Tote auf der Love Parade: Kommerz und Renommee geht vor Menschenleben

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Die Menschenverachtung, für die Duisburg nur stellvertretend steht, ist ein Überlebensprinzip der einzelnen Protagonisten der herrschenden Klasse. Sie zu überwinden erfordert weitaus mehr als die Mobilisierung von Kategorien wie Schuld und Sühne, Rücktritt oder Abwahl. Es erfordert nichts Geringeres, als das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Dass dies nicht in einer Gesellschaft wie der Kapitalismus zu bewerkstelligen ist, die, wie keine andere Gesellschaft vor ihr, die Ausbeutung und Entfremdung bis zur Perfektion kultiviert hat, ist dabei selbstredend.

Nun sind schon fast drei Wochen vergangen, seitdem am 24. Juli einundzwanzig junge Menschen auf der „Love Parade“ in Duisburg ihr Leben gelassen hatten und 500 weitere verletzt worden waren, und noch immer dreht sich das Karussell der Schuldzuweisungen und Unschuldsbeteuerungen von Politik, Polizei und Betreiber dieser Veranstaltung. Wenn die Angelegenheit nicht so ernst wäre, könnte man meinen, man sei im Kindergarten: ‚Ich bin’s nicht gewesen, der andere war’s.‘ Die Stadt Duisburg versucht sich mit Hilfe eines Gutachtens aus der Verantwortung stehlen und bezichtigt den Betreiber der „Love Parade“ in Duisburg, Auflagen nicht eingehalten zu haben. Dieser weist seinerseits alle Schuld von sich und macht stattdessen die Polizei für die Tragödie verantwortlich. Und die? „Ich werde nicht zulassen, dass die Polizei als Sündenbock für die Fehler und Versäumnisse anderer herhalten muss“, donnert NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) zurück. Nicht die Polizei sei Schuld an den Geschehnissen, sondern... die Stadt Duisburg und der Veranstalter. Welch schäbiges Schauspiel die Charaktermasken der herrschenden Klasse hier darbieten!

Veranstalter, Politik und Behörden: Das Dreigestirn der organisierten Katastrophe 

Dabei war die ganze Mischpoke ausnahmslos und federführend an der Planung und Durchführung dieser „organisierten Katastrophe“ (SPIEGEL-Titel) beteiligt und somit voll und ganz verantwortlich für den grausamen Tod dieser Menschen. Nehmen wir den Veranstalter, Rainer Schaller, ein Empokömmling aus ärmeren Verhältnissen (oftmals die schlimmsten Finger) und Inhaber einer Fitness-Kette: Er witterte ein großes Geschäft, wofür er bedenkenlos die Gesundheit und das Leben von Hunderttausenden von Ravern aufs Spiel setzte. Nehmen wir die Politiker wie den Duisburger Oberbürgermeister Sauerland oder Landespolitiker aller Couleur: Letztere einte die Absicht, die „Love Parade“, die in Bochum 2009 schon einmal abgesagt worden war, dieses Jahr in Duisburg nachzuholen – koste es, was es wolle; und Erstgenannter war ihr willfähriges Instrument, das alle Sicherheitsbedenken subalterner Beamter und sämtliche Vorschriften souverän ignorierte. Oder die Polizei: Sie versteckte sich am Tag der Katastrophe viel zu lange hinter der Verantwortung des Veranstalters und erlaubte sich, als sie schließlich das Kommando übernommen hatte, auch noch eine Reihe verhängnisvoller Pannen.

Sie alle ließen jede Vorsicht fahren und führten 21 junge Menschen sehenden Auges ins Verderben. Der Veranstalter, der insgeheim auf mehr als 500.000 Besucher hoffte, obwohl das Gelände lediglich Platz für maximal 220.000 Menschen bot. Und dessen untaugliches Konzept  beispielsweise einen 155 Meter breiten Tunnel als Ein- und Ausgang für eine nach Hunderttausenden zählenden Menschenmenge vorsah – besser kann man in der Tat eine Katastrophe nicht organisieren. Die Behörden, die sich zum Büttel von Privatinteressen machten und dieses „Konzept“, das gegen alle erdenklichen Vorschriften der Bauordnung verstieß, durchwinkten. Die Politik, die aus Sorge, dass bei einer nochmaligen Absage „die Love Parade endgültig gestorben gewesen (wäre) für das Ruhrgebiet“, wie der schon erwähnte Sauerland unkte, alle Sicherheitsbedenken in den Wind schrieb und 21 Menschen sterben ließ. Der Polizeiapparat, der seine Beamten nicht nur ohne Entscheidungsbefugnisse, sondern auch ohne Funkgeräte (sic!) in diese Großveranstaltung schickte, während er bei Veranstaltungen der Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur keine Mühen und Kosten scheut und nötigenfalls ganze Regionen hermetisch abriegelt, um die Sicherheit der Hautevolee zu gewährleisten. (1) Nichts wirft ein grelleres Licht auf den Klassencharakter dieses Staates und seiner Behörden!

Konkurrenz und Kommunen

Und wofür das Ganze? Die Motive des Herrn Schaller liegen auf der Hand: Mehr Aufwand für die Sicherheit hätte Mehrausgaben bedeutet, die der Inhaber einer aufstrebenden Fitness-Kette nicht schultern wollte. Doch was hat die Kommunal- und Landespolitik aus allen Parteien dabei geritten, als sie diesen Hasardeur, entgegen aller Warnungen der Experten, mit einem Persilschein ausstattete? Warum blies selbst die örtliche Presse ins gleiche Horn? Wie ist diese blinde Liebe etablierter Parteipolitiker, die meisten längst in einem „reiferen“ Alter, zur „Love Parade“ zu erklären? Alles Raver, oder was? 

Es ist davon auszugehen, dass die Gründe für ihr Tun und Lassen irdischerer Natur sind. Und sie sind denen des privatkapitalistischen Novizen Schaller gar nicht so unähnlich. Geht es dem einen darum, sich auf dem heiß umkämpften Markt der „Körperkultur“ zu etablieren, ist es das Anliegen der bürgerlichen Parteifunktionäre, ihrem Wahlkreis, ihrer Kommune, ihrem Bundesland zwecks Wiederwahl Vorteile auf allen möglichen Gebieten zuzuschanzen. Schon seit Jahrzehnten ist ein sich ständig verschärfender Wettbewerb unter den Kommunen, Städten und Bundesländern zu konstatieren. Anfangs beschränkte sich der Kampf um den besten „Standort“ auf die Praxis, anderen Kommunen oder Bundesländern Großbetriebe und andere Gewerbetreibende durch die Gewährung von besonders „großzügigen“ Zuschüssen und Subventionen abspenstig zu machen. Mittlerweile tobt der Konkurrenzkampf in allen Bereichen der kommunalen und Landespolitik, besonders aber auf dem Gebiet der Bildungs- und Kulturpolitik. Es ist ein Kampf mit harten Bandagen, der gelegentlich zu ernsthaften Verstimmungen unter den Landesregierungen oder Bürgermeistern führt. Ein Kampf, in dem es darum geht, dem Anderen seine Kulturinstitute, Buchverlage, Mode- und Musikmessen abzujagen und um dessen Bildungsressourcen zu buhlen (z.B. durch Abwerbungskampagnen unter den Lehramtsaspiranten anderer Bundesländer). Es ist, ähnlich wie in der Privatwirtschaft, ein Verteilungs- und Verdrängungskampf. Mit jeder Verschärfung der allgemeinen Wirtschaftskrise wird die Standortfrage für Städte, Gemeinden und Länder zu einer immer akuteren Existenzfrage. Nur wer genügend kulturelle Angebote in Aussicht stellt, über hochqualifizierte Manpower  verfügt und hochrangige Bildungsstätten bietet, kann bei der Jagd nach finanzkräftigen Investoren und anderen potenten Steuerzahlern noch punkten.

Eine Bemerkung zur Schuldfrage

Vor diesem Hintergrund ist die Suche nach den „Schuldigen“ für die Tragödie von Duisburg, wie sie derzeit von der Öffentlichkeit betrieben wird, reine Augenwischerei und verfolgt allein den Zweck, die Empörung in der Bevölkerung auf einzelne Buhmänner und Sündenböcke zu fokussieren. Bei aller Abscheu über das verantwortungslose Treiben dieser Herrschaften sollte aber nicht übersehen werden, dass nicht nur die Schallers, sondern auch die Sauerlands den blinden Gesetzen der kapitalistischen Konkurrenz unterworfen sind. „Friss oder stirb!“ – dieser Imperativ gilt nicht nur fürs Privatkapital, sondern auch für die politische Klasse. In diesem Sinn stellt sich die Schuldfrage anders, als es uns die herrschende Ideologie suggerieren möchte. Sie lautet nicht: Wer hat Schuld? Sondern: Was sind die äußeren Umstände, die solch ein Versagen, die solch einen bodenlosen Leichtsinn im Umgang mit „Schutzbefohlenen“ ernst begünstigen?

So formuliert, wird aus der Schuldfrage schnell eine Systemfrage. Es ist nicht der böse Wille, der das Individuum, gleich ob Krimineller oder Politiker, letztendlich zum Täter macht, sondern die kapitalistisch geprägte Umwelt. Es ist eine Umwelt, in der die Entfremdung des Menschen die Mitmenschen zu Konkurrenten, Kostenfaktoren und Waren stempelt. Eine Umwelt, in der Rücksichtslosigkeit, Skrupellosigkeit und Gier Tugenden und Todesopfer Kollateralschäden beim Streben nach Profit und Renommee sind.

Die Menschenverachtung, für die Duisburg nur stellvertretend steht, ist ein Überlebensprinzip der einzelnen Protagonisten der herrschenden Klasse. Sie zu überwinden erfordert weitaus mehr als die Mobilisierung von Kategorien wie Schuld und Sühne, Rücktritt oder Abwahl. Es erfordert nichts Geringeres, als das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Dass dies nicht in einer Gesellschaft wie der Kapitalismus zu bewerkstelligen ist, die, wie keine andere Gesellschaft vor ihr, die Ausbeutung und Entfremdung bis zur Perfektion kultiviert hat, ist dabei selbstredend.

16.8.10

(1) Ein Polizeiapparat, der fast jede Demonstration oder Kundgebung mit allem möglichen Bürgerkriegsmaterial zum Zurückdrängen, Einkesseln, Festsetzen, Festnehmen usw. mit oft Tausenden von martialisch sich gebärdenden Polizisten „begleitet“, der Bewegungen von Menschenmassen auf der Straße mit high-tech (Videoaufnahmen usw.) überwacht und ggf. steuert, dieser Polizeiapparat bekundete nach der Katastrophe, man sei für die Sicherheit auf dem Veranstaltungsgelände nicht zuständig gewesen, sondern nur für die Sicherheit auf der Straße.  Ein Sicherheitsapparat, der Unheil ahnte, die Menschen aber ins Verderben laufen ließ!

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