihrer historischen Entwicklung erfahren hat, und dem qualitativen Sprung, auf den sie sich vorbereitet; ein Sprung, um diesem Kreislauf ein Ende zu bereiten und die Menschheit von jeglicher Ausbeutung zu befreien. Und dieser enorme Unterschied ist umso schwerer zu begreifen, da die Aufeinanderfolge der verschiedenen Produktionsweisen in der Geschichte wie eine notwendige, vorbestimmte und mehr oder weniger unbewusste Entwicklung erfolgt ist. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt war die treibende Kraft stets eine revolutionäre Klasse gewesen, die bereits innerhalb des alten, überholten Produktionssystems wirtschaftliche Macht besaß. Dieser qualitative Unterschied spiegelt sich auf dem Niveau des historischen Bewusstseins wider, das für die Zerstörung der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Umwandlung in den Kommunismus notwendig ist. Weit davon entfernt, auf ein geistig einfaches, ideologisches oder individuelles Phänomen reduziert werden zu können, muss dieses Bewusstsein im Kontext einer gesellschaftlichen Klasse betrachtet werden.

2. Das Konzept der Gesellschaftsklasse umfasst nicht einfach eine ökonomische Klassifikation, eine Kategorie oder eine Summe isolierter Individuen. Es beruht hauptsächlich auf einer geschichtlichen Entwicklung, die gemeinsame politische Interessen schmiedet. Das Proletariat existiert als Klasse eigentlich nur aufgrund der geschichtlichen Entwicklung, in der es der Kapitalistenklasse als Todfeind gegenübersteht, und diese Entwicklung hat nur eine reelle Grundlage im Bewusstwerdungsprozess, der sie begleitet. Die kommunistische Revolution unterscheidet sich daher grundlegend von allen vorherigen Revolutionen insofern, als zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die revolutionäre Klasse, d.h. der Träger der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, keine wirtschaftliche Macht innerhalb der alten Gesellschaft besitzt. Das Proletariat ist die erste und letzte revolutionäre Klasse in der Geschichte, die auch eine ausgebeutete Klasse ist. Dies bedeutet, dass es aufgrund der sozioökonomischen Stellung, die es in der kapitalistischen Gesellschaft einnimmt, sich der historischen Ziele voll bewusst sein muss. Es ist in der Tat die einzige Klasse, der es objektiv und subjektiv möglich ist, zu einem Bewusstsein über die gesamte Gesellschaft zu gelangen. Das Proletariat hat keine wirtschaftlichen Wurzeln im kapitalistischen Boden; es besitzt keine Möglichkeit, eine Ideologie auf der Grundlage solcher Wurzeln zu entwickeln, da es nicht den Keim einer neuen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in sich trägt.

Da Ideologien einen politisch-juristischen Überbau und eine wirtschaftliche Basis voraussetzen, die durch die Produktivkräfte bestimmt sind, welche den Menschen weiterhin beherrschen, stellt der Bewusstwerdungsprozess der Arbeiterklasse eine notwendige Vorbedingung der Machtübernahme und der totalen Umwälzung der kapitalistischen Basis dar.

3. Das Proletariat ist die einzige Klasse in der Geschichte, für die die historische Notwendigkeit der Zerstörung des Ausbeutungssystems mit seinen Interessen als revolutionäre Klasse vollständig übereinstimmt; Interessen, die mit den Interessen der ganzen Menschheit verbunden sind. Keine andere Klasse oder Schicht in dieser Gesellschaft kann diese historische Zukunft bewerkstelligen. Deshalb können diese Klassen kein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Umwälzung der gesamten Gesellschaft erlangen, selbst wenn sie eine vage Ahnung von der sie umgebenden Barbarei haben mögen (eine Ahnung, die jedoch immer auf irgendeine Weise durch die herrschende Klasse und durch die Blindheit der bürgerlichen Ideologie deformiert wird).

Von einem kapitalistischen und deshalb ideologischen Standpunkt aus ist die Konstatierung des historischen und Übergangscharakters der Gesellschaft natürlich unmöglich. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind in den Augen der Bourgeoisie auf ewig festgelegt und befinden sich außerhalb des Reiches des menschlichen Willens. Obwohl die Bourgeoisie ihre Mystifikationen mehr oder weniger clever benutzt, wird sie alles daran setzen, den Klassenkampf aus dem Bewusstsein zu verbannen. In diesem Kontext wird heute mit den Hauptmystifikationen der Bourgeoisie versucht, das Proletariat Glauben zu machen, dass ein neues Management, das dem System angemessener ist, den Zusammenbruch des Kapitalismus auf unbestimmte Zeit hinausschieben könnte.

4. Weit davon entfernt, mit der Ideologie übereinzustimmen, ist das Klassenbewusstsein vor allem ihre grundsätzliche Negation, ihre grundlegende Antithese. Heute kommt es vor allem darauf an, die Menschheit aus der Lethargie, in die sie gefallen ist, herauszuführen, die Welt ihrer Handlungen und ihrer selbst wieder bewusst werden zu lassen, wozu eine Ideologie unfähig ist. Da die Ideologie, das Produkt ökonomischer Faktoren und einer entfremdeten gesellschaftlichen Wirklichkeit, den Gegenständen eine eigenständige Existenz und dem Bewusstsein eine Fähigkeit zur Abstraktion beimisst, die von allen materiellen Gesetzmäßigkeiten getrennt ist, ist es ihr unmöglich, eine kritische oder praktische Umwälzung der Gesellschaft durchzuführen. Weit davon entfernt, der Handlung einfach vorauszugehen und die Handlung auf ein konkretes Ziel zu lenken, ist das revolutionäre Klassenbewusstsein vor allem der Prozess einer sich transformierenden Gesellschaft; ein lebender Prozess, der als ein Produkt der Entwicklung und Zuspitzung der Widersprüche der dekadenten kapitalistischen Produktionsweise eine Gesellschaftsklasse dazu zwingt, das Wesen ihrer Existenz durch eine praktische und theoretische (und somit bewusste) Negation ihrer Lebensbedingungen zu realisieren. Die Geschichte dieses Prozesses schließt die Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse und der revolutionären Minderheiten ein, die als integraler Bestandteil dieses Kampfes aufgetaucht sind.

Die Charakteristiken der Bewusstwerdung

1. Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Ideologie und Klassenbewusstsein beruhen auf dem Ursprung der Ideologie selbst und ihren materiellen Wurzeln. Wurzeln, die bis in die Geschichte der Arbeitsteilung, der Trennung des Produzenten von seinem Produkt, der Verselbstständigung der Produktionsverhältnisse und der Beherrschung des Menschen durch die materielle Form seiner eigenen Arbeit zurückgehen. Die dem Kapitalismus innewohnenden Gesetze, die durch die Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige Arbeit, der Vorherrschaft des Tauschwertes über den Gebrauchswert und des Wertfetischismus gekennzeichnet sind, bewirken die Umwandlung der gesellschaftlichen Beziehungen in Beziehungen zwischen Dingen und ermöglichen so das Auftreten von Rechtsbeziehungen, deren Ausgangsbasis das isolierte Individuum ist.

Es sind eben diese Gesetze, die dem Menschen aufgrund der Entwicklung der Spezialisierung unmöglich machen, die Dinge in ihrer Gesamtheit zu begreifen und die ihn in einer Reihe von separaten Kategorien einsperren, die alle voneinander isoliert und unabhängig sind (die Nation, die Fabrik, der Stadtteil usw.). Der Blick aufs Ganze wird so zu nichts anderem als eine einfache Addition von bestimmten Wissensbereichen; ein Wissen, das wiederum exklusiv von Spezialisten gehortet wird.

Das Klassenbewusstsein dagegen bedeutet eine Vision des Ganzen und ein Bewusstsein der Klasse als Ganzes. Das Klassenbewusstsein ist ein ganz und gar kollektiver Prozess. Sein Ausgangspunkt ist eine im Kampf vereinte Klasse, die dazu berufen ist, die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse zu zerstören; es beinhaltet die ausschlaggebende Dominanz des Ganzen über die Teile. Aber dieses Ganze kann nur hergestellt werden, wenn das Subjekt, das dieses herstellt, selbst ein Ganzes ist, und dieser Blick aufs Ganze ist nur durch eine Klasse möglich. Deshalb muss die Arbeiterklasse, um eine vereinte und bewusste Klasse zu werden, alle Barrieren, alle Trennungen, alle möglichen Grenzen zerschlagen und die Macht ihrer Arbeiterräte über diese nationalen Grenzen hinaus etablieren.

Eine andere Konsequenz aus der Verdinglichung des gesellschaftlichen Bewusstseins ist die Trennung zwischen den Teilen und dem Ganzen, dem Etappenziel und dem Endziel, dem wirtschaftlichen und dem politischen Kampf. In der Periode der Dekadenz des Kapitalismus, in der jede Reform unmöglich geworden ist, in der die Revolution auf der Tagesordnung steht, neigen die wirtschaftlichen Kämpfe dazu, sich in politische Kämpfe zu verwandeln und das System direkt anzugreifen. Die Arbeiterklasse ist dazu berufen, die Gesellschaft bewusst umzuwälzen. Daher beinhaltet für sie der Blick auf die Gesamtheit ein Verständnis der dialektischen Widersprüche zwischen unmittelbaren Interessen und dem Endziel, zwischen einem isolierten Teil und der Gesamtheit. Aus diesem isolierten Momentum, mit anderen Worten: aus Situationen, in der die Klasse atomisiert, verwirrt und ein integraler Bestandteil des Kapitalismus ist, muss das Proletariat dazu übergehen, sich auf Weltebene zu vereinen und sich selbst von einer ökonomischen Kategorie in eine revolutionäre Klasse umzuwandeln. Nur die Arbeiterklasse ist fähig, sich zu einer bewussten Klasse zu vereinen, da die Natur der assoziierten Arbeit ihr diese globale Sicht verleiht.

2. Das Wesen dieses Bewusstwerdungsprozesses, das es vor allem zu einem Klassenbewusstsein macht, ermöglicht uns, den grundlegenden Widerspruch, der gegenwärtig zwischen Ideologie und Bewusstsein besteht, zu begreifen. Und es hat nichts mit linguistischem Purismus zu tun, wenn wir behaupten, dass es keine proletarische Ideologie oder revolutionäre Wissenschaft gibt; eine revolutionäre Minderheit kann niemals der Träger oder die Verkörperung dieses Klassenbewusstseins sein. Indem ein ganzes historisches Phänomen, das gleichzeitig praktisch und theoretisch ist, auf den simplen Ausdruck eines Gedankens gebracht  wird, der sich in einem Parteiprogramm kristallisiert, betrachten die Leninisten und Bordigisten verschiedener Schattierungen das Wesen des Klassenbewusstseins mit derselben mangelhaften Beweisführung, die es den Mystikern ermöglicht zu behaupten, die Hostie verkörpere den Körper Christus.

Tatsächlich verdanken die Ideologie und der Mystizismus ihre Existenz der Tatsache, dass die Trennung zwischen der Handarbeit und der Kopfarbeit die Entwicklung einer Denkweise ermöglicht hat, die von der Distanz, die sie zwischen ihrer eigenen Realität und den materiellen Bedingungen ihrer Existenz zu errichten versucht, und von ihrem Ansinnen gekennzeichnet ist, als unabhängiger und autonomer Gedanke zu erscheinen, als der einmalige Verursacher, der die Materie bewegt.

Indem sie die Realität als eine Reihe von Vermittlungen begreift, als notwendige Etappen zwischen dem Menschen und der Materie, weigert sich die bürgerliche Ideologie, ihren wahren Ursprung anzuerkennen. Indem sie der Realität eine unabhängige Existenz beimisst, stellt sie dem metaphysischen Materialismus[1] einen Idealismus der Tat gegenüber, der den theoretischen Scharfsinn als die einzig wahre Ursache der Tat anerkennt und die Praxis auf ihre niedrigste „natürliche“ Form verbannt.

Das Klassenbewusstsein selbst stimmt insoweit voll mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit überein, wie sein Daseinsgrund ein Produkt der historischen Entwicklung des Widerspruchs zwischen den Produktionskräften und den Produktionsverhältnissen ist. Diese Notwendigkeit einer radikalen Veränderung der Produktionsverhältnisse verlangt eine echte globale Vision der Gesamtheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das Klassenbewusstsein erkennt seinen Ursprung und sein Objekt: das Proletariat, das lebendige Kernstück der Produktion, eine Gesellschaftsklasse, die dauerhaft im Werden begriffen ist.

Der Prozess der Bewusstwerdung des Proletariats, der auf der dialektischen Einheit von Sein und Bewusstsein beruht, verwirft jede Form von Zwischenphasen oder Vermittlungen zwischen Existenz und Bewusstsein. Proletarisches Klassenbewusstsein wird ein Bewusstsein seiner selbst und stellt dadurch die Einheit zwischen dem Menschen und der Realität wieder her.

3. Der Proletarier ist dazu gezwungen, seine Arbeitskraft im Vergleich zu seiner gesamten Persönlichkeit als ein bloßes Objekt zu verkaufen, und es ist diese Objektivität, dieser Bruch, der zwischen der Arbeitskraft - ein Objekt, das zum Ausgebeutet-Werden verdammt ist - und dem Subjekt - das sie verkauft - geschaffen wird, der die Bewusstwerdung möglich werden lässt. Aufgrund ihres Kampfes gegen die kapitalistische Ausbeutung kann die Arbeiterklasse sich gleichzeitig als Subjekt und Objekt der Erkenntnis wahrnehmen. Diese Wahrnehmung und das Bewusstsein seiner eigenen Bedingungen der extremen Armut und Unmenschlichkeit ist gleichzeitig eine Bloßstellung und Zerstörung der ganzen Gesellschaft.

Somit drückt die Arbeiterklasse, indem sie die gesamte kapitalistische Gesellschaft zerstört, nur das Wesen ihrer eigenen Existenz aus, da sie die Negation der Gesellschaft ist (die einzig bestehende gesellschaftliche Beziehung zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat ist der Klassenkampf). Die Selbstverwirklichung der Arbeiterklasse als eine Klasse für sich wird durch die Zerstörung des Systems erreicht; das Bewusstsein ist Faktor und Produkt dieses Prozesses. Die Selbsterkenntnis bedeutet für die Arbeiterklasse, das Wesen der Gesellschaft zu erkennen; sie gelangt nicht einfach zu einem Bewusstsein über ein Objekt, sondern zu einem direkten Bewusstsein des Objekts selbst. In diesem Sinne ist dies schon Praxis und bewirkt eine Veränderung des Objekts. Indem der objektive Charakter der Arbeit als Ware anerkannt wird, erlaubt dieser Prozess, den Warenfetischismus zu entlarven und den unmenschlichen Charakter des Kapital-Arbeit-Verhältnisses zu enthüllen.

Die Illusionen, die Mystifikationen und die dem Denken durch die Ideologie auferlegten Hindernisse sind also nichts anderes als der geistige Ausdruck dieser Wirklichkeit, die selbst durch eine ökonomische Struktur verdinglicht ist, welche auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht. Ihre Negation kann nicht durch eine einfache Willensbekundung verwirklicht werden, sondern nur durch ihre Überwindung in der Praxis. Deshalb ist das Klassenbewusstsein nicht eine einfache theoretische Infragestellung des Kapitalismus, sondern geht vor allem aus einer Kritik und einer materiellen Zerstörung des ganzen Systems hervor. Indem das Klassenbewusstsein das historische Wesen der ökonomischen Gesetze anerkennt, enthüllt es den historischen und vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, beschreibt die objektiven Grenzen dieser Produktionsweise und analysiert die historischen Epochen der Gesellschaft. Diese Enthüllung ist ein Prozess, der Theorie und Praxis insofern miteinander verbindet, als jede Illusion, die zusammenbricht, jede Mystifikation, die entschleiert wird, der realen Bereitschaft entspricht, die Lohnsklaverei zu zerstören.

4. Doch auch wenn dieses historische Bewusstsein aus der Notwendigkeit erwächst, dass die Arbeiterklasse ein umfassendes Verständnis der Realität von einem Klassenstandpunkt aus entwickeln muss, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie dieses Verständnis sofort erlangt. Ganz im Gegenteil, der Klassencharakter dieses Prozesses entspricht exakt der heterogenen und schmerzvollen Entwicklung der Praxis und Theorie der Arbeiterklasse, die von Anfang an mit dem starken Druck der Bourgeoisie konfrontiert war.

Selbst wenn sie in Zeiten des Kampfes vereinigt ist, kann die Arbeiterklasse nicht wie ein einheitliches Wesen handeln, das schematisch auf ein Ziel ausgerichtet ist. Der dialektische Widerspruch zwischen ihrer Position als revolutionäre Klasse und ihrer Lage als ausgebeutete Klasse, ihre totale Mittellosigkeit innerhalb der Gesellschaft bestimmt sie dazu, zum ersten Opfer der bürgerlichen Ideologie zu werden. Unfähig, sein Bewusstsein gemäß den gesetzten Richtlinien einer Ideologie oder einer Reihe von praktischen Rezepten zu entwickeln, kann das Proletariat nur durch einen realen Prozess zu einem Bewusstsein gelangen, der mit den materiellen Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz verknüpft ist. Diese objektiven Bedingung und die allgegenwärtige Unterdrückung durch die herrschende Ideologie engen das Proletariat als integralen Bestandteil  der Tendenz, sich als revolutionäre Klasse zu konstituieren, auf geheime revolutionäre Minderheiten ein, die den Theoretisierungsprozess seiner historischen Errungenschaften und die Ausbreitung Letzterer innerhalb des Klassenkampfes beschleunigen sollen. Das Klassenbewusstsein ist somit kein „Spiegel“ der Realität, eine schematische Widerspiegelung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse (unter diesen Umständen hätte sie keine aktive Rolle zu spielen) und ist auch kein spontanes Produkt auf dem Boden der kapitalistischen Ausbeutung.

In Wirklichkeit erwächst das Bewusstsein aus der Übereinstimmung mehrerer Faktoren; die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind – obgleich unabdingbar – für sich genommen keineswegs ausreichend. Der wirtschaftliche Kampf der Arbeiterklasse reicht nicht aus, um eine ganze theoretische und praktische Bewegung hervorzubringen; er besitzt in der Tat nicht die einzigartigen, magischen und schöpferischen Kräfte, die ihm so manche Spontaneisten zuschreiben.

Der Klassenkampf ist keine von der Welt getrennte Einheit in sich und kein Zündfunken, der die Dinge ins Rollen bringt. Er ist die Welt, er ist von ihr geschaffen worden und hat sie selbst wiederum geschaffen. Aus diesem Grund kann nur die Verbindung einer Anzahl von Elementen – das Produkt der Entwicklung des Klassenkampfs selbst - letzten Endes das sozialistische Bewusstsein auf sein höchstes historisches Niveau führen. Diese Elemente sind hauptsächlich folgende:

- der wirtschaftliche Druck, dem das Proletariat unterworfen ist und seine Lage als ausgebeutete Klasse,

- die objektiven Bedingungen der Periode und das Niveau, das von den Widersprüchen des Systems (Dekadenz des Kapitalismus, Vertiefung der Krise) erreicht ist,

- das Niveau des Klassenkampfes als Antwort auf diese Lage und die mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz des Proletariats, sich als autonome Klasse zu organisieren,

- der immer entscheidendere Einfluss der revolutionären Gruppen im Klassenkampf und die Fähigkeit des Proletariats, sich seine revolutionäre Theorie wieder anzueignen.

Keines dieser Elemente kann, für sich selbst betrachtet, von den anderen getrennt und als die Hauptursache der Bewegung angesehen werden. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sich der wirtschaftliche Druck oder die revolutionäre Theorie als aktive Faktoren in der Entwicklung des proletarischen Bewusstseins aufzwingen, aber sie bilden nicht die Hauptursache des Prozesses. Nach einer grundlegenden und alleinigen Ursache für eine ganze Bewegung zu suchen führt zu einer Erstarrung dieses Prozesses und zu völlig fruchtlosen Debatten über Fragen wie: Was war zuerst da - das Huhn oder das Ei?

Die Rolle der Revolutionäre und der Partei

Proletarisches Bewusstsein als einen historischen Prozess zu definieren, der für eine Gesellschaftsklasse charakteristisch und auf der historischen Bühne durch die Bejahung des Bewusstseins gekennzeichnet ist, geht nicht über eine einfache Tatsachenaussage hinaus. Wenn man an diesem Punkt aufhörte, hätte man nichts anderes als eine theoretische Abhandlung über die Charakteristiken der Bewusstwerdung, ohne die objektiven Gründe zu begreifen, die uns zur Formulierung dieser Definitionen veranlasst haben. In der Tat, indem die Revolutionäre gerade über den rein theoretischen Aspekt ihrer Tätigkeit hinausgehen, werden sie sich ihrer historischen Rolle als aktiver Teil eines Ganzen bewusst. Man kann eine Wand nicht umwerfen, indem man dagegen bläst, man kann ein ganzes Ausbeutungssystem nicht mit frommen Worten und philosophischen Überlegungen zerstören. Indem sie ihre Verantwortung gegenüber der Arbeiterklasse vollständig übernehmen, können die Revolutionäre den Prozess der Bewusstwerdung der Arbeiterklasse und ihre Bildung als autonome Klasse beschleunigen. Diese Verantwortung erfordert eine klare Vorstellung über ihre Funktion, die Identifikation mit der historischen Aufgabe, für die sie entstanden sind.

1. Das Wesen und die Funktion der revolutionären Gruppen und der Partei können in Wirklichkeit nur durch die zutiefst widersprüchliche Natur des Bewusstwerdungsprozesses der Arbeiterklasse erklärt werden. Es ist ein Widerspruch, der der Bewegung des Klassenkampfes zugrundeliegt und sie begleitet und der auch ein Merkmal der Übergangsperiode bis zum endgültigen Verschwinden aller Klassen sein wird. Ein Widerspruch zwischen der Stellung der Arbeiterklasse als ausgebeutete Klasse und ihrer historischen Aufgaben, die zur Abschaffung jeglicher Ausbeutung führen werden. Ein Widerspruch zwischen der Unfähigkeit der Arbeiterklasse, eine proletarische „Ideologie“ auf der Grundlage irgendeiner wirtschaftlichen Macht zu kreieren, und der dringenden Notwendigkeit, ihre Erkenntnisse theoretisch zu verarbeiten und sich der historischen Ziele voll bewusst zu sein. Somit ist das Proletariat gezwungen, einerseits die fundamentale Losung der kommunistischen Revolution im alltäglichen Kampf umsetzen: „die Befreiung der Arbeiterklasse wird das Werk der Arbeiter selbst sein“, andererseits die  unerlässlichen theoretischen Waffen zu schmieden, die für die bewusste Emanzipierung notwendig sind, auch wenn es ihm unmöglich ist, mit dem Einfluss der herrschenden Ideologie vollständig zu brechen.

Die revolutionären Minderheiten erscheinen somit als Produkt dieser widersprüchlichen Notwendigkeit. Sie entstehen als integraler Bestandteil des Proletariats und sind dennoch nicht notwendigerweise Mitglieder der Arbeiterklasse im soziologischen Sinne. Da die wirtschaftlich herrschende Klasse die materiellen und ökonomischen Mittel der Produktion kontrolliert, kann das Proletariat keine Kultur oder Ideologie zu entwickeln, die ihr „soziologisch immanent“ ist, denn dies würde ein ökonomisches Interesse und somit ein Interesse an einer Verewigung seiner Stellung als ausgebeutete Klasse beinhalten. Aus diesem Grund werden die Revolutionäre als Mitglieder des Proletariats (entsprechend der politischen Kriterien) definiert; ihre Aufgabe ist die theoretische Aufarbeitung der historischen Lehren der Klasse, um sicherzustellen, dass diese Lehren weitestgehend verstanden werden.

2. Da die Arbeiterklasse vor der Notwendigkeit steht, die alte Gesellschaft zu stürzen, erfordert diese Umwälzung, die gleichzeitig praktisch und theoretisch ist, eine klare „Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung“ (Marx, Manifest). Solange der Klassenantagonismus und die kapitalistische Ausbeutung fortbestehen, wird diese Vision der Endziele der proletarischen Bewegung mit dem Zwangseinfluss der bürgerlichen Ideologie konfrontiert werden. Und aus diesem Grund wird die Mehrheit der Arbeiterklasse diese Vision nicht teilen. Die Ausbreitung und das Wachstum der revolutionären Theorie und des Bewusstseins der Endziele der proletarischen Revolution innerhalb der ganzen Klasse sind keine „natürlichen“ Phänomene oder von linearer mathematischer Progression. Es ist vor allem das Produkt organisierter Bemühungen der Klasse. Dieser bewusste Versuch des Proletariats, sich mit einer revolutionären Theorie zu wappnen und die Lehren aus den vergangenen Kämpfe zu ziehen, nimmt materiell Gestalt an mit dem Erscheinen revolutionärer Minderheiten und ihrer Konstituierung als Partei in Zeiten des revolutionären Aufschwungs.

Dieses konstante Bestreben des Proletariats, eine revolutionäre Partei zu konstituieren, ist keinesfalls mit der voluntaristischen Handlung von Individuen oder Gruppen vergleichbar, die glauben, dass der Aufbau einer revolutionären Partei ein Ersatz für die Handlung der Klasse als Ganzes sei. Das Emporkommen revolutionärer Theorie als der Theorie revolutionärer Gruppen ist nicht die Frucht eines individuellen Willens oder die Erkenntnis „dieses oder jenes Weltverbesserers“ (Marx, Kommunistisches Manifest). Sie konkretisiert vielmehr die Entwicklung eines reellen Klassenkampfes und entsteht als Antwort auf ein vitales Bedürfnis im Proletariat.

3. Das Proletariat wird somit nicht auf einer abstrakten Ebene als Klasse betrachtet, sondern auf der Ebene seiner konkreten Handlungen, seiner pausenlosen Kämpfe, um die objektiven Bedingungen der Periode zu konfrontieren. Aus dieser historischen Praxis ist keineswegs eine Reihe von dogmatischen Prinzipien hervorgegangen, die wie theoretische „Rezepte“ auf den Klassenkampf angewendet werden, sondern der theoretische Ausdruck dieser Erfahrung. Die revolutionäre Theorie stellt keine Summe von endgültigen und unveränderlichen Prinzipien dar, sondern die Widerspiegelung der konkreten Aktivitäten des Proletariats, die auf theoretischer Ebene durch die revolutionären Gruppen klar gemacht und verallgemeinert und von der Klasse wieder angeeignet wird. Somit entspricht jedes Problem, das durch den Kampf und die Selbstorganisation der Klasse gelöst wird, einem neuen theoretischen Beitrag, der selbst wiederum durch die Intervention der Revolutionäre in zukünftigen Kämpfen in praktische Wirklichkeit umgewandelt wird. Somit schöpft die Theorie, Produkt der sozialen Existenz der Kämpfe, ihre Energie aus der Praxis und beeinflusst ihrerseits die politische Klarheit der zukünftigen Kämpfe.

Sich aus den konkreten Kämpfen der Klasse entwickelnd, bleibt die revolutionäre Theorie, ursprünglich der Ausdruck revolutionärer Gruppen, nicht ihr ausschließliches Eigentum, einem versteckten Schatz gleich. Ganz im Gegenteil: die eigentliche Rolle der Revolutionäre und der Partei verdeutlicht das grundsätzliche Bestreben der Arbeiterklasse, sich die historischen Lehren wieder anzueignen und so weit wie möglich zu verbreiten. Ihre Funktion besteht darin, diese Theorie innerhalb der Klasse zu verbreiten, wohl wissend, dass es sich nicht darum handelt, eine Theorie in die Praxis zu „injizieren“ oder die Theorie als eine Art chemische Reaktion zu betrachten, die einen ganzen historischen Prozess aktiviert.

Theorie und Praxis vervollständigen sich und durchdringen einander; das eine auf Kosten des anderen zu bevorzugen, darauf zu bestehen, dass die Theorie der alles bestimmende Faktor sei, oder die aktive Seite der Theorie zu ignorieren, birgt das Risiko, dass wir auf den gefährlichen Weg des Voluntarismus oder des Akademismus abgleiten.

4. Es ist nicht die Existenz revolutionärer Gruppen, die die Arbeiterklasse zu einer revolutionären Klasse macht. Selbst wenn die Bourgeoisie alle Revolutionäre unterdrücken würde, würde dies nur ihr eigenes Todesurteil hinauszuzögern, ohne den Klassenkampf aufzuhalten und die Arbeiterklasse daran zu hindern, neue revolutionäre Gruppen zu bilden. Die Zerstörung der ersten Blüten eines Baumes kann keinesfalls den ganzen Prozess seiner Reproduktion stoppen.

Aus diesem Grund sind die Interessen der Revolutionäre, auch wenn sie sich nicht von jenen der Klasse abgrenzen, nicht synonym mit Letzteren. Sie sind nur ein Teil der Klasse, und zwar der entschlossenste. Die Revolutionäre sind nicht der Generalstab einer unbewussten und gehorsamen Armee und auch nicht die Steuerleute der Revolution, deren Funktion darin besteht, die großen allgemeinen Achsen der Kämpfe vorzugeben und die endgültigen Ziele der Bewegung anzuzeigen. Ihre Funktion ist es nicht, sich darauf vorzubereiten, das „Management“ der Arbeiterkämpfe zu übernehmen oder die richtigen Losungen zu erstellen, die organisch die Bedingungen und Möglichkeiten für die technische Organisation des Proletariats hervorrufen, wie Lukacs sagt. Ihre Rolle besteht nicht darin, die Arbeiterklasse zu organisieren, die autonome Organisation der Klasse mittels praktischer „Rezepte“ für diese oder jene Einheitsorganisation zu leiten, sondern darin, stets die allgemeine politische Richtung der Bewegung hervorzuheben.

5. Die Revolutionäre und die Partei können die Klasse nicht zu ersetzen. Dies bedeutet, dass ihre Funktion, obwohl unverzichtbar, keinen Selbstzweck, kein abgeschlossenes und vollkommenes Werk darstellt, das die Aktivität des Proletariats ersetzen oder der spontanen Massenbewegung die ihr innewohnende Wahrheit eintrichtern kann, um die Arbeiterklasse von der Ebene der bloßen wirtschaftlichen Notwendigkeiten auf die Ebene der bewussten und revolutionären Aktion zu „heben“. Deshalb ist die Partei, die ein aktives und konstituierendes Element des Proletariats ist, das voll am Bewusstwerdungsprozess des Proletariats teilnimmt, keinesfalls der Vermittler zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erfahrung und Bewusstsein. Beide, die Partei wie auch die Klasse, sind die materielle Einheit zwischen Theorie und Praxis. Diese Einheit – den beiden identisch – benötigt keinen Vermittler (man kann in der Tat nur einen Vermittler zwischen zwei vormals getrennte Einheiten stellen). Diese Einheit ist ein lebendiger Prozess, der sowohl die Partei als auch die Klasse in ihrer Gesamtheit und ihre Einheitsorganisation, die Räte, bestimmt. Aus der Partei den Vermittler zwischen Theorie und Praxis zu machen läuft darauf hinaus, die Theorie als etwas außerhalb der Arbeiterklasse Existierendes, als etwas ausschließlich der Partei Zugehöriges zu begreifen. Somit wird die Partei als einzige Kraft dazu befähigt, die Bedeutung hinter den Ereignissen zu erkennen, was darauf hinaus läuft, dass das Proletariat jeder bewussten und politischen Möglichkeit der Machteroberung beraubt wird. Denn wenn man dieser Argumentation folgt, würden die Arbeiterräte zu leeren Hülsen werden, zu administrativen, staatlichen Organen, denen allein die Partei einen revolutionären Inhalt geben kann. In diesem Fall wäre es sehr logisch die faktische Führung der Diktatur über die Gesellschaft in die Hände der Partei zu legen und die Partei an die Staatsspitze und die Diktatur des Proletariats zu stellen.

Die Partei ist kein leitender oder ausführender Organismus, ein Organ, von der Arbeiterklasse geschaffen, um die Macht zu erobern. Die Idee, dass die Führung der Diktatur der Arbeiterklasse die Aufgabe einer einzigen revolutionären Partei sei, die als Massenpartei während der postrevolutionären Periode gebildet würde, beweist einen großen Mangel an Verständnis der wirklichen politischen Ziele der Partei. Die Partei zielt nicht darauf ab, sich übermäßig zu vergrößern und so viele Mitglieder wie möglich einzuverleiben. Ihre Funktion ist nicht die einer einzigen totalitären Staatspartei. Im Gegenteil wird sie immer der Ausdruck eines Teils der Klasse bleiben, und ihre Existenzberechtigung wird in dem Maße verschwinden, wie das sozialistische Bewusstsein in der gesamten Klasse zunimmt.

Die Tatsache, dass die Partei nicht an die Stelle der Klasse treten kann, bedeutet keineswegs, dass ihre Existenz eine Notlösung darstellt, ein notwendiges Übel, das in Schach gehalten oder so weit wie möglich vermieden werden muss. Die Revolutionäre und die Partei sind notwendige Produkte, unverzichtbare Elemente im Prozess der Bewusstwerdung des Proletariats. Ihre Funktion unter dem Vorwand der substitutionistischen Irrtümer der Vergangenheit zu leugnen hieße, einen sterilen Purismus an den Tag zu legen, dem Proletariat eine seiner lebenswichtigsten Waffe wegzunehmen. Weit davon entfernt, eine Art Notbehelf zu sein, bildet die historische Aufgabe der Revolutionäre und der Partei einen Teil der allgemeinen Tendenz des Proletariats, sich selbst als eine bewusste revolutionäre Klasse zu konstituieren. Als die kämpferischsten und entschlossensten Elemente der Arbeiterklasse entfalten sie in den Kämpfen der Arbeiterklasse eine organisierte Intervention mit der Perspektive, die Endziele der Bewegung hervorzuheben. Ihre aktive Teilnahme an den Kämpfen übt auf die allgemeine Organisation der Klassenbewegung einen entscheidenden Einfluss aus. Ein Einfluss, der sich in der Tat in der allgemeinen politischen Stoßrichtung des Kampfes und der Beschleunigung der Bildung der Arbeiterklasse als autonome Klasse mit dem Ziel der Machtübernahme und der Zerstörung der Lohnsklaverei niederschlägt.

Schlussfolgerungen

Die Kluft zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktionskräften hat in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein solch großes Ausmaß erreicht, dass heute der offen verlogene  Charakter der Ideologien, die diesen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechen, offengelegt wird, sie ungeeignet macht und die Bourgeoisie dazu zwingt, eine ganze Reihe von Mystifikationen zu entwickeln, die darin bestehen, die Kämpfe der Arbeiterklasse von ihren wahren Zielen abzulenken.

Die grundsätzlichen Unterschiede gegenüber der aufsteigenden Phase des Kapitalismus beeinflussen insofern die Einheit zwischen Theorie und Praxis, als die Entwicklung der objektiven Bedingungen der kommunistischen Revolution diese Einheit bekräftigt haben. In der Dekadenzperiode wird die kommunistische Revolution zu einer objektiven Möglichkeit, und die Praxis der Klassenkämpfe radikalisiert sich in diesem Sinn. Somit tendiert die Theorie immer mehr dazu, das primäre Objekt ihrer Analyse, das Klassenbewusstsein, als eine reelle Einheit von Theorie und Praxis zu erfassen und sich selbst somit als simplen Ausdruck einer bewussten Einheit zu bekräftigen.

Die Stärkung der Einheit zwischen  dem gesellschaftlichen Sein des Proletariats und seiner Theorie drückt sich in der Geschichte der Arbeiterklasse in der Dekadenzperiode aus, in dem Auftreten von revolutionären Klassenorganisationen, die nicht mehr das Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen der Proletariats innerhalb des kapitalistischen Systems verfolgen, sondern die Notwendigkeit der gewaltsamen Zerstörung der kapitalistischen Produktionsweise und der politischen Machtergreifung durch die autonomen Klassenorgane in den Vordergrund stellen.

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, als die permanenten Organisationen des Proletariats in Form der Klassenparteien oder der Gewerkschaften den Kampf für wahre und anhaltende Reformen bedeuteten, konnte das Entstehen von revolutionären Minderheiten nur in einem beschränkten Maße geschehen. Heute sind alle permanenten Formen der Klassenorganisation unvermeidlich dazu verdammt, zu verschwinden oder in die Konterrevolution integriert zu werden. Was revolutionäre Minderheiten betrifft, beschränken diese sich nicht einfach darauf, die Lehren proletarischer Erfahrung theoretisch aufzuarbeiten; ihre Praxis innerhalb des Klassenkampfes kann ein realer Beitrag zur Klärung der historischen Perspektive der Klasse sein. Die Theorie tendiert nicht mehr einfach dazu, sich in der Praxis zu verwirklichen, sondern die Wirklichkeit selbst beginnt sich zu verändern und das Denken einzuverleiben. Das heißt, dass das Proletariat dazu neigt, sich die Theorie wieder anzueignen, indem es sich durch seine Kämpfe der Klassengrenzen als Errungenschaften der Vergangenheit bewusst wird.

So ist das revolutionäre Programm nicht einfach eine Summe von mehr oder weniger flexiblen Positionen, die sich den Schwankungen der Aktualität anpassen. Es geht vielmehr aus der historischen Verbindung hervor, die die verschiedenen Momente des Auftretens des Proletariats als eine Klasse vereint, die für ihre historische Mission, die Zerstörung des Kapitalismus, denkt und handelt.

Die Intervention der Revolutionäre stellt nichts anderes als den Versuch des Proletariats dar, zu einem Verständnis seiner wirklichen Interessen zu gelangen, indem es über die simple, empirische Feststellung besonderer Phänomene hinausgeht. Es ist der Versuch, das Verhältnis zwischen diesen Phänomenen zu finden, indem das Proletariat die allgemeinen Prinzipien benutzt, die es aus seinen historischen Erfahrungen zieht.

Weil die unablässige Verteidigung der Klassengrenzen und die immer umfassendere Klärung der historischen Ziele der Arbeiterklasse letztendlich die Notwendigkeit für das Proletariat konkretisiert, sich seiner Praxis voll bewusst zu sein, ist die Existenz revolutionärer Organisationen ein direktes Produkt dieser Notwendigkeit. Weil diese Bewusstwerdung die Machtergreifung des Proletariats durch die Arbeiterräte sowohl voraussetzt als auch vervollständigt, ist sie der Vorbote einer Produktionsweise, in der die Menschen endlich die Produktivkräfte beherrschen, und diese mit vollem Bewusstsein entwickeln, um dem Reich der Notwendigkeit ein Ende zu setzen, damit das Reich der Freiheit beginnt.

J. L. Juli 1977

(aus der Internationalen Revue Nr. 7 engl., franz., span.)

 

[1] Mehr dazu in: World Revolution, Nr. 3: Modernism, From leftism to the void.

Theoretische Fragen: 

Erbe der kommunistischen Linke: