Partei, Arbeiterräte, Substitutionismus Teil 2

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Für verschiedene Strömungen, die CWO sowie verschie­dene Rätekommunisten eingeschlossen, besteht das Prob­lem des Staates in der Übergangsgesellschaft überhaupt nicht. Der Staat, das sind die Arbeiterräte, und damit hat sich's. Daher ist jegliches Gerede über mögliche Kon­flikte zwischen den Einheitsorganen der Klasse und dem Übergangsstaat vollkommener Unfug. Leider handelt es sich hierbei um eine idealistische Auffassung der Revolution. Als Marxisten dürfen wir unsere Revolutionsauffassung nicht auf dem stützen, was wir wün­schen, sondern darauf, was die historische Notwendig­keit in der Vergangenheit erzwungen hat und was sie auch in der Zukunft erzwingen wird. Das einzige wirkliche Beispiel einer Arbeiterklasse, die die Macht auf Landesebene übernommen hatte - die Russische Revolution -, zwingt uns anzuerkennen, daß eine Gesellschaft im Revolutionsmodus zwangsläufig Formen der staatlichen Organisation hervorbringen wird, die sich nicht nur von den Einheitsorganen der Klasse unterscheiden, sondern die in tiefgreifende und gar gewalttätige Konflikte mit ihnen treten können.
Die unvermeidbare Notwendigkeit, eine Rote Armee, eine Staatspoli­zei, einen Verwaltungsapparates und eine Form der politi­schen Repräsentation für all die nicht-ausbeutenden Klassen und Schichten zu organisieren, ruft eine Staatsmaschinerie ins Leben, die - gleichgültig, ob sie als proletarisch bezeichnet wird oder nicht - nicht einfach mit den Arbei­terräten auf eine Stufe gestellt werden kann. Im Gegensatz zur Auffassung einiger Rätekommunisten schufen die Bolschewiki diese Staatsmaschinerie nicht ex nihilo, um ihre machiavellistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Obgleich wir verstehen müssen, wie die bolschewistische Auffassung über ihre Rolle als Regierungspartei aktiv das Tempo beschleunigte, mit dem der Staatsappa­rat der Kontrolle der Arbeiterräte entwich, gestalteten und passten sie nur ein Staatsorgan an, das schon vor der Oktoberrevolution aufzutauchen begann. Die Kongresse der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte entwickelten sich bereits vor dem Sturz des Kerenski-Regimes zu einer neuen Staatsform . Die Notwendigkeit, die Gesellschaft nach dem Aufstand zu organisieren, konsolidierte diesen Prozeß zum Sowjetstaat. Wie Marx  in seinen "Kritischen Randglossen zu dem Artikel 'Der König von Preußen und die Sozialreform'" schrieb: "Der Staat und die Einrichtung der Gesellschaft sind von dem politischen Standpunkt aus nicht zwei verschiedene Dinge. Der Staat ist die Einrichtung der Gesellschaft." (MEW, Bd. 1, S. 401)


PARTEI UND STAAT
Wenn die Russische Revolution uns etwas über die­sen Staat lehren kann, dann, daß die Isolation der Revolution, die Schwächung der Arbei­terräte dazu tendiert, den Staatsapparat auf Kosten der Arbeiterklasse zu stärken; daß dies der Beginn der Transformation jenes Staat in ein Instrument der Unterdrückung und Ausbeutung gegen die Klasse ist. Der Staat ist die Achillessehne der konterrevolutionären Kräfte. Er ist der Organismus, mit dem die unpersönliche Macht des Kapitals da­zu tendiert, seine Autorität wieder geltend zu machen, indem die proletarische Revolution zum bürokratischen Gespenst des Staatskapitalismus pervertiert. Wer behauptet, daß diese Gefahr nicht existiert, entwaffnet die Klasse vor den künftigen Kämpfen.
Einige Tendenzen, besonders jene, die mit dem immensen Beitrag der Italienischen Linken zu dieser Frage vertraut sind, begreifen durchaus, daß hier ein Problem besteht. So stellte BATTAGLIA COMUNISTA auf der jüngsten internationalen Konferenz in Paris fest, daß die Partei faktisch die Macht übernehmen müsse, während es in ihrer Plattform heißt, daß die Parteikader "den Staat auf dem Pfad der revolutionären Kontinuität halten" müssen, aber "keineswegs mit dem Staat verwechselt oder in ihn integriert werden" dürfen. Diese Tendenzen wollen wie BILAN in den 30er Jahren, daß die Partei die Macht übernimmt, die proletarische Diktatur ausübt und den Staatsapparat kontrolliert - aber nicht, daß die Partei mit dem Staat fusioniert wie die bolschewistische Partei, da sie erkannt haben, daß die Verstrickung der Bolschewiki im Apparat des Sowjetstaates zur Degeneration von Partei und Revolution beitrug. Aber diese Position ist widersprüchlich. Bei BILAN war dieser Widerspruch insofern fruchtbar, als sie sich in einem Prozeß der Klärung des richtigen Verhältnisses zwischen der Partei und der Klasse befanden; ein Prozeß, der nach unserer Meinung am fruchtbarsten in der Arbeit von Gauche Communiste de France nach dem Krieg und von der IKS heute fortgesetzt wird. Doch heute auf die widersprüchlichen Positionen BILANs zurück­zufallen, kann nur ein Rückschritt sein.
Diese Position ist widersprüchlich, weil die Partei den Staat nicht "kontrollieren" kann, ohne über Mittel zur Durchsetzung dieser Kontrolle zu verfügen. Die Partei muß über eigene Zwangsorgane verfügen, um sicherzustellen, daß der Staat ihren Anord­nungen folgt; oder - was wahrscheinlicher ist und auch in Rußland geschah- die Partei muß sich immer mehr mit den Kommandohöhen des Staates, mit dem Verwal­tungs- und Unterdrückungsapparat identifizieren. In beiden Fällen wird die Partei zu einem Staatsorgan. Wenn man behauptet, daß die Partei dies entweder allein durch ihre programmatische Klarheit oder durch organisatorische Maßnahmen vermeiden kann, wie die Errichtung einer speziellen Unterkommission, die die Staatsgeschäfte betreibt und vom Zentralkomitee überwacht wird, versteht man nicht, daß das, was in Rußland geschah, das Ergebnis von großen gesellschaftlichen Kräften war, und daß eine Wiederholung nur durch eine Intervention noch größerer gesellschaft­licher Kräfte verhindert werden kann, und nicht durch schlichte ideologische und organisatorische Sicherheitsmaßnahmen.
Der Übergangsstaat, obgleich eine absolute Notwendig­keit für die Verteidigung der Revolution, kann nicht das dynamische Subjekt der Bewegung zum Kommunismus sein. Im besten Fall kann er ein Instrument sein, das die Klasse verwendet, um die von der kommunisti­schen Gesellschaftsbewegung erzielten Fortschritte abzusichern und gesetzlich festzulegen. Aber die Bewegung selbst wird von den Einheitsorganen der Klasse, die aufs Engste das Leben und die Bedürfnisse der Klasse widerspiegeln, sowie von der kommunistischen Partei angeführt, die kontinuierlich die Gesamtziele der Bewe­gung hervorhebt. Die Einheitsorgane der Klasse dürfen nicht durch die Alltagsaufgaben des Staates erdrückt werden. Sie können nur in einem Zustand des ständigen Aufstands existieren, dabei pausenlos aus den en­gen Grenzen von Verfassungen, Gesetzen und der Ver­waltungsroutine ausbrechend, die alle jedoch den Kern des Staates ausmachen. Nur so können sie schöpferisch auf die ungeheuren Problemen antworten, die sich durch den Aufbau des Kommunis­mus stellen, und nur so können sie den Staat dazu zwingen, sich den globalen Bedürfnissen der Re­volution zu unterwerfen. Das gleiche trifft für die Partei zu, die sich sowohl vor als auch nach der Machtübernahme in den Massen und in deren Kampforganen verankern muß, indem sie sie unermüdlich nach vorn drängt und ihr Zögern und ihre Konfusionen kritisiert. Die Verschmelzung von Partei und Staat wird, wie bei den Bolschewiki, ihre dynamische Rolle untergraben und die Partei zu einer konservativen Kraft machen, die sich vor allem mit den unmittelbaren Bedürfnissen der Wirtschaft und mit reinen Verwaltungsaufgaben befaßt. Die Partei würde somit ihre grundlegende Funktion verlieren, eine politische Rich­tung zu liefern, der alle Verwaltungsaufgaben unterge­ordnet werden müssen.
Die Partei wird selbstverständlich in den repräsentativen Organen des Staates intervenieren, aber organisatori­sch wird sie vollkommen vom Staatsapparat ge­trennt sein. Welche Richtung sie dem Staat geben kann, hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Delegierten der terri­torialen Sowjets, der Soldatenkomitees, der Massen der Kleinbauern, der landlosen Bauern usw. politisch von der Richtigkeit ihrer Positionen zu überzeugen. Aber sie kann den Staat nicht kontrollieren, ohne selbst zu einem Staatsorgan zu werden. Nur die Arbeiterräte können den Staat wirklich kontrollieren, da sie den gesamten revolutionären Prozeß hindurch bewaffnet bleiben und ihre Anweisungen dem Staat durch Massenaktionen und Druck aufzwingen können. Und das "Haupt­feld' der Intervention der Partei werden die Arbeiter­räte sein, in denen sie beständig Agitation betreiben wird, um sicherzustellen, daß die wachsame Kontrolle der Räte über all die Staatsorgane keinen Augenblick nachläßt.


PARTEI UND KLASSE
Früher oder später werden alle Gruppen im revolutionären Lager die Unklarheiten und Widersprüche ihrer Position in der Parteifrage verarbeiten müssen. Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, wenn man sagt, daß die Partei die Macht ergreifen muß; und die logischsten Vertreter dieser Position innerhalb der proletarischen Bewegung sind unserer An­sicht nach die Bordigisten.
"Der proletarische Staat kann nur von einer einzigen Partei beseelt werden; es wäre völlig sinnlos und käme über die konkreten Bedingungen nicht hinaus von dieser Partei zu fordern, daß sie in ihren Reihen eine Mehr­zahl eingliedere, oder mit der alten Masche der Bour­geoisie, den 'Volksabstimmungen' die Genehmigung einer statistischen Mehrheit erlange (...) Die kommunistische Partei wird also allein regieren und nie ohne den physischen Kampf der Macht entsagen.Der mutige Beschluß, den trü­gerischen Zahlen nicht zu unterliegen und sie nicht zu gebrauchen, wird den Kampf gegen die Entartung der Re­volution erleichtern." ("Proletarische Diktatur und Klassenpartei", S. 41/42, Texte der Internationalen Kommunistischen Partei, geschrieben 1951).
Verglichen mit dem demokratischen Formalismus der CWO ist diese Position erfrischend eindeutig. Die kommuni­stische Partei, die die "historischen Interessen der Arbeiterklasse" unveränderlich vertritt, benutzt die demokratischen Mechanismen der Räte nur,um die Macht zu ergreifen. Sobald sie an der Macht ist, benutzt sie den Staat dazu, um den Massen ihre Entscheidungen aufzuzwingen. Falls die Massen gegen das, was die Partei als historische Interessen der Massen bezeichnet, handeln, wird sie Gewalt anwenden, den be­rühmten roten Terror, um die Klasse zu zwingen, sich in Einklang mit "ihren eigenen historischen Interessen" zu bringen. Jene, die wollen, daß die Partei die Macht übernimmt, aber zögern, dieser Logik bis zu ihrem Ende zu folgen, fliehen vor der historischen Wirklichkeit. Doch wie diese erbarmungslose Logik wirkt, wurde jüngst von der CWO auf der Pariser Konferenz anschaulich verdeutlicht, wo sie ausdrücklich feststellte, daß die Partei, sobald sie an der Macht sei, nicht zögern sollte, Gewalt gegen "rückstän­dige" oder "konterrevolutionäre" Ausdrücke der Klasse anzuwenden.
Es ist in der Tat ironisch, daß die CWO, die so lange darauf bestanden hat, daß das Massaker des Kronstädter Aufstandes den Übergang der Bolschewiki in das kapi­talistische Lager kennzeichnete, die die Interna­tionale Kommunistische Strömung gar als "Verfechter" des Massakers anprangerte, weil die IKS der Meinung ist, daß 1921 nicht das endgültige Ende der Bol­schewiki als proletarische Partei war - daß dieselbe CWO nun den ideologischen Boden für ein neues Kronstadt vorbereitet. Wir dürfen nicht verges­sen, daß Kronstadt nur der Höhepunkt eines Prozesses war, in dem die Partei immer mehr Zuflucht in Zwangsmaßnahmen gegen die Klasse suchte. Die Lehre aus diesem ganzen Prozeß, die durch das Massaker von Kron­stadt auf tragische Weise unterstrichen wird, ist, daß die proletarische Partei keine physische Unterdrückung gegen einen Teil der Klasse - ob mit oder ohne Un­terstützung der Mehrheit der Klasse -  ausüben darf, ohne damit zutiefst der Revolution zu schaden und ihren eigenen Kern zu pervertieren. Dies wurde 1938 sehr deut­lich von der Italienischen Linken ausgedrückt:
"Die Frage, vor der wir  stehen, ist diese. Es könnte eine Situation entstehen, in der ein Teil des Proletariats - und wir können sogar einräumen, daß dieser Teil das unbewußte Opfer von Manövern des Feindes ist - den Kampf gegen den proletarischen Staat aufnimmt. Was soll man in solch einer Lage tun? Wir müssen von dem Prinzip ausgehen, daß der Sozialismus dem Proletariat nicht durch Zwang oder Gewalt auferlegt werden kann. Es wäre besser gewesen, Kronstadt zu verlieren, wo doch das Festhalten an Kronstadt vom geographischen Stand­punkt aus nur eines zur Folge haben konnte: eine Deformierung der Kernsubstanz der Aktivität des Pro­letariats. Wir kennen die Einwände: Der Ver­lust Kronstadts wäre ein entscheidender Verlust für die Revolution gewesen, vielleicht sogar der Verlust der Revolution selbst. Hier kommen wir zum springenden Punkt. Auf welche Maßstäbe fußt diese Analyse? Auf jene, die von Klassenprinzipien abge­leitet sind, oder auf jene, die schlicht von einer gegebenen Lage ausgehen? Gehen wir von der Maxime, daß es für die Arbeiter besser ist, Fehler zu begehen - selbst fatale Fehler -, oder von der Idee aus, daß wir unsere Prinzipien zurückstellen sollten, weil die Arbeiter uns anschließend dankbar sein werden, weil wir sie selbst mit Gewalt verteidigt haben?
Jede Situation erzeugt zwei gegensätzliche Garnituren von Kriterien, die zu zwei gegensätzlichen taktischen Schlußfolgerungen führen. Wenn wir unsere Untersuchung nur auf die reine Form beschränken, dann gelangen wir zur Schlußfolgerung, die aus folgendem Vorschlag hervorgeht: Da dieses oder jenes Organ proletarisch ist, müssen wir es als solches verteidigen, selbst wenn dies auf die Niederschlagung einer Arbeiterbe­wegung hinausläuft. Wenn wir jedoch unsere Analyse auf die Frage der Substanz stützen, gelangen wir zu einer ganz anderen Schlußfolgerung: Eine politische Bewegung, die vom Feind manipuliert ist, beinhaltet in ihrem Innern einen organischen Widerspruch zwischen dem Pro­letariat und seinem Klassenfeind. Um diesen Widerspruch an die Oberfläche zu bringen, ist es notwendig, Propaganda unter den Arbeitern zu betreiben, die im Laufe der Ereignisse ihre Stärke als eine Klasse wiederentdecken und in der Lage sind, die Pläne des Feindes zu vereiteln. Doch wenn es zufällig wahr wäre, daß der Ausgang dieses oder jenes Ereignisses das Ende der Revolution bedeu­ten könnte, dann ist es sicher, daß ein Sieg nicht nur eine Verdrehung der Realität (historische Ereignisse wie die Russische Revolution hängen niemals wirklich von einer einzigen Episode ab, und nur ein kurzsich­tiger, oberflächlicher Geist könnte meinen, daß die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes die Revolu­tion gerettet hätte) wäre, sondern auch die Bedingungen für den wirklichen Verlust der Re­volution schaffen würde. Diese Untergrabung der Prin­zipien würde nicht lokal beschränkt bleiben, sondern sich zwangsläufig auf alle Aktivitäten des proletarischen Staates ausdehnen."
("Die Frage des Staates", OCTOBRE, 1938)
Obgleich OCTOBRE weiterhin die Diktatur der Partei ver­teidigte, bestand für die Gauche Communiste de France  und für die IKS heute der einzige Weg, diese kla­ren Einsichten konsequent umzusetzen, darin, zu bekräftigen, daß die proletarische Partei nicht nach der Macht trachtet, nicht danach strebt, ein Staatsorgan zu werden.
Andernfalls verlässt man sich allein auf den "Willen" oder auf die guten Absichten der Partei, die in der Lage sein wird zu vermeiden, daß sie mit der Klasse in einen gewaltsamen Konflikt gerät. Doch sobald die Partei zu einem Staatsorgan geworden ist, reicht selbst der stärkste Wille der besten kommunisti­schen Partei auf der Welt nicht aus, um sich gegen den unerbitt­lichen Druck des Staates zu wappnen. Deshalb kam die Gauche Communiste de France 1948 zu dem Schluß:
"In der Periode des revolutionären Aufstands besteht die Rolle der Partei nicht darin,die Macht für sich selbst zu beanspruchen, auch nicht von den Massen zu ver­langen, daß diese ihr das Vertrauen schenken. Die Inter­vention und die Aktivität der Partei zielen auf die Selbstmobilisierung der Klasse für den Sieg der revo­lutionären Prinzipien ab.
Die Mobilisierung einer Klasse um eine Partei, der sie Vertrauen schenkt oder - besser - der sie die Führung über­gibt, spiegelt den unreifen Zustand der Klasse wi­der. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Revolution unter solchen Bedin­gungen nicht siegen kann und daß dies schließlich zur Degeneration der Partei und zur Scheidung zwischen Partei und Klasse führt. Die Partei wäre schnell dazu gezwungen, immer mehr auf die Methoden des Zwangs zurückzugreifen, um sich gegenüber der Klasse durchzusetzen, und würde somit  zu einem erheblichen Widerstand für die Revolution werden."
("Sur la Nature et la Fonction du Parti Politique du Proletariat", siehe RI-Bulletin d'Etude et Discussion, aus: INTERNATIONALISME, Nr. 38, Okto­ber 1948).
Heute stehen die Revolutionäre vor einer Wahl. Entweder können sie Positionen annehmen, die zum Bordigismus führen, zu einer Verfechtung und Theoretisierung ­der Degeneration der bolschewistischen Partei,  zum Substitutionismus in seiner voll entwickelten Form. In diesem Sinn werden sie entdecken, daß der Substitutionismus in der Tat "unmöglich" in der proletarischen Bewegung ist, weil er zu Praktiken und Positionen führt, die direkt konterrevolutionär sind. Oder sie nehmen sich ein Beispiel am zutiefst revolutionären Geist Lenins und der Bolschewiki zur Zeit der Oktoberrevolution, ein Geist, der Lenin dazu veranlasste, in seinem Appell "An das Volk" einige Tage nach dem Aufstand zu sagen:
"Genossen, Werktätige! Denkt daran, daß ihr selber jetzt den Staat verwaltet! Niemand wird euch helfen, wenn ihr euch nicht selber vereinigt und nicht alle Angelegenheiten des Staates in eure Hände nehmt. Eure Sowjets sind von nun an die Organe der Staats­gewalt, bevollmächtigte, beschließende Organe." ("An die Bevölkerung", in: Ges. Werke II, S. 555)
Es ist dieser durch die Einsichten in das Verhältnis zwischen Partei und Klasse, Klasse und Staat geschärfte Geist, der uns heute leiten muß. Es ist ein Geist, der mit den Zielen und den Methoden der kommu­nistischen Revolution, mit dem revolutionären Wesen der Arbeiterklasse zutiefst übereinstimmt. Und wenn wir es tausend Mal sagen müssen: der Kommu­nismus kann nur durch die bewußte Selbstaktivität des ganzen Proletariats geschaffen werden, und die kommu­nistische Avantgarde darf niemals dieser grund­legenden Realität zuwiderhandeln. Die revolutionäre Partei darf nie den Mangel an Homogenität in der Klasse, das Gewicht der bürgerlichen Ideologie oder die Be­drohung durch die Konterrevolution als Rechtfertigung für den Gebrauch von Gewalt  verwenden, um die Klasse dazu zu "zwingen", revolutionär zu sein. Dies ist ein völliger Widerspruch in sich und drückt das Gewicht der bürgerlichen Ideologie auf die Partei aus. Die Arbeiterklasse kann das Gewicht der bürgerlichen Ideologie nur durch ihre eigene Massenaktivität, durch ihre eigene Erfahrung abschütteln. In bestimmten Augenblicken kann es für sie als leichter erscheinen, ihre schwierigsten Aufgaben auf eine revolutionäre Or­ganisation abzuwälzen, doch welche kurzfristigen "Gewinne" dies auch immer mit sich bringen mag, langfristig kann dies die Klasse nur schwächen. In der proletarischen Revolution darf es kein plötzliches Zurückschrecken geben: "Jene, die nur eine halbe Re­volution machen, graben ihr eigenes Grab" (St. Juste). Für die Arbeiterklasse bedeutet das einen unaufhörlichen Kampf, um all die passiven, konservativen Tendenzen in ihren Reihen zu überwinden; Tendenzen, die die bitteren Früchte einer generationlangen bürgerlichen Ideologie sind. Es bedeutet die unermüdliche Entwicklung und Ausbreitung ihrer eigenen Selbstorganisation und ihres eigenen Selbstbewusstseins vor, während und nach der Ergreifung der politischen Macht. Pannekoeks Polemik gegen die par­lamentarischen Taktiken der Kommunistischen Internationalen kann gleichermaßen gegen jene gerichtet werden, die der kommunisti­schen Partei eine im wesentlichen parlamen­tarische Rolle in den Sowjets zuschreiben:
"Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massive Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, daß sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporsprin­gen kann. Die Revolution erfordert, daß die großen Fra­gen der gesellschaftlichen Rekonstruktion in die Hand genommen, daß schwierige Entscheidungen getroffen wer­den, daß das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird - und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut, dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und müh­sam; solange daher die Arbeiterklasse glaubt, einen leichteren Weg zu sehen, indem andere für sie handeln. Heute stehen die Revolutionäre vor einer Wahl. Einerseits von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen - wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben." (Anton PANNEKOEK, "Weltrevolution und Kommunistische Taktik", Wien 1920, Kapitel IV)
Es gibt viele Menschen, die "Führer" der Arbeiterklasse sein wollen. Aber die meisten von ihnen verwechseln die bürgerliche Auffassung der Führung mit der Art und Weise, in der das Proletariat seine eigene Führung generiert. Jene, die im Namen der Führung die Klasse dazu aufrufen, ihre wichtigste Aufgabe an eine Minderheit abzugeben, führen das Proletariat nicht zum Kommunismus, sondern stärken den Einfluß der bürger­lichen Ideologie in der Klasse; einer Ideologie, die die Arbeiter von der Wiege bis zur Bahre davon zu überzeugen versucht, daß sie unfähig sind, sich selbst zu or­ganisieren, daß sie anderen die Aufgabe anvertrauen sollen, sie zu organisieren. Die revolutionäre Partei wird nur dann zu einem Vorankommen des Kommunismus beitragen, wenn sie ein Bewußtsein anregt und verallgemeinert, das der Ideo­logie der Bourgeoisie vollkommen entgegengesetzt ist: ein Bewußtsein über die unerschöpfliche Fähigkeit der Klasse, sich selbst zu organisieren und sich selbst der Rolle als Subjekt der Geschichte bewußt zu werden. Kommunisten, die von einer Klasse ausgeschieden werden, die keine neuen Ausbeutungsverhältnisse in sich trägt, sind insofern einzigartig in der Geschichte der revolutionä­ren Parteien, als sie alles unternehmen, um ihre eigene Funktion unnötig zu machen, sobald das Klassenbewußtsein und die Ak­tivität eine homogene Realität innerhalb der gesamten Klasse werden. Je mehr das Proletariat auf dem Weg zum Kommunismus voranschreitet, umso mehr wird die gesamte Klasse zum lebendigen Ausdruck des "positiven Selbst­-Bewusstwerdung des Menschen", einer befreiten und bewussten menschlichen Gemeinschaft werden.
C.D.Ward
(Frühjahr 1979)