So wie beim Erdbeben im iranischen Bam vor zwei Jahren, das Zehntausende von Menschen tötete, oder beim Tsunami im Dezember, der Hunderttausende von Toten in der Region des Indischen Ozeans hinterließ, so hat auch in New Orleans, Mississippi und Alabama das kapitalistische System eine Naturkatastrophe in ein soziales Desaster verwandelt. So wie beim Erdbeben im iranischen Bam vor zwei Jahren, das Zehntausende von Menschen tötete, oder beim Tsunami im Dezember, der Hunderttausende von Toten in der Region des Indischen Ozeans hinterließ, so hat auch in New Orleans, Mississippi und Alabama das kapitalistische System eine Naturkatastrophe in ein soziales Desaster verwandelt.
Die albtraumartigen Szenen, die sich derzeit in den USA abspielen, machen dies deutlicher denn je. Hier handelt es sich nicht um etwas, was durch ein vages Gerede über die Unterentwicklung und globale Armut wegdiskutiert werden kann. Diese Katastrophe, deren Todes- und Zerstörungsrate noch nicht kalkuliert werden kann, ereignet sich in der reichsten, mächtigsten Nation der Welt. Sie beweist, dass die herrschende Gesellschaftsordnung trotz all ihrer technologischen und materiellen Ressourcen die Menschheit nur in den Ruin treiben kann.
Die Katastrophe, die vom Hurrikan „Katrina“ ausgelöst wurde, ist in jedem einzelnen ihrer Aspekte eine Anklage gegen Kapitalismus und Klassengesellschaft.
Zu den Ursachen der Katastrophe. Die Katastrophe, die nichts Geringeres als die City von New Orleans zerstört hat - eine einzigartige Erinnerung an all dem, was das Beste der amerikanischen Kultur ausmacht -, ist seit langer Zeit vorausgesagt worden. Eine Umweltstudie über die Zerstörung des Schwemmlandes rings um New Orleans, das Schutz bieten könnte gegen die riesigen Wassermassen, die die City von New Orleans umgeben, kam zu dem Schluss, dass die City schon durch einen ganz „normalen“ Hurrikan verwüstet werden könnte, ganz zu schweigen von einem Orkan der Stärke 5. Im Jahr 2003 änderte die US-Regierung ihre bisherige Politik, einen Nettoverlust von Schwemmland zu vermeiden, und öffnete die Tür für eine massive „Entwicklung“ und eine auf schnelles Geld ausgerichtete Bebauung von Schwemmland. Es wurde auch vor dem gefährlichen Zustand der Dämme gewarnt, die zum Schutz der Stadt errichtet worden waren. Auch darüber wurden Studien angefertigt, doch auch hier hatte der Staat andere Prioritäten. Die Times-Picayune berichtete am 2. September: „Jene zweite Studie sollte vier Jahre dauern und ungefähr 4 Mio. Dollar kosten, sagte Al Naomi, Projektleiter des Ingenieurskorps der Armee. Ungefähr 300.000 Dollar Bundesmittel waren für den Etat von 2005 avisiert, und der Staat hatte zugesagt, diesen Betrag aufzubringen. Doch seinem Vernehmen nach zwangen die Kosten des Irakkrieges die Bush-Administration, dem Distrikt von New Orleans anzuweisen, keine neue Studien zu beginnen, und auch der Etat von 2005 enthielt nicht mehr die benötigten Gelder.“
Gar nicht erst zu reden über das Thema der globalen Erwärmung: Es gibt wachsende Hinweise darauf, dass die Erwärmung der Weltmeere – das Produkt eines dem Kapitalismus innewohnenden Bedürfnisses nach einem ungehemmten Wirtschaftswachstum – die Ursache für die sich häufenden extremen Wetterlagen ist, die überall auf der Welt zu spüren sind. Doch die US-Regierung ist nicht einmal bereit, die Existenz dieses Problem zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
Zum Fiasko der „Evakuierung“ vor dem Sturm. Es enthüllt einen völligen Mangel an Planung und ein totales Versagen, die ärmsten und prekärsten Teile der Bevölkerung zu versorgen. Alles, was die lokalen und nationalen Behörden angesichts des kommenden Sturms taten, war, die Menschen aufzufordern, aus New Orleans und Umgebung zu fliehen. Nicht ein Gedanke wurde daran verschwendet, wie die Armen, die kein Auto und nicht genug Geld für Zug- oder Bustickets besaßen, wegkommen sollten. Noch vielsagender war die Aufgabe ganzer Krankenhäuser und Altenheime. Der Anblick von älteren Patienten, die unter offenem Himmel zurückgelassen wurden, und jener, die verzweifelt versuchten, ihnen zu helfen, gehört zu den erschütternsten Bildern dieser Katastrophe. Dies ist der Preis dafür, alt und arm zu sein im 21. Jahrhundert.
Zur Farce der „Hilfsaktion“ nach dem Sturm. Tagelang waren jene, die zurückgelassen wurden, höllischen Bedingungen auf den Straßen, in den Ruinen und im Superdome, wo sie Schutz suchen sollten, ausgesetzt. Es fehlte an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Schutz vor der drückenden Schwüle und an den einfachsten Sanitäreinrichtungen, während die mächtigen US-Behörden unfähig schienen, sie über Land oder über See zu erreichen. Die Administration selbst erklärte diese Verzögerungen als „inakzeptabel“, bot aber bisher keine weitergehende Erklärung an. Und einmal mehr bestimmte die Klassenzugehörigkeit die Überlebenschancen, wie am Gegensatz zwischen den Bedingungen, denen die Superdome-Flüchtlinge ausgesetzt waren, und den Umständen einer privilegierten Gruppe von Gästen des Hyatt-Hotels deutlich wird: „Gordon Russell von der Times-Picayune wies treffend darauf hin, dass diese höllischen Bedingungen ‚in starkem Kontrast standen zu jenen von Leuten im nahe gelegenen, Zugangsbeschränkten Centre- und Hyatt-Hotel aus New Orleans’. Eine Reihe von Staatspolizisten, mit Gewehren in Anschlag, fuhr die Menge von Zuflucht suchenden Flüchtlingen vom Hoteleingang zu den Einrichtungen.“ Später stellte dieselbe Polizei sicher, dass diesen VIPs Vorrang vor den anderen Überlebenden gewährt wurde, als die Evakuierung begann; und es stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen Funktionäre des Bürgermeisters, Ray Nagin, waren.
Als aber die Evakuierung des Superdomes begann, gab es keinerlei Anzeichen von Großzügigkeit. Laut der World Socialist Website stieg, „während Bush seine Runde machte, (…) die Todesrate in New Orleans weiterhin rapide an. Nach der Ankunft eines riesigen, von der Nationalgarde eskortierten Konvois von Lastwagen, beladen mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser, und Hunderten von Bussen, begann die Massenevakuierung aus dem Louisiana-Superdome, dem größten Notlager für die obdachlosen Menschen. Doch die Busse setzten viele Flüchtlinge nur einige Meilen entfernt, an einer Kreuzung von Zufahrten zur Interstate 10, aus, wo Tausende von obdachlosen Flüchtlingen der brütenden Sonne ausgesetzt waren. Von mindestens einem halben Dutzend Toten unter den sich selbst überlassenen Flüchtlingen wurde berichtet.“ (3.9.2005)
Zu den künftigen ökonomischen und ökologischen Konsequenzen dieser Katastrophe: Schon ist viel von der Aufgabe des „Wiederaufbaus“ dieser Region – ein Gebiet, größer als Großbritannien und mit einigen der ärmsten Landstriche in den USA – die Rede, doch die USA ist bereits vor dem Sturm unaufhaltsam in die offene Wirtschaftskrise geschlittert, und die Katastrophe wird diese - alles deutet darauf hin – noch verschlimmern. Dies hat sich bereits in dem abrupten Anstieg des Ölpreises gezeigt, der aus den enormen Engpässen in der Versorgung resultiert. Der Sturm hat ein Loch in die Erdöl-Infrastruktur gerissen: Totalverluste von 30 Ölplattformen, weitere 20 aus ihren Verankerungen gerissen und stillgelegte Raffinerien. Dies hinderte die Erdölkonzerne nicht daran, eine schnelle Mark zu machen – ihre Börsennotierungen stiegen unmittelbar nach dem Sturm. Doch die langfristigen Auswirkungen dieses Anstiegs des Ölpreises bereiten den Wirtschaftsexperten der Bourgeoisie bereits erhebliche Sorgen.
Der Hurrikan beschwört noch weitere ökonomische Kalamitäten herauf: Die Küstenregion war bereits vor dem Sturm wegen der Konzentration von Raffinerien und Chemiefabriken als mit dem Krebs „im Bunde“ bekannt. Nun sind diese durch den Sturm übel zugerichtet worden, und ganze Gebiete von New Orleans drohen dadurch unbewohnbar zu werden. Kommentatoren sprechen von einem „Hexengebräu“ von toxischem Müll, der von den Wasserfluten davongetragen wurde und für die gestrandeten Überlebenden zu einem schnell wachsenden Krankheitsherd wird.
Zur Abzweigung von gesellschaftlichen Ressourcen für den Krieg: Eine Frage, die die Opfer immer wieder stellten: Wie kann es sein, dass die USA zwar eine Armee mobilisieren können, um in ein Tausende von Kilometern entferntes Land einzumarschieren, aber nicht im Stande sind, andere Amerikaner zu retten? Die grausame Priorität, die dem Krieg gegenüber dem Schutz von menschlichem Leben eingeräumt wird, fand ihren Ausdruck in der Tatsache, dass Gelder aus dem Etat für die Verbesserung von Schutzeinrichtungen für New Orleans abgezogen wurden, um das Irak-Abenteuer zu finanzieren; auch große Mengen an Ausrüstung und Manpower der Nationalgarde wurden für den Irak abgeschöpft, was teilweise als Erklärung für die Langsamkeit der Rettungsbemühungen herhalten muss.
Zur Tatsache, dass Privateigentum vor Menschenleben gesetzt wird: Und wie viele Truppen, die vom Irak-Krieg verschont blieben, wurden nach New Orleans geschickt, um „Recht und Ordnung“ wiederherzustellen, statt den Bedürftigen Hilfe zu bringen? Natürlich erschienen die Repressionsorgane noch vor den Helfern. Sie wurden von einer riesigen Medienkampagne über Plünderungen, Schießereien und Vergewaltigungen begleitet. Kein Zweifel, kriminelle Banden versuchten, Nutzen aus dieser Situation zu schlagen; kein Zweifel, die Verzweiflung trieb manchen zu irrationalen und zerstörerischen Handlungen. Doch der Zynismus der herrschenden Klasse erreichte neue Höhen, als sie systematisch eine Medienkampagne in Gang setzte, um die Aufmerksamkeit vom Versagen des Staates auf allen Ebenen auf jene Menschen zu lenken, die verzweifelt versuchten, in den Ruinen von New Orleans zu überleben. Plötzlich wurden die Opfer für ihr eigenes Leid verantwortlich gemacht, und statt Hilfe zu schicken, nahm dies die herrschende Klasse zum Vorwand, New Orleans dichtzumachen, die Rettungsbemühungen einzustellen und statt Trinkwasser und Lebensmittel Waffen, bewaffnete Fahrzeuge und Truppen zu schicken.
Damit über eins Klarheit besteht: Die Mehrheit der „Plünderer“ waren gewöhnliche Menschen, die vom Verhungern und von der schlimmsten Not bedroht waren und die sich aus den verwaisten Geschäften nahmen, was sie konnten; in vielen Fällen verteilten sie uneigennützig die Waren, die sie gefunden hatten. Web-Tagebücher, die aus erster Hand informiert waren, erzählten von zahllosen Akten der elementaren menschlichen Solidarität von Menschen, die selbst alles verloren hatten, gegenüber Mitmenschen, die sich aufgrund ihres Alters, von Verletzungen oder Krankheit in einer noch schlechteren Lage befanden. Und auch wenn die Katastrophe allgemeines Chaos bewirkte, so gab es dennoch auch Bemühungen von Menschen, auf der Stelle provisorische Hilfe zu leisten. So gab es im Fernsehen Bilder von „Plünderern“, die Nahrungsmittel ausgaben. Eine Gruppe von Ärzten einer HIV-Konferenz organisierte eine Klinik in einem der betroffenen Gebiete. In den Krankenhäusern arbeiteten die Angestellten weiter, um trotz fürchterlicher Umstände ein Mindestmaß an Pflege aufrechtzuerhalten. Wir sehen also, dass die Arbeiterklasse und die Besitzlosen die Solidarität gegenüber den Leidenden über die eigene Sicherheit stellten, während die herrschende Klasse nichts als plumpe Schaunummern und Repression anbieten konnte.
Ströme von Spott haben sich sowohl innerhalb wie außerhalb Amerikas über Bush und seine Kumpane wegen der unpassenden Reden, leeren Gesten und der zeitlupenartigen Reaktion auf die Katastrophe ergossen. Und sicherlich fügt sich die neue Krise in das Elend einer Administration ein, die bereits zuvor in wachsendem Maße unpopulär geworden ist. Doch der „Anti-Bushismus“ ist äußerst vereinfachend und kann leicht von anderen bürgerlichen Parteien in den USA und von den imperialistischen Rivalen Amerikas vereinnahmt werden. Dabei spiegeln die Exzesse der gegenwärtigen Bande im Weißen Haus – ihre Inkompetenz, Korrumpierung, Irrationalität und Abgestumpftheit – nur die ihnen zugrunde liegende Realität des US-Kapitalismus wider: eine zerfallende Supermacht, die die Aufsicht über eine „Weltordnung“ führt, welche im Chaos versinkt. Und diese Situation reflektiert ihrerseits den im Endstadium befindlichen Niedergang des Kapitalismus als Gesellschaftssystem, das den ganzen Planeten beherrscht. Wir leben in einer Produktionsweise, deren Weiterbestehen das Überleben der menschlichen Spezies bedroht. So sehr er auch Bush oder Amerika kritisiert, der Rest der herrschenden Klasse hat keine Alternative zum blinden Marsch in die Zerstörung durch Krieg, Hungersnot und ökologische Katastrophen. Die Hoffnung für die Menschheit verbirgt sich nicht in irgendeiner Fraktion der ausbeutenden Klasse, sondern wird von jenen verkörpert, die stets die ersten Opfer der Kriege und Katastrophen des Systems sind: die ausgebeutete Klasse, das Proletariat. Unsere Solidarität, unsere Empörung, unser kollektiver Widerstand, unsere Bemühungen, den wirklichen Charakter des gegenwärtigen Systems zu begreifen – dies ist die Saat für eine Gesellschaft, in der Arbeit, Wissenschaft und menschliche Kreativität nicht mehr im Dienst von Krieg und Profit stehen, sondern dem Leben und seiner Verbesserung dienen. World Revolution, 3.9.05
In den vorherigen Artikeln dieser Serie haben wir gesehen:
- warum der Kommunismus heute nicht nur für das Gedeihen der Menschheit, sondern auch für ihr nacktes Überleben notwendig ist;
- warum er zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr nur ein schöner Traum, sondern – aufgrund der Tatsache, dass die Menschheit heute die materiellen Bedingungen besitzt, um diesen riesigen Schritt nach vorn zu machen –eine reelle Möglichkeit ist;
-- warum der Mensch wirklich fähig ist, solch eine Gesellschaft in Gang zu setzen und in ihr zu leben;
-- warum es trotz der Entfremdung, die auf dem Bewusstsein des Menschen lastet, eine Klasse in der Gesellschaft gibt - das Proletariat - die in der Lage ist, ihren Kampf gegen die Ausbeutung und Unterdrückung in einen Kampf für die Etablierung einer neuen Ordnung zu verwandeln, der Ausbeutung, Unterdrückung und alle Klassenteilungen abschafft.
In diesem Artikel setzen wir unsere Untersuchung der Perspektiven des Kommunismus fort und betrachten, wie das Proletariat sich selbst organisieren kann, um die Revolution durchzuführen.
Lange Zeit haben die Revolutionäre gemeinsam mit dem Proletariat in seiner Gesamtheit nach einer Antwort auf die Frage gesucht, wie sich die Arbeiter selbst organisieren können, um die Revolution durchzuführen. Zunächst wurden (von Babeuf bis Blanqui) kleine konspirative Sekten bevorzugt. Danach schienen unterschiedliche Arbeitergesellschaften wie Gewerkschaften und Kooperativen oder jene in der Internationalen Arbeiterassoziation (die Erste Internationale, 1864 gegründet) versammelten Gruppierungen diese Selbstorganisation der Arbeiterklasse mit dem Ziel ihrer Emanzipation zu repräsentieren. Anschließend stellten sich die großen Massenparteien, die in der Zweiten Internationalen (1889 – 1914) versammelt waren, und die ihnen angeschlossenen Gewerkschaften als Hebel der gesellschaftlichen Umwandlung dar. Doch die Geschichte zeigte, dass, auch wenn diese Organisationsformen die Arbeiterklasse in bestimmten Entwicklungsstufen in die Lage versetzten, gegen die Ausbeutung zu kämpfen und sich über die Ziele dieses Kampfes bewusst zu werden, keine von ihnen dazu geeignet war, ihre historische Aufgabe tatsächlich zu vervollständigen: die Zerstörung des Kapitalismus und die Etablierung des Kommunismus. Erst als die historischen Bedingungen des Kapitalismus selbst die proletarische Revolution auf die Tagesordnung setzten, fand die Arbeiterklasse die geeignete Organisationsform, um diese Mission auszuführen: die Arbeiterräte. Ihr Erscheinen in Russland 1905 bedeutete einen Wendepunkt in der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft, das Ende ihrer progressiven Epoche, ihren Eintritt in die Dekadenz, in die “Ära der imperialistischen Kriege und proletarischen Revolutionen”, wie die Revolutionäre nach und nach begriffen. Auch wenn seit Blanqui die Revolutionäre bereits die Notwendigkeit der Errichtung der Diktatur des Proletariats als einen Hebel zur gesellschaftlichen Umwandlung kannten, konnte die konkrete Form dieser Diktatur erst mit der Erfahrung der Klasse selbst und noch dazu mit Verspätung deutlich werden. In die Fußstapfen der alten Konzepte von Marx und Engels tretend, schrieb Trotzki noch 1906, fünfundzwanzig Jahre nach 1871: “Der internationale Sozialismus meint, dass die Republik die einzig mögliche Form für die sozialistische Befreiung ist, vorausgesetzt, dass das Proletariat sie aus den Händen der Bourgeoisie reißt und umwandelt’ von einer Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere’, damit sie zu einer Waffe für die sozialistische Emanzipation der Menschheit wird”.
Die Arbeiterräte: die Diktatur des Proletariats in Gestalt
So wurde lange Zeit eine “wahrhaft demokratische Republik”, in der die proletarische Partei eine führende Rolle spielen sollte, als Gestalt und Form der Diktatur des Proletariats betrachtet. Erst mit der Revolution von 1917 begriffen die Revolutionäre und insbesondere Lenin wirklich, dass die “endlich gefundene Form” der Diktatur des Proletariats nichts anderes als die Macht der Arbeiterräte war, jenen Organen, die im Verlauf der revolutionären Kämpfe in Petrograd 1905 spontan entstanden waren und die sich auszeichneten durch:
-ihr Zustandekommen auf der Grundlage allgemeiner Versammlungen
-die Wahl und jederzeitige Abwählbarkeit der Delegierten
-die Einheit zwischen Beschlussfassung und –ausführung (Abschaffung der Trennung zwischen Legislative und Exekutive);
-die Umgruppierung und Zentralisierung nicht auf der Basis der Industrie oder Gewerkschaft, sondern im territorialen Rahmen (so sollen sich die Arbeiter nicht nach Berufszweigen sammeln, sondern mit allen anderen Arbeitern der Fabrik, der Stadt, der Region etc., um die Delegierten des Arbeiterrats dieses Gebietes zu wählen).Diese besondere Form der Organisation der Arbeiterklasse ist direkt den Aufgaben angepasst, die das Proletariat in der Revolution erwarten.Denn sie ist an erster Stelle eine allgemeine Organisation der Klasse, die alle Arbeiter in sich sammelt. Alle früheren Formen, einschließlich der Gewerkschaften, gruppierten nur einen Teil der Klasse um sich. Zwar reichte dies für die Arbeiterklasse, um zur Verteidigung ihrer Interessen innerhalb des Systems Druck auf den Kapitalismus auszuüben, doch erst durch ihre Selbstorganisation in toto ist die Klasse im Stande, die Zerstörung des Kapitalismus einzuleiten und den Kommunismus zu etablieren. Als die Bourgeoisie ihre Revolution machte, reichte es aus, dass lediglich ein Teil dieser Klasse die Macht übernahm. Deshalb bildete sie einen kleinen Teil der Bevölkerung, deshalb war sie eine ausbeutende Klasse und deshalb konnte sich nur eine Minderheit der Bourgeoisie über die Interessenskonflikte erheben, die aus den wirtschaftlichen Rivalitäten zwischen den vielfältigen Bereichen herrührten. Innerhalb der Arbeiterklasse herrschen solche Rivalitäten nicht. Da die Gesellschaft, die etabliert werden soll, alle Ausbeutung und alle Klassenteilungen abschafft, ist die Bewegung, die dahin führt, “Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl”(Kommunistisches Manifest) Daher ist nur die Selbstorganisation der Klasse in ihrer Gesamtheit geeignet, diese historische Aufgabe zu erfüllen.
An zweiter Stelle drücken Wahl und sofortige Abwählbarkeit der Amtsträger den eminent dynamischen Charakter des revolutionären Prozesses aus – die unaufhörliche Umwälzung der gesellschaftlichen Bedingungen und die konstante Entwicklung des Klassenbewusstseins. So sind jene, die für diese oder jene Aufgabe oder aufgrund der Tatsache nominiert werden, dass ihr Maß an Verständnis einem bestimmten Bewusstseinsniveau entspricht, nicht immer notwendigerweise auf der Höhe der Zeit, wenn neue Aufgaben auftauchen oder das Bewusstseinsniveau steigt.
Wahl und Abwählbarkeit von Delegierten drücken gleichermaßen die Negation aller definitiven Spezialisierungen durch die Klasse aus, aller Teilungen zwischen den Massen und den “Führern”. Die wesentliche Aufgabe Letzterer (die meist entwickelten Elemente der Klasse) ist es tatsächlich, alles zu tun, um die Bedingungen zu eliminieren, die ihr Auftreten veranlassen: die Heterogenität des Bewusstseins innerhalb der Klasse.
Wenn in den Gewerkschaften ständige Funktionäre existieren konnten, auch als Erstere noch Organe der Arbeiterklasse waren, so war dies der Tatsache geschuldet, dass die Verteidigungsorgane der Arbeiterinteressen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gewisse Charakteristiken der Gesellschaft in sich trugen. Gleichermaßen reproduzierte das Proletariat, wenn es spezifisch bürgerliche Instrumente wie das allgemeine Wahlrecht und das Parlament benutzte, gewisse Züge seines bürgerlichen Feindes. Die statische gewerkschaftliche Organisationsform drückte die Kampfmethode der Arbeiterklasse aus, als die Revolution noch nicht möglich war. Die dynamische Form der Arbeiterräte ist das Ebenbild der Aufgabe, die letztlich zur ersten Pflicht wird: die kommunistische Revolution.
Gleichermaßen drückt die Einheit zwischen Entscheidung und Ausführung die gleiche Negation aller institutionalisierten Spezialisierungen durch die revolutionäre Klasse aus. Sie zeigt, dass die gesamte Klasse nicht nur die wesentlichen Beschlüsse fasst, die sie betreffen, sondern auch an der praktischen Umwandlung der Gesellschaft teilnimmt.
An dritter Stelle drückt eine Organisation auf territorialer (und nicht gewerkschaftlicher oder industrieller) Grundlage die unterschiedliche Natur der proletarischen Aufgaben aus. Als es allein darum ging, Druck auf eine Arbeitgebervereinigung auszuüben, um Lohnerhöhungen oder Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durchzusetzen, machten gewerkschaftliche oder branchenmäßige Organisationen noch Sinn. Selbst eine Organisation, die so archaisch war wie die Berufsgewerkschaft, wurde von den Arbeitern wirksam gegen die Ausbeutung benutzt; sie hinderte die Bosse insbesondere daran, andere Arbeiter einzustellen, wenn es einen Streik gab. Die Solidarität der Drucker, Zigarrenmacher oder (Bronzegießer war das Embryo der realen Klassensolidarität, eine Stufe in der Vereinigung der Arbeiterklasse. Selbst unter dem Gewicht der kapitalistischen Unterschiede und Spaltungen war die Gewerkschaftsorganisation ein wirkungsvolles Mittel des Kampfes innerhalb des Systems. Andererseits: wenn es darum geht, sich nicht nur gegen diesen oder jenen Sektor des Kapitalismus zu erheben, sondern Letztgenannten in seiner Totalität zu konfrontieren, ihn zu zerstören und eine andere Gesellschaft zu errichten, kann die spezifische Organisation der Drucker oder der Gummiindustriearbeiter keinen Sinn machen. Um die Leitung der gesamten Gesellschaft zu übernehmen, muss sich die Arbeiterklasse auf territorialer Basis organisieren, auch wenn die Basisversammlungen auf der Ebene der Fabrik, des Büros, des Krankenhauses oder des Industriegebiets abgehalten werden.
Eine solche Tendenz ist heute bereits in den Tageskämpfen gegen die Ausbeutung zu erkennen. Hier gibt es eine tiefe Neigung, aus der Gewerkschaftsform auszubrechen und sich in souveränen allgemeinen Versammlungen zu organisieren, gewählte und jederzeit abwählbare Streikkomitees zu formen, um sich der berufsmäßigen oder industriellen Grenzen zu entledigen und sich auf territorialer Ebene auszuweiten.
Diese Tendenz drückt die Tatsache aus, dass der Kapitalismus in seiner Dekadenzperiode eine immer statischere Form annimmt. Unter diesen Umständen erweist sich die alte Unterscheidung zwischen den politischen Kämpfen (die in der Vergangenheit das Privileg der Arbeiterparteien waren) und den ökonomischen Kämpfen (für die die Gewerkschaften verantwortlich waren) als immer weniger sinnvoll. Jeder ernsthafte ökonomische Streik wird politisch und konfrontiert den Staat, entweder seine Polizei oder seine Repräsentanten in der Fabrik – die Gewerkschaften. Dies weist auch auf die tiefe Bedeutung der gegenwärtigen Kämpfe als Vorbereitung auf die entscheidenden Konfrontationen der revolutionären Periode hin. Selbst wenn es ökonomische Faktoren (Krise, unerträgliche Verschärfung der Ausbeutung) sind, die die Arbeiter in diese Konfrontationen schleudern, sind die Aufgaben, die sich ihnen später stellen, eminent politisch: frontale und bewaffnete Angriffe gegen den bürgerlichen Staat, die Etablierung der proletarischen Diktatur.
Die proletarische Revolution: politische Macht als Grundlage für die gesellschaftliche Umwandlung
Diese Einheit zwischen Politik und Ökonomie, die ihren Ausdruck in der Organisierung des Proletariats in den Arbeiterräten findet, erfordert eine Erklärung. Welcher der beiden Gesichtspunkte ist vorrangig?
Seit Babeuf haben die Kommunisten erkannt, dass in der proletarischen Revolution der politische Gesichtspunkt zuerst kommt und die Ökonomie bedingt. Dies ist ein Schema, das völlig jenem widerspricht, das in der bürgerlichen Revolution vorherrschte. Die kapitalistische Ökonomie entwickelte sich innerhalb der feudalen Gesellschaft, sozusagen in ihren Rissen. Die neue revolutionäre Klasse, die Bourgeoisie, konnte also die Wirtschaftsmacht in der Gesellschaft erobern, während die politischen und administrativen Strukturen noch immer mit dem Feudalismus verknüpft waren (Absolutismus, wirtschaftliche und politische Privilegien für den Adel etc.). Erst als die kapitalistische Produktionsweise dominierend wurde, erst als sie die Gesamtheit des Wirtschaftslebens bestimmte (einschließlich jener Bereiche, die nicht direkt kapitalistisch waren, wie die landwirtschaftliche und handwerkliche Kleinproduktion), richtete die Bourgeoisie ihre Angriffe gegen die politische Macht des Feudalismus. Dies befähigte sie umgekehrt, die politische Macht ihren besonderen Bedürfnissen anzupassen und das Fundament für eine neue wirtschaftliche Expansion zu legen. Dies war es, was sie tat, besonders in der Englischen Revolution in den 1640er Jahren und in der Französischen Revolution 1789. In diesem Sinn vervollständigte die bürgerliche Revolution eine ganze Periode des Übergangs, in deren Verlauf die Bourgeoisie sich innerhalb der feudalistischen Gesellschaft entwickelte, bis sie an den Punkt gelangte, Letztere auf der Basis einer neuen wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft zu verdrängen. Das Schema der proletarischen Revolution ist völlig anders. In der kapitalistischen Gesellschaft besitzt die Arbeiterklasse keinerlei Eigentum, kein etabliertes materielles Sprungbrett für ihre zukünftige Dominierung der Gesellschaft. Alle Versuche, die von Utopisten oder Proudhonisten angeregt worden waren, waren gescheitert: Das Proletariat kann keine “Inseln” des Kommunismus innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft schaffen. Alle Arbeiterkommunen oder Kooperativen wurden entweder zerstört oder vom Kapitalismus einverleibt. Im Gegensatz zu den Utopisten, Proudhon und den Anarchisten begriffen Babeuf, Blanqui und Marx dies. Das Ergreifen der politischen Macht durch das Proletariat ist der Ausgangspunkt seiner Revolution, der Hebel, mit dem es Zug um Zug das Wirtschaftsleben der Gesellschaft umwandeln wird, mit der Perspektive der Abschaffung aller Ökonomie. “Die Revolution überhaupt - der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse - ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er Zerstörung und der Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg. (Marx, Kritische Randglossen, 31.7.1844)
Da der Kapitalismus seine ökonomische Basis bereits vor der bürgerlichen Revolution geschaffen hatte, war Letztere im Wesentlichen politisch. Die Revolution des Proletariats beginnt im Gegensatz dazu mit einem politischen Akt, der die Entwicklung nicht nur der ökonomischen Aspekte, sondern auch und vor allem ihrer gesellschaftlichen Aspekte bedingt.
Somit sind die Arbeiterräte keineswegs Organe des “Selbstmanagements”, Organe für das Management der kapitalistischen Wirtschaft (d.h. des Elends). Sie sind politische Organe, deren vorrangige Aufgabe es ist, den kapitalistischen Staat zu zerstören und die proletarische Diktatur auf Weltebene zu errichten. Doch sie sind auch Organe für die ökonomische und soziale Umwandlung der Gesellschaft, und dieser Aspekt macht sich von Anbeginn des revolutionären Prozesses bemerkbar (Enteignung der Bourgeoisie, Organisierung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung etc.). Mit der politischen Niederlage der Bourgeoisie kommt die ökonomische und soziale Dimension immer mehr zur Geltung.
(aus: Revolution International, Nr. 64)