Erdbeben, Tsunami und Atomunglücke in Japan Der Horror des Kapitalismus

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«Man muss das Schlimmste befürchten». Dies ist der Tenor  aller Schlagzeilen der Medien, aber auch der meisten führenden Politikern der Welt.  Doch das Schlimmste ist schon eingetreten! Zunächst das Erdbeben, dann der Tsunami und schließlich der Nuklearunfall - die japanische Bevölkerung steckt in einer schrecklichen Lage. Heute schon leben Millionen Menschen unter dem Damoklesschwert der nuklearen Verseuchung, die aus den Reaktoren Fukushimas entweicht. Diesmal hat es kein armes Land ins Mark getroffen wie Haiti oder Indonesien, sondern ein Land, das bekannt ist für seine Spitzentechnologie. Ein Land, das als erstes mit der Nuklearenergie experimentiert hat und das in Anbetracht der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 besonders mit deren Gefahren vertraut ist.

Der Kapitalismus lässt die Menschheit für Naturkatastrophen immer anfälliger werden

Erneut sind der Wahnsinn des Kapitalismus und das unverantwortliche Verhalten der herrschenden Klassen deutlich geworden. Erst jetzt nimmt die Welt davon Kenntnis, dass 127 Millionen Menschen auf einem schmalen Küstenstreifen wohnen, oft in Holzhäusern, auf Landstrichen, die ständig den Gefahren von Erdbeben und alles verschlingenden Monsterwellen ausgesetzt sind. Dabei treibt die Bevölkerungsdichte im Katastrophenfall selbstredend die Zahl der Opfer noch weiter in die Höhe.

Als ob dies nicht reichen würde, wurden Atomkraftwerke, die überall veritable Zeitbomben bilden, auch an Orten gebaut, die Erdbeben- und Tsunami-gefährdet sind. Die meisten AKWs in Japan sind vor ca. 40 Jahren gebaut worden, und dies nicht nur in sehr dicht bewohnten Gebieten, sondern darüber hinaus in Küstennähe, d.h. sie sind besonders durch Tsunamis gefährdet. So sind denn auch von 55 Reaktoren in 17 AKWs elf durch das Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber nicht nur AKWs waren betroffen, sondern auch petrochemische Anlagen, die am Meer errichtet worden waren und die zum Teil in Brand gerieten, was das menschliche Desaster und die Umweltkatastrophe noch verschlimmerte.

Die Herrschenden versuchen uns glauben zu machen, die Natur sei schuld; man könne Stärke und Zeitpunkt von Erdbeben sowie das Ausmaß von Tsunamis nicht vorhersehen. Richtig. Aber es fällt auf, dass der Kapitalismus, der Wissenschaft und Technologie, die eigentlich eingesetzt werden könnten, um solchen Katastrophen vorzubeugen, in den letzten zwei Jahrhunderten phänomenal vorangetrieben hat, die Menschheit noch immer diesen schrecklichen Gefahren aussetzt. Die gegenwärtige kapitalistische Welt verfügt über gewaltige technologische Mittel, aber sie ist unfähig, Letztere zum Nutzen der Menschheit einzusetzen, denn aus ihrer Sicht zählt nur der Profit für das Kapital … auf Kosten von Menschenleben.

Seit der Katastrophe von Kobe 1995 hat der japanische Staat beispielsweise den Bau von erdbebensicheren Gebäuden vorangetrieben – Gebäude, die auch dem jüngsten Beben standgehalten haben, die aber den Vermögenden vorbehalten blieben bzw. als Bürogebäude in den Großstädten genutzt werden.

Die Bevölkerung ist nun schon bis ins 250 km von Fukushima entfernte Tokio hinein einer Strahlendosis ausgesetzt, die offiziellen Angaben zufolge 40 Mal höher ist [1] als der Durchschnittswert, was die japanische Regierung jedoch nicht daran hindert, diesen Strahlenwert als „gefahrlos“ einzustufen.

Die groben Lügen der Herrschenden

Heute werden Vergleiche mit früheren GAU’s in Atomkraftwerken angestellt, insbesondere mit der Kernschmelze im Reaktor von Three Mile Island in den USA 1979. Offiziell hatte diese keinen einzigen Toten hinterlassen. Alle politisch Verantwortlichen erklären, „bislang“ handelte es sich bei Fukushima um keinen so ernsthaften Störfall wie die Explosion in Tschernobyl 1986. Soll man sich durch solche außerordentlich optimistischen Äußerungen beruhigen lassen?  Wie ist die wirkliche Gefährdung der Bevölkerung in Japan, Asien, Russland, in den USA, auf der ganzen Welt einzuschätzen?  Die Antwort ist ganz einfach: äußerst dramatisch. Schon jetzt sind große Gebiete Japans radioaktiv verseucht; die japanische Betreibergesellschaft Tepco reagiert auf die Ereignisse, indem sie sich von Tag zu Tag trickst. Das Leben Hunderter Beschäftigter und Feuerwehrleute wird skrupellos aufs Spiel gesetzt, indem sie einer hohen Strahlendosis ausgesetzt werden. Es ist widerlich, wenn die japanische Regierung von den kamikaze-artigen „Helden“ spricht, ist sie doch der Hauptverantwortliche für dieses Gemetzel. Die Hilflosigkeit der Verantwortlichen ist derart groß, dass sie nach einer Woche verzweifelter Versuche, die beschädigten Reaktoren zu kühlen (wobei sie sogar den irren Vorschlag ins Auge gefasst hatten, Kabel anzuschließen, um einen der fusionierenden Reaktoren zur Stromgewinnung zu benutzen, was die die Explosionsgefahr erhöht hätte), als einzig verbleibende Lösung ins Auge gefasst haben, das Atomkraftwerk in Fukushima – wie in Tschernobyl – mit Sand und Beton abzudecken [2]. Angesichts der aktuellen wie auch der kommenden Entsetzlichkeiten enthält der Diskurs unserer Ausbeuter wie immer nichts anderes als Lügen!

1979 log Washington über die radioaktiven Folgen der Kernschmelze im Zentrum der Zentrale, obwohl 140.000 Menschen evakuiert wurden. Auch wenn niemand direkt zu Tode gekommen ist, sind die Krebserkrankungen in den darauffolgenden Jahren um das Hundertfache gestiegen, was die US-Regierung nie zugeben wollte.

Im Falle Tschernobyls, wo gravierende strukturelle und Instandhaltungsschwächen festgestellt wurden, hat die russische Regierung wochenlang den Ernst der Lage verheimlicht. Erst nach der Explosion des Reaktors und dem Austritt einer gewaltigen radioaktiven Wolke, die kilometerhoch in die Höhe stieg und sich über Tausende Kilometer ausdehnte, hat die Welt das Ausmaß der Katastrophe erfasst. Die Verantwortlichen im Westen haben genau das Gleiche gemacht. Damals hat sich der französische Staat besonders hervorgehoben, als er die Riesenlüge verbreitete, die Wolke sei vor den Grenzen Frankreichs stehengeblieben! Eine andere aufschlussreiche Tatsache: heute noch zieht die WHO (Weltgesundheitsorganisation), die mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) verbunden ist, eine lächerliche Bilanz der Explosion in Tschernobyl : 50 Todesopfer, neun (!) an Krebs verstorbene Kinder und 4000 potenziell tödliche Krebserkrankungen. In Wirklichkeit sind einer Studie der New Yorker Akademie der Wissenschaften zufolge 985.000 Menschen infolge der Explosion in Tschernobyl gestorben [3]. Und heute sind es die gleichen Institutionen, die eine Bilanz Fukushimas erstellen und uns über die Risiken informieren sollen. Fragt sich nur, welche Glaubwürdigkeit diese Institutionen besitzen. Was wird aus den „Liquidatoren“ in Fukushima geschehen, wenn man weiß, dass in Tschernobyl „von den 830.000 Liquidatoren, die auf dem Gelände gewirkt haben, ca. 112.000-125.000 gestorben sind“? [4] Heute noch versuchen die Herrschenden zu vertuschen, dass der Kern des AKW in Tschernobyl immer noch äußerst gefährlich ist, dass es heute noch notwendig ist, den Kern des Reaktors mit einer x-ten Betonschicht abzudecken. Genauso war verheimlicht worden, dass es in Fukushima mehr als 200 Störfälle in den letzten 10 Jahren gegeben hat.

Alle Staaten leugnen die Wirklichkeit der atomaren Gefahren! Der französische Staat erklärt unaufhörlich und dreist, dass die 58 Atomkraftwerke in Frankreich völlig sicher seien, obwohl die meisten von ihnen in erdbebengefährdeten Gebieten oder in Überschwemmungsgebieten bzw. an der Küste liegen. Während des Sturms von 1999, als eine Sturmfront große Schäden in Europa angerichtet und 88 Tote hinterlassen hatte, kam es infolge der Überschwemmung des AKW in Blayais, in der Nähe von Bordeaux, fast zu einer Kernschmelze. Nur wenige wussten davon. In Fessenheim steht ein AKW, das so alt ist, dass es vor Jahren hätte außer Betrieb gesetzt werden sollen. Aber dank der Verwendung von Ersatzteilen, von denen viele nicht zueinander passen, ist es noch immer in Betrieb, wahrscheinlich mit hohen, verheerenden Strahlenbelastungen für das Wartungspersonal. Doch unverdrossen behauptet man, „alles im Griff“ zu haben und „transparent“ zu handeln.

Unmittelbar nach dem Beben in Japan am 11. März haben die Medien dreist behauptet, die japanischen AKWs gehören zu den „sichersten“ der Welt. Zwei Tage später äußerte man das Gegenteil und erinnerte daran, dass die Betreibergesellschaft Tepco bereits in der Vergangenheit Störfälle vertuscht habe. Doch sind die AKWs in Frankreich, wo “sich innerhalb von 10 Jahren die Zahl der kleineren Störfälle und Unregelmäßigkeiten verdoppelt hat“ [5], und anderswo auf der Welt sicherer?  Keinesfalls!  „Ungefähr 20% der 440 in Betrieb befindlichen zivilen Kernkraftwerke stehen in Gebieten mit ‚wichtigen seismischen Bewegungen‘, so die WNA (World Nuclear Association), ein Industrieverband. Einige der 62 im Bau befindlichen AKWs stehen in erdbebengefährdeten Gebieten, ebenso eine Reihe der 500 anderen Bauprojekte in den Schwellenländern. Viele AKWs – auch die vier durch den Tsunami in Fukushima beschädigten Reaktoren – stehen auf oder in der Nähe des ‚Feuerkreises’, einem 40.000 km langen Ring tektonischer Gräben, die im Pazifik gemessen wurden.“ [6]

So geben ernsthafte Quellen zu bedenken, dass „immer mehr  radioaktive Elemente im Umlauf sind. Zum Beispiel gab es vor 1945 kein Plutonium in der Natur, mittlerweile findet man es gar in den Milchzähnen britischer Kinder“ [7], obgleich Großbritannien sein ziviles Atomprogramm eingestellt hat.

Der Kapitalismus treibt die Menschheit in immer mehr Katastrophen

In Japan kämpfen die Menschen nicht nur mit der nuklearen Katastrophe, sondern auch mit einer anderen Katastrophe.  Die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist innerhalb weniger Stunden in eine seit dem 2. Weltkrieg nie da gewesene Krise gestürzt - massive Zerstörungen, Zehntausende Tote und zusätzlich atomare Verstrahlung wie nach den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima.

Millionen Menschen im Nordosten Japans überleben ohne Elektrizität, ohne Trinkwasser, mit immer weniger Lebensmitteln, wenn diese nicht gar radioaktiv verseucht sind. 600.000 Menschen mussten vor dem Tsunami flüchten, der ganze Städte an der Pazifikküste weggespült hat, und leben nun, der Gefahr radioaktiver Verstrahlung ausgesetzt, mittellos in Kälte und Schnee. Im Gegensatz zu den Ankündigungen der japanischen Regierung, die die Gefahren weiterhin verharmlost, die Opferzahlen heruntergespielt und lediglich tröpfchenweise preisgibt, muss man jetzt schon von Zehntausenden Toten im ganzen Land ausgehen. Das Meer spült ständig Leichen an Land. Das Ausmaß der zerstörten Wohnungen, Gebäude, Krankenhäusern, Schulen usw. wird immer größer.

Ganze Dörfer, Gebäude, Züge, ja Städte im Nordosten des Landes sind vom Tsunami mitgerissen worden. In einigen Städten, die in engen Tälern liegen, wie Minamisanriku, ist mehr als die Hälfte der 17.000 Einwohner ums Leben gekommen oder gilt als verschwunden. Nachdem die Behörden 30 Minuten vor Eintreffen der Welle die Bevölkerung gewarnt hatte, waren die Straßen schnell verstopft; diejenigen, die zu spät geflüchtet waren, wurden Opfer der Wellen.

Die Bevölkerung ist von all den westlichen Medien für ihren „beispielhaften Mut“ und ihre „Disziplin“ gelobt worden ; jetzt ruft der Premierminister sie auf, „wieder bei null mit dem Wiederaufbau anzufangen“. Mit anderen, deutlicheren Worten gesagt: die japanische Arbeiterklasse muss sich auf neue Entbehrungen, auf mehr Ausbeutung und auf noch mehr Elend einstellen. Die Bilder, die seit Jahrzehnten verbreitet werden, sind bekannt: zum Beispiel jenes Bild des japanischen Arbeiters, der mit seinem Arbeitergeber unterwürfig Morgengymnastik treibt, stillhält und sich stumm ausbeuten lässt, sich stoisch verhält und nur auf Befehle wartet, während das Dach über seinem Kopf zusammenstürzt. Tatsächlich ist die japanische Bevölkerung außerordentlich mutig, aber der in den Medien porträtierte „Stoizismus“  sieht ganz anders aus. Unter den Hunderttausenden Menschen, die in Notunterkünften Zuflucht gefunden haben, wächst berechtigterweise die Wut; weitere Hunderttausend haben ebenfalls die Flucht angetreten, darunter ein wachsender Teil der 38 Millionen Einwohner des Großraums Tokio. Und diejenigen, die ausharren, tun dies nicht, um der Gefahr und ihrem Schicksal zu trotzen, sondern weil sie keine andere Wahl haben. Es fehlt ihnen an finanziellen Mitteln, und wo sollten sie auch hin? Wer wird sie aufnehmen?  Umweltflüchtling zu sein stellt in den Augen der Herrschenden etwas Unanständiges dar. Jedes Jahr müssen ungefähr 50 Millionen Menschen vor Umweltgefahren flüchten, aber es gibt keine UN-Konvention für sie,  selbst wenn sie Opfer einer Katastrophe wie die eines atomaren Unfalls sind. Es ist klar, dass den armen und mittellosen Japanern, die vor der Nuklearkatastrophe zu flüchten versuchen oder einfach woanders hinziehen, nirgendwo ein „Asylrecht“ zugestanden wird.

Dieses irrsinnige Ausbeutungssystem ist todgeweiht und wird jeden Tag noch unmenschlicher. Obwohl die Menschheit ein umfangreiches Wissen und gigantische technologische Mittel angesammelt hat, sind die Herrschenden unfähig, alle Mittel zu mobilisieren, die die Menschheit  vor derartigen Naturkatastrophen schützen. Im Gegenteil, sie wirken furchtbar zerstörend, überall auf der Welt.  Wie ein Teilnehmer an unserem französischsprachigen Forum meinte: „Wir haben keine andere Wahl gegenüber dieser kapitalistischen Hölle: Sozialismus oder Barbarei. Gegen das System kämpfen oder krepieren“.

Mulan, 19.3.2011

 

1. Die Erfahrung zeigt, welche Glaubwürdigkeit diese offiziellen Zahlen im Allgemeinen und insbesondere die des Nuklearbereichs haben – die goldene Regel lautet – die Herrschenden lügen, manipulieren und unterschätzen die Gefahren!

2. As Le Canard Enchaîné reported on March 16th 2011, the current disaster was even predicted: “the eight German engineers from Areva who worked on site at the Fukushima nuclear power station 1, weren't mad (…) surprised by the earthquake 'when the number 4 reactor block was fully operational' on Friday evening (March 11th), they were sent awa to safety 40 miles from the nuclear power station” and then “taken to Frankfurt on Sunday March 13th”.

3. Quelle : « Troublante discrétion de l’Organisation mondiale de la santé », Le Monde du 19 mars.

4.                https://www.monde-diplomatique.fr/2010/12/KATZ/19944

5.                www.europe1.fr/societe/En-France-les-incidents-nucleaires-en-hausse-497336

6. www.lemonde.fr

7. blog.mondediplo.net/2011-03-12-Au-Japon-le-seisme-declenche-l-alerte-nucleaire

 

 

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