Wir veröffentlichen hier ein Dokument, das am 15. Kongress der IKS angenommen wurde, zur Analyse der internationalen Lage. Dieser Kongress hat im Frühjahr 2003 stattgefunden.
1. Mit der massiven US-Offensive gegen den Irak betreten wir eine neue Stufe auf dem Abstieg des Kapitalismus in die militärische Barbarei, die eine Verschlimmerung aller anderen offenen Feindschaften oder Spannungsherde auf dem Globus in Gang setzt. Abgesehen von den fürchterlichen Verwüstungen, von denen die unglückliche Bevölkerung Iraks erfasst ist, kann dieser Krieg auch anderswo nur das Schüren der imperialistischen Spannungen und des militärischen Chaos bewirken. Die Kriegsvorbereitungen haben bereits den ersten offenen Riss zwischen Amerika auf der einen Seite und der einzigen anderen Macht, die sich als Kandidat für die Führungsrolle in einem neuen antiamerikanischen Block positionieren könnte, Deutschland, auf der anderen Seite verursacht. Die Spaltungen zwischen den Grossmächten in der Irak-Frage haben das Ende der NATO und vielleicht gar der UN eingeläutet, während gleichzeitig offensichtlich wurde, dass Europa, weit davon entfernt, bereits ein Block zu sein, von tiefgehenden Divergenzen in Schlüsselfragen der internationalen Beziehungen zerrissen ist. Sie haben einen anderen Pol in der „Achse des Bösen“, Nordkorea, dazu veranlasst, sein eigenes Spiel in der Krise zu treiben, mit der Gefahr, dass dies mittelfristig das Kriegsszenario auf den Fernen Osten ausweiten wird. Unterdessen spielt auch der dritte Pol der Achse, Iran, die Nuklearkarte. In Afrika wird Frankreichs vorgeblicher Anspruch, eine „pazifistische“ Macht zu sein, durch die wachsende Verwicklung seiner Truppen im blutigen Krieg an der Elfenbeinküste entlarvt. Die Folgen des Irakkrieges werden beileibe kein nahöstliches „Westdeutschland“ bewirken, wie einige leichtsinnige bürgerliche Kommentatoren voraussagten, sondern dienen allein dazu, eine Zone der Instabilität zu schaffen, was zur unmittelbaren Konsequenz die Verschärfung des palästinensisch-israelischen Konflikts und die Provozierung neuer terroristischer Angriffe rund um den Globus hat. Der Krieg gegen den Terrorismus verbreitet Terror auf den ganzen Planeten – nicht nur durch die Massaker, die er gegen seine unmittelbaren Opfer an den Fronten der imperialistischen Rivalitäten verübt, sondern auch in der Gestalt einer wachsenden Besorgnis in weiten Kreisen der Bevölkerung darüber, was die Zukunft für die Gesamtheit der Menschheit noch bereithält.
2. Es ist kein Zufall, dass das Aufschaukeln der imperialistischen Spannungen mit einem erneuten Sturz in die Weltwirtschaftskrise „zusammenfällt“. Dies ist nicht nur vom offenkundigen Zusammenbruch schwächerer (aber ökonomisch immer noch wichtigen) Volkswirtschaften wie die Argentiniens manifestiert worden, sondern auch und vor allem durch die Rückkehr der offenen Rezession in die US-Wirtschaft, deren durch Schulden angetriebenes Wachstum in den 90er Jahren – als Triumph der „neuen Wirtschaft“ dargestellt – die große Hoffnung für das gesamte Weltwirtschaftssystem, insbesondere für die Länder Europas, war. Diese famosen Jahre sind nun, wo die US-Wirtschaft einer deutlich steigenden Arbeitslosigkeit, dem Fall in der Industrieproduktion, dem Rückgang der Konsumausgaben, Börsenschwankungen, Firmenskandalen und Bankrotten und der Rückkehr des defizitären Bundeshaushaltes entgegentreibt, endgültig vorbei.
Um eine Vorstellung vom Ernst der derzeitigen Wirtschaftslage zu erhalten, sei auf den Zustand der britischen Wirtschaft hingewiesen, die unter den europäischen Hauptländern noch als am besten positioniert galt, um die von den USA ausgelösten globalen Stürme abzuwettern. Tatsächlich jedoch wurden, unmittelbar nachdem Schatzkanzler Brown erklärt hatte, dass „Großbritannien besser platziert ist als in der Vergangenheit, um mit dem weltwirtschaftlichen Rückgang fertigzuwerden“, offizielle Zahlen bekanntgegeben, die aufzeigen, dass die britische Produktion – in der Hightech-Branche genauso wie in den traditionellen Industrien – sich auf dem niedrigsten Stand seit der Rezession von 1991 befindet und dass monatlich 10000 Jobs in diesem Bereich verschwinden.
Zusammen mit den Opfern, die die steigende Spirale von Rüstungsausgaben erfordert, hat der Rutsch in die offene Rezession bereits eine ganz neue Runde von Angriffen gegen den Lebensstandard der Arbeiterklasse (Entlassungen, „Modernisierung“, Streichungen von Sozialausgaben, besonders bei den Renten, etc.) eingeleitet.
3. Die Situation, der die Arbeiterklasse gegenübersteht, ist also unerhört ernst. Seit über einem Jahrzehnt hat die Arbeiterklasse den längsten Rückgang ihrer Kämpfe seit dem Ende der konterrevolutionären Periode in den späten 60er Jahren erlebt. Konfrontiert mit dem Doppelschlag des Krieges und der Wirtschaftskrise, hat die Arbeiterklasse beträchtliche Schwierigkeiten bei der Entwicklung ihrer eigenen Kämpfe, selbst auf der grundlegendsten Ebene der wirtschaftlichen Selbstverteidigung, gehabt. Auf der politischen Ebene waren ihre Schwierigkeiten gar noch ausgeprägter, da ihr allgemeines Bewusstsein für die riesige historische Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, im letzten Jahrzehnt einen Schlag nach dem anderen erlitten hat. Und gerade jene Kräfte, deren erste Aufgabe es ist, die politischen Schwächen im Proletariat zu bekämpfen, die Kräfte des Linkskommunismus, sind in einem desolaten Zustand wie nie zuvor seit dem Wiederauftreten revolutionärer Kräfte Ende der 60er. Der unerhörte Druck einer zerfallenden kapitalistischen Ordnung tendiert dazu, die lang anhaltenden, opportunistischen und sektiererischen Schwächen im politischen Milieu des Proletariats weiter zu verstärken, was in eine ernste theoretische und politische Regression mündete, welche dazu neigt, den Ernst der Lage, der sich das Proletariat und seine revolutionären Minderheiten gegenübersehen, zu unterschätzen und jedes wirkliche Verständnis der Natur und Dynamik der gesamten historischen Epoche zu trüben.
4. Angesichts des Zusammenbruchs des rivalisierenden russischen Blocks Ende der 80er Jahre und der rapiden Auflösung des eigenen westlichen Blocks heckte der US-Imperialismus einen strategischen Plan aus, der im folgenden Jahrzehnt immer offener zu Tage trat. Gestärkt als einzig verbliebene Supermacht, würden die USA alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass keine neue Supermacht – in Wirklichkeit kein neuer imperialistischer Block – entsteht, der ihre „neue Weltordnung“ herausfordern könnte. Die hauptsächlichen Methoden dieser Strategie wurden nachdrücklich durch den ersten Golfkrieg von 1991 demonstriert:
– eine massive Zurschaustellung der militärischen Überlegenheit der USA, die das Regime von Saddam Hussein als Prügelknaben benutzte;
– der Druck auf die anderen Mächte, an der US-Operation teilzunehmen und ihr so einen Hauch von Legitimation zu verschaffen, und die Beschaffung eines beträchtlichen Anteils der enormen Gelder, die für die Operation erforderlich waren, bei Erstgenannten. Besonders Deutschland – der einzig wahre Kandidat für die Führung eines neuen antiamerikanischen Blocks – sollte das meiste bezahlen.
5. Wenn es das vorrangige Ziel des Golfkriegs war, eine wirksame Warnung an all diejenigen zu richten, die die US-Hegemonie herausfordern wollten, so muss er als gescheitert betrachtet werden. Binnen eines Jahres provozierte Deutschland den Krieg auf dem Balkan in der Absicht, seinen Einfluss auf einer strategischen Schlüsselposition Europas und des Nahen Osten auszuweiten, Es dauerte einen Gutteil des Jahrzehnts, ehe die USA, durch den Krieg im Kosovo, ihre Autorität in dieser Region durchsetzen konnte, nachdem nicht nur Deutschland (das Kroatien verdeckt unterstützte), sondern auch Frankreich und ihr angeblich treuer Verbündeter Großbritannien durch die heimliche Unterstützung Serbiens sich als widerspenstig erwiesen hatten. Das Chaos auf dem Balkan war ein deutlicher Ausdruck für die Widersprüche, denen sich die USA gegenübersahen: Je mehr sie danach trachteten, ihre ehemaligen Verbündeten zu disziplinieren, desto mehr Widerstand und Feindseligkeit riefen sie hervor und desto weniger waren sie in der Lage, Letztere für militärische Operationen zu rekrutieren, von denen diese wussten, dass sie letztlich gegen sie selbst gerichtet sind. Daher das Phänomen, dass die USA in wachsendem Maße dazu gezwungen sind, ihre Abenteuer allein zu meistern, und sich immer weniger auf die „legalen“ internationalen Strukturen wie die UN und die NATO verlassen, die immer mehr als Hindernisse für die US-Pläne fungieren.
6. Nach dem 11. September 2001 – höchstwahrscheinlich mit der Komplizenschaft des US-Staates verübt – wechselte die globale Strategie der USA auf eine höhere Ebene. Sofort wurde der „Krieg gegen den Terrorismus“ als permanente und weltweite Militäroffensive angekündigt. Angesichts der wachsenden Herausforderung durch ihre imperialistischen Hauptrivalen (ausgedrückt durch die Streitereien über das Kyoto-Protokoll, die europäische Militärkraft, die Manöver bei der Bildung einer Polizei für den Kosovo, etc.) schlugen die USA eine Politik der massiveren und direkteren Militärinterventionen ein, mit dem strategischen Ziel der Umzingelung Europas und Russlands durch die Erlangung der Kontrolle über Zentralasien und Nahost. Auch im Fernen Osten hat der US-Imperialismus durch die Einbeziehung Nordkoreas in die „Achse des Bösen“ und durch die Erneuerung seiner Interessen im „Kampf gegen den Terrorismus“ in Indonesien nach dem Bombenanschlag auf Bali seine Absicht ausgedrückt, direkt im Hinterhof Chinas und Japans zu intervenieren.
7. Die Ziele dieser Intervention sind keinesfalls auf die Frage des Öls beschränkt, das ausschließlich als eine Quelle des kapitalistischen Profits betrachtet wird. Die Kontrolle über den Nahen Osten und Zentralasien aus geostrategischen Gründen war das Objekt heftiger interimperialistischer Rivalitäten, lange bevor das Erdöl zu einem lebenswichtigen Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft wurde. Und auch wenn es natürlich notwendig ist, die riesigen Ölförderkapazitäten im Nahen Osten und im Kaukasus zu kontrollieren, wird die US-Militäraktion dort nicht auf Veranlassung der Erdölgesellschaften ausgeführt: Den Erdölgesellschaften wird lediglich die Rückerstattung offener Rechnungen gestattet, vorausgesetzt, sie passen in den vorrangigen strategischen Plan, der die Fähigkeit miteinschließt, die Ölversorgung der potenziellen Feinde Amerikas zu unterbrechen und somit jegliche militärische Herausforderung schon im Keim zu ersticken. Besonders Deutschland und Japan sind weitaus abhängiger vom Öl aus dem Nahen Osten als die USA.
8. Das verwegene Projekt der USA, einen stählernen Ring um ihre imperialistischen Hauptrivalen zu errichten, liefert also die wirkliche Erklärung für den Krieg in Afghanistan, für den Anschlag gegen den Irak und für die erklärte Absicht, sich danach mit dem Iran zu befassen. Doch die Erhöhung des Einsatzes durch die USA hat eine gemeinsame Antwort ihrer Hauptherausforderer hervorgerufen. Der Widerstand gegen die US-Pläne wurde von Frankreich angeführt, das damit drohte, von seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch zu machen. Doch noch bedeutsamer ist die offene Herausforderung durch Deutschland, das bis dahin dazu neigte, im Dunklen zu agieren, und dabei Frankreich gestattete, die Rolle des erklärten Widersachers der US-Ambitionen zu spielen. Heute jedoch betrachtet Deutschland das US-Abenteuer im Irak als eine reale Bedrohung seiner Interessen in einem Gebiet, das seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt seiner imperialistischen Ambitionen gestanden hatte. Es hat daher eine weit offenere Herausforderung an die USA gerichtet als jemals zuvor; ferner hat seine resolute „Anti-Kriegs“-Haltung Frankreich den Rücken gestärkt, das bis kurz vor dem Kriegsausbruch noch angedeutet hatte, dass es den Kurs wechseln und an der militärischen Aktion teilnehmen könnte. Mit dem Kriegsausbruch nahmen diese Mächte eine gemäßigte Haltung an, doch historisch war ein echter Meilenstein gesetzt. Diese Krise hat auf das Dahinscheiden nicht nur der NATO (deren Irrelevanz sich an ihrer Unfähigkeit zeigte, kurz vor dem Krieg in der Frage der „Verteidigung“ der Türkei zu einer Übereinkunft zu kommen), sondern auch der UN aufmerksam gemacht. Die amerikanische Bourgeoisie betrachtet diese Institution zunehmend als Mittel ihrer Hauptrivalen und äußert offen, dass sie keine Rolle beim „Wiederaufbau“ des Irak spielen werde. Die Abschaffung solcher Institutionen des „internationalen Rechts“ stellen einen wichtigen Schritt in der Weiterentwicklung des Chaos in den internationalen Beziehungen dar.
9. Der Widerstand gegen die US-Pläne durch ein Bündnis zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und China zeigt, dass angesichts der massiven Überlegenheit der USA ihre Hauptrivalen keine andere Wahl haben, als sich dagegen zusammenzutun. Dies bestätigt, dass die Tendenz zur Bildung eines neuen imperialistischen Blocks ein realer Faktor in der gegenwärtigen Situation bleibt. Doch es wäre ein Fehler, eine Tendenz mit einem Fait accompli zu verwechseln, vor allem weil in der Periode des kapitalistischen Zerfalls die Bewegung zu einer Bildung eines neuen Blocks ständig von den Gegentendenzen aller Länder, ihre eigenen unmittelbaren, nationalen Interessen vor alle anderen zu stellen – die Tendenz des Jeder-für-sich – behindert wird. Die tiefen Zerwürfnisse zwischen den europäischen Ländern in der Frage des Krieges gegen den Irak haben demonstriert, dass „Europa“ weit davon entfernt ist, einen kohärenten Block zu bilden, wie einige Elemente der revolutionären Bewegung geneigt sind zu argumentieren. Abgesehen davon beruhen solche Argumente auf einer Verwechslung von Wirtschaftsallianzen und realen imperialistischen Blöcken, die vor allem militärische Formationen sind, die sich auf einen Weltkrieg orientieren. Und hier kommen zwei weitere wichtige Faktoren ins Spiel: erstens die unbestrittene militärische Dominanz der USA, die es für ihre Rivalen unter den Großmächten noch unmöglich macht, irgendeine kriegsähnliche Herausforderung gegen die USA zu richten; und zweitens der unbesiegte Charakter des Proletariats, was bedeutet, dass es noch nicht möglich ist, die gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen für neue Kriegsblöcke zu schaffen. Daher nimmt der Krieg gegen den Irak, so sehr er die imperialistischen Rivalitäten zwischen den Großmächten ans Tageslicht bringt, dieselbe Grundform an wie alle anderen Hauptkriege in dieser Phase: ein „verdeckter“ Krieg, dessen wirkliches Ziel hinter einem Sündenbock, gebildet von einer dritt- oder viertrangigen Macht, versteckt ist und in dem die Hauptmächte darauf achten, nur Berufsarmeen einzusetzen.
10. Die Krise der US-Führung hat den britischen Imperialismus in eine immer widersprüchlichere Position manövriert. Nach dem Ende der besonderen Beziehungen erfordert es die Verteidigung der britischen Interessen, eine „vermittelnde“ Rolle zwischen Amerika und den europäischen Hauptmächten und unter den letztgenannten Mächten selbst zu spielen. Obzwar als Pudel der USA präsentiert, hat die Blair-Regierung eine bedeutende Rolle bei der Verursachung der gegenwärtigen Krise gespielt, indem sie darauf beharrte, dass Amerika nicht im Alleingang Irak erledigt, sondern den Weg über die UN geht. Großbritannien war auch der Schauplatz eines der größten „Friedens“märsche, wobei große Fraktionen der herrschenden Klasse, nicht nur ihre linksextremistischen Anhängsel, die Demonstrationen organisierten. Die starken „Antikriegs“gefühle von Teilen der britischen Bourgeoisie drücken ein echtes Dilemma der herrschenden Klasse Großbritanniens aus, da das wachsende Schisma zwischen Amerika und den anderen Großmächten ihre „zentristische“ Rolle in steigendem Maße ungemütlich macht. Besonders das britische Argument, dass die UN eine zentrale Rolle bei der Regelung der Post-Saddam-Ära spielen soll und dass dies durch bedeutende Zugeständnisse gegenüber den Palästinensern begleitet werden muss, wird von der USA politisch ignoriert. Obgleich es bis jetzt keine echte Alternative innerhalb der britischen Bourgeoisie gibt, herrscht über die Blair-Linie in den auswärtigen Beziehungen und über seine allzu enge Anbindung an das US-Abenteurertum wachsende Unruhe. Der Morast, der sich jetzt im Irak auftut, kann diese Unruhe nur verstärken.
11. Obwohl die USA fortfahren, all den anderen Hauptmächten ihre erdrückende militärische Überlegenheit zu demonstrieren, neigt der immer offenere Charakter ihrer imperialistischen Ambitionen dazu, ihre politische Autorität zu schwächen. In beiden Weltkriegen und im Konflikt mit dem russischen Block waren die USA in der Lage, sich selbst als der größte Schutzwall der Demokratie und des Existenzrechts der Nationen, als Verteidiger der freien Welt gegen Totalitarismus und militärische Aggressionen zu positionieren. Doch seit dem Zusammenbruch des russischen Blocks sind die USA dazu genötigt worden, selbst die Rolle des Aggressors zu spielen; und während unmittelbar nach dem 11. September die USA noch in gewisser Weise in der Lage waren, ihre Aktionen in Afghanistan als einen Akt der Selbstverteidigung zu präsentieren, ist die Rechtfertigung für den gegenwärtigen Krieg im Irak vollends fadenscheinig geworden, wohingegen ihre Rivalen sich angesichts der Einschüchterungsversuche der USA als die größten Verteidiger der demokratischen Werte profilieren.
Die ersten Wochen der Militärhandlungen haben hauptsächlich dazu gedient, der politischen Autorität der USA weitere Schwierigkeiten zu bereiten. Anfangs als einen Krieg dargestellt, der sowohl schnell als auch sauber sein werde, kommt jetzt zum Vorschein, dass die Kriegspläne, die von der gegenwärtigen Administration entworfen worden waren, ernsthaft das Ausmaß unterschätzten, in dem die Invasion Gefühle der nationalen Verteidigung in der irakischen Bevölkerung provozieren würde. Auch wenn die Allgegenwart von Saddams Sondereinheiten sicherlich eine Rolle dabei spielten, durch ihre gewohnten Methoden des Zwangs und Terrors den Widerstand der regulären Truppen zu stärken, so gab es daneben auch allgemein feindselige Reaktionen gegen die amerikanische Invasion, die dabei keinesfalls von einer großen Begeisterung für das Saddam-Regime begleitet waren. Selbst die schiitischen Organisationen, auf deren „Aufstand“ gegen Saddam man gezählt hatte, haben erklärt, dass es die erste Pflicht eines jeden Irakers sei, sich den Invasoren entgegenzustellen. Die Verlängerung des Krieges kann nur dazu dienen, das Elend der Bevölkerung zu verschlimmern, ob durch Hunger und Durst oder durch die Intensivierung des Bombardements, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass dies zu einem Anwachsen der Feindseligkeit der Bevölkerung gegen die USA beitragen wird. Die Belagerung und Einnahme Bagdads schwört ein wahrhaftiges Blutbad herauf.
Die USA haben also große Schwierigkeiten, sich selbst als „Befreier“ des irakischen Volkes darzustellen. Darüber hinaus vertieft der Krieg die Spaltungen in der irakischen Gesellschaft, insbesondere zwischen denjenigen, die sich mit den USA verbündet haben, und denjenigen, die gegen die Invasion gekämpft haben. Diese Spaltungen können nur dazu führen, Unordnung und Instabilität im Post-Saddam-Irak zu schaffen, und den Anspruch der USA untergraben, der Überbringer von Frieden und Wohlstand in der Region zu sein. Im Gegenteil, der Krieg schürt bereits die Spannungen in der gesamten Region, wie der Einfall der Türkei in den Nordirak, die Annahme einer antiamerikanischen Position durch Syrien und das erneute Säbelrasseln zwischen Indien und Pakistan demonstrieren.
Somit kann der gegenwärtige Krieg, weit entfernt davon, die Krise der amerikanischen Führung zu lösen, sie nur auf eine höhere Stufe stellen.
12. Das Abgleiten in den Militarismus ist ein Ausdruck par excellence für die Sackgasse, in der sich die kapitalistische Produktionsweise befindet – für ihre Dekadenz als Produktionsweise. Wie in den beiden Weltkriegen und im Kalten Krieg zwischen 1945 und 1989 sind die Kriege in der 1989 eingeleiteten Periode die schlagendsten Manifestationen der Tatsache, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einem Hindernis für den menschlichen Fortschritt geworden sind. Nicht nur, dass diese fürchterlichen Zahlen der Zerstörung (und der Produktion der Zerstörungsmittel) eine schwindelerregende Verschwendung der menschlichen Arbeitskraft in einer Periode darstellen, wo die Produktivkräfte objektiv in der Lage sind, den Menschen von allen Formen wirtschaftlicher Mühsal und Armut zu befreien, sie sind darüber hinaus gleichermaßen Produkt und aktiver Faktor in einer Dynamik, die das eigentliche Überleben der Menschheit bedroht. Diese Dynamik hat sich während der Dekadenzperiode weiter beschleunigt: Wir müssen nur das Ausmaß an Tod und Zerstörung vergleichen, das der Erste und der Zweite Weltkrieg bewirkt haben, wie auch die globale Ausweitung dieser Konflikte, um dies zu verstehen. Hinzu kommt, dass, auch wenn der dritte Weltkrieg zwischen dem russischen und dem amerikanischen Block – ein Krieg, der sicherlich zur Auslöschung der Menschheit geführt hätte – nie stattgefunden hat, die Stellvertreterkriege, die sie über vier Jahrzehnte lang miteinander ausgefochten haben, allein genausoviel Tote verursachte haben wie die beiden Weltkriege zusammen. Dies sind nicht nur mathematische oder technische Fakten; sie bezeugen eine qualitative Vertiefung der Tendenz des Kapitalismus zur Selbstzerstörung.
13. Es ist für jeden Beobachter der internationalen Szenerie ersichtlich, dass 1989 den Beginn einer völlig neuen Phase im Leben des Kapitalismus markierte. 1990 versprach Bush senior eine neue Weltordnung des Friedens und Wohlstands. Und für die intellektuellen Apologeten der herrschenden Klasse bedeutete das Ende des „kommunistischen Experiments“ einen neuen Aufschwung des Kapitalismus, der nun endlich ein wahrhaft „globales“ System geworden sei, ausgerüstet mit wundersam neuen Technologien, die aus seinen Wirtschaftskrisen eine Sache der Vergangenheit machen würden. Auch würde der Kapitalismus nicht mehr vom Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat behelligt werden, weil in der „neuen Wirtschaft“ die Arbeiterklasse und ihr Klassenkampf aufhören würden, zu existieren. So unübersehbar war die Morgendämmerung des neuen Zeitalters der Globalisierung, dass selbst ihre am meisten veröffentlichten Opponenten – die globale, antikapitalistische Bewegung – praktisch alle wesentlichen Annahmen ihrer Apologeten teilten. Für den Marxismus jedoch war der Zusammenbruch des stalinistischen Blocks der Kollaps eines Teils eines längst globalen kapitalistischen Systems; und die Periode, die von diesem seismischen Ereignis eingeleitet worden war, stellt kein Aufblühen, keine Verjüngung des Kapitalismus dar, im Gegenteil, sie kann nur als die Endphase der kapitalistischen Dekadenz verstanden werden – als die Phase, die wir als Zerfall bezeichnen, als das „Aufblühen“ aller angehäuften Widersprüche einer längst senilen Gesellschaftsordnung.
14. Die Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise in den späten 60er Jahren hatte bereits das letzte Kapitel im klassischen Zyklus der kapitalistischen Dekadenz – Krise, Krieg, Wiederaufbau, neue Krise – eingeleitet. Von nun an war es dem Kapitalismus eigentlich nicht mehr möglich, einen Wiederaufbau zu betreiben nach einem dritten Weltkrieg, der wahrscheinlich die Auslöschung der Menschheit oder im günstigsten Fall einen Rückfall von unkalkulierbaren Proportionen bedeuten würde. Die historische Wahl, die die Menschheit jetzt hat, lautet nicht mehr nur: Revolution oder Krieg, sondern: Revolution oder die Zerstörung der Menschheit.
15. 1968 war das Jahr der historischen Wiederbelebung des proletarischen Kampfes als Antwort auf das Auftauchen der Krise, was einen Kurs zu massiven Klassenkonfrontationen eröffnete. Ohne dieses wiedererwachte Proletariat zu besiegen, wird die herrschende Klasse nicht fähig sein, die Gesellschaft in den Krieg zu führen, der, selbst wenn er sicherlich die Selbstzerstörung des Kapitalismus bedeuten würde, das „logische“ Ergebnis der fundamentalen Widersprüche des Systems bleibt. Diese neue Periode von Arbeiterkämpfen manifestierte sich in drei internationalen Wellen (68–74, 78–81, 83–89), doch der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 verursachte mit seinen Begleitkampagnen über den Sturz des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes einen erheblichen Bruch mit der gesamten Periode. Die Arbeiterklasse hatte zwar keine vernichtende historische Niederlage erlitten, und die Drohung eines dritten Weltkrieges, die bereits durch die Wiederbelebung des Klassenkampfes in Schach gehalten worden war, wurde durch neue objektive Barrieren gegen die Wiedererschaffung von imperialistischen Blöcken, insbesondere durch die ausgeprägte Tendenz des „Jeder-für-sich“ in der neuen Periode, nun noch weiter nach hinten auf der historischen Tagesordnung gerückt. Dennoch sah sich die Arbeiterklasse, deren Kämpfe in der Periode von 1969–1989 die Bourgeoisie daran gehindert hatten, ihre „Lösung“ der Wirtschaftskrise durchzusetzen, nun immer mehr den Konsequenzen aus ihrem eigenen Scheitern gegenüber, ihre Kämpfe auf eine höhere, politische Stufe zu stellen und der Menschheit eine Alternative anzubieten. Die Zerfallsperiode, das Resultat dieses „Patts“ zwischen den beiden Hauptklassen, bringt der ausgebeuteten Klasse keinerlei positiven Früchte ein. Obwohl die Kampfbereitschaft der Klasse auch in dieser Periode nicht ausgetilgt wurde und ein Prozess der unterirdischen Reifung des Bewusstseins immer noch konstatiert werden konnte, besonders in Gestalt „suchender Elemente“, kleiner politisierter Minderheiten, trat der Klassenkampf überall den Rückzug an und tut dies noch heute. Die Arbeiterklasse sah sich in dieser Periode nicht nur mit ihren eigenen politischen Mängeln konfrontiert, sondern auch mit der Gefahr, ihre Klassenidentität unter dem Gewicht eines sich auflösenden Gesellschaftssystems zu verlieren.
16. Diese Gefahr ist nicht grundsätzlich das Resultat der Reorganisation der Produktion und der Arbeitsteilung nach den Erfordernissen der Wirtschaftskrise (z.B. die Umschichtung vom sekundären auf den tertiären Bereich in vielen entwickelten Ländern, Computerisierung, etc.); sie resultiert auch und zuerst aus den allgegenwärtigen Tendenzen des Zerfalls (die beschleunigte Atomisierung der gesellschaftlichen Beziehungen, Kriminalisierung) und
– noch viel wichtiger – aus dem systematischen Angriff gegen die historische Perspektive des Proletariats, der im Schatten des Zusammenbruchs des „Kommunismus“ von der Bourgeoisie ausgeübt wurde. Der Kapitalismus kann in der Tat nicht ohne eine Arbeiterklasse funktionieren, aber die Arbeiterklasse kann zeitweise jedes Bewusstsein über ihre Existenz als Klasse verlieren. Dieser Prozess wird täglich spontan und objektiv vom Zerfall gefördert, und die herrschende Klasse tut ihr Übriges, bewusst alle Manifestationen des Zerfalls zu benutzen, um die Klasse noch weiter zu atomisieren. Der aktuelle Aufstieg der Rechtsextremen, die aus den Ängsten in der Bevölkerung, von verzweifelten Flüchtlingen aus den von Krieg und Krise am meisten betroffenen Ländern überflutet zu werden, Kapital schlugen, ist ein Beispiel dafür, wie auch das Ausnutzen der Ängste vor dem Terrorismus für die Stärkung des Repressionsarsenals des Staates.
17. Obgleich der Zerfall des Kapitalismus aus dieser historischen „Sackgasse“ zwischen den Klassen resultiert, ist diese Situation beileibe nicht statisch. Die Wirtschaftskrise, die am Anfang sowohl des Kriegskurses als auch der proletarischen Antwort stehen kann, vertieft sich weiter, doch im Gegensatz zur Periode von 1968–89, als das Ergebnis der damaligen Klassenkonfrontationen nur der Weltkrieg oder die Weltrevolution sein konnte, eröffnet die neue Periode eine dritte Alternative: die Zerstörung der Menschheit nicht durch einen apokalyptischen Krieg, sondern durch ein allmähliches Fortschreiten des Zerfalls, der nach einer gewissen Zeit die Fähigkeit des Proletariats untergraben könnte, als eine Klasse zu antworten, und der den Planeten durch eine Spirale von regionalen Kriegen und ökologischen Katastrophen gleichermaßen unbewohnbar machen könnte. Um einen Weltkrieg zu führen, müsste die Bourgeoisie zunächst die Hauptbataillone der Arbeiterklasse offen konfrontieren, besiegen und sie anschließend dazu mobilisieren, mit Begeisterung hinter den Bannern und der Ideologie eines neuen imperialistischen Blocks zu marschieren. In dem neuen Szenario könnte die Arbeiterklasse schleichend und indirekt besiegt werden, wenn es ihr nicht gelingt, auf die Krise des Systems zu antworten, und sie hinnimmt, dass sie immer tiefer in den Pfuhl des Zerfalls gedrängt wird. Kurz: die Klasse und ihre revolutionären Minderheiten werden mit einer viel gefährlicheren und schwierigeren Perspektive konfrontiert.
18. Die Notwendigkeit für Marxisten zu begreifen, dass es einen grundsätzlichen Wechsel im Szenario für die Menschheit gegeben hat, wird von der wachsenden Bedrohung für die natürliche Umwelt unterstrichen, die von der bloßen Fortsetzung der kapitalistischen Produktion ausgeht. Immer mehr Wissenschaftler schlagen Alarm wegen der Möglichkeiten eines „positiven Feedbacks“ im Prozess der globalen Erwärmung, zum Beispiel im Fall des Amazonas-Gebiets, wo die kombinierten Auswirkungen von Rodungen und anderer Eingriffe genauso wie die steigenden Temperaturen die Zerstörungsrate dramatisch beschleunigen. Wenn die Vernichtung ungebremst weitergeht, würde dies weitere Massen von Kohlendioxyd in die Atmosphäre freigeben, was die globale Temperatur noch weiter ansteigen lassen würde. Hinzu kommt, dass die Intensivierung der ökologischen Gefahren nur massive destabilisierende Auswirkungen auf die Gesellschaftsstrukturen, auf die Wirtschaft und auf die interimperialistischen Beziehungen haben kann. In diesem Bereich kann die Arbeiterklasse nur wenig tun, um diesen Abwärtstrend aufzuhalten, bis sie die politische Macht auf Weltebene übernommen hat; und je länger sich die Weltrevolution verzögert, desto größer ist die Gefahr, dass das Proletariat überwältigt und die eigentliche Grundlage des gesellschaftlichen Wiederaufbaus untergraben wird.
19. Trotz der sich anhäufenden Gefahren akzeptiert die Mehrheit der linkskommunistischen Gruppen nicht das Konzept des kapitalistischen Zerfalls, auch wenn sie ihre sichtbaren Manifestationen im wachsenden Chaos auf internationaler und gesellschaftlicher Ebene durchaus sehen. In der Tat hat die neue und beispiellose Periode des Zerfalls, weit davon entfernt, einen klaren Blick auf die Perspektive zu verschaffen, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist, für eine große theoretische Verwirrung gesorgt. Die bordigistischen Gruppen haben nie eine feste Theorie der Dekadenz besessen, auch wenn sie den Kurs zum imperialistischen Krieg in dieser Epoche durchaus anerkennen und daher noch immer in der Lage sind, auf internationalistische Weise zu antworten. Auch sind sie nicht in der Lage, das Konzept des historischen Kurses zu übernehmen, das während der 1930er-Jahre von der italienischen Fraktion erarbeitet worden war – der Gedanke, dass der imperialistische Weltkrieg zuvor eine Niederlage und aktive Kriegsmobilisierung des Proletariats erfordert. Ihnen mangelt es also an den beiden fundamentalen theoretischen Stützpfeilern des Konzeptes des Zerfalls. Das IBRP hat, obwohl es den Begriff der Dekadenz akzeptiert, ebenfalls das Konzept der Italienischen Linken über den historischen Kurs abgelehnt. Darüber hinaus zeigen jüngste Verlautbarungen dieser Strömung, dass ihnen ihr Verständnis des Dekadenzkonzeptes abhanden kommt. Eine Polemik gegen die Auffassung der IKS zum Zerfall enthüllt ganz offensichtlich die Inkohärenz der Positionen, die sie nun anzunehmen gedenken:
„Die Tendenz zum Zerfall, die die apokalyptische Sichtweise der IKS überall aufzuspüren vermeint, würde in der Tat beinhalten, dass die kapitalistische Gesellschaft sich am Rande des Abgrunds befindet, wenn dies zuträfe. Jedoch ist dies nicht der Fall, und wenn die IKS die Phänomene der zeitgenössischen Gesellschaft etwas dialektischer untersuchen würde, würde dies offensichtlich werden. Während auf der einen Seite die alten Strukturen kollabieren, entstehen auf der anderen Seite neue. Deutschland zum Beispiel hätte sich nicht wiedervereinigen können ohne den Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik und dem Zusammenbruch des russischen Blocks. Die Länder der Comecon hätten der EU nicht beitreten können ohne die Auflösung der Comecon, etc. Der Prozess des Zusammenbruchs ist gleichzeitig ein Prozess des Wiederaufbaus. Obwohl die IKS anerkennt, dass es eine Tendenz zur Neuzusammensetzung gibt, betrachtet sie diese im Angesicht der vorherrschenden Tendenz zu Zerfall und Chaos als unbedeutend. (...) Der IKS ist es nicht gelungen zu demonstrieren, wie diese Tendenz der kapitalistischen Infrastruktur entspringt. Die Schwierigkeit, mit der sie es zu tun hat, besteht in der Tatsache, dass es die Tendenz zur Neuzusammensetzung ist, die den Kräften der kapitalistischen Infrastruktur entspringt. Insbesondere die fortschreitende Wirtschaftskrise, die aus der verminderten Profitabilität des Kapitals herrührt, zwingt das schwächere Kapital in Handelsblöcke, und somit sind die Handelsblöcke die Auswahl, aus denen die künftigen imperialistischen Blöcke gebildet werden.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 27)
Angesichts dieser Hypothese ist es notwendig, folgende drei Punkte festzuhalten:
– Der Marxismus hat stets darauf beharrt, dass der Beginn der Epoche des Abstiegs des Kapitalismus die historische Alternative zwischen Sozialismus oder Barbarei stellt. Bevor sie Häme über die „apokalyptische Sichtweise“ der IKS ausschütten, sollten sich die Genossen des IBRP fragen, ob sie den Ernst der Weltlage und die zerstörerische Dynamik, der das Kapital aufgrund seiner historischen Sackgasse ausgesetzt ist, nicht unterschätzen.
Es geht nicht darum, den Zeitpunkt des endgültigen Zusammenbruchs zu benennen; die Tendenz zum Zusammenbruch wohnt der gesamten dekadenten Periode seit, als der alte Rahmen des Wirtschaftswachstums zerbrach und der buchstäbliche Zusammenbruch des Systems allein von den entsprechenden Maßnahmen der herrschenden Klasse aufgehalten wurde – durch staatliche Kontrolle der Wirtschaft und die Flucht in den Krieg, der selbst die Gefahr des Zusammenbruchs in einem viel zerstörerischen Ausmaß als durch das einfache Stottern des Wirtschaftsmotors heraufbeschwört. Darüber hinaus bedeutet die Zerfallsphase eine reale Beschleunigung dieses nach unten gerichteten Momentums. Dies wird vielleicht am offensichtlichsten auf der Ebene der interimperialistischen Beziehungen, wo die internationale Konkurrenz am gnadenlosesten und anarchischsten ist. Auf der ökonomischen Ebene hingegen ist die herrschende Klasse besser in der Lage, die Gefahr der entfesselten Konkurrenz zwischen den nationalen Kapitalien abzuschwächen (z.B. erkannte die US-Bourgeoisie die Notwendigkeit, ihren wirtschaftlichen Hauptrivalen, Japan, zu stützen).
– In der Dekadenzperiode gibt es keine „dialektische“ Harmonie zwischen „Neuzusammensetzung“ und Zerfall. Der Zerfall ist die endgültige Phase einer Tendenz zu Chaos und Katastrophe, die bereits vom ersten Kongress der Dritten Internationalen identifiziert worden war. In der dekadenten Epoche wird der Krieg eines Jeden-gegen-jeden – keine Erfindung von Hobbes, ssondern die fundamentale Realität einer Gesellschaft, die auf der allgemeinen Warenwirtschaft beruht – keineswegs durch die Bildung riesiger „staatskapitalistischer Trusts“ und imperialistischer Blöcke ad acta gelegt; wie Bucharin schon 1915 feststellte. Diese Gebilde heben die grundlegende Anarchie des Kapitals vielmehr auf eine noch höhere und noch destruktivere Stufe. Dies ist die Tendenz, die der „kapitalistischen Infrastruktur“ entspringt, wenn diese nicht mehr in Übereinstimmung mit ihren eigenen Gesetzen wachsen kann. Auf der einen Seite gibt es in dieser Epoche keine spontane Tendenz zur Wiederherstellung. Wenn die Genossen damit den Wiederaufbau meinen, dann geschah dies nach der fürchterlichen physischen Vernichtung durch den imperialistischen Krieg und ist zudem für den heutigen Kapitalismus nicht mehr möglich. Auf der anderen Seite: Wenn sie meinen, dass die „Neuzusammensetzung“ eine natürliche und friedliche Evolution des „modernen“ Kapitalismus ausdrückt, würde dies, so scheint es, den Einfluss „autonomistischer“ Theorien aufzeigen, die die katastrophistische Sichtweise ablehnen, die dem Marxismus innewohnt. Auch weist die Teil-Akzeptanz der Ideologie der Globalisierung, der Mikrochip-Revolution, etc. auf eine tatsächliche Konzession gegenüber den aktuellen bürgerlichen Kampagnen über einen neuen Aufstieg des Kapitalismus hin.
– Schließlich: Wenn „Neuzusammensetzung“ bedeutet, dass neue imperialistische Blöcke bereits gebildet sind, so beruht dies auf einer falschen Identifikation von Handelsbündnissen mit imperialistischen Blöcken, die einen fundamental militärischen Charakter haben. Die Irak-Krise hat insbesondere gezeigt, dass „Europa“ heute in seinen Beziehungen zu den USA total gespalten ist. Die Faktoren, die die Bildung neuer Blöcke verhindern, bleiben weiterhin gültig: tiefgehende Spaltungen unter den potenziellen Mitgliedern eines deutschen Blocks; die massive militärische Überlegenheit der USA; der Mangel an einer ideologischen Basis für neue Blöcke, was selbst ein Ausdruck der unbesiegten Natur des Proletariats ist.
20. Die Zerfallsperiode zeigt deutlicher als alles andere die Irrationalität des Krieges in der Dekadenz auf – die Tendenz seiner zerstörerischen Dynamik, autonom und in wachsendem Maße unvereinbar mit der Logik des Profits zu werden. Dies passt nahtlos zu den Grundbedingungen der Akkumulation in der dekadenten Periode. Die Unfähigkeit des Kapitals, in neue „außerhalb liegende Produktionsgebiete“ zu expandieren, behindert immer mehr die „natürliche“ Funktionsweise der Marktgesetze, die, sich selbst überlassen, in eine katastrophale Wirtschaftsblockade münden würden. Die Kriege der Dekadenz machen, anders als die Kriege in der Aufstiegsperiode, ökonomisch keinen Sinn. Im Gegensatz zur Ansicht, Krieg sei „gut“ für die Gesundheit der Wirtschaft, drückt der Krieg heute ihre unheilbare Erkrankung aus und verschlimmert sie. Darüber hinaus hat sich die Irrationalität des Krieges im Verhältnis zu den eigenen Gesetzen des Kapitals während des Verlaufs der Dekadenzperiode noch vergrößert. So verfolgte der Erste Weltkrieg noch ein klares, sichtbares „ökonomisches“ Ziel – im Wesentlichen der Griff nach den Kolonien der Rivalen. In einem gewissen Sinn war dieses Element auch im II. Weltkrieg präsent, obgleich sich bereits zeigte, dass es keine automatische Verknüpfung zwischen wirtschaftlicher Rivalität und militärischen Konfrontationen gibt: So lag die III. Internationale in den frühen 20er Jahren mit ihrer Ansicht falsch, dass der nächste imperialistische Konflikt zwischen den USA und Großbritannien stattfinden werde.
Was den Eindruck vermittelte, dass der II. Weltkrieg eine rationale Funktion für den Kapitalismus besäße, war die lange Wiederaufbauperiode, die ihm folgte und die viele Revolutionäre zur Schlussfolgerung verleitete, dass das Hauptmotiv des Kapitals für den Krieg darin bestünde, Kapital zuerst zu zerstören und daraufhin wieder aufzubauen. In Wirklichkeit war der Krieg nicht das Ergebnis der erklärten Absicht des Nachkriegswiederaufbaus, sondern wurde dem Kapital durch die unbarmherzige Logik der imperialistischen Konkurrenz aufgezwungen, die aus hauptsächlich strategischen Gründen die totale Vernichtung des Gegners erfordert.
Dies ändert nichts an der Tatsache, dass der Kurs zum Krieg im Wesentlichen ein Resultat der wirtschaftlichen Sackgasse des Kapitalismus ist. Doch die Verknüpfung zwischen Krise und Krieg ist keine mechanische Verbindung. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Kapitalismus zur Zeit des Ersten Weltkrieges waren lediglich in embryonaler Form vorhanden; der Zweite Weltkrieg brach aus, nachdem der erste Schock der Depression gerade verdaut war. Die Verschlimmerung der Wirtschaftskrise schafft zwar die allgemeinen Bedingungen für die Verschärfung der imperialistischen Rivalitäten, doch die Geschichte der Dekadenz zeigt, dass die rein ökonomischen Rivalitäten sich in wachsendem Maße den strategischen Interessen unterordnen mussten. Dies drückt umgekehrt die tiefe Ausweglosigkeit aus, in der sich der Kapitalismus befindet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der globale Konflikt zwischen dem amerikanischen und russischen Block fast ausschließlich von strategischen Gesichtspunkten dominiert, da Russland zu keiner Zeit sich als ernsthafter Wirtschaftsrivale der USA positionieren konnte. Und seitdem ist klar, dass der Weltkrieg nicht die ökonomischen Probleme des Kapitalismus lösen kann, dass er statt dessen zur finalen Selbstzerstörung des gesamten Systems führt.
Ferner demonstriert auch die Art, wie die Periode der Blöcke zu Ende ging, die ruinösen ökonomischen Kosten des Militarismus: Der schwächere russische Block brach zusammen, weil er nicht imstande war, die ökonomischen Kosten für das Wettrüsten zu schultern (und gleichermaßen unfähig war, das Proletariat für den Krieg zu mobilisieren, um sich vom strategischen und wirtschaftlichen Würgegriff zu befreien, den der stärkere US-Block angelegt hatte). Und entgegen aller Voraussagen, dass der „Fall des Kommunismus“ den kapitalistischen Unternehmern eine glänzende neue Zukunft verschaffen würde, hat die Wirtschaftskrise seither ihre Verwüstungen fortgesetzt, im Westen genauso wie in den früheren Ostblockländern.
Heute beinhaltet der US-Krieg gegen den Terrorismus auch die Verteidigung der unmittelbaren Wirtschaftsinteressen der USA zuhause und rund um den Globus. Die Kriegslüsternheit der USA wird von der rapiden Erschöpfung der Optionen für ihre Wirtschaft noch weiter angestachelt werden. Doch im Wesentlichen wird sie von den Strategien der USA diktiert, um ihre weltweite Führerschaft aufrechtzuerhalten und zu stärken. Die immensen Kosten, die sich im ersten Golfkrieg 1991, in Serbien 1999, Afghanistan 2001 und im Golfkrieg von 2003 auftürmten, weisen das oberflächliche Argument zurück, dass diese Kriege zu Gunsten der multinationalen Erdölgesellschaften oder in Hinblick auf die saftigen Verträge für den Nachkriegswiederaufbau ausgefochten wurden. Der wahrscheinliche Wiederaufbau im Iraks nach dem Krieg wird zudem von einem ideologischen und politischen Bedürfnis motiviert sein: Er wird eine unerlässliche, aber nicht ausreichende Bedingung für die amerikanische Vorherrschaft in diesem Land sein.
Der Krieg ruiniert das Kapital – er ist sowohl ein Produkt seines Niedergangs als auch treibender Faktor bei dessen Beschleunigung. Die Entwicklung einer blutigen Kriegswirtschaft bietet keine Lösung der Krise des Kapitalismus, wie einige Elemente der italienischen Fraktion in den 30er-Jahren annahmen. Die Kriegswirtschaft existiert nicht für sich selbst, sondern weil der Kapitalismus in der Dekadenz dazu gezwungen ist, einen Krieg nach dem anderen zu führen und zunehmend die gesamte Wirtschaft den Kriegsbedürfnissen unterzuordnen. Dies bewirkt einen gewaltigen Aderlass in der Wirtschaft, da Rüstungsausgaben letztlich unfruchtbar sind. In diesem Sinn gibt uns der Zusammenbruch des russischen Blocks eine Ahnung von der Zukunft des Kapitals, denn die Unfähigkeit des Ostblocks, einem sich beschleunigenden Rüstungswettlauf standzuhalten, war einer der Schlüsselfaktoren für sein Ableben. Und obwohl dies ein vom US-Block bewusst verfolgtes Resultat war, bewegt sich heute die USA selbst auf einen ähnlichen Zustand hin, auch wenn dies in einem langsameren Tempo geschieht. Der gegenwärtige Krieg am Golf und – allgemeiner – der ganze „Krieg gegen den Terrorismus“ ist mit einem starken Anstieg der Rüstungsausgaben verknüpft, um die Wehretats des Rests der Welt in den Schatten zu stellen. Doch der Schaden, den dieses ungesunde Projekt für die US-Wirtschaft bewirken wird, ist unkalkulierbar.
21. Die zutiefst irrationale Natur des Krieges in der dekadenten Periode wird auch durch seine ideologischen Rechtfertigungen demonstriert, eine Realität, die bereits mit dem Aufstieg des Nazismus in der Periode vor dem Zweiten Weltkrieg enthüllt wurde. So ist in Afrika ein Land nach dem anderen Bürgerkriegen ausgesetzt, in denen marodierende Banden ohne den Anschein eines ideologischen Vorwandes töten und verstümmeln sowie die ohnehin zerbrechliche Infrastruktur ohne jede Aussicht auf eine Nachkriegsrenaissance zerstören. Die Flucht einer wachsenden Zahl von Staaten in den Terrorismus und besonders das Wachstum des islamistische Terrorismus mit seinen Selbstmord- und Todesphantasien sind weitere Ausdrücke einer Gesellschaft in voller Verwesung, gefangen in einer tödlichen Spirale der Zerstörung um ihrer selbst willen. Gemäß den Genossen von CWO, „stellt (al-Qaida) einen Versuch dar, einen unabhängigen nahöstlichen Imperialismus zu installieren, der auf dem Islam und den Grenzen des Ummayal-Reiches im 8. Jahrhundert beruht. Es ist nicht einfach eine Bewegung, die Zerfall und Chaos ausdrückt“. (RP, Nr. 27) Tatsächlich ist ein solch reaktionäres und unrealistisches Ziel nicht rationaler als Bin Ladens zweite heimliche Hoffnung, dass seine Aktionen uns dem Jüngsten Gericht einen Schritt näher bringt. Der Islamismus ist eine reine Kreatur des Zerfalls.
Im Gegensatz dazu präsentiert sich die Rechtfertigung des Krieges durch die demokratischen Großmächte immer noch allgemein im Gewand des Humanitarismus, der Demokratie und anderen fortschrittlichen und rationaler Ziele. In der Tat herrscht eine große Kluft zwischen den Rechtfertigungen, die die imperialistischen Staaten anbieten, und den wirklich niederträchtigen Motiven und Handlungen, die dahinter stecken. So schimmert die ganze Irrationalität des Vorhabens der USA allmählich durch den ideologischen Nebel hervor: ein neues Imperium, in dem eine einzige Macht unangefochten und für immer herrscht. Die Geschichte, und insbesondere die Geschichte des Kapitalismus, hat bereits die Hohlheit solcher Träume aufgezeigt. Doch dies hat nicht die Entwicklung einer neuen und zutiefst rückwärtsgewandten Ideologie verhindert, um das ganze Projekt zu rechtfertigen: das Konzept eines neuen und humanen Kolonialismus, das von einer Reihe amerikanischer und britischer Ideologen heute ernst genommen wird.
22. Es ist äußerst wichtig, den Unterschied zwischen dem historischen Gewicht der Klasse und ihrem unmittelbaren Einfluss auf die Situation zu begreifen. Unmittelbar kann die Klasse nicht die gegenwärtigen Kriege verhindern und befindet sich womöglich auf dem Rückzug, aber dies ist nicht dasselbe wie eine historische Niederlage. Die Tatsache, dass die Bourgeoisie nicht fähig ist, die Klasse für den direkten interimperialistischen Konflikt zwischen den Großmächten zu mobilisieren, und ihn statt dessen auf zweit- und drittrangige Staaten „ablenken“ muss, wobei nur Berufssoldaten rekrutiert werden, ist ein Ausdruck für dieses historische Gewicht der Klasse.
Selbst im Zusammenhang mit diesen „abgelenkten“ Kriegen ist die Bourgeoisie, wenn sie die Einsätze, die auf dem Spiel stehen, erhöhen will, dazu gezwungen, Präventivmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse zu ergreifen. Die Organisation der pazifistischen Demonstrationen in einer nie da gewesenen Dimension (sowohl in der Größe dieser Demonstrationen als auch bezüglich ihrer internationalen Koordination) bezeugt die Unruhe der herrschenden Klasse über die sich steigernde Feindseligkeit gegen ihren Kriegskurs sowohl in der Bevölkerung im Allgemeinen als auch in der Arbeiterklasse im Besonderen. Im Moment geht der Hauptstoß der pazifistischen Kampagnen dahin, ihre Klassen übergreifende, demokratische Natur, ihre Appelle an die UN und die pazifistischen Absichten der Rivalen Amerikas hervorzuheben. Doch noch während die Reden vom Podium der Proteste ausgespuckt werden, gibt es bereits einen starken Zug zur ouvrieristischen Demagogie, zum Gerede über die Mobilisierung der Macht der Gewerkschaften, über illegale Streikaktionen, wenn der Krieg ausbricht, und selbst zur Wiederaufwärmung klassischer internationalistischer Parolen wie: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ Hinter dieser Rhetorik wird das Wissen der Bourgeoisie darübers deutlich, dass der Kriegskurs die Konfrontation mit dem Widerstand ihres Hauptopfers, die Arbeiterklasse, auf Dauer nicht vermeiden kann, auch wenn die aktuelle Klassenopposition zum Krieg sich auf vereinzelte, isolierte Reaktionen von Arbeitern oder auf die Aktivitäten einer kleinen revolutionären Minderheit beschränkt.
23. All dies ist Beweis genug, dass sich der historische Kurs nicht gewendet hat, auch wenn im Zerfall die Bedingungen, unter denen er sich entfaltet, sich sichtlich geändert haben. Was mit dem Zerfall hinzu gekommen ist, ist die Möglichkeit einer historischen Niederlage nicht durch einen Frontalzusammenstoß zwischen den Hauptklassen, sondern durch ein langsames Dahinsiechen der Fähigkeit des Proletariats, sich selbst als eine Klasse zu konstituieren, was es erschweren würde, den „Point of no Return“ wahrzunehmen, da dieser bereits vor dem definitiven katastrophalen Ende erreicht wäre. Das ist die tödliche Gefahr, vor der die Klasse heut steht. Doch wir sind davon überzeugt, dass dieser Punkt noch nicht erreicht ist und dass das Proletariat seine Fähigkeit beibehalten hat, seine historische Mission wiederzuentdecken. Um das wirkliche Potenzial innerhalb des Proletariats zu berücksichtigen und die Verantwortung anzunehmen, die es den Revolutionären aufzwingt, ist es um so wichtiger, nicht mit einer immediatistischen Analyse der Lage zu beginnen.
24. Ohne einen klaren historischen Rahmen für das Verständnis der aktuellen Lage der Klasse ist es allzu naheliegend, in ein immediatistisches Verhalten zu fallen, das zwischen euphorischer Stimmung und schwärzestem Pessimismus schwanken kann. In der gegenwärtigen Periode wird der Haupttrend im proletarischen Milieu von falschen Hoffnungen über massive Klassenbewegungen getragen: So sah eine Zahl von Gruppen im Aufruhr in Argentinien im Dezember 2002 den Beginn einer Bewegung zur proletarischen Erhebung, obwohl die Bewegung sich nicht auf das fundamentale Klassenterrain stellte. Auch der Streik der Feuerwehrleuten in Großbritannien wurde als Brennpunkt des massiven Klassenwiderstandes gegen den Kriegskurs interpretiert. Oder es gab, bei Abwesenheit offener gesellschaftlicher Bewegungen, eine Neigung, den großen Haufen der gewerkschaftlichen Organismen als Basis für die Vorbereitung auf die künftige Wiederbelebung des Klassenkampfes zu betrachten.
25. Im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen historischen Kurs bleibt die Perspektive des Klassenkampfes die Wiederbelebung der Massenkämpfe als Antwort auf die sich vertiefende Krise. Diese Kämpfe werden der Dynamik des Massenstreiks folgen, die typisch ist für die wirkliche Klassenbewegung in der Epoche der Dekadenz: Sie werden nicht im Voraus von einem bereits bestehenden Organ organisiert. Nur durch die Tendenz zu Massenkämpfen wird die Klasse ihre Klassenidentität wiedererlangen, die eine unerlässliche Vorbedingung für die eigentliche Politisierung des Kampfes ist. Doch wir sollten in Erinnerung behalten, dass solchen Bewegungen unvermeidlich eine Reihe von Geplänkeln vorausgehen wird, die unter gewerkschaftlicher Kontrolle bleiben, und selbst wenn sie einen massiveren Charakter annehmen, werden sie nicht geradwegs, in „reiner Form“ auftreten, d.h. offen außerhalb und gegen die Gewerkschaften sowie von unabhängigen Versammlungen und Streikkomitees organisiert und zentralisiert. In der Tat wird es für die revolutionären Minderheiten und fortschrittlichen Arbeitergruppen wichtiger denn je sein, die Perspektive der Bildung solcher Organismen innerhalb der kommenden Bewegungen zu verteidigen.
26. Es gab während der 90er Jahre viele solcher Geplänkel, und sie drückten die Gegentendenz zum allgegenwärtigen Rückzug aus. Doch ihr Mangel an jeglicher politischen Dimension wurde von der Bourgeoisie benutzt, um die Unordnung in der Klasse zu steigern. Ein besonders wichtiger Trumpf in den 90ern bestand darin, linke Regierungen zu installieren, die in der Lage waren, dem Arsenal der Bourgeoisie an demokratischer und reformistischer Ideologie einen starken Schub zu geben. In Einklang damit haben die Gewerkschaften eine Reihe von Präventivaktionen organisiert, um die wachsende Unzufriedenheit in der Klasse zu kanalisieren. Am spektakulärsten waren die Streiks in Frankreich im Dezember 1995, welche zum Schein über die Gewerkschaften hinausgingen und sich an der Basis vereinigten, um so zu verhindern, dass dies tatsächlich passiert. Seitdem wurden die Gewerkschaftskampagnen entsprechend der Desorientierung in der Klasse leiser; dennoch kann heute eine Rückkehr zu konfrontativeren Antworten am Beispiel der ausgerufenen oder angedrohten Streiks im öffentlichen Sektor Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens, Deutschlands und anderswo festgestellt werden.
27. Der Marxismus hat stets darauf bestanden, dass es nicht ausreichend ist, den Klassenkampf nur aus dem Blickwinkel des Proletariats zu betrachten, da auch die Bourgeoisie einen Klassenkampf gegen das Proletariat und gegen dessen Bewusstwerdung führt. Es war immer ein Schlüsselelement in der Handlungsweise des Marxismus gewesen, die Strategien und Taktiken zu untersuchen, die von der herrschenden Klasse benutzt werden, um ihrem Todfeind zuvorzukommen. Ein wichtiger Teil dessen ist die Analyse, welches Regierungsteam in welchem Moment der Entwicklung des Klassenkampfes und der allgemeinen Gesellschaftskrise von der Bourgeoisie bevorzugt zusammengesetzt wird.
28. Wie die IKS bereits in ihren ersten Tagen bemerkt hat, bestand die anfängliche Antwort der herrschenden Klasse auf die historische Wiederauferstehung des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre darin, linke Mannschaften ans Ruder zu setzen und Arbeiterkämpfe abzulenken, indem linke Regierungen der Bewegung als falsche Perspektive angedient wurden. Wir sahen dann, Ende der 70er Jahre, als Antwort auf die zweite internationale Welle von Kämpfen die Annahme einer neuen Strategie, mit der die Rechte wieder an die Regierung gehievt und die Linke in die Opposition entlassen wurde, um den Arbeiterwiderstand von innen zu sabotieren. Zwar fanden sie nie auf sämtliche Länder automatisch Anwendung, doch zumindest in den wichtigsten kapitalistischen Ländern konnten solche Strategien festgestellt werden.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gab es jedoch, entsprechend dem Rückgang im Bewusstsein der Arbeiterklasse, keine Notwendigkeit mehr, diese Rollenverteilung weiter aufrechtzuerhalten, und in einer Reihe von Ländern wurden mit Blick sowohl auf das Management der Wirtschaftskrise als auch auf das Bedürfnis, die gegenwärtige Flucht des Kapitalismus in den Militarismus als eine neue Form des Humanitarismus darzustellen, Mitte-Links-Regierungen vom Typ des Blair-Regimes in Großbritannien als best geeignete Regierungsteams bevorzugt.
Der aktuelle Aufstieg der rechten Parteien in Regierungsämter bedeutet dagegen nicht, dass die herrschende Klasse zur konzertierten Strategie der Linken in die Opposition zurückkehrt. Das Zustandekommen rechter Regierungen in einer Reihe von zentralen kapitalistischen Ländern ist vielmehr der Ausdruck des Mangels an Kohärenz innerhalb der nationalen Bourgeoisien und zwischen ihnen, was eine der Folgen des Zerfalls ist. Ein grosser Fortschritt im Klassenkampf wäre erforderlich, damit die Bourgeoisie ihre Spaltung überwinden und eine einheitlichere Antwort erteilen würde: zur Strategie der Linken in der Opposition zurückkehren, um einer ernsthaften Wiederbelebungder Klassenbewegung entgegen zu treten, und als letzte Karte die Installierung einer „Linksextremen“ an der Macht im Falle einer direkten revolutionären Bedrohung durch die Arbeiterklasse.
29. Auch wenn die Hauptstoßrichtung der Arbeiterkämpfe sich nicht direkt gegen den Krieg entwickeln wird, sollten die Revolutionäre die Augen offen halten gegenüber den Klassenreaktionen, die da kommen werden. Sie sollten dabei im Kopf behalten, dass die Kriegsfrage immer mehr zu einem Faktor in der Weiterentwicklung eines politischen Bewusstseins darüber werden wird, was im Klassenkampf auf dem Spiel steht, besonders da die Aufblähung der Kriegswirtschaft in wachsendem Maß die Notwendigkeit von Einschnitten im Lebensstandard der Arbeiterklasse mit sich bringen wird. Die immer engere Verknüpfung zwischen der Krise und dem Krieg wird sich zunächst in der Formierung von Minderheiten ausdrücken, deren Ziel es ist, eine internationalistische Antwort gegen den Krieg zu richten, aber sie wird ebenfalls dazu tendieren, die allgemeinere Bewegung zu durchdringen, sobald die Klasse ihr Vertrauen wiederentdeckt hat und die Kriege der herrschenden Klasse nicht mehr als Beweis ihrer eigenen Machtlosigkeit ansieht.
30. Die neue Generation von „suchenden Elementen“, eine Minderheit, die sich hin zu Klassenpositionen bewegt, wird in den künftigen Arbeiterkämpfen eine Rolle von unerhörter Bedeutung haben, die viel schneller und tiefer als die Kämpfe von 68–89 mit ihren politischen Auswirkungen konfrontiert werden. Diese Elemente, die bereits eine langsame, aber bedeutsame Entwicklung des Bewusstseins in der Tiefe ausdrücken, werden dazu aufgerufen sein, der massiven Ausbreitung des Bewusstseins in der gesamten Klasse Beistand zu leisten. Dieser Prozess erreicht seinen höchsten Punkt mit der Bildung der kommunistischen Weltpartei. Doch diese kann nur Wirklichkeit werden, falls die existierenden linkskommunistischen Gruppen ihrer historischen Verantwortung gerecht werden. Besonders heute bedeutet dies, den Gefahren ins Auge zu schauen, die vor ihnen liegen. So wie die Abdankung der Arbeiterklasse gegenüber der Logik des Zerfalls sie der Fähigkeit beraubt, für eine Antwort auf die Krise zu sorgen, der sich die Menschheit gegenüber sieht, so riskiert die revolutionäre Minderheit ihre Zerstörung und Einebnung durch die verkommende Umwelt, von welcher sie umgeben ist und die ihre Reihen in Gestalt des Parasitismus, Opportunismus, Sektierertums und der theoretischen Konfusion penetriert. Die Revolutionäre können heute in die intakten Kapazitäten ihrer Klasse und mit demselben Recht in die Fähigkeit des revolutionären Milieus vertrauen, auf die Erfordernisse zu antworten, die die Geschichte auf ihre Schultern geladen hat. Sie wissen, dass sie ihre Arbeit langfristig sehen und alle immediatistischen Fallstricke vermeiden müssen. Doch gleichzeitig müssen sie begreifen, dass wir nicht alle Zeit der Welt haben und dass ernste Fehler, die heute begangen werden, morgen Hindernisse auf dem Weg zur Formierung der Klassenpartei bilden.
IKS
Fußnoten:
Die folgenden Artikel sind 1936 in der Revue BILAN, Organ der Italienischen Linkskommunistischen Fraktion, Nr. 30 und 31 veröffentlicht worden. Es war bitter nötig, dass die Fraktion die marxistische Position gegenüber dem Arabisch/Jüdischen Konflikt entwickelte, da der Generalstreik gegen die jüdische Einwanderung zu einer Reihe von blutigen Pogromen eskaliert war. Auch wenn einige spezifische Aspekte der aktuellen Situation sich geändert haben, fällt auf, in welchem Ausmaß in diesen Artikeln viele Analysen bis auf die heutige Zeit noch Gültigkeit haben. Insbesondere zeigen die Artikel mit großer Genauigkeit auf, wie die “nationalistischen” Bewegungen, sowohl die jüdische wie auch die arabische, auch wenn beide aufgrund von Verfolgung und Unterdrückung entstanden sind, sich mit den rivalisierenden imperialistischen Mächten unentwirrbar verstrickten. Mehr noch, diese Artikel zeigen auf, wie diese Bewegungen benutzt wurden, um die gemeinsamen Interessen der arabischen und jüdischen Arbeiterklasse zu verdunkeln und dies zu einem gegenseitigen Massaker, im Interesse ihrer Unterdrücker führte. Die Artikel zeigen also auf:
– Die zionistische Bewegung ist erst ein realistisches Projekt geworden, nachdem sie vom britischen Imperialismus unterstützt wurde, weil dieser versuchte, wie er es nannte, “ein kleines Irland” im Nahen Osten zu erschaffen, da diese Zone mit der Entwicklung der Erdölindustrie strategisch immer wichtiger wurde.
– Großbritannien unterstützte zwar das zionistische Projekt, spielte aber gleichzeitig ein doppeltes Spiel: Es musste auf den wichtigen arabisch-moslemischen Bevölkerungsanteil in ihrem kolonialen Reich Rücksicht nehmen. Großbritannien benutzte im Ersten Weltkrieg die nationalen arabischen Aspirationen zynisch für sich aus, währenddem es aber beabsichtigten dem osmanischen Reich ein Ende zu setzen, das in Auflösung begriffen war. Sie haben also der arabischen Bevölkerung von Palästina und der restlichen Region alle Arten von leeren Versprechungen gemacht. Diese klassische Politik des “Teilen und Herrschen” hatte zwei Ziele: Das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen imperialistischen nationalistischen Ansprüchen die sich in ihrem Reich gegenüberstanden aufrechtzuerhalten, gleichzeitig zu verhindern, dass die ausgebeuteten Massen in der Region ihre gemeinsamen Interessen erkannten.
Die arabische “Befreiungs”-Bewegung, die sich gegen die britische Unterstützung des Zionismus wandte, war genau so wenig antiimperialistisch wie die Elemente in der zionistischen Bewegung, die die Waffen gegen Großbritannien erheben wollten. Die zwei nationalistischen Bewegungen stellten sich also vollständig in den Rahmen des globalen imperialistischen Spiels. Wenn sich eine nationalistische Fraktion gegen seinen alten Unterstützer wandte, musste er Hilfe bei einem anderen Imperialisten suchen. Zur Zeit des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 war praktisch die ganze zionistische Bewegung offen anti-britisch geworden. Indem sie dies tat, wurde sie ein Instrument des neuen aufsteigenden Imperialismus, der USA, die alles was sie gegen die alten kolonialen Mächte zu ihrer Beseitigung ins Spiel bringen konnten auch einsetzten. Ebenso zeigt BILAN auf, dass der Konflikt zwischen dem arabischen Nationalismus und Großbritannien zur Folge hatte, dass die Türen für den italienischen (und deutschen) Imperialismus aufgestoßen wurden. Danach haben wir gesehen, wie die palästinensische Bourgeoisie wegen ihrem Konflikt mit den USA sich dem russischen Block, später Frankreich und anderen europäischen Mächten zuwandte.
Was sich hauptsächlich geändert hat, seit die Artikel geschrieben wurden, ist, dass es dem Zionismus gelungen ist, einen Staat zu errichten, der grundlegend die Kräfteverhältnisse in der Region verändert hat und dass der dominierende Imperialismus nicht mehr Großbritannien ist, sondern die USA. Aber die Grundlage des Problems bleibt selbst in diesem Fall dieselbe. Die Bildung des Staates Israel, hatte die Vertreibung von zehntausenden von Palästinensern zur Folge, und trieb die Enteignung der palästinensischen Bauern zu ihrem Höhepunkt. BILAN stellt fest, dass diese Entwicklung dem zionistischen Plan innewohnend war. Die Vereinigten Staaten ihrerseits müssen versuchen, ein widersprüchliches Gleichgewicht zwischen der Unterstützung des zionistischen Staates einerseits und andererseits der Notwendigkeit soweit als möglich die “arabische Welt” unter ihrem Einfluss zu halten. In der Zwischenzeit versuchen die Rivalen der USA jeden Antagonismus, der zwischen letzterem und den Ländern dieser Region auftaucht, für sich auszunützen.
Was am meisten auffällt, ist die klare Anprangerung seitens BILAN der beiden Chauvinismen, den arabischen und den jüdischen, die benutzt wurden um die Konflikte in der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grunde hat die italienische Fraktion jeglichen Kompromiss gegenüber dem wirklichen Internationalismus verworfen. „Für die wirklichen Revolutionäre gibt es natürlich keine ‚palästinensische’ Frage, sondern nur den Kampf aller Unterdrückten des Nahen Ostens, Araber oder Juden, der ein Teil des allgemeinen weltweiten Kampfes der Unterdrückten für die kommunistische Revolution ist.” Sie verwarf also total die stalinistische Politik der Unterstützung des arabischen Nationalismus, unter dem Vorwand den Imperialismus zu bekämpfen. Die seinerzeitige stalinistische Politik wird heute von den trotzkistischen Parteien und anderen Linksextremen aufgenommen, die sich zum Sprachrohr des „palästinensischen Widerstandes“ machen. Diese Positionen sind heute genauso konterrevolutionär wie sie es schon 1936 waren.
Heute werden die Massen beider Seiten zu einem gegenseitigen rasenden Hass ermutigt und der Preis der Massaker ist viel höher als in den 1930er-Jahren. Der unnachgiebige Internationalismus bleibt das einzige Gegenmittel gegen das nationalistische Gift.
IKS, Juni 2002
Die Verschärfung des Arabisch-Jüdischen-Konflikts, die Verstärkung der anti-britischen Orientierung der arabischen Welt, die während des Ersten Weltkriegs eine Bauernfigur des englischen Imperialismus war, hat uns veranlasst, das jüdische Problem und die panarabische Bewegung zu untersuchen. Wir werden dieses Mal versuchen, das erste der beiden Probleme zu behandeln.
Man weiß, dass nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer und der Zerstreuung des jüdischen Volkes, die verschiedenen Länder in die sie geflüchtet waren, wenn sie sie nicht gleich von ihren Territorien verwiesen, (weniger aus religiösen Gründen wie von den katholischen Autoritäten behauptet wurde, sondern aus ökonomischen Gründen, namentlich der Enteignung ihrer Güter und der Annullierung ihrer Kredite), sie gemäß eines päpstlichen Rechtsakts aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die in allen Ländern zum Maßstab wurde, die Lebensbedingungen der Juden reglementierten. Sie wurden gezwungen, in geschlossenen Quartieren (Ghettos) und mit einem erniedrigenden Zeichen versehen, zu leben.
1290 aus England, 1394 aus Frankreich ausgewiesen, emigrierten sie nach Deutschland, Italien und Polen. 1492 aus Spanien und 1498 aus Portugal ausgewiesen, flüchteten sie nach Holland, nach Italien und vor allem ins osmanische Reich, das Nordafrika und den größten Teil von Südosteuropa besetzt hielt. Dort stellten sie und stellen bis heute eine Gemeinschaft dar, die einen jüdisch-spanischen Dialekt spricht, währenddem die, die nach Polen, Russland und Ungarn emigrierten, einen jüdisch-deutschen Dialekt (jiddisch) sprechen. Die hebräische Sprache, die während dieser Zeit die Sprache der Rabbiner blieb, wurde aus der Domäne der toten Sprachen reaktiviert, um die Sprache der Juden in Palästina mit der aktuellen nationalistischen Bewegung zu werden.
Während die Juden im Westen, die zahlenmäßig am Schwächsten waren, und teilweise die der USA, sich durch ihre Präsenz an der Börse und ihren intellektuellen Einfluss durch ihre Anzahl in den liberalen Berufen einen gewissen ökonomischen und politischen Einfluss erworben hatten, konzentrierten sich die großen Massen der Juden in Osteuropa, wo sich schon Ende des 18. Jahrhunderts 80% der Juden Europas aufhielten. Bei der ersten Teilung Polens und der Annexion von Bessarabien kamen sie unter die Herrschaft der Zaren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts 2/3 der Juden auf ihrem Territorium hatten. Die russische Regierung nahm von Anfang an eine repressive Haltung ein, die von Katherina II. ausging und ihren schärfsten Ausdruck bei Alexander III. fand, der das Judenproblem folgendermaßen lösen wollte: “Ein Drittel muss konvertiert werden, ein Drittel muss auswandern und ein Drittel muss ausgelöscht werden.”
Die Juden wurden in einer bestimmten Anzahl Distrikte der Provinzen im Nordosten (Weißrussland), im Südosten (Ukraine und Bessarabien) und in Polen festgehalten. Dort war ihre Siedlungszone. Sie durften nicht außerhalb der Städte und vor allem nicht in den industrialisierten Gebieten (Bergwerks- und Eisenhütten-Regionen) wohnen. Aber bei genau diesen Juden trat die kapitalistische Durchdringung im 19. Jahrhundert zu Tage und leitete die Klassendifferenzierung ein.
Es war der terroristische Druck der russischen Regierung, der die ersten Impulse für die Kolonisierung Palästinas gab. Jedoch waren die ersten Juden schon während der Vertreibung aus Spanien Ende des 15. Jahrhunderts wieder nach Palästina zurückgekehrt und die erste Landwirtschaftskolonie war 1870 in der Nähe von Jaffa gegründet worden. Aber die erste wirkliche Emigration begann erst nach 1880, als die polizeiliche Verfolgung und die ersten Pogrome die Emigration nach den USA und Richtung Palästina auslösten.
Diese erste Alya (jüdische Immigration) von 1882, die sogenannte “Biluimes”, war mehrheitlich aus russischen Studenten zusammengesetzt, die man als Pioniere der jüdischen Kolonisierung von Palästina sehen kann. Die zweite Alya setzte 1904–05 infolge der Unterdrückung der ersten Revolution in Russland ein. Die Anzahl der Juden, die sich in Palästina niederließen, stieg von 12’000 um 1850, auf 35’000 1882 und auf 90’000 1914.
Das waren alles Juden aus Russland und Rumänien, Intellektuelle und Proletarier, während dem die Juden aus dem Westen, wie die Rothschilds und die Hirschs, sich darauf beschränkten, sich finanziell zu beteiligen, was ihnen einen guten Namen als Philanthropen einbrachte, ohne dass sie ihre wertvolle Persönlichkeit einsetzen mussten.
Bei den “Biluimes” von 1882 waren die Sozialisten noch nicht zahlreich vertreten. Sie setzten bei der damaligen Kontroverse, ob man nach Palästina oder die USA emigrieren sollte, auf letztere. Bei der ersten jüdischen Emigration nach den USA waren die Sozialisten also sehr zahlreich vertreten und bestritten einen guten Teil der Organisationen, der Zeitungen und selbst der kommunistischen Kolonisierungsversuche.
Das zweite Mal tauchte die Frage nach der Richtung der Emigration auf, wie wir bereits gesagt haben, nach der Niederlage der ersten Russischen Revolution und infolge der Verschärfung der Pogrome, die vom Kishinev-Pogrom charakterisiert worden waren. Der Zionismus, der dem jüdischen Volk einen Wohnsitz in Palästina geben wollte und der einen Nationalfond für den Kauf von Land gegründet hatte, spaltete sich am 7. zionistischen Kongress von Baie in eine traditionalistische Strömung, die die Bildung eines jüdischen Staats in Palästina befürwortete und in eine territorialistische, die sich eine Kolonisierung auch anderswo vorstellen konnte, im konkreten Fall in Uganda, das von England angeboten worden war.
Nur eine Minderheit der sozialistischen Juden, die zionistischen Poalés von Ber Borochov, blieben den Traditionalisten treu. Alle anderen sozialistischen Parteien der Juden zu dieser Zeit, wie die Partei der sozialistischen Zionisten und die Serpistes - eine Art Reproduktion im jüdischen Milieu der russischen Sozialrevolutionäre – sprachen sich für den Territorialismus aus. Die älteste und mächtigste jüdische Organisation, der Bund, war, wie man weiß, negativ gegenüber der nationalen Frage eingestellt, wenigstens zu dieser Zeit.
Ein entscheidender Moment für die Bewegung der nationalen Wiedergeburt war der Weltkrieg 1914, und die Besetzung von Palästina durch die englischen Truppen, denen sich die jüdische Legion von Jabotinsky angeschlossen hatte, als die Deklaration von Balfour 1917 veröffentlicht wurde, in der den Juden in Palästina eine Heimstätte versprochen wurde.
Dieses Versprechen wurde während der Konferenz in San Remo 1920 sanktioniert, die Palästina einem britischen Mandat unterstellte.
Die Balfour-Deklaration löste eine dritte Alya aus, aber vor allem die vierte, die zahlenmäßig die stärkste war, fiel mit der Übergabe des palästinensischen Mandats an die Briten zusammen. Schon diese Alya wies einen guten Anteil von Schichten des Kleinbürgertums auf. Man weiß, dass die letzte Immigration nach Palästina die wichtigste und eine Folge der Machtübernahme Hitlers war, schon einen starken Anteil an Kapitalisten aufwies.
Die erste Volkszählung, die 1922 in Hinsicht auf die Zerstörungen des Weltkrieges durchgeführt wurde, ergab nur 84’000 Juden, was 11 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte, diejenige von 1931 schon 175’000. 1934 wiesen die Statistiken schon 307’000 Juden auf eine Gesamtbevölkerung von 1’171’000 auf. Zurzeit wird eine Zahl von 400’000 angegeben.
80 Prozent der Juden wohnen in Städten. Die schnelle pilzartige Entstehung der Stadt Tel Aviv ist ein Ausdruck davon. Die Entwicklung der jüdischen Industrie schreitet schnell voran. 1928 zählte man 3505 Unternehmen, davon 782, die mehr als vier Arbeiter hatten, d.h. insgesamt 18’000 Arbeiter mit einem investierten Kapital von 3,5 Millionen Pfund Sterling.
Die Juden, die auf dem Land wohnen, machen nur 20 Prozent aus. Im Vergleich dazu lebt 65 Prozent der arabischen Bevölkerung auf dem Land. Aber die Fellahs bearbeiten ihre Landgüter mit primitiven Mitteln, im Gegensatz dazu wenden die Juden in ihren Kolonien und Plantagen die intensive kapitalistische Methode unter Ausnutzung der sehr billigen arabischen Arbeitskraft an.
Die Zahlen die wir gegeben haben, zeigen schon eine Seite des aktuellen Konflikts auf. Während 20 Jahrhunderten haben die Juden Palästina verlassen und andere Völker richteten sich an den Ufern des Jordans ein. Auch wenn die Balfour-Deklaration und die Entscheidungen des Völkerbundes vorgaben die Respektierung der Rechte der Besetzer zu schützen, bedeutete die Zunahme der jüdischen Einwanderung die Vertreibung der arabischen Bevölkerung von ihren Ländereien, auch wenn diese vom jüdischen Nationalfonds zu tiefen Preisen gekauft werden.
Es ist nicht aus Humanismus “dem verfolgten und ohne Land lebenden Volk” gegenüber, dass Großbritannien eine pro-jüdische Politik verfolgt. Es sind die Interessen der englischen Hochfinanz, in der die Juden einen überwiegenden Einfluss haben, die diese Politik bestimmt. Andererseits stellt man seit dem Beginn der jüdischen Einwanderung einen Kontrast zwischen dem arabischen und jüdischen Proletariat fest. Zu Beginn stellten die jüdischen Kolonisatoren jüdische Arbeitskräfte ein, um ihren nationalen Eifer gegen die Angriffe der Araber auszunutzen. Kurze Zeit später mit der Verfestigung der Situation zogen die jüdischen Industriellen und Grundstückbesitzer die arabische der anspruchsvolleren jüdischen Arbeitskraft vor.
Die jüdischen Arbeiter, die sich in Gewerkschaften organisieren, sind mehr darauf bedacht, die tiefen Löhne der konkurrierenden arabischen Arbeiter zu bekämpfen anstatt den Klassenkampf zu führen. Das erklärt den chauvinistischen Charakter der jüdischen Arbeiterbewegung, der sich vom Nationalismus und britischen Imperialismus ausnutzen lässt.
Die Basis des aktuellen Konflikts hat natürlich auch Gründe politischer Natur. Der britische Imperialismus möchte trotz der Feindseligkeit der beiden Völker zwei Staaten unter einem gemeinsamen Dach vereinen, sogar einen Bi-Parlamentarismus aufbauen, der je ein jüdisches und ein arabisches Parlament vorsieht.
Im jüdischen Lager stehen auf der Seite der abwartenden Direktive von Weissmann, die Revisionisten des Jabotinsky, welche den offiziellen Zionismus bekämpfen und Großbritannien beschuldigen, entweder abwesend zu sein oder sich seinen Pflichten zu entziehen. Sie möchten die jüdische Emigration auch auf Transjordanien, Syrien und auf die Halbinsel Sinai erweitern.
Die ersten Konflikte, die 1929 auftauchten und sich rund um die Klagemauer abspielten, provozierten laut offiziellen Statistiken 200 Tote auf der arabischen und 130 Tote auf der jüdischen Seite. Zahlen, die in Wirklichkeit sicher untertrieben sind, da die Juden zwar in den modernen Gebieten die Angriffe zurückschlagen konnten, in Hebron, in Safit und in einigen Vororten die Araber zu handfesten Pogromen übergegangen sind.
Diese Ereignisse stoppten die pro-jüdische Politik Großbritanniens, da das britische Kolonialreich zu viele Moslems umfasst, eingeschlossen Indien, was genügend Grund ist, eine vorsichtige Politik zu betreiben.
Aufgrund dieses Verhaltens der britischen Regierung gegenüber der Heimstätte, nehmen die Mehrzahl der jüdischen Parteien, die orthodoxen Zionisten, die generellen Zionisten und die Revisionisten eine oppositionelle Haltung ein. Die sicherste Unterstützung der britischen Politik, die zu dieser Zeit unter einer Labour-Regierung stand, waren die jüdischen Arbeiterorganisationen, die ein Ausdruck der Allgemeinen-Arbeiter-Konföderation darstellte, in der fast die Gesamtheit der jüdischen Arbeiter in Palästina organisiert waren.
Kürzlich hat sich, zwar nur an der Oberfläche, ein gemeinsamer Kampf der jüdischen und arabischen Bewegung gegen die Mandatsmacht entfacht. Das Feuer schwelte, die Explosion brach dann in den Ereignissen vom Mai aus.
Die faschistische italienische Presse hat Sturm gegen die Vorwürfe der “sanktionistischen” Presse geblasen, die behauptete, dass faschistische Agenten die Aufstände in Palästina angefacht hätten. Dieser Vorwurf wurde schon vor kurzem während den Ereignissen in Ägypten erhoben. Niemand kann verneinen, dass der Faschismus ein großes Interesse daran hat, ins Feuer zu blasen. Der italienische Imperialismus hat nie seine Absichten gegenüber dem Nahen Osten verheimlicht, d.h. sich an die Stelle der mandatierten Mächte in Palästina und Syrien zu setzen. Er besitzt übrigens auch eine mächtige Kriegsschiffbasis im Mittelmeer, auf Rhodos und den anderen Inseln des Dodekanes. Der britische Imperialismus zieht aber auch Nutzen vom Konflikt zwischen Arabern und Juden, da nach der alten römischen Formel “divide et impera” man teilen muss, um herrschen zu können. Er muss gleichzeitig der jüdischen Finanzmacht und der Gefahr der nationalistischen arabischen Bewegung Rechnung tragen.
Letztgenannte Bewegung über die wir ein anderes Mal länger schreiben werden, ist eine Konsequenz des Weltkriegs, der die Industrialisierung in Indien, Palästina und Syrien vorangetrieben hat. Diese Entwicklung stärkte die einheimische Bourgeoisie, die sich darum auf die Ausbeutung der einheimischen Massen vorbereitete.
Die Araber beschuldigen Großbritannien, aus Palästina eine jüdische Heimstätte machen zu wollen. Dies würde bedeuten, dass man der einheimischen Bevölkerung den Grund und Boden stiehlt. Sie haben noch einmal Emissäre nach Ägypten, nach Syrien und nach Marokko geschickt, damit diese sich für die Sache der palästinensischen Araber einsetzen mit dem Ziel, eine panislamische nationale Vereinigung voranzutreiben. Von den vor kurzer Zeit stattgefundenen Ereignissen in Syrien ermutigt, wo die Mandatsmacht Frankreich vor dem Generalstreik kapitulieren musste und auch von den Ereignissen in Ägypten, wo die Agitation und Bildung einer nationalen Front London gezwungen hat, mit der Regierung in Kairo gleichberechtigt zu verhandeln. Wir wissen nicht ob der Generalstreik der Araber in Palästina die gleichen Ergebnisse bringt. Wir werden diese Bewegung zusammen mit dem arabischen Problem in einem weiteren Artikel erörtern.
Gatto Mammone
Wie wir im vorangehenden Teil dieses Artikels feststellten, haben die “Biluimes” einen sandigen Streifen im Süden von Jaffa gekauft. Dabei trafen sie auf andere Völkerschaften, die Araber, die sich an ihrer Stelle in Palästina angesiedelt hatten. Es waren aber nur einige Hunderttausende, seien es Fellah-Araber (Bauern) oder Beduinen (Nomaden). Die Bauern bearbeiteten mit sehr primitiven Arbeitsgeräten den Boden der Grundstückbesitzer (Effendis). Der britische Imperialismus wie man sehen konnte, drängte die Grundstückbesitzer und die arabische Bourgeoisie während des Weltkriegs auf seine Seite und versprach ihnen im Gegenzug die Bildung eines arabischen Nationalstaats. Die arabische Revolte hatte eine entscheidende Wirkung auf den Zerfall der türkisch-deutschen Front im Nahen Osten, da es den Aufruf zum heiligen Krieg des osmanischen Kalifen zunichtemachte, was zu Niederlage zahlreicher türkischer Truppen in Syrien führte, ohne jetzt noch die Zerstörung der türkischen Armeen in Mesopotamien zu erörtern.
Aber wenn der britische Imperialismus den arabischen Aufstand gegen die Türkei dank dem Versprechen der Gründung eines arabischen Nationalstaats, der alle Provinzen des alten osmanischen Reichs (einschließlich Palästina) umfasste, hat er zu Schutz seiner eigenen Interessen den Gegenpart, die zionistischen Juden, ebenfalls unterstützt, indem er diesen versprach, auf der administrativen Ebene und bei der Kolonisierung ihnen Palästina zu überlassen.
Gleichzeitig fanden sie eine Übereinkunft mit dem französischen Imperialismus, um ihm Syrien zu überlassen. So trennten sie die Region, die zusammen mit Palästina eine unauflösbare historische und ökonomische Einheit bildet.
Im Brief vom 2. November 1917 von Lord Balfour an Rothschild, Präsident der Zionistischen Föderation in England, in dem er ihm die zustimmende Haltung der britischen Regierung zur Bildung einer Heimstätte für die jüdische Bevölkerung in Palästina mitteilte, und versprach, dass er all seine Anstrengungen für die Realisierung dieses Ziels einsetzen wolle. Zudem ergänzte Lord Balfour noch, dass nichts unternommen werde, was die zivilen Rechte und die Religion der nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina beinträchtige und auch nichts gegen die Rechte und den politischen Status der Juden, den sie in anderen Ländern genossen.
Trotz der Zweideutigkeit dieser Deklaration, die einem neuen Volk erlaubte, sich auf seinem Boden niederzulassen, nahm die gesamte arabische Bevölkerung anfänglich eine neutrale ja sogar befürwortende Haltung gegenüber einer jüdischen Heimstätte ein. Die arabischen Besitzer mit der Furcht vor einem neuen Landwirtschaftgesetz zeigten sich offen für einen Verkauf von Land. Die zionistischen Führer profitierten nur aus Rücksicht auf politische Überlegungen nicht von diesen Angeboten, und billigten sogar die Verteidigung der Allenby-Regierung in Bezug auf den Verkauf von Land.
Bald äußerten sich bei der Bourgeoisie Tendenzen, Palästina territorial und politisch zu besetzen, somit die autochthone Bevölkerung zu enteignen und in die Wüste zurückzuschicken. Diese Tendenz kam vor allem bei den revisionistischen Zionisten zum Vorschein, d.h. in der philofaschistischen Strömung innerhalb der nationalen jüdischen Bewegung.
Die Ackerfläche Palästinas beträgt etwa 12 Millionen "Dounams" (ein Dounam = ein Zehntel eines Hektars), von denen derzeit 5 bis 6 Millionen bewirtschaftet werden. So sahen die Niederlassungen der Juden in der landwirtschaftlich genutzten Fläche von Palästina seit 1899 aus:
1899: 22 Kolonien, 5000 Einwohner, 300.000 dounnams
1914: 43 Kolonien, 12’000 Einwohner, 400.010 dounnams
1922: 73 Kolonien, 15’000 Einwohner, 600.000 dounnams
1931: 160 Kolonien, 70’000 Einwohner, 11.200.000 dounnams
Um den realen Wert dieser Zunahme und des daraus resultierenden steigenden Einflusses zu bewerten, darf man nicht vergessen, dass die Araber immer noch in einer primitiven Art und Weise den Boden bewirtschaften, während die jüdischen Kolonisatoren die modernsten Methoden verwenden.
Das in die Landwirtschaftsbetriebe investierte jüdische Kapital beläuft sich auf mehrere Millionen Dollars, wovon 65 Prozent in die Plantagen einfließt. Obwohl die Juden nicht mehr als 14 Prozent des zu bewirtschaftenden Bodens besitzen, beträgt der Wert ihrer Produkte ein Viertel der Gesamtproduktion. Was die der Orangenplantagen anbetrifft beträgt der Anteil der jüdischen Ernte 55 Prozent des Gesamtertrags.
Die ersten arabischen Reaktionen beginnen im April 1920 in Jerusalem und im Mai 1921 in Jaffa und nehmen die Form von Pogromen an. Sir Herbert Samuel, bis 1925 Hochkommissar in Palästina versuchte die Araber zu beruhigen, indem er die jüdische Immigration stoppte. Gleichzeitig versprach er den Arabern eine repräsentative Regierung und übergab ihnen die besten Teile des staatlichen Bodens.
Nach der großen Einwanderungswelle von 1925, welche ihren Höhepunkt mit 33.000 Einwanderern erreichte, verschlechterte sich die Situation und es entstanden die Bewegungen vom August 1929. Zu diesem Zeitpunkt schlossen sich die beduinischen Stämme von Transjordanien, aufgerufen von der moslemischen Agitation, der palästinensisch arabischen Bevölkerung an.
Infolge dieser Ereignisse hat die parlamentarische Untersuchungskommission, die nach Palästina geschickt wurde, bekannt unter dem Namen Shaw-Kommission, festgestellt, dass diese Ereignisse aufgrund der jüdischen Arbeiter-Immigration und dem “Heißhunger” nach Boden entstanden waren. Die Kommission empfahl der Regierung den Kauf von Boden, um die Fellahs zu entschädigen, denen man den Boden entrissen hatte.
Als nach dem Mai 1930 die gesamte britische Regierung den Schlussfolgerungen der Shaw-Kommission folgte und erneut die jüdische Arbeiter-Einwanderung nach Palästina unterband, reagierte die jüdische Arbeiterbewegung – welche nicht einmal von der Shaw-Kommission angehört wurde – mit einem 24-stündigen Proteststreik, während gleichzeitig die Poalézion in allen Ländern und auch die großen jüdischen amerikanischen Gewerkschaften gegen diese Maßnahmen mit zahlreichen Versammlungen dagegen protestierten.
Im Oktober 1930 definierte eine neue Deklaration, bekannt unter dem Namen Weißbuch, die britische Politik in Palästina. Diese war der zionistischen These auch nicht sehr zugetan. Aber auf die immer größeren Proteste der Juden antwortete die Labour-Regierung im Februar 1931 mit einem Brief von MacDonald, welcher das Recht auf Arbeit, die Einwanderung und die Kolonisierung durch die Juden bestätigte und darüber hinaus den jüdischen Unternehmen erlaubte, jüdische Arbeitskräfte einzustellen, wenn diese den letzteren gegenüber den arabischen den Vorrang gaben – ohne über die eventuelle Arbeitslosigkeit bei den Arabern Rechenschaft abzulegen.
Die palästinensische Arbeiterbewegung beeilte sich, der britischen Arbeiterregierung Vertrauen zu schenken, währenddem alle anderen zionistischen Parteien in einer misstrauischen Oppositionshaltung verblieben.
Wir haben im vorhergehenden Artikel die Gründe des chauvinistischen Charakters der palästinensischen Arbeiterbewegung aufgezeigt.
Die Histadruth - die wichtigste palästinensische gewerkschaftliche Zentrale - hat nur Juden als Mitglieder (80 Prozent der jüdischen Arbeiter sind organisiert). Es ist nur die Notwendigkeit der Hebung des Lebensstandards der arabischen Massen, um die hohen Löhne der jüdischen Arbeitskraft zu schützen, die sie zum Versuch einer Organisierung der Araber veranlasste.
Der Generalstreik der Araber in Palästina kommt nun in seinen vierten Monat. Die Guerilla geht weiter, trotz dem kürzlich erlassenen Dekret, welches die Todesstrafe für Attentäter vorsieht. Jeden Tag finden Überfälle und Handstreiche gegen Züge und Autos statt, ohne die Zerstörungen und Brandanschläge auf jüdische Güter zu zählen.
Diese Vorkommnisse haben der Mandatsmacht schon fast eine halbe Million Pfund Sterling für das Stellen einer Armee und in der Folge der Verminderung von Steuereinnahmen aufgrund des ökonomischen Boykotts der arabischen Massen gekostet.
Erst kürzlich hat der Minister der Kolonien den Gemeinden eine Opferbilanz bekannt gegeben: 400 Moslems, 200 Juden und 100 Polizisten. Bis jetzt sind 1800 Araber und Juden vor dem Richter gestanden, davon wurden 1200 verurteilt, davon waren 300 Juden. Dem Minister zufolge sind ca. 100 arabische Nationalisten in Konzentrationslager deportiert worden. Vier Kommunistenführer (zwei jüdische und zwei armenische) sind gefangen und 60 Kommunisten sind der polizeilichen Überwachung unterstellt. Das sind die offiziellen Zahlen.
Es ist offensichtlich, dass die imperialistische britische Politik in Palästina sich natürlich an einer kolonialen Politik, die allen Imperialisten zu eigen ist, inspiriert. Diese besteht im Wesentlichen darin, sich auf gewisse Schichten der kolonialen Bevölkerung zu stützen (indem sie die verschiedenen Völker oder die verschiedenen Religionsanhänger gegeneinander aufhetzen, aber auch indem sie gewisse Missgunst zwischen den verschiedenen Clans und Führern säen), was dem Imperialismus erlaubt, seine Super-Unterdrückung auf die kolonialen Massen auszuüben, ohne Unterschied von Volks- und Religionszugehörigkeit.
In Marokko und in Zentralafrika sind diese Manöver zwar gelungen, der arabische Nationalismus in Palästina und Syrien stellt jedoch einen sehr kompakten Widerstand dar. Er stützt sich auf die mehr oder weniger unabhängigen Länder, die ihn umgeben ab: auf die Türkei, auf Persien und Ägypten, auf den Irak und Arabische Staaten. Er verbindet sich auch noch mit der Gesamtheit der moslemischen Welt, die mehrere Millionen Menschen zählt.
Trotz der Gegensätze, die unter den verschiedenen moslemischen Staaten bestehen und trotz der britisch-freundlichen Politik einiger von ihnen, wäre die Bildung eines östlichen Blocks, der sich dem Imperialismus entgegenstellte, die wirkliche Gefahr für ihn. Das wäre möglich, wenn das Erwachen und das Nationalgefühl der einheimischen Bourgeoisien das Erwachen der Klassenrevolte der kolonial Ausgebeuteten verhindern, die sowohl mit ihren Ausbeutern wie mit dem europäischen Imperialismus fertig werden müssen. Der Sammlungspunkt eines solchen Blocks wäre die Türkei, die wieder ihre Ansprüche auf die Dardanellen erhebt und ihre Panislamische Politik wiederaufnimmt.
Nun, Palästina ist lebenswichtig für den britischen Imperialismus. Wenn die Zionisten glaubten, sie bekämen ein “jüdisches” Palästina, werden sie in Wirklichkeit nichts anderes als ein “britisches” Palästina erhalten, eine palästinensische Transitverbindung auf dem Landweg zwischen Europa und Indien. Diese Verbindung könnte die maritime des Suezkanals ersetzen, da die Sicherheit dieses Weges von der Etablierung des italienischen Imperialismus in Äthiopien geschwächt wird. Man sollte nicht vergessen, dass die Pipeline von Mossoul (Ölförderungsgebiet) im palästinensischen Hafen von Haïfa endet.
Schließlich muss die britische Politik immer in Rechnung tragen, dass 100 Millionen Moslems das britische Empire bevölkern. Bis jetzt konnte der britische Imperialismus in Palästina die Gefahr der arabischen nationalen Unabgängigkeitsbewegung in Schach halten. Er stellte letzterem den Zionismus entgegen, der, indem er die jüdischen Massen drängte, nach Palästina auszuwandern, sie von ihren Stammländern, wo sie ihren Platz gefunden hätten, wegholte, und schließlich sich eine solide Unterstützung für seine Politik im Nahen Osten sicherte.
Die Enteignung der Ländereien zu lächerlichen Preisen hat die arabischen Proletarier in eine rabenschwarze Armut gestürzt und hat sie in die Arme der arabischen Nationalisten, der Grundstückbesitzer und der aufkommenden Bourgeoisie gestoßen. Letztere profitieren offensichtlich davon und um ihre Ausbeutungspläne auszuweiten, richten die Unzufriedenheit der Fellahs und der Proletarier auf die jüdischen Arbeiter in der gleichen Weise, wie die zionistischen Kapitalisten die Unzufriedenheit der jüdischen Arbeiten gegen die Araber richten. Aus diesen Gegensätzen der jüdischen und arabischen Ausgebeuteten, können der britische Imperialismus und die arabische und jüdische herrschende Klasse nur gestärkt hervorgehen.
Der „offizielle Kommunismus“ hilft den Arabern in ihrem Kampf gegen den Zionismus, der als Instrument des britischen Imperialismus qualifiziert wird.
Schon 1929 hat die nationalistische jüdische Presse eine schwarze Liste der Polizei herausgegeben, auf der die kommunistischen Agitatoren neben dem Großmufti und den nationalen arabischen Führern standen. Zurzeit sind viele kommunistische Militante verhaftet worden.
Nachdem die Losung der „Arabisierung“ der Partei herausgegeben wurde - diese war wie die KPs von Syrien oder von Ägypten von einer Gruppe jüdischer Intellektueller gegründet worden, die als opportunistisch bekämpft wurden – haben die Zentristen heute die Losung „Arabien den Arabern“ herausgegeben, was nur eine Kopie der Losung „Föderation aller arabischen Völker“ ist. Diese Devise der arabischen Nationalisten, d.h. der Grundstückbesitzer (Effendis) und der Intellektuellen, dient dazu, mit der Unterstützung des moslemischen Klerus, den arabischen Kongress im Namen ihrer Interessen zu beherrschen und die Reaktionen der arabischen Ausgebeuteten zu kanalisieren.
Für den wirklichen Revolutionär gibt es natürlich keine palästinensische Frage, sondern einzig der Kampf aller Ausgebeuteten, einschließlich Araber und Juden. Dieser Kampf ist Teil eines allgemeineren Kampfes aller Ausgebeuteten auf der Welt für die kommunistische Revolution.
Gatto Mammone
In einem vorangegangenen Artikel (Internationale Revue Nr. 30) sind wir auf die Debatte über die „proletarische Kultur“ in den ersten Jahren der Russischen Revolution eingegangen. Unser Artikel war gleichzeitig Einführung eines Auszuges aus Trotzkis Buch Literatur und Revolution, welches unserer Meinung nach den klarsten Rahmen zu dieser Debatte liefert, indem es die Politik einer proletarischen politischen Macht auf der Ebene der Kunst und Kultur beschreibt.
Die hier abgedruckten Auszüge, versehen mit unseren Gedanken dazu, stammen aus einem anderen Kapitel dieses Buches, in welchem Trotzki seine Vision von Kunst und Kultur in einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft entwickelt. Nachdem er den Begriff einer „proletarischen Kultur“ in den vorangegangenen Kapiteln seines Buches verworfen hat, erlaubt er sich nun einen Ausblick auf eine wirklich menschliche Kultur in einer klassenlosen Gesellschaft. Es ist ein Ausblick, der weit über die spezifischen Fragen der Kunst in die Sphären einer verwandelten Gesellschaft reicht.
Wir sind nicht die ersten oder einzigen, welche die Bedeutung dieses Buchkapitels hervorheben. Isaak Deutscher zitiert es ausführlich in seiner Trotzki-Biografie und schlussfolgert: „Seine Vision von der klassenlosen Gesellschaft lag natürlich allem marxistischen Denken zugrunde, das ja vom französischen utopischen Sozialismus beeinflusst war. Aber kein marxistischer Schriftsteller hat vor oder nach Trotzki die grosse Zukunft mit einem solch realistischen Blick und einer solch glühenden Phantasie erschaut.“ („Nicht von der Politik allein“ in Trotzki, Der unbewaffnete Prophet, Urban-Verlag, Seite 196)
Auch Richard Sites machte später in seiner umfassenden Studie über die sozial-experimentellen Strömungen, welche die ersten Jahre der Russischen Revolution begleiteten, eine Verbindung zwischen den Ansichten Trotzkis und der utopistischen Tradition. Das gesamte Kapitel in einem Satz zusammenfassend nennt er es „Die Mini-Utopie oder Hülle einer Welt unter dem Kommunismus“, welche nach seinen Worten von Trotzki mit einer „lyrischen Kontrolle“ beschrieben wurde. Für Sites war dies „ein aussergewöhnlicher Beitrag an den experimentellen Utopismus der die 20er Jahre kennzeichnete“ (Revolutionary Dreams, Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, OUP, 1989, Seite 168, übersetzt von uns). Doch hier gilt es vorsichtig zu sein: In seiner Einführung tendiert Sites dazu, die utopistische Tendenz der marxistischen entgegenzustellen, indem er Trotzkis Bemühungen als mehr utopistisch denn marxistisch darstellt. Für das konventionelle bürgerliche Denken ist der Marxismus utopisch – doch nur in einem negativen Sinn, dass diese Vision der Zukunft lediglich ein Phantasiegebilde sei. Doch nun möchten wir Trotzki zu Wort kommen lassen und wollen dann zu Ende des Artikel darüber nachdenken, ob seine Arbeit wirklich als utopisch abgetan werden kann.
Das Kapitel greift zu Beginn das wichtigste Argument aus dem Abschnitt über die proletarische Kultur auf: Das Ziel der proletarischen Revolution ist nicht die Schaffung einer brandneuen „proletarischen Kultur“ sondern ein Zusammenfügen aller positiven Aspekte vergangener kultureller Bemühungen in eine wirklich menschliche Kultur. Trotzkis Unterscheidung zwischen revolutionärer Kunst und sozialistischer Kunst verdeutlicht diese Präzisierung:
„Die Kunst der Revolution, die unausweichlich aller Widersprüche der Übergangsgesellschaft wiederspiegelt, darf man nicht mit der sozialistischen Kultur verwechseln, für die eine Basis noch gar nicht geschaffen ist. Andererseits darf man nicht vergessen, dass die sozialistische Kunst aus der Kunst der Übergangszeit erwachsen wird.
Wenn wir auf dieser Unterscheidung bestehen, dann lassen wir uns keinesfalls von irgendwelchen pedantischen schematischen Überlegungen leiten. Nicht ohne Grund hat Engels die sozialistische Revolution einen Sprung aus dem Reich des Zwanges in das Reich der Freiheit genannt. Die Revolution selbst ist noch kein „Reich der Freiheit“. Im Gegenteil, die Züge des „Zwanges“ erlangen in ihr die extremste Entwicklung. Während der Sozialismus zusammen mit den Klassen auch die Klassengesellschaft beseitigt, treibt die Revolution den Klassenkampf bis zur höchsten Intensität. In der Zeit der Revolution ist diejenige Literatur notwendig und fortschrittlich, die den Zusammenschluss der Werktätigen im Kampf gegen die Ausbeuter fördert. Die Revolutionsliteratur muss vom Geist des sozialen Hasses durchdrungen sein, der in der Epoche der proletarischen Diktatur ein schöpferischer Faktor in der Hand der Geschichte ist. Im Sozialismus ist die Solidarität die Grundlage der Gesellschaft. Die ganze Literatur, die ganze Kunst werden auf einen anderen Grundton abgestimmt sein. Diejenigen Gefühle, die wir Revolutionäre nur unter Hemmungen beim Namen nennen – weil diese Namen von scheinheiligen und trivialen Menschen so sehr missbraucht wurden: uneigennützige Freundschaft, Nächstenliebe, herzliche Teilnahme – werden in der sozialistischen Poesie in mächtigen Akkorden aufklingen.“ (Trotzki, Literatur und Revolution, Arbeiterpresseverlag 1994, Seite 227)
Zusammen mit Rosa Luxemburg stellen wir Trotzkis Formulierung des „sozialen Hasses“ in Frage, selbst in der Periode der proletarischen Diktatur. Dieser Ausdruck ist verbunden mit dem Konzept des Roten Terrors, das Trotzki ebenfalls vertrat, vom Spartakusbund jedoch in seinem Programm explizit verworfen wurde.1 .
Doch es gibt keinen Zweifel, dass „Solidarität die Grundlage der Gesellschaft“ im Sozialismus sein wird. Dies führte Trotzki zur Widerlegung des Argumentes, ein solcher „Ausbruch von Solidarität“ stünde im Widerspruch zur künstlerischen Kreativität: „Birgt aber vielleicht, wie die Nietzscheaner befürchten, ein Übermass an Solidarität die Gefahr einer Entartung des Menschen zu einem sentimental passiven Herdenwesen in sich? Keineswegs. Die mächtige Kraft des Wettstreits, die in der bürgerlichen Gesellschaft den Charakter eines Marktwettbewerbs hatte, wird in der sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht verschwinden, sondern, um in der Sprache der Psychoanalyse zu sprechen, sublimiert, d.h. eine höhere und produktivere Form annehmen: Sie wird zu einem Kampf um die eigene Meinung, den eigenen Entwurf und um den eigenen Geschmack werden. Je mehr der politische Kampf abebbt – und in einer klassenlosen Gesellschaft wird es ihn nicht mehr geben – desto mehr werden die befreiten Leidenschaften in den Strom der Technik und des Aufbaus einschliesslich der Kunst gelenkt werden, die natürlich allgemeiner, reifer und bewusster sowie zur höchsten Form des sich vervollkommnenden Lebensaufbaus auf allen Gebieten wird und nicht nur ein „schönes“ Anhängsel am Rande.
Alle Sphären des Lebens: die Bodenbearbeitung, die Planung menschlicher Siedlungen, der Bau von Theatern, die Methoden der gesellschaftlichen Kindererziehung, die Lösung wissenschaftlicher Probleme, die Schaffung eines neuen Stils werden alle und jeden einzelnen zutiefst erfassen. Die Menschen werden sich in „Parteien“ teilen: in Fragen über einen neuen gigantischen Kanal, über die Verteilung von Oasen in der Sahara – auch eine solche Frage wird auftauchen – über Klima- und Wetterregulierung, über das neue Theater, über eine chemische Hypothese, über zwei in der Musik sich bekämpfende Richtungen oder über das beste System des Sports. Diese Gruppen werden von keinerlei Klassen- oder Kasteneigennutz vergiftet sein. Alle werden in gleichem Masse an den Errungenschaften der Gesamtheit interessiert sein. Der Kampf wird stets einen rein ideellen Charakter tragen. Er wird nichts von Profitgier, Gemeinheit, Verrat, Bestechlichkeit und von all dem an sich haben, was das Wesen der „Konkurrenz“ in der Klassengesellschaft ausmacht. Aber dadurch wird der Kampf nicht minder packend, dramatisch und leidenschaftlich sein. Da aber in der sozialistischen Gesellschaft alle Probleme – darunter auch diejenigen, die früher elementar und automatisch gelöst wurden (Alltagsleben) oder sich in der Obhut besonderer Priesterkasten befanden (Kunst) – Allgemeingut werden, so kann man mit voller Gewissheit sagen, dass es für kollektive Interessen und Leidenschaften und für den individuellen Wettbewerb ein äusserst weites Feld und eine unbegrenzte Anzahl von Anlässen geben wird. Die Kunst wird dementsprechend keinen Mangel an Entladungen der gesellschaftlichen Nervenenergie und an jenen kollektiv-psychischen Impulsen haben, die zur Ausbildung neuer Kunstrichtungen und zu Stilwechsel zwingen. Die ästhetischen Schulen werden ihrerseits „Parteien“ um sich gruppieren, d.h. nach Temperament, Geschmack und Geistesrichtung sich unterscheidende Gruppen. In diesem selbstlosen, angespannten Kampf auf einem ständig höher werdenden Fundament der Kultur wird die menschliche Persönlichkeit mit ihrer unschätzbaren Eigenschaft, sich nie mit dem Erreichten zu begnügen, wachsen und alle Kanten abschleifen. Wahrlich, wir haben keinen Grund, uns vor einer Einschläferung der Persönlichkeit oder Verarmung der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft zu fürchten.“ (ebenda, Seite 228)
Trotzki untersucht danach, welcher Kunststil oder Schule der revolutionären Periode am nächsten steht. In einem gewissen Masse haben diese Überlegungen eine eher lokale und zeitlich begrenzte Bedeutung, da sie sich auf Kunstströmungen beziehen, welche schon lange verschwunden sind, wie der Symbolismus oder der Futurismus. Zudem sind mit dem stetigen Versinken des Kapitalismus in seine dekadente Phase und der Zuspitzung der Kommerzialisierung, des Egoismus und der Atomisierung verschiedenste Kunstströmungen und Schulen verschwunden. In den 30er Jahren schon hatte das „Manifest der internationalen futuristischen Künstler und revolutionären Schriftsteller“, von Trotzki in Zusammenarbeit mit André Breton und Diego Riviera geschrieben, diese Entwicklung vorausgesagt: „Die Kunstschulen der letzten Jahrzehnte, der Kubismus, der Futurismus, der Dadaismus und der Surrealismus haben sich alle abgelöst ohne dass eine zur vollen Blüte kam (...) Es gibt keinen Ausweg aus dieser Sackgasse nur mit künstlerischen Mitteln. es handelt sich um eine Krise der Zivilisation. (...) Wenn sich die gegenwärtige Gesellschaft nicht wieder aufrichten kann geht die Kunst unweigerlich zugrunde, so wie die Kunst Griechenlands unter den Ruinen der Sklavengesellschaft untergegangen ist.“ (von uns übersetzt) Eine zukünftige Revolution wird mit grosser Wahrscheinlichkeit an die kollektivsten künstlerischen Bewegungen, welche sich mit der Revolution identifizieren und von den Schulen der Vergangenheit inspiriert sind ohne sie lediglich zu kopieren, einen neuen Impuls weitergeben. Es gilt noch anzufügen, dass Trotzki, der sich zur Beschreibung der Kunst in der revolutionären Periode für den Begriff „Realismus“ entschied, jedoch keinesfalls die positiven Beiträge verschiedener Schulen zurückwies, auch wenn sich deren Anliegen – wie im Falle des Symbolismus – weit von den sozialen Grundlagen des Alltags wegbewegten oder eher eine Flucht vor der Realität darstellten:2 „Im Gegenteil, der neue Künstler verwendet alle Methoden und Prozesse, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, um das neue Leben zu erfassen. Dies ist kein künstlerischer Eklektizismus, denn die Einheit der Kunst wird durch eine aktive Wahrnehmung der Welt und des Lebens gebildet.“
Dies steht in Verbindung mit Trotzkis genereller Sichtweise zur Kultur, die wir im vorgängigen Artikel (Internationale Revue Nr. 30) beschrieben haben, welche sich gegen den Pseudo-Radikalismus wandte, der alles aus der Vergangenheit über Bord werfen will.
Trotzki verwendete dieselbe Methode bezüglich des Problems der grundlegenden literarischen Formen wie der Komödie und der Tragödie. Entgegen denjenigen, welche der Komödie und der Tragödie keinerlei Platz in der Kunst der Zukunft einräumten, liefert uns Trotzki eine Methode, um zu sehen, an was bestimmte kulturelle Errungenschaften in der geschichtlichen Evolution der sozialen Formationen gebunden sind. Die antike griechische Tragödie einerseits drückte die unpersönliche Dominanz der Götter über die Menschen aus, welche damit die relative Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Natur in den archaischen Gesellschaften widerspiegelte. Die Tragödie Shakespears andererseits, welche tief gebunden war an die Geburtswehen der bürgerlichen Gesellschaft, stellte einen Schritt vorwärts dar, weil sie sich auf individuellere menschliche Emotionen konzentrierte: „Als die bürgerliche Gesellschaft die Beziehungen atomisierte, hatte sie zur Zeit ihres Aufstiegs ein grosses Ziel, das Befreiung der Persönlichkeit hiess. Aus ihm wuchsen die Dramen Shakespears und Goethes „Faust“. Der Mensch betrachtet sich als Mittelpunkt des Weltalls und damit auch der Kunst. Dieses Thema reichte für Jahrhunderte. Im Wesentlichen war die ganze neue Literatur der Durcharbeitung dieses Themas gewidmet, aber das ursprüngliche Ziel – die Befreiung der Persönlichkeit und ihre Qualifizierung – verblasste und wurde auf das Gebiet der neuen entseelten Mythologie in dem Masse abgedrängt, in dem die Haltlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft sich durch ihre unerträglichen Widersprüche offenbarte.“ (ebenda, Seite 240)
Trotzki zeigt danach auf, dass die Bedingungen, welche die Tragödie entstehen liessen, nicht an die Vergangenheit gebunden sind, sondern noch lange in der Zukunft weiterexistieren werden. Denn der Mensch ist (wie Marx es formulierte) im Grunde genommen ein leidendes Wesen, welches andauernd konfrontiert ist mit dem Konflikt zwischen seinen unbegrenzten Anstrengungen und dem objektiven Universum, das ihn herausfordert: „Der Zusammenprall des Persönlichen mit dem Überpersönlichen ist jedoch nicht nur auf religiöser Basis und nicht nur auf der Grundlage einer über den Menschen hinauswachsenden menschlichen Leidenschaft möglich. Das Überpersönliche ist vor allen Dingen das Gesellschaftliche. Solange der Mensch seine gesellschaftliche Organisation nicht meistert, erhebt sie sich über ihn als Schicksal. Ob sie hierbei ihren religiösen Hintergrund abwirft oder nicht, sie bleibt auf jeden Fall eine zweitrangige Angelegenheit, die vom Grad der Hilflosigkeit des Menschen abhängt. Der Kampf Babeufs für den Kommunismus in einer Gesellschaft, die für ihn noch nicht reif war, war der Kampf eines antiken Helden gegen das Schicksal. Das Schicksal Babeufs hat alle Male einer echten Tragödie ebenso wie das Schicksal jener Gracchen, deren Namen sich Babeuf beigelegt hatte. Die Tragödie isolierter persönlicher Leidenschaften ist für unsere Zeit zu fade. Aber weshalb? Weil wir in einer Epoche der sozialen Leidenschaften leben. Die Tragödie unserer Epoche ist der Zusammenstoss der Persönlichkeit mit dem Kollektiv oder der Zusammenprall zweier feindlicher Kollektive in einer Persönlichkeit.
Unsere Zeit ist wieder eine Zeit der grossen Ziele. Durch sie ist sie geprägt. Aber die Grösse dieser Ziele liegt eben darin, dass der Mensch danach strebt, sich vom Mystischen und allerlei sonstigem ideellen Nebel zu befreien, seine Gesellschaft und sich selbst nach einem Plan umzubauen, den er selbst geschaffen hat. Das ist natürlich gewaltiger als das kindliche Spiel in der Antike, das ihrem kindlichen Alter zu Gesicht stand, oder als die Mönchsphantasien des Mittelalters oder der Hochmut des Individualismus, der die Persönlichkeit vom Kollektiv trennt, um sie dann, nachdem sie rasch bis auf den letzten Grund ausgeschöpft war, in die Leere des Pessimismus zu stossen oder sie erneut vor dem leicht aufgefrischten Apis-Stier auf alle viere niederzuwerfen.
Die Tragödie stellt daher eine hohe Form der Literatur dar, weil sie eine heroische Spannung der Bestrebungen und eine Begrenztheit der Ziele, Konflikte und Leiden voraussetzt. (...) Ob die Kunst der Revolution Zeit haben wird, eine „hohe“ revolutionäre Tragödie zu geben, ist schwer vorauszusehen. Aber die sozialistische Kunst wird die Tragödie wiederauferstehen lassen. Und natürlich ohne Gott. Die neue Kunst wird eine atheistische Kunst sein. Sie wird auch die Komödie zu neuem Leben erwecken, denn der neue Mensch wird auch lachen wollen. Sie wird dem Roman eine neues Leben einflössen. Sie wird der Lyrik alle Rechte einräumen, weil der neue Mensch besser und stärker lieben wird, als es die Menschen früher getan haben, und weil er sich über die Probleme von Geburt und Tod Gedanken machen wird.
Die neue Kunst wird alle alten, von der Entwicklung des schöpferischen Geistes geschaffenen Formen wiederauferstehen lassen. Die Zersetzung und der Zerfall dieser Formen haben keineswegs absolute Bedeutung, d.h. sie bedeuten nicht, dass sie mit dem Geist der neuen Zeit absolut unvereinbar wäre. Der Dichter der neuen Epoche muss nur die menschlichen Gedanken auf eine neue Art durchdenken und die menschlichen Gefühle neu durchleben.“ (ebenda Seite 240-242)
Vor allem sticht in diesem Abschnitt hervor, dass Trotzki fast dieselbe Herangehensweise entwickelt wie Marx in den Grundrissen – das Vorwerk zum Kapital, welches bis 1939 unveröffentlicht blieb und von Trotzki vermutlich nie gelesen wurde. Wie Trotzki geht es Marx um die Dialektik in den Veränderungen der Form des künstlerischen Ausdrucks, in Verbindung mit der materiellen Entwicklung der Produktivkräfte und den darin liegenden menschlichen Werten. Diese Passage ist dermassen klärend, dass wir sie in ihrer ganzen Länge zitieren: „Bei der Kunst bekannt, dass bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage, gleichsam des Knochenbaus ihrer Organisation, stehn. Z.B. die Griechen verglichen mit den Modernen oder auch Shakespare. Von gewissen Formen der Kunst, z.B. dem Epos, sogar anerkannt, dass sie in ihrer weltepochemachenden, klassischen Gestalt nie produziert werden können, sobald die Kunstproduktion als solche eintritt; also dass innerhalb des Bereichs der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickelten Stufe möglich sind. Wenn dies im Verhältnis der verschiedenen Kunstarten innerhalb des Bereichs der Kunst selbst der Fall ist, ist es schon weniger auffallend, dass es in Verhältnis des ganzen Bereichs der Kunst zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft der Fall ist. Die Schwierigkeit besteht nur in der allgemeinen Fassung dieser Widersprüche. Sobald sie spezifiziert werden, sind sie schon erklärt.
Nehmen wir z.B. das Verhältnis der griechischen Kunst und dann Shakespeares zur Gegenwart. Bekannt, dass die griechische Mythologie nicht nur das Arsenal der griechischen Kunst, sondern ihr Boden. Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie, und daher der griechischen Kunst zugrunde liegt, möglich mit selfactors (automatische Spinnmaschinen) und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen? Wo bleibt Vulcan gegen Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier (französische Aktienbank)? Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben. Was wird aus der Fama neben Printinghouse square? Die griechische Kunst setzt die griechische Mythologie voraus, d.h., die Natur und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewusst künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie. Das ist ihr Material. Nicht jede beliebige Mythologie, d.h. nicht jede beliebige unbewusst künstlerische Verarbeitung der Natur (hier darunter alles Gegenständliche, also die Gesellschaft eingeschlossen). Ägyptische Mythologie konnte nie der Boden oder der Mutterschoss griechischer Kunst sein. Aber jedenfalls eine Mythologie. Also keinesfalls eine Gesellschaftsentwicklung, die alles mythologische Verhältnis zur Natur ausschliesst, alles mythologisierende Verhältnis zu ihr; also vom Künstler eine von Mythologie abhängige Phantasie verlangt.
Von einer andren Seite: Ist Achilles möglich mit Pulver oder Blei? Oder überhaupt die „Iliade“ mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Pressbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?
Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehn, dass griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, dass sie uns noch Kunstgenuss gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.
Ein Mann kann nicht wieder zum Kind werden, oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivität des Kindes nicht, und muss er nicht selbst wieder auf einer höhern Stufe streben, seine Wahrheit reproduzieren? Lebt in der Kindernatur nicht in jeder Epoche ihr eigener Charakter in seiner Naturwahrheit auf? Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehörten in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, dass die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstanden und alleine entstehen konnte, nie wiederkehren können.“ (Einleitung zu den Grundrissen, MEW Bd. 42, Seite 43-45)
In beiden Abschnitten ist der Ausgangspunkt derselbe: um jede einzelne Kunst verstehen zu können, muss sie in ihrem historischen Kontext verstanden werden, und dabei im Kontext der Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte. Nur dies erlaubt uns, die grundlegenden Wechsel, welche die Kunst während der verschiedenen historischen Perioden gekannt hat zu verstehen. So wie Trotzki beschreibt, dass die Dimension der Tragik nie gänzlich aus der Kunst ausgeschlossen sein wird, da der menschlichen Umgebung nie gänzlich fern, stellt Marx fest, dass die wirkliche theoretische Herausforderung weniger in der Feststellung liegt, künstlerische Ausdrücke stünden im Zusammenhang mit der sozialen Entwicklung, sondern viel mehr im Verständnis, weshalb die kreativen Schöpfungen der „Kindheit der Menschheit“ noch über Jahrhunderte für die gegenwärtige und zukünftige Menschheit nachhallen können. Mit anderen Worten: wie ausser mit Bezugnahme auf das „stumme Genie“ Feuerbachs oder die idealistische Art der bürgerlichen Moralisten, kann uns das Studium der Kunst helfen, die wirklichen grundlegenden Charakteristiken der menschlichen Aktivität und des menschlichen Wesens als solches zu begreifen?
Trotzki wendet sich nun dem praktischen Verhältnis zwischen Kunst, Industrie und Bau in der revolutionären Periode zu. Er konzentriert sich vor allem auf das Feld der Architektur, den Überschneidungspunkt zwischen Kunst und Bau. Sicherlich, auf dieser Ebene war das von Armut geplagte Russland immer noch dazu verdammt, zerstörte Gebäude und Strassen wieder aufzubauen. Doch trotz der extrem knappen Ressourcen konnte das revolutionäre Russland eine neue Synthese von Kunst und praktischen Gebäuden entwickeln. Dies war vor allem der Fall mit der konstruktivistischen Schule um Tatlin, welcher vermutlich am besten bekannt ist durch seinen Entwurf des Monuments der Dritten Internationale. Doch Trotzki schien unzufrieden mit diesen Experimenten und unterstrich, dass kein wirklicher Wideraufbau stattfinden könne, solange die grundlegenden ökonomischen Probleme nicht gelöst seien (und dies konnte sicher nicht in Russland alleine geschehen). Er engagierte sich eher darin, zu untersuchen, welche Möglichkeiten dem zukünftige Kommunismus zur Verfügung stehen, wenn einmal die grundlegenden politischen, militärischen und ökonomischen Probleme gelöst sind. Für Trotzki war dies ein Projekt, welches nicht eine Minderheit von Spezialisten umfassen sollte, sondern eine Kollektive Anstrengung sein musste: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass in der Zukunft – und je weiter um so mehr – derartige monumentale Aufgaben wie die Planung neuer Garten-Städte, vorbildlicher Häuser, Eisenbahnen und Häfen – nicht nur die am Wettbewerb beteiligten Ingenieure und Architekten, sondern auch die breiten Volksmassen mitreissen werden. Das ameisenartige Durcheinander von Stadtvierteln und Strassen wird Steinchen für Steinchen unmerkbar von Geschlecht zu Geschlecht ersetzt durch den titanischen Bau von Dorf-Städten, nach der Karte und mit dem Zirkel. Um diesen Zirkel werden sich echte Volksgruppen dafür und dagegen bilden, eigenartige bautechnische Parteien der Zukunft, mit Agitation, mit Leidenschaften, Meetings, Abstimmungen. In diesem Kampf wird die Architektur von neuem, aber schon auf höherer Ebene, von den Gefühlen und Stimmungen der Massen durchdrungen sein, und die Menschheit wird sich plastisch erziehen, d.h. sie wird sich daran gewöhnen, die Welt als gefügigen Ton zum formen immer vollkommenerer Lebensformen zu betrachten. Die Wand zwischen Kunst und Industrie wird fallen. Der zukünftige hohe Stil wird kein verzierender, sondern ein gestaltender sein. Darin haben die Futuristen recht. Es wäre allerdings ein Fehler, wollte man dies als eine Liquidierung der Kunst, als ihre Selbstaufgabe vor der Technik auslegen.(...) Bedeutet dies etwa, dass die Industrie die Kunst ganz in sich aufsaugen oder dass die Kunst die Industrie zu sich auf den Olymp emporheben wird? Diese Frage kann man so und anders beantworten, je nachdem, ob wir von der Industrie oder von der Kunst her an sie herangehen. Aber im objektiven Endergebnis wird es zwischen den antworten keinen Unterschied geben. Beide bedeuten eine gigantische Erweiterung der Sphäre und eine nicht weniger gigantische Steigerung der künstlerischen Qualifikation der Industrie, wobei wir damit ausnahmslos die gesamte produktive Tätigkeit des Menschen meinen: Die mechanisierte und elektrifizierte Landwirtschaft wird ein Teil dieser Industrie werden. (ebenda, Seite 245-247)
Hier liefert uns Trotzki eine Konkretisierung der Vision von Marx in den Ökonomischen und philosophischen Manuskripten: Der Mensch, befreit von der entfremdeten Arbeit, wird eine Welt „im Einklang mit den Gesetzen der Schönheit“ schaffen.3
Trotzki beginnt danach seine Vision zu beschreiben und erlaubt sich eine sehr malerische Darstellung der Städte und Landschaften der Zukunft: „Aber nicht nur zwischen der Kunst und der Industrie wird die Trennwand fallen, sondern gleichzeitig auch zwischen der Kunst und der Natur. Nicht in jenem Rousseauschen Sinne, dass die Kunst sich dem Naturzustand nähern wird, sondern im Gegenteil, dass die Natur „künstlicher“ werden wird. Die gegenwärtige Verteilung von Berg und Tal, von Feldern und Wiesen, Steppen, Wäldern und Meeresküsten darf man keinesfalls als endgültig bezeichnen. Gewisse Veränderungen – und nicht einmal geringe – hat der Mensch bereits im Bild der Natur hervorgebracht; aber das sind im Vergleich zu dem, was noch kommen wird, nur schülerhafte Experimente. Wenn der Glaube nur versprach, Berge zu versetzen, so ist die Technik, die nichts „auf Treu und Glauben“ hinnimmt, wirklich imstande, Berge abzutragen und sie zu versetzen. Bis jetzt machte man das zu industriellen Zwecken (Bergwerke) oder für Verkehrszwecke (Tunnels); in Zukunft wird das in unvergleichlich grösserem Ausmass geschehen, je nach den Erfordernissen des gesamten Produktions- und Kunstplans. Der Mensch wird sich mit der Neuregistrierung der Berge und Flüsse befassen und die Natur überhaupt ernstlich verändern. Schliesslich wird er die Erde, wenn auch nicht nach seinem Vor- und Ebenbild, so doch nach seinem Geschmack umbauen. Wir haben keinen Grund zu der Befürchtung, dass dieser Geschmack ein schlechter sein wird.
Der eifersüchtige und scheeläugige Kljujew hat in seinem Streit mit Majakowski behauptet, dass es „einem Liedschöpfer nicht anstände, sich um Hebekräne zu kümmern“ und dass „in des Herzens Hochöfen (und nicht in irgendwelchen anderen) des Lebens rotes Gold geschmolzen“ wird. In diesen Streit hat sich Iwanow-Rasumnik eingemischt: ein Narodnik, der auch linker Sozialrevolutionär gewesen ist – womit alles gesagt ist. Die Poesie des Hammers und der Maschine, in deren Namen angeblich Majakowski auftritt, erklärt Iwanow-Rasumnik als eine vergängliche Episode, die Poesie der „nicht handgemachten Erde“ dagegen als „die ewige Poesie der Welt“. Erde und Maschine werden einander als ewiger und unvergänglicher Quell der Poesie gegenübergestellt, und selbstverständlich gibt der immanente Idealist, der vorsichtige und fade Halbmystiker Rasumnik dem Ewigen den Vorzug vor dem Vergänglichen. In Wirklichkeit ist aber dieser Dualismus von Erde und Maschine falsch: Gegenüberstellen kann man dem rückständigen Bauernacker eine Weizenfabrik, sei es eine Plantage oder ein sozialistischer Betrieb. Die Poesie der Erde ist nicht ewig, sondern veränderlich, und der Mensch hat erst dann angefangen, artikulierte Lieder von sich zu geben, als er zwischen sich und die Erde Werkzeuge und Geräte, die ersten ganz primitiven Maschinen gestellt hat. Ohne den Hackenpflug, die Sichel und die Sense gibt es keinen Kolzow. Bedeutet das etwa, das die Erde des Hakenpflugs vor der Erde mit dem Elektropflug den Vorzug der Ewigkeit hat? Der neue Mensch, der sich erst jetzt projektiert und verwirklicht, wird nicht wie Kljujew, und nach diesem auch Rasumnik, die Auerhahnbalz und das Netz für den Stör dem Hebekran und dem Dampfhammer gegenüberstellen. Der sozialistische Mensch will und wird die Natur in ihrem ganzen Umfang einschliesslich der Auerhähne und der Störe mit Hilfe von Maschinen beherrschen. Er wird beiden ihren Platz anweisen, und zeigen wo sie weichen müssen. Er wird die Richtung der Flüsse ändern und den Ozeanen Regeln vorschreiben. Die idealistischen Tröpfe mögen glauben, dies werde langweilig werden – aber dafür sind sie eben Tröpfe. Natürlich wird dies nicht bedeuten, dass der ganze Erdball in Planquadrate eingeteilt wird und das die Wälder sich in Parks und Gärten verwandeln. Wildnis und Wald, Auerhähne und Tiger wird es wahrscheinlich auch dann noch geben, aber nur dort, wo ihnen der Mensch den Platz anweist. Und er wird dies so gescheit einrichten, dass selbst der Tiger den Baukran nicht bemerken und melancholisch werden, sondern wie in Urzeiten weiterleben wird. Die Maschine ist auf allen Lebensgebieten ein Werkzeug des modernen Menschen. Die gegenwärtige Stadt ist vergänglich, aber sie wird sich nicht in dem alten Dorf auflösen. Im Gegenteil, das Dorf wird sich grundsätzlich zur Stadt erheben. Das ist die Hauptaufgabe. Die Stadt ist vergänglich; aber sie kennzeichnet die Zukunft und weist ihr den Weg, während das gegenwärtige Dorf völlig in der Vergangenheit ruht.“ (ebenda, Seite 247-249)
In diesem Abschnitt findet sich eine scharfsichtige Zurückweisung der heutigen Primitivisten, welche die „Technologie“ für all die Krankheiten des sozialen Lebens verantwortlich machen und versuchen, zu einem idyllischen Traum von Einfachheit zurückzukehren, wie bevor die Schlange der Technologie in den Garten eingedrungen sei. Wie wir schon in anderen Artikeln gezeigt haben (siehe Internationale Revue, Nr. 13, Der Kapitalismus vergiftet die Erde), bedeutet eine solche Auffassung in Wirklichkeit einen Schritt zurück zu einer vor-menschlichen Vergangenheit und damit der Eliminierung der Menschheit. Trotzki zweifelt nicht an der Stadt als Wegweiser. Doch nicht in ihrer heutigen Form. Da er die heutige Stadt als ein Übergangsphänomen anerkennt, sind wir überzeugt, dass er sich voll und ganz in Übereinstimmung mit Marx und Engels Vorstellungen einer neuen Synthese zwischen Stadt und Land befindet. Und diese Vorstellungen haben nichts am Hut mit der zerstörerischen Verstädterung des Globus, die der Kapitalismus der Menschheit heute aufbürdet. Trotzki sieht den Schutz der Wildnis als Teil des Planes zur Verwaltung des Planeten. Heute zeigt die Verschmutzung der Umwelt, und nicht zuletzt die Bedrohung durch die Zerstörung der grossen Waldgebiete, noch mehr als in den Zeiten Trotzkis auf, wie lebenswichtig ein solcher Schutz ist. Heute sind wir mit der reellen Gefahr konfrontiert, dass es keine Tiger oder Wälder mehr zu beschützen gibt und die proletarische Macht der Zukunft wir sofort drakonische Massnahmen ergreifen müssen, um dem ökologischen Holocaust ein Ende zu bereiten. Doch gibt es keinerlei Zweifel: Die kommunistische Erholung der Natur wird auf der Basis der wichtigsten Fortschritte in Wissenschaft und Technik beruhen.
Trotzki wendet sich nun der Organisierung des Alltagslebens im Kommunismus zu: „Wovon heutzutage einzelne Enthusiasten nicht immer sehr gescheit träumen – hinsichtlich der Theatralisierung des Alltags und der Rhythmisierung des Menschen selbst – das fügt sich gut und nahtlos in diese Perspektive ein. Der Mensch wird, wenn er seine Wirtschaftsordnung rationalisiert, d. h. mit Bewusstsein erfüllt und seinem Vorhaben unterworfen hat, in seinem gegenwärtigen trägen und durch und durch verfaulten häuslichen Alltag keinen Stein auf dem anderen lassen. Die zentnerschwer auf der heutigen Familie lastenden Sorgen um die Ernährung und Erziehung werden von ihr genommen und Gegenstand der öffentlichen Initiative und des unerschöpflichen kollektiven Schaffens werden. Die Frau wird endlich aus dem Zustand der Halbsklaverei befreit werden. Neben der Technik wird die Pädagogik – im breitesten Sinn der psychophysischen Formung neuer Generationen – zur Beherrscherin der öffentlichen Meinung werden. Die pädagogischen Systeme werden mächtige „Parteien“ um sich scharen. Die sozialerzieherischen Experimente und der Wettbewerb verschiedener Methoden werden eine Entfaltung erfahren, von der man heute noch nicht einmal träumen kann. Die kommunistische Daseinsform wird nicht wie ein Korallenriff zufällig entstehen, sondern bewusst aufgebaut, durch die Idee überprüft, ausgerichtet und korrigiert werden. Wenn das Dasein aufhört, eine Elementargewalt zu sein, wird es aufhören schal zu sein. Der Mensch, der es gelernt hat, Flüsse und Berge zu versetzen und Volkspaläste auf den Gipfel des Montblanc oder auf dem Meeresgrund des atlantischen Ozeans zu bauen, wird seinem Alltag natürlich nicht nur Reichtum, Farbigkeit und Spannung verleihen, sondern auch höchste Dynamik. Die Hülle des Alltags wird – kaum entstanden – unter dem Ansturm neuer technischer und kultureller Erfindungen und Errungenschaften wieder gesprengt werden. Das Leben der Zukunft wird nicht eintönig sein.“ (ebenda, Seite 249-250)
Im letzten Abschnitt des Buches erreicht Trotzkis Vision ihren Höhepunkt, wenn er sich von den Berggipfeln hinab begibt in die menschliche Psyche: „Mehr noch. Der Mensch wird endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. Er wird es sich zur Aufgabe machen, der Bewegung seiner eigenen Organe – bei der Arbeit, beim Gehen oder im Spiel – höchste Klarheit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit und damit Schönheit zu verleihen. Er wird den Willen verspüren, die halbbewussten und später auch die unterbewussten Prozesse im eigenen Organismus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern, und wird sie in den erforderlichen Grenzen der Kontrolle durch Vernunft und Willen unterwerfen. Das Leben, selbst das rein psychologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte Homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und – unter seinen eigenen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychophysischen Trainings werden. Das liegt vollkommen auf der Linie seiner Entwicklung. Der Mensch hat zuerst die dunklen Elementargewalten aus der Produktion und der Ideologie vertrieben, indem er die barbarische Routine durch wissenschaftliche Technik und die Religion durch Wissenschaft verdrängte. Dann hat er das Unbewusste aus der Politik vertrieben, indem er die Monarchie und die Stände durch die Demokratie und durch den rationalistischen Parlamentarismus und schliesslich durch die kristallklare Sowjetdiktatur ersetzte. Am schlimmsten hat sich die blinde Naturgewalt in den Wirtschaftsbeziehungen festgesetzt – aber auch dort vertreibt sie der Mensch durch die sozialistische Organisation der Wirtschaft. Dadurch wird ein grundlegender Umbau des traditionellen Familienlebens ermöglicht. Im tiefsten und finstersten Winkel des Unbewussten, Elementaren und Untergründigen hat sich die Natur des Menschen selbst verborgen. Ist es denn nicht klar, dass die grössten Anstrengungen des forschenden Gedankens und der schöpferischen Initiative darauf gerichtet sein werden? Das Menschengeschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen Vieren zu kriechen, um vor den finsteren Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! Der befreite Mensch wird ein grösseres Gleichgewicht in der Arbeit seiner Organe erreichen wollen, eine gleichmässigere Entwicklung und Abnutzung seiner Gewebe, um schon allein dadurch die Angst vor dem Tode in die Grenzen einer zweckmässigen Reaktion des Organismus auf Gefahren zu verweisen, weil es gar keinen Zweifel daran geben kann, dass gerade die äusserste Disharmonie des Menschen – die anatomische wie die psychologische – die ausserordentliche Unausgeglichenheit der Entwicklung der Organe und Gewebe dem Lebensinstinkt eine verklemmte, krankhafte und hysterische Form der Angst vor dem Tode verleiht, die den Verstand trübt und den dummen und erniedrigenden Phantasien von einem Leben nach dem Tode Nahrung gibt.
Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen seines Unbewussten vorzudringen und sich so auf eine Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen.
Bis zu welchem Ausmass der Selbstbeherrschung der Mensch der Zukunft es bringen wird – das ist ebenso schwer vorauszusehen wie jene Höhen, zu denen er seine Technik führen wird. Der gesellschaftliche Aufbau und die psychisch-physische Selbsterziehung werden zu zwei Seiten ein und desselben Prozesses werden. Die Künste: Wortkunst, Theater, bildende Kunst, Musik und Architektur – werden diesem Prozess eine herrliche Form verleihen. Genauer gesagt: Jene Hülle, in die sich der Prozess des kulturellen Aufbaus und der Selbsterziehung des kommunistischen Menschen kleiden wird, wird alle Lebenselemente der gegenwärtigen Künste bis zur Leistungsfähigkeit entfalten. Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe oder Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“ (ebenda, Seite 250-252)
Um auf die Aussagen dieses letzten Abschnitts einzugehen wäre ein ganzer Artikel notwendig. Um aber den vorliegenden Artikel abzuschliessen, müssen wir zur Frage zurückkehren die zu Beginn gestellt wurde: Kann Trotzkis Bild vom Leben in einer kommunistischen Zukunft als eine Form von Utopismus, ausserhalb des reellen Rahmens der materiellen Möglichkeiten betrachtet werden?
Hier können wir Bezug nehmen auf Bordigas Aussage, dass der Unterschied zwischen Marxismus und Utopismus nicht darin liegt, dass sich letzterer vor allem der Beschreibung der Zukunft widmen würde und ersterer nicht, sondern im Unterschied zu den Utopisten der Marxismus, durch die Umschreibung des Proletariates und seine Identifizierung mit ihm als die eigentlich kommunistische Klasse, die wirkliche Bewegung entdeckt hat, welche den Kapitalismus überwinden und den Kommunismus errichten kann. Durch die Überwindung aller abstrakten Schemen, welche auf einfachen Idealen und Wünschen aufbauen, ist der Marxismus absolut berechtigt, die gesamte Geschichte der Menschheit zu untersuchen um sein Verständnis über die wirklichen Möglichkeiten der menschlichen Spezies zu entwickeln. Wenn Trotzki vom durchschnittlichen Individuum spricht, welches im Kommunismus die Höhen eines Aristoteles, Goethe oder Marx erreicht, stützt sich diese Aussage auf die Anerkennung, dass diese ausserordentlichen Individuen selbst Produkt breiterer sozialer Kräfte waren und daher als Meilensteine angesehen werden können, die den Weg in die Zukunft weisen. Als Indikatoren wie das menschliche Wesen einst sein könnte, wenn es die Fesseln der Klassenprivilegien und der ökonomischen Armseligkeit hinter sich gelassen hat.
Trotzki schrieb Literatur und Revolution 1924, zur Zeit als die Unruhe der stalinistischen Konterrevolution ihn voll umgab. Seine Vision ist um so mehr ein Zeugnis seines tiefen Vertrauens in die kommunistische Perspektive der Arbeiterklasse. In den heutigen Tagen des kapitalistischen Zerfalls, in denen alleine der Gedanke an den Kommunismus mehr als je zuvor nicht nur als Utopie, sondern als gefährliche Illusion verschrien wird, bleibt Trotzkis Portrait einer zukünftigen Menschheit eine wichtige Inspirationsquelle für eine neue Generation von revolutionären Militanten.
CDW
Fußnoten:
1 „Die proletarische Revolution verwendet keinen Terror für die Durchsetzung ihrer Ziele: sie betrachtet den Massenmord mit Hass und Aversion. Sie gebraucht solche Mittel nicht, da sie keinen Kampf gegen Individuen sondern gegen Institutionen führt.“ Dies heisst jedoch nicht, dass die Spartakisten gegen die Klassengewalt waren, welche nicht dasselbe bedeutet.
2 Wenn Trotzki den Begriff Realismus verwendete, sprach er von etwas breiterem als von der eigentlichen Schule des Realismus die ihr goldenes Zeitalter im 19ten Jahrhundert hatte. Er meinte damit „einen realistischen Monismus im Sinne einer Philosophie des Lebens, und nicht ein „Realismus“ im Sinne des traditionellen Arsenals der literarischen Schulen“. Es ist ebenfalls interessant, den Standpunkt Trotzkis nach seiner letzten Konfrontation mit der surrealistischen Bewegung kennen zu lernen, mit der er wichtige Übereinstimmungen hatte. Wir werden in einem Artikel darauf zurückkommen. Rückblickend kann man anfügen, dass Trotzkis Definition des Realismus nichts zu tun hatte mit der eindimensionalen Banalität des „Sozialistischen Realismus“, den die stalinistische Bürokratie hervorgebracht hatte. Im Gegensatz zur besten Tradition der Bolschewiki, welche über eine florierendes Aufstreben der Künste in den ersten Jahren der Revolution verfügt hatte, verlangte der „Sozialistische Realismus“ von der Kunst, lediglich Vehikel politischer Propaganda, und zudem einer reaktionären Propaganda zu sein, da sie sich in den Dienst des stalinistischen Terrors und den Aufbau eines staatskapitalistischen Kasernenregimes zu stellen hatte. Es ist sicher kein Zufall, dass der „Sozialistische Realismus“ sich in der Form wie auch im Inhalt nicht vom Nazi-Kitsch unterscheiden konnte. Wie Trotzki und Breton im Manifest der Internationalen Föderation schrieben: „Der Styl der offiziellen sowjetischen Malerei wird als „Sozialistsicher Realismus“ bezeichnet – eine solche Etikette konnte nur von einem Bürokraten an der Spitze des Departements der Künste eingeführt werden (...) Nur mit Abscheu und Horror kann man die Gedichte und Romane lesen oder die Bilder und Skulpturen betrachten, in denen Staatsdiener, bewaffnet mit Feder, Bürste und Pinsel, und bewacht durch Staatsdiener mit Revolvern, die „grossen genialen Führer“ glorifizieren, welche über keinen Funken von Genialität oder Grösse verfügen. Die Kunst der stalinistischen Epoche bleibt der schlagendste Ausdruck des Niedergangs der proletarischen Revolution.“
3 Siehe dazu die Artikelserie über die Manuskripte von 1844 und die darin enthaltene Vision des Kommunismus. Internationale Revue, Nr. 70 und 71, franz., engl., span.
Nachstehend veröffentlichen wir einen Artikel von Leo Trotzki neu, den er um die Mitte des Jahres 1917 schrieb, einige Wochen nach seiner aufgrund der revolutionären Erhebung im Februar erfolgten Rückkehr aus den USA. Das Zarenregime war durch eine provisorische „demokratisch bürgerliche“ Regierung abgelöst worden. Seither herrschte in Russland eine Situation der Doppelmacht, mit einer bürgerlichen Herrschaft in der Form der provisorischen Regierung einerseits und der Arbeiterklasse, die sich in Arbeiterräten, den Sowjets, organisiert hatte, andererseits. Die provisorische Regierung wie auch die Parteien, die damals in den Räten die Mehrheit besaßen, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre (SR), setzten sich für eine Fortsetzung des Kriegs gegen den Willen des Proletariats ein, eine Fortsetzung des imperialistischen Programms des russischen Kapitals, das durch Abkommen mit den anderen Mächten der Entente (Frankreich und Großbritannien) gegen Deutschland-Österreich verbunden war.1
Der Grund für die Wiederveröffentlichung dieses Textes liegt nicht allein im Interesse für die Geschichte, sondern vor allem in seiner brennenden Aktualität trotz aller Unterschiede zwischen der heutigen Situation und derjenigen von 1917. Obwohl wir heute weder mit einem Weltkrieg noch einer revolutionären Situation konfrontiert sind, sind die zentralen Fragen, die der Artikel „Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus“ behandelt, grundsätzlich die gleichen, die sich für das Proletariat heute in allen Ländern stellen, unabhängig davon, welche Parolen die Pazifisten oder die Kriegstreiber in den verschiedenen Ländern herausgeben.
Trotzki stellte sich im Ersten Weltkrieg von Anfang an auf die Seite der Internationalisten, die alle kriegführenden Lager und die Sozialpatrioten, die das Proletariat für das Gemetzel mobilisierten, an den Pranger stellten. Im Herbst 1914 gehörte er mit seinem Beitrag „Der Krieg und die Internationale“ zu den Ersten, welche die Verräter der Sozialdemokratie angriffen, die dem Imperialismus ihres jeweiligen Nationalstaats im Namen des „Fortschritts“ oder der „Vaterlandsverteidigung“ unter die Arme griffen. Doch die Revolutionäre der Vergangenheit entlarvten nicht nur die Kriegsgurgeln und die Sozialchauvinisten wie Plechanow und Scheidemann, sondern auch die Neutralen und die Pazifisten, vor allem die Sozialpazifisten wie Turati und Kautsky. Lenin schrieb im Januar 1917, dass es eine grundsätzliche Einheit zwischen den beiden Kategorien gebe und dass beide – Sozialchauvinisten und Sozialpazifisten – Diener des Imperialismus seien: „Die einen dienen ihm, indem sie den imperialistischen Krieg als „Vaterlandsverteidigung“ darstellen, die anderen verteidigen den gleichen Imperialismus, indem sie ihn mit Phrasen über den ‚demokratischen Frieden‘ verschleiern, den imperialistischen Frieden, der sich heute ankündigt. Die imperialistische Bourgeoisie braucht Diener der einen und der anderen Sorte, der einen und der anderen Schattierung: Sie braucht die Plechanows um die Völker aufzufordern sich gegenseitig mit dem Ruf ‚Nieder mit den Angreifern‘ abzuschlachten; sie braucht aber auch die Kautskys, um die durch die Hymnen und Loblieder zu Ehren des Friedens irritierten Massen zu trösten und zu beruhigen“. Die Internationalisten haben die pazifistischen Losungen, die man jetzt wieder vernimmt, schon immer zurückgewiesen.
Der Pazifismus ist nichts Neues. Seine Wesenszüge sind immer und überall die gleichen: die gesellschaftliche Ordnung, die notwendigerweise Kriege hervorbringt, nicht in Frage stellen; die herrschende bürgerliche Logik verteidigen, insbesondere die Demokratie; „die Lehre der sozialen Harmonie zwischen den verschiedenen Klasseninteressen“ propagieren (wie Trotzki sagte) und ihre Entsprechung auf der Ebene der Beziehungen zwischen Nationalstaaten, die „stufenweise Milderung der nationalistischen Konflikte“.
Das enorme Gewicht der gegenwärtigen pazifistischen Propaganda misst sich an der Breite der „Antikriegs“demonstrationen, welche die Bourgeoisie organisiert hat: Es gibt darunter solche, die am gleichen Tag weltweit mehr Leute mobilisiert haben als jede frühere Demonstration für die gleiche „Sache“. Wie wir bereits in Artikeln in der Territorialpresse (World Revolution, Révolution Internationale, Weltrevolution etc.) aufgezeigt haben, besteht die spezifische Funktion dieser Propaganda darin, die Infragestellung des Kapitalismus zu verhindern, das Verständnis darüber zu verhindern, dass der Krieg ein Ausdruck der imperialistischen Rivalitäten zwischen allen Ländern ist, eine Folge der kapitalistischen Konkurrenz, in der jeder Staat seine nationalen Interessen verficht.
Es ist schlicht und einfach eine „Politik der nationalen Einheit“ hinter der jeweiligen Bourgeoisie, die von einige Staaten, insbesondere von Deutschland und Frankreich, betrieben wird, wo die Propaganda offen antiamerikanische Töne anschlägt und von praktisch allen politischen Fraktionen der nationalen Bourgeoisie unterstützt und betrieben wird. Das Ziel ist dabei, antiamerikanische Gefühle in der Bevölkerung zu schüren, indem die USA als die einzigen Kriegstreiber dargestellt werden, als der imperialistische Gegner „Nummer 1“ schlechthin, und die Ablehnung des Krieges auf ein bürgerliches und sogar patriotische Terrain abzulenken. Demgegenüber war die Losung Karl Liebknechts und der Internationalisten während dem Ersten Weltkrieg: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“2
Heute wie in der Vergangenheit ist der Pazifismus die beste Gehirnwäsche für den Krieg. Diese Ideologie ist ein echtes Gift gegen die Arbeiterklasse. Abgesehen davon, dass eine solche Mystifizierung betrieben wird, um eine bestimmte nationalistische Ideologie zu verschleiern, hat der Pazifismus auch noch ein ganz besonderes Ziel: die Furcht der Arbeiter vor der Kriegsdrohung und ihre Ablehnung gegen den Krieg aufzugreifen, um ihr Bewusstsein zu vergiften und sie dazu zu bringen, ein bürgerliches Lager gegen das andere zu unterstützen.
Aus diesem Grund räumte die Bourgeoisie dem Pazifismus immer dann, wenn es darum ging, die Proletarier von der mörderischen Logik des Krieges zu überzeugen, einen wichtigen Platz ein im Rahmen der breiten Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen imperialistischen Fraktionen des Weltkapitals.
Der Pazifismus wird nicht durch die Forderung nach Frieden definiert. Alle wollen den Frieden. Auch die Kriegstreiber selber berufen sich ständig darauf, dass sie den Krieg nur deshalb wollen, um dann später den Frieden besser gewährleisten zu können. Was den Pazifismus ausmacht, ist, dass er vorgibt, man könne für den Frieden an sich kämpfen, ohne die Grundlage des kapitalistischen Systems zu berühren. Die Proletarier, die durch ihren revolutionären Kampf in Russland und Deutschland den Ersten Weltkrieg beendeten, wollten auch, dass der Krieg aufhöre. Aber ihr Kampf hatte nur deshalb Erfolg, weil sie es verstanden, den Kampf nicht MIT den „Pazifisten“ zu führen, sondern trotz ihnen und GEGEN sie. Von dem Zeitpunkt an, wo es klar wurde, dass der revolutionäre Kampf darauf hinaus lief, die imperialistische Schlächterei abzubrechen, standen die Proletarier in Russland und Deutschland plötzlich nicht nur den „Falken“ innerhalb der Bourgeoisie gegenüber, sondern auch und insbesondere all diesen Pazifisten der ersten Stunde (Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Sozialpatrioten), die mit der Waffe in der Hand das verteidigten, worauf sie am wenigsten verzichten konnten und was ihnen am liebsten war: den bürgerlichen Staat. Zu diesem Zweck mussten sie die Revolte der Ausgebeuteten gegen den Krieg ihrer Spitze gegen das Kapital berauben.
Zwischen dem Pazifismus und den Revolutionären gibt es eine Klassengrenze. Die Revolutionäre, die Internationalisten wie Lenin, Luxemburg und Trotzki kämpften für die Betätigung der proletarischen Massen auf ihrem Klassenterrain, für die Verteidigung ihrer Lebensbedingungen: „Entweder machen die bürgerlichen Regierungen den Frieden, wie sie den Krieg machen, dann bleibt bei jedem Ausgang des Krieges der Imperialismus die herrschende Macht, und dann geht es unvermeidlich immer weiter neuen Rüstungen, Kriegen und dem Ruin, der Reaktion, der Barbarei entgegen. Oder ihr rafft euch zum Kampf um die politische Macht, um euren Frieden nach außen und nach innen zu diktieren.“ (Rosa Luxemburg, Spartacus, Nr. 4 vom April 1917, Wilsons Sozialismus)
Trotz der unterschiedlichen historischen Situation sind die wichtigsten Fragen, die sich heute angesichts der Allgegenwart des Krieges und der immensen pazifistischen Kampagne stellen, die gleichen wie diejenigen, die Trotzki in „Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus“ aufwarf.
Trotzki zeigte auf, dass der Pazifismus und die Demokratie von gleicher Herkunft sind. Die Vorstellung von der Gleichheit und der Freiheit eines jeden Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft ist gemäss der bürgerlichen Auffassung die Bedingung für den Vertrag zwischen dem Arbeiter und seinem Ausbeuter. Und zufolge dieser gleichen Ideologie sollten auch die Beziehungen zwischen den Nationen denselben Gesetzen der Gleichheit und der „Vernunft“ gehorchen. „Doch hier kam ihr der Krieg in die Quere, der ebenfalls eine Methode der Problemlösung darstellt, allerdings unter vollständiger Außerachtlassung der ‚Vernunft‘. (...) Die kapitalistische Realität allerdings behandelt das Ideal des ewigen Friedens, das auf der Harmonie der Vernunft gründen soll, noch erbarmungsloser als die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kapitalismus hat zwar die Technik auf rationaler Grundlage entwickelt, war aber nicht in der Lage, die wirtschaftlichen Bedingungen rational zu regeln.“
Trotzki entlarvte nicht nur die offiziellen Pazifisten à la Wilson und diejenigen der „Opposition“ à la Bryan3, sondern auch das Kleinbürgertum, das „mit all seinen Traditionen und Illusionen der Hüter der demokratischen Ideologie“ ist.
Was Trotzki aber nicht voraussehen konnte, war das enorme Gewicht, das diese demokratische Ideologie 80 Jahre später in der letzten Phase des Kapitalismus, in derjenigen des kapitalistischen Zerfalls, annehmen würde. Mangels Perspektive in dieser Gesellschaft drängt sich die demokratische Ideologie, die der verallgemeinerten Warenproduktion entspricht, spontan auf. „Die bürgerliche Demokratie verlangte gesetzliche Gleichheit für einen freien Wettbewerb“, sagte Trotzki. Der Wettbewerb, die Konkurrenz, das „Jeder-für-sich“ werden im kapitalistischen Zerfall auf die Spitze getrieben mit der Atomisierung, der extremen Entfremdung und dem Krieg eines jeden gegen jeden. In dieser letzten Phase des Kapitalismus durchdringt die demokratische Ideologie alle Verhältnisse in der Gesellschaft, und die Demokratie wird zur Rechtfertigung und zum Vorwand für alles und jeden: Chirac und Schröder widersetzen sich der Intervention im Irak im Namen der Demokratie; Bush und Powell beschließen die Intervention, um angeblich den arabischen Völkern die Demokratie zu bringen. Man kann im Namen der Demokratie foltern, man kann die Folter im Namen der Demokratie verbieten und man kann auch auf demokratische Art foltern, das heißt dann, wenn es notwendig ist im Sinne von Artikel X des Gesetzes Y, das ja demokratisch verabschiedet worden ist.
Es ist kein Zufall, wenn heute der Pazifismus wieder einmal der Botschafter der demokratischen Ideologie ist. Es ist nicht mehr naiv, sondern zynisch, wenn die pazifistischen Organisationen dem Krieg die „Menschenrechte“ und die „humanitäre Hilfe” entgegen setzen und dabei vertuschen, dass alle Kriege spätestens seit Reagan und vor allem seit dem Zusammenbruch des Ostblocks durch die westlichen Mächte im Namen der Menschenrechte und unter dem Banner der „humanitären Interventionen” geführt wurden.
Die Pazifisten und die Demokraten rufen die „Bevölkerung“ im allgemeinen, die „Bürger” dazu auf, sich gegen den Krieg zu mobilisieren, während die Revolutionäre immer aufgezeigt haben, dass einzig der Kampf des Proletariats auf seinem eigenen Klassenterrain, für seine eigenen Ziele dem Krieg ein Ende bereiten kann. Mit dem Pazifismus wird das Proletariat nur an die Verteidigung des einen imperialistischen Lagers gegen das andere gekettet: Es kann dabei einzig die eigene Klassenidentität verlieren, indem es sich in der „Bevölkerung“ im allgemeinen auflöst, in allen anderen Klassen, mitten in einer riesigen Bewegung der „Bürger“, in der es unmöglich ist, seine eigenen Interessen geltend zu machen, die Interessen einer Klasse, die kein Vaterland hat, und keine Grenzen und nationalen Interessen zu verteidigen. Die heutigen Trotzkisten haben das Programm Lenins, Trotzkis und Luxemburgs schon vor langem verraten4, und dies beweisen sie einmal mehr, indem sie aktiv an den pazifistischen Mobilisierungen teilnehmen, wo sie sich in der Art vernehmen lassen: „Eine möglichst breite, aktive, breit gefächerte Bewegung gegen den Krieg zu entfalten ist ein notwendiges Element, um den Krieg zu stoppen, um die Bedingungen zu schaffen, damit das irakische Volk selber über seine Zukunft bestimmen kann.“ (Flugblatt vom 5.3.2003 der „Bewegung für den Sozialismus”, einer Filiale der 4. Internationale). Solche demokratischen und pazifistischen Illusionen zu verbreiten heißt aktiver Bestandteil des ideologischen und politischen Apparates des eigenen Imperialismus zu sein.
Trotzki verspottete die Illusionen der Pazifisten, die an die Möglichkeit der Abschwächung der Konflikte zwischen imperialistischen Staaten glaubten: „Wenn wir die Möglichkeit einer stufenweisen Milderung der Klassenkämpfe annehmen wollen, dann müssen wir dies ebenso bei den nationalistischen Konflikten tun.”
Obwohl sich die nationalen Konflikte seit dem Ersten Weltkrieg vervielfacht haben, trotz aller Massaker des 20. Jahrhunderts, die tausend Mal bewiesen haben, dass der Militarismus und der Krieg zur dauerhaften Lebensform des dekadenten Kapitalismus geworden sind, fordern die Pazifisten immer noch die Anwendung des Völkerrechts und die Einigung auf ein formelles Verfahren im Rahmen der UNO.
Die heutigen Trotzkisten setzen alles daran, die Erinnerung an Trotzki durch den Dreck zu ziehen. Die LCR in Frankreich bezieht nicht nur eine leidenschaftlich antiamerikanische Position, die perfekt mit der imperialistischen Politik der französischen Bourgeoisie harmoniert, sondern fordert darüber hinaus, dass „Frankreich sein Vetorecht in der UNO gegen den Ausbruch des Krieges einsetzt“, um damit „unsere Solidarität mit den Demokraten des Iraks“ auszudrücken. So beharren die Trotzkisten auf der Anwendung der Regeln der UNO, deren Vorgänger Wilsons Völkerbund war – und all das im Namen der Demokratie. Man müsste sie fragen, ob sie je etwas von einem gewissen Trotzki gehört oder gelesen haben.
Der Artikel „Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus” zeigt auch, mit welchen Kniffen die Pazifisten die Massen für den Militarismus und den Krieg mobilisieren. Sie argumentieren nach der Art: „Alles in unseren Kräften liegende zur Verhinderung des Krieges‘ bedeutet, den oppositionellen Massen ein Ventil mittels harmlosen Manifesten zur Verfügung zu stellen, in denen der Regierung für den Fall des Kriegsausbruchs die Garantie gegeben wird, dass die pazifistische Opposition dann kein Hindernis darstellen wird.“
Wenn Trotzki vom Pazifismus Wilsons und dem dröhnenden Widerstand Bryans gegen den Krieg schreibt, so denkt man unwillkürlich an Schröder, den Altachtundsechziger, und Fischer, den früheren Linksextremen, die wirklich die besten Vertreter sind, die sich der deutsche Imperialismus aussuchen konnte, denn “wenn Schröder den Krieg erklären kann, und selbst Fischer ihn in der Kriegsfrage unterstützt, dann muss es sich gewiss um einen gerechten und notwendigen Krieg handeln.“
Mit der Wiederveröffentlichung dieses Textes von Trotzki wollen wir unsere Leser auch ermuntern, sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und den Lehren zu beschäftigen, die man daraus für den Krieg, aber auch für den Pazifismus ziehen kann. Eine wesentliche Waffe der Arbeiterklasse ist ihr Bewusstsein. Dieses bildet sich, indem es sich wesentlich auch auf die Geschichte der Arbeiterklasse stützt, eine Geschichte, die wie diejenige der Klassengesellschaften insgesamt schon viel zu lange dauert. Dem Kapitalismus muss eine Ende gesetzt werden, bevor er der Menschheit ein Ende setzt.
SM (März 2003)
Niemals gab es auf der Welt so viele Pazifisten wie heute, da sich in allen Ländern die Menschen gegenseitig töten. Jede historische Epoche bringt nicht nur ihre eigene Technik und ihre eigene politische Form hervor, sondern ebenso ihre spezifische Heuchelei. Früher töteten sich die Völker gegenseitig im Namen der christlichen Lehre von Liebe und Menschlichkeit. Heute beziehen sich darauf nur noch rückwärts gewandte Regierungen. Fortschrittliche Nationen ziehen sich gegenseitig das Fell im Namen des Pazifismus über die Ohren. Wilson zerrte Amerika im Namen des Völkerbundes und des ewigen Friedens in den Krieg.
Kerenski und Tseretelli rufen nach einer Offensive im Dienste eines baldigen Friedens.
Unserer Epoche mangelt es an der empörten Satire eines Juvenal. Auf jeden Fall besteht die Gefahr, dass sich selbst die mächtigsten satirischen Waffen im Vergleich zur triumphierenden Niederträchtigkeit und der kriecherischen Dummheit, zwei in diesem Krieg entfesselten Elementen, als machtlos und illusorisch erweisen.
Der Pazifismus ist von gleicher Herkunft wie die Demokratie. Die Bourgeoisie unternahm einen großen historischen Anlauf, um alle menschlichen Beziehungen im Einklang mit der Vernunft zu regeln, alle blinden und beschränkten Traditionen durch Institutionen der kritischen Vernunft zu ersetzen. Die Zünfte mit ihren Produktionsbeschränkungen, die politischen Institutionen mit ihren Privilegien, der monarchische Absolutismus – all dies waren Überreste aus dem Mittelalter. Die bürgerliche Demokratie verlangte gesetzliche Gleichheit für einen freien Wettbewerb sowie den Parlamentarismus als Mittel zur Regelung der öffentlichen Angelegenheiten. Sie trachtete danach, auch die nationalen Beziehungen in diesem Sinne zu regeln. Doch hier kam ihr der Krieg in die Quere, der ebenfalls eine Methode der Problemlösung darstellt, allerdings unter vollständiger Außerachtlassung der „Vernunft“. Also begann sie, die Menschen in den Gedichten, der Philosophie, der Ethik und der Betriebswirtschaft zu lehren, dass es für sie viel nützlicher sei, den ewigen Frieden einzuführen. Dies ist die logische Argumentationsweise des Pazifismus.
Der angeborene Fehler des Pazifismus ist grundsätzlich der gleiche wie derjenige der bürgerlichen Demokratie. Ihre Kritik kratzt lediglich an der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen und hat nicht den Mut, in die tieferen Schichten der ökonomischen Tatsachen vorzudringen. Die kapitalistische Realität allerdings behandelt das Ideal des ewigen Friedens, das auf der Harmonie der Vernunft gründen soll, noch erbarmungsloser als die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Kapitalismus hat zwar die Technik auf rationaler Grundlage entwickelt, war aber nicht in der Lage, die Bedingungen rational zu regeln. Er entwickelte Waffen zur gegenseitigen Ausrottung, von denen selbst die „Barbaren“ des Mittelalters nicht zu träumen wagten.
Die schnelle Intensivierung der internationalen Bedingungen und das unablässige Wachstum des Militarismus entzogen dem Pazifismus den Boden. Aber gleichzeitig haben genau diese Kräfte dem Pazifismus ein neues Leben eingehaucht, und zwar ein vom alten Leben genau so verschiedenes, wie sich der blutrote Sonnenuntergang von der rosigen Morgendämmerung unterscheidet.
Die zehn dem Krieg vorausgegangen Jahre wurden als „bewaffneter Friede“ bezeichnet. Die ganze Zeit war aber tatsächlich nichts anderes als ein ununterbrochener Krieg, der in den Kolonialgebieten geführt wurde.
Dieser Krieg wurde auf den Gebieten rückständiger und schwacher Völker ausgetragen, in Afrika, Polynesien und Asien, und ebnete den Weg zum gegenwärtigen Krieg. Seit 1871 hatte es in Europa keinen Krieg mehr gegeben, obwohl es eine Anzahl von kleinen, aber heftigen Konflikten gegeben hatte, und im Kleinbürgertum war die Anschauung systematisch verstärkt worden, dass eine ständig wachsende Armee eine Garantie des Friedens sei und schließlich zu einer neuen internationalen Organisation des Gesetzes führen werde. Die kapitalistischen Regierungen und das Big Business hatten natürlich nichts gegen eine solche „pazifistische“ Interpretation des Militarismus. Gleichzeitig bahnten sich die globalen Konflikte an, und die Weltkatastrophe war da.
Theoretisch und politisch hat der Pazifismus dieselbe Grundlage wie die Lehre der sozialen Harmonie zwischen den verschiedenen Klasseninteressen.
Der Gegensatz zwischen kapitalistischen Nationalstaaten hat dieselbe ökonomische Grundlage wie der Klassenkampf. Wenn wir die Möglichkeit einer stufenweisen Milderung der Klassenkämpfe annehmen wollen, dann müssen wir dies ebenso bei den nationalistischen Konflikten tun.
Das Kleinbürgertum mit all seinen Traditionen und Illusionen ist der Hüter der demokratischen Ideologie. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte es tiefgreifende innere Veränderungen durch, verschwand aber trotzdem nicht ganz von der Szene. Gleichzeitig mit der Unterminierung der ökonomischen Bedeutung des Kleinbürgertums durch die Entwicklung der kapitalistischen Technik gaben ihm das allgemeine Wahlrecht und der Militärdienst dank seiner numerischen Stärke eine scheinbare politische Bedeutung. Wo der Kleinkapitalist nicht vollständig durch das Big Business seiner Existenz beraubt war, wurde er vollständig dem Kreditsystem unterworfen. Die Vertreter des Big Business hatten das Kleinbürgertum nur noch auf politischer Ebene zu unterwerfen, indem sie es aller Theorien und Vorurteile beraubten und ihm einen fiktiven Wert verliehen. Dies ist die Erklärung der Phänomene, die man in den letzten zehn Jahren vor dem Krieg beobachten konnte, in denen der reaktionäre Imperialismus sich zu einer erschreckenden Höhe aufschwang, während gleichzeitig die illusionären Blüten der bürgerlichen Demokratie mit dem Reformismus und dem Pazifismus hervorkamen. Für seine imperialistischen Ziele unterwarf das Großkapital das Kleinbürgertum, indem es sich auf dessen Klassenvorurteile abstützte.
Frankreich war das klassische Beispiel dieses zweifachen Prozesses. Frankreich ist das Land des Finanzkapitals, das durch ein zahlreiches und allgemein konservatives Kleinbürgertum unterstützt wird. Wegen Auslandkrediten, den Kolonien und dem Bündnis mit Russland und England wurde die obere Schicht der Bevölkerung in all die Interessen und Konflikte des Weltkapitalismus hineingezerrt. Indessen blieb der französische Kleinbürger provinziell bis ins Mark. Er hat eine instinktive Furcht vor Geographie und sein ganzes Leben ist gezeichnet von einem Horror vor dem Krieg, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er gewöhnlich nur einen Sohn hat, dem er sein Geschäft und seine Möbel vererben wird. Dieser Kleinbürger entsendet einen radikalen Bourgeois auf das Versprechen hin ins Parlament, dass er ihm durch den Völkerbund einerseits und die russischen Kosaken andererseits, die dem Kaiser den Kopf abhauen würden, den Frieden erhalten werde.
Der radikale Abgeordnete entstammt einem Zirkel provinzieller Anwälte und kommt in Paris nicht nur voller Friedensabsichten an, sondern mit einer höchst vagen Vorstellung über die Lage des Persischen Golfs und ohne jegliche klare Idee davon, warum oder für wen die Bagdadbahn notwendig ist. Aus diesen „radikal pazifistischen“ Abgeordneten ging eine radikale Regierung hervor, die sich sofort bis über die Ohren in einem Netz all der vorangegangenen diplomatischen und militärischen Verpflichtungen der verschiedenen Finanzinteressen der französischen Börse in Russland, Afrika und Asien verhedderte. Die Regierung und das Parlament fuhren unaufhörlich mit ihrer pazifistischen Phraseologie fort, aber gleichzeitig verfolgten sie automatisch eine Außenpolitik, die Frankreich schließlich in den Krieg führte.
Der englische und amerikanische Pazifismus verrichtet trotz der Verschiedenheit der sozialen und ideologischen Bedingungen (auch trotz des Fehlens jeglicher Ideologie in Amerika) im wesentlichen dieselbe Arbeit: Er stellt der Angst des Kleinbürgers vor den welterschütternden Ereignissen ein Ventil zur Verfügung, das ihn schließlich der letzten Überreste seiner Unabhängigkeit beraubt. Seine Vorsicht wird durch nutzlose Begriffe wie Abrüstung, Völkerrecht und Schiedsgerichte eingeschläfert. Und in einem bestimmten Augenblick wird er mit Haut und Haar dem kapitalistischen Imperialismus ausgeliefert, der bereits alle notwendigen Mittel mobilisiert hat: die Technik, die Kunst, die Religion, den bürgerlichen Pazifismus und den patriotischen „Sozialismus“.
Und der französische Kleinbürger schreit: „Wir waren gegen den Krieg, unsere Abgeordneten, unsere Minister, wir alle waren gegen den Krieg. Und nun, da uns der Krieg aufgezwungen worden ist, müssen wir ihn zur Verwirklichung unserer pazifistischen Ideale bis zum siegreichen Ende führen.“ Und der Vertreter des französischen Pazifismus, Baron d’Estournel de Constant, segnet diese pazifistische Philosophie mit einem feierlichen „jusqu’au bout!“ – Krieg bis zum Ende!
Die englische Börse benötigte zur erfolgreichen Kriegführung gerade einen Pazifisten wie den Liberalen Asquith und den radikalen Demagogen Lloyd George. „Wenn diese Männer den Krieg führen,“ sagt das englische Volk, „dann muss das Recht auf unserer Seite sein.“
Und so spielte der Pazifismus im Mechanismus dieses Kriegs die ihm zugewiesene Rolle so wie das Giftgas oder die ständig steigenden Kriegskredite.
In den USA zeigte der Pazifismus des Kleinbürgertums sein wahres Gesicht als Wasserträger des Imperialismus. Dort hatten die Banken und Trusts die Politik im Griff. Schon vor dem Krieg traten die USA aufgrund der außergewöhnlichen Entwicklung der Industrie und des Exports immer mehr auf die internationale Bühne, um ihre Interessen zu verteidigen und gleichzeitig den Imperialismus zu entwickeln. Der europäische Krieg aber beschleunigte diese imperialistische Entwicklung in einem fieberhaften Tempo. Als viele fromme Leute (sogar Kautsky) hofften, dass der Horror der Schlächterei in Europa die amerikanische Bourgeoisie mit einem Horror vor dem Militarismus erfüllen würde, bewegten sich die wirklichen Ereignisse in Europa nicht auf einer psychologischen, sondern auf einer materialistischen Linie und führten so zu gerade gegenteiligen Resultaten. Die Exporte der USA beliefen sich 1913 auf 2466 Millionen Dollars, und stiegen 1916 auf die verrückte Höhe von 5481 Millionen Dollars. Logischerweise machte die Waffenindustrie den Löwenanteil des Exports aus. 1915 importierte die Entente amerikanische Waren im Umfang von 35 Milliarden, während Deutschland und Österreich-Ungarn für kaum mehr als 15 Millionen importierten. So zeigte sich also nicht nur eine Abnahme der gigantischen Profite, sondern die ganze amerikanische Industrie, die ihre Grundlage in der Kriegsindustrie hatte, war nun von einer schweren Krise bedroht. Diese Zahlen müssen wir als Schlüssel für das Verständnis der Aufteilung der „Sympathien“ in Amerika betrachten. Und so riefen die Kapitalisten dem Staat zu: „Du hast die Entwicklung des Kriegsindustrie unter dem Banner des Pazifismus in Gang gebracht, du musst uns nun auch einen neuen Markt finden.“ Wenn der Staat nicht in der Lage war, die „Freiheit der Meere“ zu versprechen (mit anderen Worten die Freiheit, Kapital aus Menschenblut zu pressen), so musste er wenigstens für die bedrohte Kriegsindustrie einen neuen Markt öffnen – und zwar in Amerika selbst. Und so führten die Anforderungen der europäischen Schlächterei zu einer plötzlichen und katastrophalen Militarisierung der USA.
Dieses Geschäft musste die Opposition der breiten Massen hervorrufen. Dieser unbestimmten Unzufriedenheit entgegenzutreten und sie in eine patriotische Kooperation umzuwandeln war die wichtigste Aufgabe der US-amerikanischen Innenpolitik. Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass der offizielle Pazifismus Wilsons und der „oppositionelle“ Pazifismus Bryans die mächtigsten Waffen zur Lösung dieser Aufgabe lieferten, nämlich zur Beschwichtigung der Massen durch den Militarismus.
Bryan beeilte sich, der natürlichen Ablehnung von Imperialismus, Militarismus und Steuererhöhungen durch die Farmer und das Kleinbürgertum Ausdruck zu verleihen. Aber während er Wagenladungen voll Petitionen und Abordnungen an seine pazifistischen Kollegen versandte, die sich in den höchsten Stellen der Regierung befanden, unternahm Bryan alle Anstrengungen, um sich von den revolutionären Tendenzen dieser Bewegung zu distanzieren.
”Sollte es zum Krieg kommen”, telegraphierte Bryan im Februar an eine in Chicago stattfindende Anti-Kriegs-Veranstaltung, „dann müssen wir natürlich die Regierung unterstützen, aber bis zu diesem Augenblick ist es unsere heilige Pflicht, alles in unseren Kräften liegende zu unternehmen, um die Menschen vor dem Horror des Krieges zu retten.“ In diesen wenigen Worten liegt das ganze Programm des kleinbürgerlichen Pazifismus. „Alles in unseren Kräften liegende zur Verhinderung des Krieges“ bedeutet, den oppositionellen Massen ein Ventil mittels harmlosen Manifesten zur Verfügung zu stellen, in denen der Regierung für den Fall des Kriegsausbruchs die Garantie gegeben wird, dass die pazifistische Opposition dann kein Hindernis darstellen wird.
Dies war alles, das von Wilson, dem Repräsentanten des offiziellen Pazifismus verlangt wurde, und er gab den Kapitalisten, die den Krieg machten, bereits eine Menge von Beweisen für sein „Bereitschaft für den Kampf“. Und selbst Mr. Bryan befand diese Erklärung für ausreichend, worauf er seinen dröhnenden Widerstand gegen den Krieg beiseite legte, und zwar einzig zum Zweck – den Krieg zu erklären. Mr. Bryan folgte Mr. Wilson, um der Regierung unter die Arme zu greifen. Und nicht nur das Kleinbürgertum, sondern auch die große Masse des Volkes sagte sich: „Wenn unsere Regierung, der ein solcher Pazifist von weltweitem Ruf wie Wilson vorsteht, den Krieg erklären kann, und selbst Bryan die Regierung in der Kriegsfrage unterstützt, dann muss es sich gewiss um einen gerechten und notwendigen Krieg handeln.“ Dies erklärt, warum der fromme und quäkerische Pazifismus, den sich die Demagogen der Regierung gönnten, von der Börse und den Führern der Kriegsindustrie so hoch geschätzt wurde.
Unser eigener menschewistischer, sozialrevolutionärer Pazifismus spielte trotz der Unterschiede in den Bedingungen genau dieselbe Rolle. Die Kriegsresolution, die von der Mehrheit des Allrussischen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte angenommen worden war, gründete nicht nur auf den allgemeinen pazifistischen Vorurteilen gegenüber dem Krieg, sondern auch auf den Charakteristiken eines imperialistischen Krieges. Der Kongress erklärte, dass „die erste und wichtigste Aufgabe der revolutionären Demokratie“ sei, den Krieg so schnell als möglich zu beenden. Aber all diese Annahmen führen schließlich zu einem einzigen Ziel: Solange die internationalen Anstrengungen zur Beendigung des Krieges nichts fruchten, solange muss die russische revolutionäre Demokratie mit allem Nachdruck verlangen, dass die Rote Armee bereit sein muss für den Kampf, sei er nun defensiv oder offensiv.
Die Revision der alten internationalen Abkommen machen den russischen Kongress vom Willen der Entente-Diplomatie abhängig, und es liegt nicht in der Natur dieser Diplomaten, den imperialistischen Charakter des Krieges zu beseitigen, selbst wenn sie dies könnten. Die „internationalen Anstrengungen der Demokratien“ bringen den Kongress in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den sozialdemokratischen Patrioten, die alle hinter ihren imperialistischen Regierungen stehen. Und diese Mehrheit des Kongresses, die sich selbst zuerst zu blinden Alliierten des Geschäfts mit „der schnellst möglichen Beendigung des Kriegs“ machten, ist nun selbst angesichts der praktischen Konsequenzen des Krieges zu einer definitiven Schlussfolgerung gelangt: zur Offensive. Ein „Pazifismus“, der das Kleinbürgertum mobilisiert und die Offensive unterstützt, wird nicht nur von den Russen, sondern auch vom Entente-Imperialismus wärmstens begrüßt.
Miljukow beispielsweise sagt: „Im Namen unserer Loyalität gegenüber den Alliierten und den alten (imperialistischen) Abkommen muss die Offensive unvermeidbar eingeleitet werden.“
Kerenski und Tseretelli sagen: „Obwohl die Verträge noch nicht revidiert wurden, ist die Offensive unvermeidbar.“
Die Argumente variieren, die Politik bleibt dieselbe. Und es kann gar nicht anders sein, da Kerenski und Tseretelli unauflösbar mit der Regierung von Miljukows Partei verstrickt sind.
Der sozialdemokratisch patriotische Pazifismus von Dan steht, wenn wir zu den Fakten kommen, gleich wie der Quäker-Pazifismus von Bryan im Dienste des Imperialismus.
Aus diesem Grund besteht die wichtigste Aufgabe der russischen Diplomatie nicht darin, die Entente-Diplomatie von dieser oder jener Revision oder Aufhebung zu überzeugen, sondern darin, sie zu überzeugen, dass auf die russische Revolution absoluter Verlass sei und dass man ihr gewiss trauen könne.
Der russische Botschafter Bachmatiev charakterisierte in seiner Rede vom 10. Juni vor dem amerikanischen Kongress die Aktivitäten der Provisorischen Regierung von diesem Standpunkt:
„All diese Ereignisse“, sagte er, „zeigen uns, dass die Macht und die Bedeutung der Provisorischen Regierung jeden Tag anwachsen, und je mehr sie wachsen, je fähiger wird die Regierung sein, alle spalterischen Elemente zu beseitigen, ob sie nun von der Reaktion oder von der Agitation der extremen Linken stammen. Die Provisorische Regierung hat gerade entschieden, alle möglichen Mittel für dieses Ziel anzuwenden, auch wenn Gewalt angewendet werden muss, obwohl sie sich um eine friedvolle Lösung dieser Probleme bemühen wird.“
Es darf darüber keinen Augenblick ein Zweifel bestehen, dass die „nationale Ehre“ unserer sozialdemokratischen Patrioten unerschüttert blieb, während der Botschafter der „revolutionären Demokratie“ begierig darauf aus war, der amerikanischen Plutokratie zu beweisen, dass die russische Regierung bereit sei, das Blut des russischen Proletariats im Namen von Recht und Ordnung zu vergießen. Das wichtigste Element von Gesetz und Ordnung ist die loyale Unterstützung des Entente-Kapitalismus.
Und im gleichen Augenblick, in dem Herr Bachmatiev mit dem Hut in der Hand seine ehrwürdigen Worte an die Hyänen der amerikanischen Börse richtete, betäubten Messieurs Tseretelli und Kerenski die „revolutionäre Demokratie“, indem sie versicherten, dass es unmöglich sei, die „Anarchie der Linken“ ohne Anwendung von Gewalt zu bekämpfen. Sie drohten mit der Entwaffnung der Arbeiter von Petrograd sowie des sie unterstützenden Regiments. Wir sehen nun, dass diese Drohungen genau im richtigen Moment ausgesprochen wurden: Sie waren die bestmögliche Garantie für die Kredite von Amerika.
Herr Bachmatiev könnte zu Mr. Wilson gesagt haben: „Sie sehen jetzt, dass unser revolutionäre Pazifismus sich um keine Haaresbreite vom Pazifismus ihrer Börse unterscheidet. Und wenn sie Mr. Bryan glauben, wieso dann nicht auch Herrn Tseretelli?“
Trotzki
Fußnoten:
1 Für weitere Einzelheiten der Situation im Sommer 1917 in Russland vgl. auch den Artikel „Russische Revolution 1917 – die Juli-Tage“ in Internationale Revue Nr. 20.
2 Diese Formulierung verwendete auch Lenin 1915 in Der Sozialismus und der Krieg. Sie ist durchaus gültig im Rahmen des Kampfes gegen den Opportunismus in der Form des Pazifismus und der Versöhnung mit den nationalen Fraktionen der Bourgeoisie. Sie kann aber nicht verallgemeinert werden, da das Proletariat natürlich nicht irgendeine Fraktion der Bourgeoisie einer anderen vorziehen kann, auch nicht diejenige eines anderen Landes.
3 William Jennings Bryan war mehrere Male Kandidat der Demokraten bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen, von 1913–15 Außenminister unter Wilson und Verfechter der Neutralität der USA während dem Ersten Weltkrieg.
4 William Jennings Bryan war mehrere Male Kandidat der Demokraten bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen, von 1913–15 Außenminister unter Wilson und Verfechter der Neutralität der USA während dem Ersten Weltkrieg.
Der gegenwärtige Krieg im Irak offenbart seinen ganzen barbarischen Schrecken. Zwei Wochen nach dem Beginn dieses dritten Golfkriegs – nach demjenigen von 1980–88 zwischen Irak und Iran und demjenigen von 1991 unter der Führung von Bush senior – ist noch nicht klar, wann und wie er enden wird. Schon jetzt zeichnet sich aber ab, dass er wesentlich länger dauern wird, als es die Prognosen der Administration von Bush junior gewollt haben. Der „saubere Krieg“, den George W. Bush angekündigt hat, enthüllt seine Todesfratze. Jeden Tag hören wir von weiteren zivilen Opfern, von getöteten Proletariern auf beiden Seiten, verstümmelten Kindern in den Spitälern, durch den Bombenhagel Traumatisierten. Zwei Wochen nach diesem neuen Ausbruch des Horrors ist „der ‚saubere Krieg‘ zum schmutzigsten Krieg geworden, zum blutigsten und scheußlichsten. Die ‚intelligenten Waffen‘ werden plötzlich von einer vorsätzlichen Dummheit befallen, die blind tötet, zerstört und ihre hysterische Wut auf die bevölkerten Marktplätze schleudert“ (aus der ägyptischen Tageszeitung Al Achram). Das amerikanische Oberkommando hat zugegeben, Splitterbomben abgeworfen zu haben. In Bagdad ist eine Geburtsklinik des Roten Kreuzes zur Zielscheibe von Bombardierungen geworden. Sie sei am heiterhellen Tag durch Bomben weggefegt worden, die eigentlich den Markt hätten treffen sollen. Einmal mehr ist es die irakische Zivilbevölkerung, die von allen Armeen vor Ort massakriert und terrorisiert wird, auch von den Einheiten der irakischen Armee. Und es gibt nicht allein die Opfer im Hagel der Gewehrkugeln und Raketen, sondern auch all die Kranken, die keine Pflege erhalten, die Kinder, die verschmutztes Wasser trinken müssen, die Opfer der Unterernährung, die seit dem Iran-Irak-Krieg grassiert und sich mit dem Wirtschaftsembargo nach dem Golfkrieg von 1991 verschärft hat.
Saddams Truppen sind den hochgerüsteten Waffen der USA und Großbritanniens militärisch weit unterlegen. Aus diesem Grund weicht das irakische Regime den offenen Schlachten aus und verlegt sich immer mehr auf eine Guerillataktik, die die Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild benützt. Eine Besatzungsmacht kann aber, selbst wenn sie militärisch weit überlegen ist, größte Schwierigkeiten haben, ihre Herrschaft über ein erobertes Gebiet aufrecht zu erhalten, wie dies Vietnam für die USA und Afghanistan für die Sowjetunion bewiesen haben. Und es wäre falsch zu denken, dass mit der Beseitigung oder dem Tod Saddams alles vorbei wäre. Der Krieg in Israel/Palästina hängt auch nicht von Sharon oder Arafat ab und dauert bereits Jahrzehnte, ohne dass es eine Friedensperspektive gäbe. Die Selbstmordattentate von Hamas sind das Vorbild für den Heiligen Krieg, zu dem Saddam die Moslems aufgerufen hat. Die Freiwilligen aus anderen arabischen Ländern sind bereits zu Hunderten auf dem Weg in den Irak. Um die Guerilla des Vietcong zu bekämpfen, bombardierten die USA die vietnamesischen Dörfer mit Napalm. Welche noch „effizientere“ Waffe wird nun diesmal eingesetzt, um dieser neuen Bedrohung entgegen zu treten?
1915 drückte Rosa Luxemburg ihren Abscheu gegenüber der Barbarei des Kriegs in den folgenden Worten aus: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“ (Junius-Broschüre) Leider regiert immer noch der gleiche Kapitalismus die Welt, ein Kapitalismus aber, der schon vor 90 Jahren dekadent geworden und heute in seinem Verwesungsprozess begriffen ist.
Der 11. September und der Kreuzzug gegen den internationalen Terrorismus haben eine wichtige Stufe in der Beschleunigung der imperialistischen Spannungen dargestellt, und der Krieg, der soeben im Irak ausgebrochen ist, stellt eine weitere Konkretisierung dieser Ernsthaftigkeit dar.
In einer Welt, die vom Gesetz des „Jeder-gegen-jeden“ beherrscht wird und wo insbesondere die früheren Verbündeten des westlichen Blocks darauf abzielen, sich so weit wie möglich der US-amerikanischen Vormundschaft zu entledigen, die sie früher angesichts der Drohung des gegnerischen Blocks haben ertragen müssen, besteht das einzige und entscheidende Mittel der USA zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität in der militärischen Stärke, denn hier besitzen sie eine absolute Überlegenheit gegenüber allen anderen Staaten. Doch wenn die USA dies tun, begeben sie sich in ein Dilemma: Je mehr sie die nackte Gewalt anwenden, desto mehr werden ihre Gegner dazu gedrängt, die geringste Gelegenheit auszunützen, um sich zu revanchieren und die Vorhaben der einzig übrig gebliebenen Supermacht zu sabotieren; und umgekehrt, wenn die USA darauf verzichten ihre Überlegenheit auszuspielen, so kann dies die Herausforderer nur ermuntern, in ihrer Sabotagearbeit noch weiter zu gehen.
Dieser Widerspruch, in dem sich die USA seit dem Zusammenbruch des Ostblocks befinden, ist die Grundlage für eine sich aufschaukelnde Bewegung zwischen einerseits amerikanischer Offensive, die die Gegner zum Schweigen bringen soll, und andererseits einem neuen Aufflammen der Auflehnung auf erweiterter Stufenleiter. Doch ist eine solche Bewegung naturgemäß nicht einfach eine gleich bleibende Wiederholung, sondern eine Schwingung, die immer heftiger ausschlägt.
Das veranschaulichen gerade die verschiedenen Stufen der Konflikte seit dem Golfkrieg von 1991. Und es wird weiter belegt durch die neue Welle des Widerstands gegen die amerikanische Vorherrschaft, die im Frühling 2002 angerollt ist und seither „historische Rekorde“ gebrochen hat. Frankreich hat die USA mit einer Ausdauer und Entschlossenheit herausgefordert, die zuvor unbekannt war, indem es nun offen die Karte des Vetorechts im UNO-Sicherheitsrat ausgespielt hat. Die Kühnheit des gallischen Hahns kann aber nicht getrennt werden von der Tatsache, dass er alles andere als allein ist und einstimmen kann in ein Konzert zusammen mit dem russischen Bären, dem chinesischen Drachen und vor allem dem deutschen Adler. Dieses Aufbegehren ist der Hintergrund, vor dem ein ‚Wind der Revolte‘ die ganze Welt erfasst hat. Die widerspenstigen Haltungen reichen von der offenen Provokation durch Nordkorea bis zum Verhalten der Türkei oder Mexikos, die beide den USA Knüppel zwischen die Beine geworfen haben, die Türkei auf militärischer Ebene, Mexiko auf dem diplomatischen Parkett.
Auch auf ideologischer Ebene haben sich die Dinge seit 1999 verändert, als die NATO Belgrad noch unter dem Deckmantel einer „militärischen Intervention“ bombardierte, um „die Kosovoalbaner vor dem Völkermord zu retten“. Die humanitären Vorwände der Regierungen Bush und Blair finden keinen Widerhall mehr. Der Krieg hat auch nicht mehr den Schein einer Rechtfertigung, zeigt sich in seiner nackten Gestalt und stinkt unparfümiert.
Der Krieg im Irak ist nicht der Dritte Weltkrieg. Aber die einzige Perspektive, die der im Zerfall begriffene Kapitalismus anbietet, heißt immer noch mehr Krieg und jedes Mal solche, die noch mehr Verheerungen anrichten. Die klassische Alternative der Internationalisten während des Ersten Weltkriegs: „Sozialismus oder Barbarei“ muss heute präzisiert werden: „Sozialismus oder Untergang der Menschheit“.
Die Barbarei der heutigen Welt hebt die gewaltige Verantwortung hervor, die auf den Schultern des Proletariats lastet, das einer Kampagne und unzähligen Manövern gegenüber steht, die in ihrem Ausmaß neu sind und darauf abzielen, es nicht nur von seiner historischen Perspektive abzulenken, sondern auch vom Kampf zur Verteidigung seiner unmittelbaren und elementaren Interessen. Und dies geschieht in einem Moment, in dem die Weltwirtschaft erneut in die Krise taucht.
Die Kommunisten haben die Aufgabe, die Pazifisten mit der gleichen Energie an den Pranger zu stellen wie die Kriegstreiber. Der Pazifismus ist einer der schlimmsten Feinde des Proletariats. Er schürt die Illusion, dass der ‚gute Wille‘ oder die ‚internationalen Verhandlungen‘ den Kriegen ein Ende setzen könnten, und verbreitet somit die Lüge, nach der es eigentlich einen ‚guten Kapitalismus‘ geben könnte, der den Frieden wahrt und die ‚Menschenrechte‘ beachtet. Die Rolle des Pazifismus besteht darin, die Proletarier vom Klassenkampf gegen den Kapitalismus als ganzes abzulenken (vgl. dazu in dieser Nummer der Internationalen Revue Trotzkis Artikel Der Pazifismus – Wasserträger des Imperialismus).
Aber die Arbeiterklasse ist nicht geschlagen, und das Abtauchen in die Rezession wird sie zwingen, seine Kampfbereitschaft zu entwickeln. Gleichzeitig entlarvt der Krieg immer mehr das wirkliche Wesen der bürgerlichen Gesellschaft und nährt dadurch einen Prozess der unterirdischen Bewusstseinsreifung in Minderheiten der Arbeiterklasse (vgl. dazu, aber auch zur Analyse des gegenwärtigen Krieges die Resolution zur internationalen Lage, die am 15. Kongress der IKS angenommen worden ist und in der vorliegenden Nummer der Internationalen Revue veröffentlicht wird). Das Proletariat stellt auch in der heutigen Situation, die seit dem Beginn der 1990er-Jahre durch große Schwierigkeiten geprägt ist, immer noch eine Bremse gegenüber dem Krieg dar. Das Proletariat ist die einzige Hoffnung für die Menschheit, denn nur es ist durch seine Kämpfe fähig, sich in dieser im Zerfall begriffenen Gesellschaft als Träger einer Alternative gegenüber der kapitalistischen Barbarei zu behaupten.
SM (4. April 2003)
Fußnoten:
Fast ein halbes Jahrhundert lang hat die herrschende Klasse jetzt über den Bau Europas gesprochen. Die Einführung einer gemeinsamen Währung – der Euro – wurde als ein bedeutsamer Meilenstein auf dem Weg zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa dargestellt. Dieser Prozess ist angeblich in vollem Gange, seitdem geplant ist, die Europäische Union mit dem 1.Mai 2004 von 15 auf 25 Länder zu erweitern, und der Vorschlag einer europäischen Verfassung bereits erarbeitet worden ist.
Wird sich die herrschende Klasse tatsächlich als fähig erweisen, über den engen Rahmen der Nationen hinauszugehen? Wird sie imstande sein, die ökonomische Konkurrenz und ihre eigenen imperialistischen Antagonismen zu überwinden? Wird sie in der Lage sein, dem Wirtschaftskrieg und den militärischen Konflikten, die so oft den Kontinent auseinandergerissen hatten, tatsächlich ein Ende zu setzen? Mit anderen Worten: Wird sich die Bourgeoisie als fähig erweisen, den Ansatz einer Lösung des Problems der Spaltung der Welt in konkurrierende Nationen durch den Kapitalismus anzubieten, einer Spaltung, die den Tod von zig Millionen Menschen bewirkte und den gesamten Planeten in Blut ertränkte, besonders seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts? Wird die Bourgeoisie tatsächlich fähig sein, die nationalistische Ideologie aufzugeben, die das Fundament ihrer eigenen Existenz als Klasse bildet und die Quelle ihrer ganzen ökonomischen, politischen, ideologischen und imperialistischen Legitimation ist?
Doch wenn all diese Fragen verneint werden, wenn die Vereinigten Staaten von Europa nichts als eine Fata Morgana sind, was für eine Bedeutung hat dann die Bildung und Weiterentwicklung der Europäischen Union? Ist die herrschende Klasse so masochistisch geworden, dass sie ewig einer Unmöglichkeit nachrennt? Weshalb bemüht sie sich darum, ein Haus zu errichten, das nicht lebensfähig ist? Dient es lediglich dem Zweck eines illusorischen Wetteiferns mit den Vereinigten Staaten von Amerika? Oder reiner Propaganda?
Wir können die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens ermessen, wenn wir die Vorbedingungen für seine Lebensfähigkeit berücksichtigen. Nicht nur, dass diese Voraussetzungen für dieses Projekt völlig fehlen, sie sind ganz einfach eine Utopie im gegenwärtigen historischen Zusammenhang. Da die Existenz der verschiedenen nationalen Bourgeoisien eng mit dem Privat- und/oder Staatseigentum verknüpft ist, das sich historisch innerhalb des nationalen Rahmens entwickelt hatte, würde jede wirkliche Vereinigung auf einer höheren Stufe die Entmachtung dieser Nationen bedeuten. Diese Perspektive ist um so unrealistischer, als dass eine kontinentweite Schaffung eines tatsächlich vereinigten Europas nur durch einen Prozess der Enteignung der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen in allen Mitgliedsländern stattfinden kann. Dies wäre notwendigerweise ein gewaltsamer Prozess, so wie die bürgerlichen Revolutionen gegen das feudalistische Ancien Régime oder die Unabhängigkeitskriege der neuen Nationen gegen ihre Vormundschaftsmacht. Für einen solchen Prozess wäre es unmöglich, „den politischen Willen der Regierungen“ und/oder „das Verlangen der Völker, Europa zu erschaffen“, zu ersetzen. Während des 19. Jahrhunderts spielte der Krieg stets eine vorrangige Rolle im Prozess der Bildung neuer Nationen, um entweder den inneren Widerstand reaktionärer Bereiche in der Gesellschaft zu eliminieren oder um auf Kosten der Nachbarländer die eigenen Grenzen neu zu ziehen.1 Wir können uns daher leicht ausmalen, was der Prozess der europäischen Vereinigung kosten würde. Dies unterstreicht, dass die Idee einer friedlichen Union von verschiedenen Ländern, so europäisch sie auch sein mögen, entweder eine Utopie oder heuchlerisch und verlogen ist. Denn eine solche Vereinigung zu ermöglichen würde das Auftreten einer neuen gesellschaftlichen Gruppe implizieren, der Trägerin emanzipatorischer supranationaler Interessen, die, gestählt durch einen wahrhaft revolutionären Prozess und mit Hilfe ihrer eigenen politischen (Parteien, etc.) und Zwangsmittel (Streitkräfte, etc.), jene bürgerlichen Interessen enteignet, die an den verschiedenen nationalen Kapitalien gebunden sind, und ihnen ihre Macht aufzwingt.
Ohne uns länger über die nationale Frage auszulassen, ist es klar, dass all jene (ungefähr 100) Nationen, die nach dem Krieg von 1914–18 gegründet worden waren, das Ergebnis nationaler Probleme waren, die während des 19. Jahrhunderts und bis zu Beginn des
20. Jahrhunderts ungelöst geblieben waren. Alle von ihnen waren nationale Totgeburten, die sich als unfähig erwiesen, ihre bürgerliche Revolution zu vervollständigen und mit genügendem Nachdruck eine industrielle Revolution zu initiieren; alle von ihnen fühlten so die Dynamik der massiven Konflikte, die seit dem Ersten Weltkrieg stattgefunden hatten. Nur jene Länder, die sich während des 19. Jahrhunderts gebildet hatten, waren imstande gewesen, einen ausreichenden Grad an Kohärenz, Wirtschaftskraft und politischer Stabilität zu erreichen. Die sechs größten Mächte von heute waren es bereits, wenn auch in anderer Reihenfolge, am Vorabend des I. Weltkrieges. Selbst bürgerliche Historiker sehen diese Tatsache, doch sie kann nur wirklich im Rahmen des historischen Materialismus erklärt werden.
Um sich auf einem soliden Fundament zu bilden, muss eine Nation auf einer realen Zentralisierung ihrer Bourgeoisie begründet sein, und diese Zentralisierung wird in einem erbitterten, Einheit stiftenden Kampf gegen den Feudalismus des Ancien Régime geschmiedet. Sie muss genügend solide ökonomische Grundlagen für ihre industrielle Revolution besitzen, um sich ihren Platz auf einem Weltmarkt zu sichern, welcher sich noch in der Entstehung befindet. Diese beiden Bedingungen existierten während der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs, die sich im Wesentlichen vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum I. Weltkrieg erstreckte. Danach verschwanden diese Bedingungen, und daher war von da an die Entstehung neuer, lebensfähiger nationaler Projekte nicht mehr möglich. Warum also sollte es heute plötzlich wieder möglich geworden sein, etwas durchzuführen, was schon während des 20. Jahrhunderts unmöglich gewesen war? Da keine der neuen Nationen, die seit dem Ersten Weltkrieg gebildet worden waren, in der Lage gewesen war, adäquate Existenzmittel zu sammeln, warum sollte die Entstehung einer neuen Großmacht – wie es die Vereinigten Staaten von Europa wären – plötzlich nun möglich sein?
Die dritte logische Konsequenz einer hypothetischen europäischen Einheit setzt eine Abschwächung der Tendenz zur Verschärfung imperialistischer Antagonismen unter den konkurrierenden Ländern Europas voraus. Doch wie Marx Mitte des 19. Jahrhunderts (im Kommunistischen Manifest) hervorhob, ist der Antagonismus zwischen den einzelnen Fraktionen der Bourgeoisie eine Konstante: „Die Bourgeoisie befindet sich in fortwährendem Kampf; anfangs gegen die Aristokratie; später gegen Teile der Bourgeoisie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten; stets gegen die Bourgeoisie aller auswärtigen Länder.“ (Karl Marx, „Manifest der Kommunistischen Partei“, MEW Bd. 4, S. 459-492) Während die Widersprüche zwischen der Bourgeoisie und den Überbleibseln des Feudalismus oder ihrer eigenen rückwärts gewandten Sektoren von der kapitalistischen Revolution größtenteils überwunden worden waren, zumindest in den entwickelten Hauptländern, haben sich im Gegensatz dazu die Antagonismen zwischen den Nationen im gesamten 20. Jahrhundert nur vertieft. Warum also sollten wir erwarten, dass sich dieser Prozess umkehrt, wenn sich die Konflikte zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse während der gesamten Periode der Dekadenz immer weiter verschärft haben?
In der Tat besteht ein unzweideutiges Kennzeichen einer Produktionsweise, die die Periode ihrer Dekadenz betreten hat, in der Explosion von Antagonismen zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse. Diese können nicht mehr ausreichend Mehrwert aus den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen ziehen, die fortan obsolet geworden sind, und neigen somit dazu, dies durch die Ausplünderung ihrer Rivalen zu tun. Dies traf auf die Dekadenz der feudalen Produktionsweise (1325–1750) zu, als dem Hundertjährigen Krieg die Kriege zwischen den großen europäischen absolutistischen Monarchien folgten: „... Gewalttätigkeiten waren ohne Zweifel ein permanenter und besonderer Charakterzug der mittelalterlichen Gesellschaft. Dennoch erreichten sie während der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert eine neue Dimension (...) Der Krieg wurde zu einem endemischen Phänomen, genährt von gesellschaftlichen Frustrationen (...) Die Generalisierung von Kriegen war vor allem der ultimative Ausdruck von Funktionsstörungen einer Gesellschaft, die sich im Würgegriff von Problemen befand, die sie nicht meisterte. Und so suchte sie Zuflucht in Kriegen, um den Problemen des Alltags zu entgehen.“ (Guy Bois, La Grande dépression médiévale)2.Diese Periode der Dekadenz der feudalen Produktionsweise steht in einem großen Kontrast zum Aufstieg des Mittelalters (1000–1325): „Noch deutlicher als zu Feudalzeiten erlebte die Periode zwischen – grob gesagt – 1150 und 1300 über weite geographische Gebiete hinweg Phasen eines beinahe vollständigen Friedens, dank dessen die wirtschaftliche und demographische Expansion wachsen konnte.“ (P. Contamine, La Guerre au Moyen Age)3 Dasselbe trifft auf die Produktionsweise der Sklavenhaltergesellschaften, auf die Zerstückelung des Römischen Reiches und die Ausbreitung von endlosen Konflikten zwischen Rom und seinen Provinzen zu.
Dies war auch der Fall, als der Kapitalismus seine Dekadenzperiode betrat. Um sich eine Vorstellung von der Kluft zwischen den Existenzbedingungen während des Aufstiegs des Kapitalismus und denen seiner Dekadenz zu machen, wollen wir hier aus Eric Hobsbawns „Das Zeitalter der Extreme“ (1994)2 zitieren, in dem er sehr gut den fundamentalen Unterschied zwischen dem „langen 19. Jahrhundert“ und dem „kurzen 20. Jahrhundert“ aufzeigt: „Wie sollen wir dem kurzen 20. Jahrhundert einen Sinn abgewinnen – Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion? (...) während des Kurzen 20. Jahrhunderts wurden mehr Menschen auf Weisung und mit Erlaubnis ermordet als jemals zuvor in der Geschichte. (...) Es war ohne Zweifel das mörderischste Jahrhundert von allen, über das wir Aufzeichnungen besitzen: mit Kriegszügen von nie gekannten Ausmassen und von nie dagewesener Häufigkeit und Dauer, sowohl was das Niveau, die Häufigkeit und die Dauern dieser Kriege betrifft (und welche in den zwanziger Jahren kaum ein Unterbruch hatten), als auch bezüglich dem Ausmass der grössten Hungersnöte der Geschichte und den systematischen Genoziden. Im Unterschied zum langen 19. Jahrhundert, welches eine Periode des nahezu ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritts zu sein schien und auch wirklich war, sind wir seit 1914 Zeugen eines markanten Rückgangs dieser bis anhin für die entwickelten Länder als selbstverständlich angenommenen Werte. (...) Dies alles änderte um 1914 (...) Kurz gesagt, 1914 leitete die Epoche der Massaker ein (...) Die Mehrzahl der nicht-revolutionären und nicht-ideologischen Kriege der Vergangenheit waren nicht als Kämpfe auf Leben und Tod bis zur totalen Erschöpfung geführt worden. (...) Warum führten die dominanten Mächte unter diesen Umständen der Ersten Weltkrieg bis zum Nichts, also als Krieg, der nur entweder ganz gewonnen oder ganz verloren werden konnte? Der Grund dafür ist, dass dieser Krieg, im Unterschied zu den vorausgegangenen Konflikten mit begrenzten und genau festgelegten Zielen, mit uneingeschränkten Absichten geführt wurde. (...) Dies war ein absurdes und selbstzerstörerisches Ziel, welches zugleich Sieger und Besiegte ruinierte. Letztere führte er in die Revolution, die Sieger zum Zusammenbruch und zur physischen Erschöpfung. (...) Im modernen Krieg werden alle Bürger hineingezogen und die Mehrheit von ihnen wird mobilisiert; sei es, dass er mit Rüstung geführt wird, deren Produktion eine Umleitung der ganzen Wirtschaft erfordert und in unvollstellbarem Umfang eingesetzt wird; sei es, dass er unglaubliche Zerstörungen erzeugt, aber auch die Existenz der in ihn verwickelten Länder dominiert und verändert. So sind alle diese Phänomene dem Krieg des 20. Jahrhunderts eigen. (...) Diente der Krieg dem Wirtschaftswachstum? Es ist klar, dass dem nicht so ist.“4 Der Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzperiode machte fortan die Entstehung neuer, wirklich lebensfähiger Nationen unmöglich. Die relative Sättigung zahlungskräftiger Märkte – im Verhältnis zu den enormen Bedürfnissen der Akkumulation, die von der Entwicklung der Produktivkräfte geschaffen wurden – , die der Dekadenz des Kapitalismus zugrunde liegt, verhindert jede „friedliche“ Lösung seiner unüberwindlichen Widersprüche. Daher ist seither die Zahl der Handelskriege zwischen den Nationen und die Entwicklung des Imperialismus nur gewachsen. In einem solchen Kontext sind Nationen, die spät die Weltbühne betreten haben, unfähig, ihre Rückständigkeit zu überwinden: Im Gegenteil, der Abstand zu den entwickelten Ländern wächst unerbittlich.
Selbst in der Zeit vor dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts, in einer Epoche, die eigentlich günstig für die Entstehung neuer Nationen gewesen war, war die nationale Einheit Europas ausgeschlossen, weil die Voraussetzungen für diese Einheit nicht existierten; seither ist ihre Existenz noch irrelevanter geworden. Ja, in der gegenwärtigen und finalen Phase der Dekadenz, in der Phase des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft5, sind die Bedingungen für die Entstehung einer neuen Ausgangslage nicht nur noch ungünstiger, sie üben darüber hinaus Druck auf existierende, aber weniger stabile Nationen aus und führen zu deren Auflösung (die UdSSR, Jugoslawien, Tschechoslowakei, etc.) sowie zur Verschärfung der Spannungen selbst zwischen den stärksten und stabilsten Ländern (siehe weiter unten das Kapitel über Europa in der Zerfallsperiode).
Kommt dieser Prozess der europäischen Vereinigung inmitten der kapitalistischen Dekadenz überraschend? Ist er ein Zeichen dafür, dass die kapitalistische Produktionsweise ihre alte Stärke wiederentdeckt hat, dass sie der Dekadenz ein Schnippchen geschlagen hat? Allgemein ausgedrückt: Können wir ein ähnliches Phänomen während der Dekadenz früherer Gesellschaften beobachten, und wenn ja, worin bestand seine Bedeutung?
Die Dekadenz der feudalen Produktionsweise ist in diesem Zusammenhang interessant, da sie Zeuge der Bildung der großen absolutistischen Monarchien war, die über zerstreute Lehnsgüter hinauszugehen schienen, welche so kennzeichnend für die feudale Produktionsweise waren. Während des 16. Jahrhunderts verhalf dies dem absolutistischen Staat im Westen zum Leben. Die zentralisierten Monarchien stellten einen entscheidenden Bruch mit der pyramidenhaften und zerstreuten Souveränität in den mittelalterlichen gesellschaftlichen Gebilden dar. Diese Zentralisierung der monarchischen Macht bewirkte den Aufstieg eines stehenden Heeres und einer Bürokratie, einer nationalen Steuererhebung sowie einer kodifizierten Rechtsprechung und den Beginn eines vereinigten Marktes. Obgleich all diese Elemente als Charakteristikum des Kapitalismus erscheinen mögen – dies um so mehr, als sie mit dem Verschwinden der Leibeigenschaft zusammenfallen – sind sie dennoch ein Ausdruck des verfallenden Feudalismus.
Tatsächlich ging die „nationale Vereinigung“, die auf mannigfaltigen Ebenen von den absolutistischen Monarchien durchgeführt worden war, nicht über den geohistorischen Rahmen des Mittelalters hinaus, sondern drückte vielmehr die Tatsache aus, dass Letzterer zu eng geworden war, um die fortdauernde Entwicklung der Produktivkräfte zu umfassen. Die absolutistischen Staaten stellten eine Form der Zentralisierung der feudalen Aristokratie dar, indem sie ihre Macht stärkten, um der Dekadenz der feudalen Produktionsweise zu widerstehen. Die Zentralisierung der Macht ist in der Tat ein weiteres Kennzeichen der Dekadenz einer jeden Produktionsweise – im Allgemeinen durch eine Wiederverstärkung des Staates, der die kollektiven Interessen der herrschenden Klasse repräsentiert – um einen stärkeren Widerstand gegen die ruinösen Krisen ihres historischen Abstiegs auf die Beine zu stellen.
Wir können eine Analogie dazu in der Bildung der Europäischen Union im Besonderen und in all den regionalen Wirtschaftsabkommen auf der ganzen Welt im Allgemeinen feststellen. Sie sind Versuche, über den zu engen Rahmen der Nation hinauszugehen, um sich der Verschärfung der ökonomischen Konkurrenz in der kapitalistischen Dekadenz zu stellen. Die Bourgeoisie ist daher gefangen zwischen einerseits der immer größeren Notwendigkeit, über den nationalen Rahmen hinauszugehen, um ihre wirtschaftlichen Interessen besser zu verteidigen, und andererseits den nationalen Grundlagen ihrer Macht und ihres Eigentums. Europa ist keinesfalls eine Überwindung dieses Widerspruchs, sondern ein Ausdruck des bürgerlichen Widerstandes gegen die Widersprüche der Dekadenz ihrer eigenen Produktionsweise. Als Louis XIV. die Granden des Reiches dazu einlud, in seinen Hof in Versailles zu ziehen, geschah dies nicht zu ihrem Wohlgefallen, sondern vielmehr um sie zu unter kaiserliche Kuratel zu stellen und sie daran zu hindern, Komplotte in ihren Provinzen gegen ihn zu schmieden. In gewisser Weise ist das strategische Kalkül innerhalb der Europäischen Union dem nicht unähnlich. So zieht es Frankreich vor, Deutschland an Europa gebunden und die Deutsche Mark mit dem Euro verschmolzen zu sehen, statt Zeuge zu werden, wie Deutschland bei seiner Expansion in Mitteleuropa, wo die Deutsche Mark bereits zur heimlichen Leitwährung geworden war, seine historische Interesssen entfaltet. Nach seinem Versuch, die EFTA gegen die EWG zu bilden, zieht es Großbritannien nun vor, in letztgenanntem Verein mitzumachen, um so die Politik der EWG zu beeinflussen bzw. zu sabotieren, statt sich auf seiner Insel zu isolieren, wohingegen Deutschland im Sinn hat, unter dem Mantel der europäischen Fiktion die Entfaltung seiner tatsächlich imperialistischen Ambitionen als künftiger Anführer eines imperialistischen Blocks weiter zu betreiben, der in der Lage ist, mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu rivalisieren.
Die Wurzeln der Europäischen Gemeinschaft lagen in der Existenz des Kalten Krieges, der unmittelbar nach dem II. Weltkrieg folgte. Durch die Wirtschaftskrise und die gesellschaftlichen Verwerfungen destabilisiert, war Europa eine potenzielle Beute des russischen Imperialismus und wurde daher von den Vereinigten Staaten gestützt, um einen Schutzwall gegen die Avancen des Ostblocks zu bilden. Dies wurde dank des Marshallplans erreicht, der im Juni 1947 allen europäischen Ländern in Aussicht gestellt worden war. Auch die Schaffung einer Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft entsprach dem Kalkül, Europa im Zusammenhang mit einer dramatischen Zuspitzung der Ost-West-Spannungen anlässlich des Koreakrieges zu stärken. Die Schaffung der EWG 1957 vervollständigte die Stärkung des westlichen Blocks auf dem Kontinent. Diese Entwicklung in Europa, die im Wesentlichen auf wirtschaftlichem Gebiet und, mit der Präsenz von Truppen und Waffen der NATO, auf militärischer Ebene erfolgte, beweist, dass Europa, weit davon entfernt, eine friedliche Idylle zu sein, die Hauptbühne von interimperialistischen Konflikten blieb, so wie es in der gesamten Geschichte des Kapitalismus gewesen war.
Im Gegensatz zur Propaganda der herrschenden Klasse war der Friede, der seit dem Ende des II. Weltkrieges in Europa herrschte, nicht die Folge eines Prozesses der europäischen Vereinigung oder der Friedfertigkeit, die plötzlich unter den historischen Rivalen ausgebrochen war, sondern die Folge des Zusammentreffens von drei ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren. So erlaubte die wirtschaftliche Wiederbelebung in Kombination mit keynesianischen Regulierungen dem Kapitalismus, sein Überleben zu verlängern, ohne gezwungen zu sein, sofort Zuflucht zu suchen in einem dritten Weltkonflikt, wie es zwischen dem I. und II. Weltkrieg der Fall gewesen war, als 1929 nach nur zehn Jahren des Wiederaufbaus, zwischen 1919 und 1929, die schlimmste Überproduktionskrise in der Geschichte ausbrach und bis zum Vorabend des II.Weltkrieges anhielt. So bildeten sich im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg zwei imperialistische Blöcke (NATO und Warschauer Pakt), die sich auf dem Kontinent gegenüberstanden; die Vereinigten Staaten und die UdSSR, die beiden jeweiligen Blockführer, waren eine Zeitlang in der Lage, ihre direkten Konfrontationen an die Peripherie zu drängen. Dies hinderte jedoch lokale Konflikte zwischen 1945 und 1989 nicht daran, mehr Opfer zu verursachen als sämtliche Schlachten des II.Weltkrieges zusammen! Und schließlich versperrte die Tatsache, dass das Proletariat ideologisch nicht bereit war, in den Krieg zu ziehen, nachdem es 1968 die historische Bühne wieder betreten hatte, den Weg zur Kriegshetze der beiden imperialistischen Blöcke genau in dem Augenblick, als es für sie immer dringlicher wurde, angesichts der sich ausbreitenden Wirtschaftskrise zu offenen Feindseligkeiten zu schreiten.
Unter ziemlich günstigen Umständen waren die europäischen Staaten in der Lage gewesen, im Wesentlichen auf wirtschaftlicher Ebene zu Übereinkünften zu gelangen: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas, die europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft, die Schaffung einer europaweiten Mehrwertsteuer, der Gemeinsame Markt und das Europäische Währungssystem sind allesamt Beispiele dafür. Im Gegensatz dazu waren die politischen Misshelligkeiten eine Konstante in der Politik der EWG und EU, die unmittelbar nach der Niederlage Deutschlands im Krieg mit der deutschen Frage ihren Anfang nahm. Frankreich wollte ein schwaches und unbewaffnetes Deutschland. Die Vereinigten Staaten hingegen erzwangen wegen der Erfordernisse des Kalten Kriegs den Wiederaufbau eines starken, wiederaufgerüsteten Deutschland, was 1949 zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland führte. 1954 lehnte Frankreich die Ratifizierung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft trotz der Tatsache ab, dass das EWG-Abkommen bereits 1952 von den fünf europäischen Partnern unter dem Druck der Amerikaner unterzeichnet worden war. Das Vereinigte Königreich, das sich geweigert hatte, der 1957 gebildeten EWG beizutreten, versuchte seinerseits, eine weiter gefasste Freihandelszone zu errichten, die alle Länder der OECD umfasste und den Gemeinsamen Markt beinhalten sollte, was ihn so seiner Exklusivität beraubt hätte. Als die Franzosen sich weigerten, taten sich die Briten mit anderen europäischen Ländern zusammen, um am 20. November 1959 mit der Unterzeichnung des Stockholmer Vertrages die European Free Trade Association (EFTA) zu gründen. Bei zwei Gelegenheiten, 1963 und 1967, lehnte Frankreich die EWG-Kandidatur Großbritanniens ab, da es in ihm ein trojanisches Pferd der Amerikaner erblickte. 1967 provozierte Frankreich dabei eine ernste Krise, die sechs Monate andauerte, indem es eine Politik des „leeren Stuhls“ betrieb; sie endete mit einem Kompromiss, der Europa zwar das weitere Überleben ermöglichte, dabei aber das Einstimmigkeitsprinzip bei allen EWG-Beschlüssen etablierte. Nachdem Großbritannien im Januar 1973 der EWG beigetreten war, zögerte es nicht, bei zahllosen Gelegenheiten Sand in das Getriebe der EWG-Politik zu streuen, beginnend mit der Neuaushandlung des Beitrittsvertrages ein Jahr später und im weiteren mit Veränderungen in der EG-Agrarpolitik, Neuverhandlungen über den britischen Beitrag zum EG-Etat (s. Margaret Thatchers berühmtes „Ich will mein Geld zurück“), mit der Weigerung, einer gemeinsamen Währung beizutreten, etc. Erst kürzlich haben die Unstimmigkeiten über das Datum der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU die Spaltung Europas auf der Ebene seiner imperialistischen Rivalitäten enthüllt. Frankreich verhält sich offen feindselig gegenüber diesem Land, das sich entweder mit Deutschland oder mit den USA eng verbunden fühlt. Letztere haben tatsächlich einen unerhörten Druck ausgeübt, damit die Türkei als künftiger Kandidat akzeptiert wird, sei es durch direkte Telefonate des Präsidenten mit europäischen Führern oder indirekt, via des britischen Lobbyismus, durch eine unterschwellige, aber offiziell abgesegnete Strategie, die da lautet: Je mehr die EU erweitert wird, desto weniger wird sie zur politischen Integration und vor allem zur Entwicklung einer gemeinsamen Politik und Strategie auf der internationalen Bühne in der Lage sein.
Die vollständige Abwesenheit jeglicher gemeinsamen Politik oder der Instrumente für diese Politik (eine gemeinsame Armee), das Fehlen eines substanziellen Etats der EU in der Größenordnung nationaler Etats (derzeit knapp 1,27% des BSP von Euroland!) und der völlig überproportionierte Anteil der Landwirtschaft am EU-Etat (nahezu die Hälfte dessen wird für einen Bereich ausgegeben, der nicht mehr als 4–5% der Wertschöpfung in der EU repräsentiert), etc. – all dies demonstriert deutlich genug, dass die fundamentalen Attribute eines europäischen supranationalen Staates fehlen oder da, wo sie existieren, keine wirkliche Macht oder Unabhängigkeit besitzen. Die politische Funktionsweise der Europäischen Union ist eine reine Karikatur, typisch für die Funktionsweise der Bourgeoisie in der Epoche der Dekadenz. Das Parlament hat keine Macht, der Schwerpunkt des politischen Lebens wird von der Exekutive, dem Rat der Minister, so stark vereinnahmt, dass selbst die Bourgeoisie sich regelmäßig über das „Defizit an demokratischer Legitimation“ beschwert!
Dies ist insofern kaum überraschend, als dass die politische Strategie der Europäer bereits während des Kalten Krieges nur sehr bedingt vorkam und durch die Disziplin des amerikanischen Blocks in engen Grenzen gehalten wurde. Diese Strategie hatte schon zu jener Zeit nur geringe Konsistenz, doch nach dem Fall der Berliner Mauer, der das Verschwinden der beiden Blöcke markierte, verringerte sie sich noch mehr. Seitdem gibt es keine außenpolitische Frage, zu der Europa in der Lage wäre, eine gemeinsame Position zu definieren. Es ist zerrissen zwischen verschiedenen oder gar gegensätzlichen Positionen in der Frage des Nahen Ostens, des Golfkrieges, des Konflikts in Jugoslawien und im Kosovo, etc. Dasselbe trifft auf den Vorschlag der Schaffung einer europäischen Armee zu. Während einige (wie Frankreich und Deutschland zum Beispiel) auf mehr Integration drängen, einschließlich einer größeren Unabhängigkeit gegenüber den verbliebenen Militärstrukturen der NATO, wollen andere (Großbritannien und die Niederlande zum Beispiel) in ihnen verbleiben.
Wenn die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa eine Illusion ist, wenn eine wirkliche, allumfassende europäische Integration ein Aberglauben ist, wenn die Wurzeln der Existenz einer begrenzten europäischen Einigung in den Erfordernissen des Kalten Krieges lagen – was steckt dann hinter der politischen Absicht, heute diese Strukturen zu stärken?
Wie wir gesehen haben, waren die Geburt der Europäischen Gemeinschaft und ihre Erstarkung zuallererst Ausdrücke der Notwendigkeit, den sowjetischen Expansionsdrang nach Europa zu bremsen. Obgleich sie für die imperialistischen Bedürfnisse des amerikanischen Blocks geschaffen wurde und sich gar für die wirtschaftliche Expansion durch Letzteren als nützlich erwies (wie Japan und die „neu industrialisierten Länder“), wurde sie Zug um Zug zu einem ernsthaften wirtschaftlichen Konkurrenten für die Vereinigten Staaten, einschließlich ihrer Domänen in der Hochtechnologie (Airbus, Arianespace, etc.). Dies ist eines der Resultate der wirtschaftlichen Konkurrenz während des Kalten Krieges. Bis zum Fall der Berliner Mauer war die europäische Integration im Wesentlichen ökonomischer Natur. Beginnend als eine Binnenfreihandelszone für Waren und dann als Zollunion gegen andere Länder, wurde sie schließlich zu einem gemeinsamen Markt für Güter, Kapital und Arbeit. Schließlich krönte Europa diese Integration mit der Aufstellung des EU-Regelwerks. Das Ziel dieser wirtschaftlichen Integration war von Beginn an gewesen, Europas Stellung auf dem Weltmarkt zu stärken. Die Schaffung eines erweiterten Marktes, der eine großräumige Ökonomie ermöglichte, sollte die Mittel schaffen, um europäische Firmen gegenüber fremder Konkurrenz, besonders durch die Amerikaner und Japaner, zu stärken. Die Schaffung des Single Act 1985/86 wurde aus der allgemeinen wirtschaftlichen Lage Europas geboren: Europa litt mehr an den zehn Krisenjahren als Japan und die Vereinigten Staaten.
Seit dem Beginn der 80er Jahre ist der Kapitalismus durch eine Situation gezeichnet, in der die beiden grundsätzlichen und antagonistischen Klassen der Gesellschaft in Konfrontation und Gegensatz zueinander stehen, ohne dass eine von beiden in der Lage ist, ihre Alternative durchzusetzen. Doch noch weniger als all den anderen, vorausgegangenen Produktionsweisen ist es dem gesellschaftlichen Leben unter dem Kapitalismus möglich, ein „Einfrieren“ oder eine „Stagnation“ zu ertragen. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich immer weiter verschärfen, können die Unfähigkeit der Bourgeoisie, auch nur den Hauch einer Perspektive für die gesamte Gesellschaft anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, sich selbst offen zu behaupten, nur zum Phänomen eines allgemeinen Zerfalls führen, zu einer Gesellschaft, die am lebendigen Leib verrottet. Der Kollaps des Ostblocks 1989 war lediglich der spektakulärste einer Reihe von unmissverständlichen Ausdrücken der Tatsache, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihre letzte Lebensphase angelangt ist.
Dies trifft auch auf die ernste Zuspitzung der politischen Verwerfungen in den peripheren Ländern zu, die die Großmächte in wachsendem Maße daran hindert, sie zu benutzen, um im eigenen Gebiet für Ordnung zu sorgen, und sie somit dazu zwingt, immer direkter in militärische Konfrontationen zu intervenieren. Dies wurde bereits in den 1980er Jahren deutlich, im Libanon und vor allem im Iran. Besonders im Iran erlangten die Ereignisse eine bis dahin unbekannte Dimension: Ein Land, das einem Block angehört, ja, wichtiges Mitglied eines Militärbündnisses ist, gerät aus dessen Kontrolle, ohne auch nur ansatzweise unter die Vorherrschaft des anderen Blocks zu gelangen. Dies war nicht die Folge der Schwäche des Blocks als Ganzes, ja, nicht einmal eine Frage der Entscheidung dieses Landes, die auf die Verbesserung der Stellung des nationalen Kapitals abzielt – ganz im Gegenteil, denn diese Politik hätte nur zu einer wirtschaftlichen und politischen Katastrophe geführt. Tatsächlich ließen sich vom Standpunkt der Interessen des nationalen Kapitals die Ereignisse im Iran – nicht einmal illusorisch – rational erklären. Am deutlichsten wird dies durch die Machtergreifung der Geistlichen veranschaulicht, einer Gesellschaftsschicht, die niemals eine Kompetenz im Management der wirtschaftlichen oder politischen Angelegenheiten besessen hatte. Der Aufstieg des islamischen Integrationismus und sein Sieg in einem verhältnismäßig wichtigen Land sind Lehrbeispiele für die Zerfallsphase und sind seitdem durch die Entwicklung dieses Phänomens in etlichen anderen Ländern bestätigt worden.
Hier können wir die Entstehung von Phänomenen erblicken, die den klassischen Charakteristiken der kapitalistischen Dekadenz eine qualitative Änderung attestieren.
Historisch obsolet geworden, entwickeln herrschende Klassen stets eine Reihe von Mechanismen und Strukturen, um die Kräfte zu konfrontieren, die ihre Macht untergraben (wachsende Wirtschaftskrisen und militärische Konflikte, die Verwerfungen des Gesellschaftskörpers, der Zerfall der herrschenden Ideologie, etc.). Was die Bourgeoisie betrifft, bestehen diese Mechanismen im Staatskapitalismus, in einer immer totalitäreren Kontrolle der Zivilgesellschaft, in der Unterwerfung der verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie unter die höheren Interessen der Nation, in der Bildung von Militärbündnissen, um der internationalen Konkurrenz zu begegnen, etc.
Solange die Bourgeoisie in der Lage ist, das Gleichgewicht der Klassenkräfte zu beherrschen, können die Ausdrücke des Zerfalls, Kennzeichen einer jeden dekadenten Produktionsweise, in gewisse Grenzen gehalten werden, die mit dem Überleben ihres Systems vereinbar sind. In der Zerfallsphase selbst jedoch bestehen diese Charakteristiken fort und werden von der wachsenden allgemeinen Krise verschärft, während die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, ihre Lösung durchzusetzen, und der Arbeiterklasse, ihre eigenen Perspektiven aufzustellen, das Feld allen Arten gesellschaftlicher und politischer Auflösungserscheinungen überlässt – bis hin zur Explosion des Jeder-gegen-Jeden: „Elemente des Zerfalls können in allen dekadenten Gesellschaften gefunden werden: die Verwerfungen des Gesellschaftskörpers, das Dahinrotten ihrer politischen, ökonomischen und ideologischen Strukturen, etc. Dasselbe traf seit dem Beginn seiner dekadenten Epoche auf den Kapitalismus zu (...) in einer historischen Situation, in der die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, in den Kampf um die eigenen Interessen und um die einzig ‚realistische‘ Perspektive – die kommunistische Revolution – zu treten, wo aber auch die herrschende Klasse nicht imstande ist, auch nur den Hauch einer Perspektive für sich selbst zu verschaffen, selbst kurzfristig nicht, hilft die frühere Fähigkeit der Letzteren während der Dekadenzperiode, das Phänomen des Zerfalls zu begrenzen und zu kontrollieren, nicht mehr weiter, sondern fällt unter den wiederholten Schlägen der Krise in sich zusammen.“ (ebenda siehe Fussnote 4)
Die Geschichte zeigt, dass die Gesellschaft, wenn sie in ihren eigenen Widersprüchen verfangen ist, ohne sie lösen zu können, in ein wachsendes Chaos, in endlose Kämpfe zwischen Warlords stürzt. Das Bild des Zerfalls ist voll von wachsendem Chaos und Jeder-gegen-Jeden. Einer der Hauptausdrücke des Zerfalls des Kapitalismus zeigt sich in der wachsenden Unfähigkeit der Bourgeoisie, die politische Lage der verschiedensten Art zu kontrollieren: bei der Disziplin unter ihren verschiedenen imperialistischen Fraktionen, bei der Zügelung ihres imperialistischen Heißhungers, etc. Die Unfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, der Gesellschaft auch nur die leiseste Perspektive anzubieten, führt unvermeidlich zu wachsendem, allgemeinem Chaos.
Ende der 80er Jahre sollte sich diese Diagnose auf spektakulärste Weise bestätigen. Die Auflösung des Ostblocks und der UdSSR, der Tod des Stalinismus, die Auflösung Russlands selbst, dem kurz darauf der Golfkrieg folgte, verliehen diesen Charakteristiken einer zerfallenden Produktionsweise unmissverständlich Ausdruck: die Explosion des „Jeder-für-sich-selbst“, die Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und wachsendes Chaos.
In diesem Zusammenhang müssen wir die Reorientierung der europäischen Politik während der 1990er Jahre sehen. Die bis dahin im Wesentlichen ökonomische Ausrichtung schlug nach dem Fall der Berliner Mauer im Dezember 1989 eine deutlich politischere Richtung ein; der Gipfel von Straßburg beschleunigte den Prozess der Etablierung des Euros und lud die osteuropäischen Länder an den Verhandlungstisch. Zu diesem Zeitpunkt war es beschlossene Sache, dass künftig neue Mitglieder integriert werden würden, und die materiellen Mittel, um dies zu erreichen, führten im Mai 1980 zur Bildung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBAE), zu Investitionen in mannigfaltigen Bereichen, zu Kooperationsprogrammen, etc. Der im Wesentlichen geostrategische Charakter dieser Erweiterung Europas in Richtung Osten wurde durch die Tatsache demonstriert, dass der wirtschaftliche Nutzeffekt sich als nichtexistent oder gar negativ erweisen sollte, wie zum Beispiel die Integration Ostdeutschlands in die Bundesrepublik. Das durchschnittliche Bruttosozialprodukt pro Einwohner in den zehn Kanididaten-Ländern ist nicht einmal halb so groß wie in den 13 EU-Staaten. Die Handelsbeziehungen sind zutiefst asymmetrisch. Während 70% der Exporte der ost- und mitteleuropäischen Länder in die Europäische Union gehen, können Erstere nur 4–5% der Exporte Letzterer für sich verbuchen. Während die östlichen Länder sich in einer empfindlichen Abhängigkeit von der Wirtschaftslage Westeuropas befinden, ist dies umgekehrt nicht der Fall. Ein weiteres Element ihrer Verwundbarkeit rührt aus der Tatsache, dass es ein strukturelles Handelsdefizit in sämtlichen ost- und mitteleuropäischen Ländern gibt, was sie vom Zufluss fremden Kapitals abhängig macht. Die Beschäftigungsquote ist seit 1990 in dieser Region um 20% gesunken, und viele Länder sind noch immer in ernsten ökonomischen Problemen verstrickt.
Die wahren Gründe für die Integration der neuen Kandidaten in die EU sind woanders zu suchen. Der erste Grund ist klar imperialistisch. Was ansteht, ist der Ausverkauf der Überbleibsel des ehemaligen Ostblocks. Der zweite ergibt sich aus den Konsequenzen des Zerfalls selbst: Für die EU ist es lebenswichtig, eine relativ stabile Pufferzone an ihren östlichen Grenzen zu installieren, um sich nicht vom wirtschaftlichen und sozialen Chaos anstecken zu lassen, das von der Auflösung des Ostblocks ausgeht. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist es wichtig, dass die wichtigeren der neuen Mitgliedsländer wirtschaftlich am stärksten und geographisch Westeuropa am nächsten sind (Polen, Tschechien, Slowakei und Slowenien), während die drei baltischen Länder (Estland, Lettland und Litauen) den Zugang Russlands zur Ostsee einschränken. Im Endeffekt ist die EU-Politik gegenüber Osteuropa das Ergebnis der überragenden Stellung der imperialistischen Ziele. Einerseits wetteifert die EU, mit Deutschland an der Spitze, mit den Vereinigten Staaten um das Eigentum der Überbleibsel des alten Ostblocks. Das Ziel der Europäischen Union ist es, so viel ost- und mitteleuropäische Länder wie möglich unter ihren Einflussbereich zu bringen, möglichst einschließlich Russlands, das trotz seiner Anlehnung an Amerika heute Deutschland zum Haupthandelspartner hat. Frankreich auf der anderen Seiten ist ebenfalls an einer Expansion der EU in den Osten interessiert, wenn sie von der EU, und nicht von einem unabhängigen Deutschland, das seine alten Vorkriegsreflexe wiederentdeckt, ausgeführt wird. Deutschland ist seinerseits bereit, diese Strategie zu akzeptieren, weil es dadurch die Betreibung seiner imperialistischen Ambitionen bedeckt halten kann, eingedenk dessen, dass es noch nicht bereit ist, offen die Führungsrolle eines neuen imperialistischen Blocks als Widerpart der Vereinigten Staaten anzunehmen.
Die Zerfallsphase und der Zusammenbruch der imperialistischen Blöcke sind der Rahmen zum Verständnis für die Schaffung einer einzigen Währung. Sie hat vier Grundlagen:
1) Die erste ist geostrategischer und imperialistischer Natur. Die französische und deutsche Bourgeoisie ist daran interessiert zu verhindern, dass die deutsch-französische Allianz unter dem Druck divergierender imperialistischer Interessen zusammenbricht. Einerseits befürchten die Franzosen, dass ein vereinigtes Deutschland zu einem Expansionsfeld im Osten gelangt, während Frankreich dem nichts entgegensetzen kann. Frankreich ist es gelungen, sicher zu stellen, dass die osteuropäische Währung nicht die Deutsche Mark ist, was dazu geführt hätte, Frankreich wirtschaftlich aus dieser Zone auszuschließen. Andererseits war es die Politik Deutschlands seit 1989 gewesen, unter dem Mantel der EU zu verbleiben, um seine eigenen imperialistischen Interessen zu verbergen. Es hat daher ein großes Interesse daran, Frankreich und andere, zweitrangige europäische Länder an seine Expansionspolitik zu binden. Es ist schon banal, darauf hinzuweisen, dass Mitglieder der deutschen Bourgeoisie geäußert haben, dass „Deutschland heute wirtschaftlich das erreicht hat, was Hitler mit dem Krieg erreichen wollte“!
2) Die zweite Grundlage ist die Notwendigkeit, sich den zerstörerischen Kräften der Krise zu widersetzen, die durch Phänomene wesentlich vergrößert wurden, welche eine Besonderheit der Zerfallsphase sind. Durch die Installierung des Euro machte die EU der Destabilisierung durch Währungsspekulationen ein Ende, unter der sie schon etliche Male in der Vergangenheit gelitten hatte (Spekulationen gegen die Lire, der erzwungene Austritt des englischen Pfunds aus dem EWS, etc.). Schon die Installierung des EWS (Europäisches Währungssystem) 1979 war ein Versuch, eine Währungsschlange zu bilden, die stabiler gegenüber dem Dollar und dem Yen sein sollte, und so die EU besser von der monetären Anarchie abzuschirmen, die mittlerweile besonders in den Ländern an der Peripherie des Kapitalismus Schäden verursacht hatte. Dies ist einer der Hauptunterschiede zur Krise von 1929, unter der zunächst die Vereinigten Staaten und daraufhin die europäischen Länder gelitten hatten. Obwohl die Wurzeln der Überproduktionskrisen sowohl in den 30er Jahren als auch heute in den entwickelten kapitalistischen Ländern liegen, ist es in der gegenwärtigen Krise den Letzteren gelungen, die Hauptauswirkungen der Krise bis jetzt in die Peripherie abzulenken. Während auf der Ebene der interimperialistischen Spannungen ihre zentrifugalen Kräfte sich jederlei Art von Disziplin entzogen haben, ist die Bourgeoisie auf der ökonomischen Ebene noch zu einem Minimum an Zusammenarbeit fähig, worin die eigentliche Essenz ihrer Herrschaft als eine Klasse zum Ausdruck kommt: die Gewinnung von Mehrarbeit. So war, im Gegensatz zu den 30er Jahren, die herrschende Klasse im Wirtschaftsbereich in der Lage, ihre Bemühungen zu koordinieren, um wiederholte Marktzusammenbrüche moderat zu gestalten und die zerstörerischsten Auswirkungen der Krise und des Zerfalls einzuschränken.
3) Die dritte Grundlage ist sowohl wirtschaftlicher als auch imperialistischer Natur. Alle europäischen Bourgeoisien wollen ein starkes Europa, das imstande ist, der internationalen und besonders der amerikanischen sowie japanischen Konkurrenz Paroli zu bieten. Dieses Bedürfnis wird um so heftiger verspürt, als dass die europäischen Länder die Ambition haben, die Nationen Osteuropas einschließlich Russland in ihren Einflussbereich zu holen, was weitaus schwieriger wäre, wenn ihre Ökonomie dollarisiert wird.
4) Der dritte Grund ist rein technischer Art: die Eliminierung der Kosten für den Devisenaustausch innerhalb Euroland und der mit dem Floaten der Austauschraten verknüpften Unsicherheit (einschließlich der Kosten, die das Devisensicherungsgeschäft mit sich bringt). Da der größte Teil des Handels der europäischen Länder innerhalb der EU abgewickelt wird, ließ das Beharren auf verschiedene nationale Währungen im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und Japan die Produktionskosten steigen. Eine einzige Währung war in diesem Sinn eine natürliche Folgerung aus der ökonomischen Integration. Es gab immer weniger wirtschaftliche Argumente, um in einem Markt, in dem Steuern und Handelsregeln größtenteils vereinheitlicht sind, an verschiedenen nationalen Währungen festzuhalten.
Als Vorposten des amerikanischen imperialistischen Blocks in Europa gegründet, wurde die EWG immer mehr zu einer ökonomischen Einheit in Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten. Politisch jedoch blieb sie in der Periode des Kalten Kriegs und bis zum Fall der Berliner Mauer von Letzteren dominiert. Mit dem Verschwinden der beiden imperialistischen Blöcke 1989 fand sich Europa erneut mitten im Zentrum imperialistischer Begierden. Seither haben die Gestaltung und die geostrategischen Interessen der verschiedenen imperialistischen Mächte paradoxerweise nicht in Richtung einer Auflösung, sondern einer größeren Integration Europas gedrängt!
Auf der ökonomischen Ebene unterstützen sämtliche europäischen Bourgeoisien das Projekt eines großen, einheitlichen Marktes, um mit den Amerikanern und Japanern zu konkurrieren. Doch in Fragen ihrer imperialistischen Interessen haben wir gesehen, wie jede der drei Großmächte Europas ihre Karte gegen die beiden anderen ausspielt. Und schließlich ermuntern selbst die Amerikaner die EU zur Erweiterung, wohl wissend, dass, je mehr heterogene Bestandteile und imperialistische Orientierungen in die EU integriert werden, desto weniger die EU in der Lage sein wird, irgendeine wichtige Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen.
Ein genauerer Blick erspart uns Illusionen über die Fortsetzung der europäischen Integration heute. Jeder Teilnehmer in diesem Prozess nimmt nur infolge seines eigenen temporären imperialistischen Interesses und Kalküls teil. Der Konsens zugunsten einer Erweiterung der Europäischen Union ist in seiner Struktur zerbrechlich, denn er basiert auf heterogenen und divergierenden Grundlagen, die nur infolge einer Änderung in den Konstellationen des internationalen Kräftegleichgewichts zu Stande gekommen waren. Keine der Grundlagen für die Existenz der EU rechtfertigt heute die Schlussfolgerung, dass es bereits Formen eines mit dem amerikanischen Block rivalisierenden neuen imperialistischen Blocks gäbe. Worin bestehen die Hauptgründe, die zu dieser Schlussfolgerung führen?
1) Anders als eine wirtschaftliche Koordinierung, die auf einem Vertrag zwischen souveränen Bourgeoisien beruht, wie heute in der EU, ist ein imperialistischer Block eine Zwangsjacke, der einer Gruppe von Staaten durch die militärische Überlegenheit eines Landes aufgezwängt und nur aufgrund des gemeinsamen Wunsches akzeptiert wird, einer anderen Gefahr zu widerstehen oder ein feindliches Militärbündnis zu zerstören. Die Blöcke im Kalten Krieg erschienen nicht als Resultat langwieriger Verhandlungen und Übereinkünfte, wie die Europäische Union: Sie waren das Resultat des militärischen Kräfteverhältnisses, das auf dem Boden der Niederlage Deutschlands etabliert worden war. Der westliche Block wurde geboren, weil Westeuropa und Japan von den Vereinigten Staaten besetzt worden war, während der Ostblock nach der Okkupation Osteuropas durch die Rote Armee ins Leben gerufen worden war. Genausowenig kollabierte der Ostblock wegen irgendwelcher Änderungen seiner wirtschaftlichen Interessen oder seiner Wirtschaftsbündnisse, sondern weil sein Anführer, der den Zusammenhalt des Blocks durch seine Streitkräfte sicherte, nicht mehr in der Lage war, seine Autorität mit Panzern aufrechtzuerhalten, wie er es während des ungarischen Aufstandes 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968 getan hatte. Der westliche Block schied einfach deswegen dahin, weil sein gemeinsamer Feind und damit alles, was ihn zusammengehalten hat, verschwunden war. Ein imperialistischer Block ist stets ein Zweckbündnis, niemals eine Liebesheirat. Wie Winston Churchill einst schrieb, sind militärische Allianzen nicht das Ergebnis der Liebe, sondern der Angst: die Angst vor einem gemeinsamen Feind.
2) Noch fundamentaler ist, dass Europa historisch nie einen homogenen Block gebildet hatte und stets von konfliktträchtigen Begierden zerrissen wurde. Europa und Amerika sind die beiden Zentren des Weltkapitalismus. Die USA als vorherrschende Macht in Nordamerika war durch ihre kontinentalen Dimensionen, durch ihre Lage, die potenzielle Feinde in Europa und Asien auf sicherem Abstand hielt, und durch ihre ökonomische Stärke dazu bestimmt, zur führenden Macht in der Welt zu werden. Wie wir 1999 schrieben:
„Seine ökonomische und strategische Stellung hat im Gegensatz dazu Europa dazu verdammt, zum hauptsächlichen Brennpunkt imperialistischer Spannungen im dekadenten Kapitalismus zu werden. Als Hauptschlachtfeld in beiden Weltkriegen und als der Kontinent, der im Kalten Krieg durch den ‚Eisernen Vorhang‘ geteilt worden war, hatte Europa nie eine Einheit gebildet, und im Kapitalismus wird es diese auch nie erreichen.
Wegen seiner historischen Rolle als Geburtsort des modernen Kapitalismus und seiner geographischen Lage als Halbkontinent von Asien gegenüber Nordafrika war Europa im 20. Jahrhundert zum Schlüssel des imperialistischen Ringens um die Weltherrschaft geworden. Gleichzeitig ist Europa, nicht zuletzt wegen seiner geographischen Lage, militärisch besonders schwierig zu beherrschen. Großbritannien musste selbst zu jenen Zeiten, als es noch ‚die Weltmeere beherrschte‘, zu einem komplizierten System des ‚Kräftegleichgewichts‘ greifen, um Europa in Schach zu halten. Was Deutschland unter Hitler angeht, so war selbst 1941 seine Vorherrschaft über den Kontinent mehr äußerlich als real, solange Großbritannien, Russland und Nordafrika sich in Feindeshand befanden. Selbst den Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gelang es nie, mehr als die Hälfte des Kontinents zu beherrschen.
Die Ironie will es, dass seit ihrem ‚Sieg‘ über die UdSSR die Position der Vereinigten Staaten in Europa mit dem Verschwinden des ‚Reichs des Bösen‘ beträchtlich geschwächt worden war. Obgleich die einzige Supermacht der Welt eine enorme militärische Präsenz in der Alten Welt aufrechterhält, ist Europa nicht ein unterentwickeltes Gebiet, das von einer Handvoll GI-Kasernen in Schach gehalten werden kann: Vier der führenden G8-Industrieländer sind europäisch (...) wenn Europa heute das Zentrum der imperialistischen Spannungen ist, so vor allem deswegen, weil die Hauptmächte Europas selbst unterschiedliche militärische Interessen haben. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass beide Weltkriege vor allem als Kriege zwischen den europäischen Mächten begannen – so wie die Balkankriege der 1990er Jahre.“ (Bericht über die imperialistischen Konflikte für den 13. Kongress der IKS, Internationale Revue Nr 24)
3) Der Marxismus hat bereits aufgezeigt, dass interimperialistische Konflikte nicht notwendigerweise identisch sind mit Wirtschaftsinteressen. Während in den beiden Weltkriegen sich in der Tat zwei Pole gegenüberstanden, die die wirtschaftliche Hegemonie für sich beanspruchten, war dies im Kalten Krieg nicht mehr der Fall, als der westliche Block alle großen Wirtschaftsmächte um sich scharte gegen den wirtschaftlichen schwachen Ostblock, dessen ganze Stärke auf der Atommacht der UdSSR beruhte. Euroland ist eine perfekte Illustrierung der Tatsache, dass die imperialistischen strategischen Interessen und die Welthandelsinteressen der Nationalstaaten nicht identisch sind. Frankreich und Deutschland, die beiden Nationen, die die Triebkraft der EU darstellen, sind dreimal in den letzten 150 Jahren gegeneinander in den Krieg gezogen, während seit Napoleons Zeiten Großbritannien stets versucht hat, die Spaltungen Kontinentaleuropas aufrechtzuerhalten. „Die Volkswirtschaft der Niederlande zum Beispiel ist vom Weltmarkt im Allgemeinen und von der deutschen Wirtschaft im Besonderen äußerst abhängig. Daher ist dieses Land einer der leidenschaftlichsten Anhänger der deutschen Politik für eine gemeinsame Währung gewesen. Auf imperialistischer Ebene jedoch widersetzt sich die holländische Bourgeoisie gerade wegen ihrer geographischen Nähe zu Deutschland den Interessen ihres mächtigen Nachbarn, wo immer sie kann, und stellt einen der loyalsten Verbündeten der USA in der ‚Alten Welt‘ dar. Wenn der Euro zuallererst ein Eckpfeiler eines künftigen deutschen Blocks wäre, so wäre Den Haag der erste, der sich dem widersetzen würde. Doch in Wirklichkeit unterstützen Holland, Frankreich und andere Länder, die sich vor einer imperialistischen Wiederauferstehung Deutschlands fürchten, die gemeinsame Währung, gerade weil sie nicht ihre nationale Sicherheit, d.h. ihre militärische Souveränität, beeinträchtigt.“ (ebenda) Angesichts der imperialistischen Rivalitäten zwischen den europäischen Ländern selbst und auch in Anbetracht der Tatsache, dass Europa heute sich im eigentlichen Herzen der interimperialistischen Spannungen des Planeten befindet, ist es wenig realistisch anzunehmen, dass wirtschaftliche Interessen allein die europäischen Länder zusammenschweißen können. Dies ist um so mehr ausgeschlossen, als Europa, auch wenn es auf ökonomischer Ebene integriert ist, auf politischer Ebene weit davon entfernt ist, geschweige denn auf militärischer Ebene oder in der Außenpolitik. Wie können wir annehmen, dass Euroland bereits ein imperialistischer Block ist, der mit den Vereinigten Staaten rivalisiert, wenn es nicht einmal zwei wesentlichen Eigenschaften eines imperialistischen Blocks besitzt: eine Armee und eine imperialistische Strategie. Diese Tatsachen demonstrieren täglich, dass ein vereintes Europa eine Utopie ist, was wir insbesondere im Dissens unter seinen Mitgliedsländern und in der Unfähigkeit sehen können, die Regelung internationaler Konflikte zu beeinflussen, selbst wenn diese vor der eigenen Tür, wie in Jugoslawien, stattfinden.
Fritz
Fußnoten:
1 s. unsere Broschüre „Nation oder Klasse“
2 eigene Übersetzung
3 eigene Übersetzung
4 eigene Übersetzung
5 s. unsere Thesen in „Der Zerfall – die letzte Phase des Kapitalismus“ in Internationale Revue Nr. 13.
Europa: Wirtschaftsbündnis und Terrain für imperialistische Manöver
Fast ein halbes Jahrhundert lang hat die herrschende Klasse jetzt über den Bau Europas gesprochen. Die Einführung einer gemeinsamen Währung – der Euro – wurde als ein bedeutsamer Meilenstein auf dem Weg zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa dargestellt. Dieser Prozess ist angeblich in vollem Gange, seitdem geplant ist, die Europäische Union mit dem 1.Mai 2004 von 15 auf 25 Länder zu erweitern, und der Vorschlag einer europäischen Verfassung bereits erarbeitet worden ist.
Wird sich die herrschende Klasse tatsächlich als fähig erweisen, über den engen Rahmen der Nationen hinauszugehen? Wird sie imstande sein, die ökonomische Konkurrenz und ihre eigenen imperialistischen Antagonismen zu überwinden? Wird sie in der Lage sein, dem Wirtschaftskrieg und den militärischen Konflikten, die so oft den Kontinent auseinandergerissen hatten, tatsächlich ein Ende zu setzen? Mit anderen Worten: Wird sich die Bourgeoisie als fähig erweisen, den Ansatz einer Lösung des Problems der Spaltung der Welt in konkurrierende Nationen durch den Kapitalismus anzubieten, einer Spaltung, die den Tod von zig Millionen Menschen bewirkte und den gesamten Planeten in Blut ertränkte, besonders seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts? Wird die Bourgeoisie tatsächlich fähig sein, die nationalistische Ideologie aufzugeben, die das Fundament ihrer eigenen Existenz als Klasse bildet und die Quelle ihrer ganzen ökonomischen, politischen, ideologischen und imperialistischen Legitimation ist?
Doch wenn all diese Fragen verneint werden, wenn die Vereinigten Staaten von Europa nichts als eine Fata Morgana sind, was für eine Bedeutung hat dann die Bildung und Weiterentwicklung der Europäischen Union? Ist die herrschende Klasse so masochistisch geworden, dass sie ewig einer Unmöglichkeit nachrennt? Weshalb bemüht sie sich darum, ein Haus zu errichten, das nicht lebensfähig ist? Dient es lediglich dem Zweck eines illusorischen Wetteiferns mit den Vereinigten Staaten von Amerika? Oder reiner Propaganda?
Die Unmöglichkeit, in der Dekadenz des Kapitalismus über den nationalenRahmen hinauszugehen
Wir können die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens ermessen, wenn wir die Vorbedingungen für seine Lebensfähigkeit berücksichtigen. Nicht nur, dass diese Voraussetzungen für dieses Projekt völlig fehlen, sie sind ganz einfach eine Utopie im gegenwärtigen historischen Zusammenhang. Da die Existenz der verschiedenen nationalen Bourgeoisien eng mit dem Privat- und/oder Staatseigentum verknüpft ist, das sich historisch innerhalb des nationalen Rahmens entwickelt hatte, würde jede wirkliche Vereinigung auf einer höheren Stufe die Entmachtung dieser Nationen bedeuten. Diese Perspektive ist um so unrealistischer, als dass eine kontinentweite Schaffung eines tatsächlich vereinigten Europas nur durch einen Prozess der Enteignung der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen in allen Mitgliedsländern stattfinden kann. Dies wäre notwendigerweise ein gewaltsamer Prozess, so wie die bürgerlichen Revolutionen gegen das feudalistische Ancien Régime oder die Unabhängigkeitskriege der neuen Nationen gegen ihre Vormundschaftsmacht. Für einen solchen Prozess wäre es unmöglich, „den politischen Willen der Regierungen“ und/oder „das Verlangen der Völker, Europa zu erschaffen“, zu ersetzen. Während des 19. Jahrhunderts spielte der Krieg stets eine vorrangige Rolle im Prozess der Bildung neuer Nationen, um entweder den inneren Widerstand reaktionärer Bereiche in der Gesellschaft zu eliminieren oder um auf Kosten der Nachbarländer die eigenen Grenzen neu zu ziehen.1 Wir können uns daher leicht ausmalen, was der Prozess der europäischen Vereinigung kosten würde. Dies unterstreicht, dass die Idee einer friedlichen Union von verschiedenen Ländern, so europäisch sie auch sein mögen, entweder eine Utopie oder heuchlerisch und verlogen ist. Denn eine solche Vereinigung zu ermöglichen würde das Auftreten einer neuen gesellschaftlichen Gruppe implizieren, der Trägerin emanzipatorischer supranationaler Interessen, die, gestählt durch einen wahrhaft revolutionären Prozess und mit Hilfe ihrer eigenen politischen (Parteien, etc.) und Zwangsmittel (Streitkräfte, etc.), jene bürgerlichen Interessen enteignet, die an den verschiedenen nationalen Kapitalien gebunden sind, und ihnen ihre Macht aufzwingt.
Ohne uns länger über die nationale Frage auszulassen, ist es klar, dass all jene (ungefähr 100) Nationen, die nach dem Krieg von 1914–18 gegründet worden waren, das Ergebnis nationaler Probleme waren, die während des 19. Jahrhunderts und bis zu Beginn des
20. Jahrhunderts ungelöst geblieben waren. Alle von ihnen waren nationale Totgeburten, die sich als unfähig erwiesen, ihre bürgerliche Revolution zu vervollständigen und mit genügendem Nachdruck eine industrielle Revolution zu initiieren; alle von ihnen fühlten so die Dynamik der massiven Konflikte, die seit dem Ersten Weltkrieg stattgefunden hatten. Nur jene Länder, die sich während des 19. Jahrhunderts gebildet hatten, waren imstande gewesen, einen ausreichenden Grad an Kohärenz, Wirtschaftskraft und politischer Stabilität zu erreichen. Die sechs größten Mächte von heute waren es bereits, wenn auch in anderer Reihenfolge, am Vorabend des I. Weltkrieges. Selbst bürgerliche Historiker sehen diese Tatsache, doch sie kann nur wirklich im Rahmen des historischen Materialismus erklärt werden.
Um sich auf einem soliden Fundament zu bilden, muss eine Nation auf einer realen Zentralisierung ihrer Bourgeoisie begründet sein, und diese Zentralisierung wird in einem erbitterten, Einheit stiftenden Kampf gegen den Feudalismus des Ancien Régime geschmiedet. Sie muss genügend solide ökonomische Grundlagen für ihre industrielle Revolution besitzen, um sich ihren Platz auf einem Weltmarkt zu sichern, welcher sich noch in der Entstehung befindet. Diese beiden Bedingungen existierten während der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs, die sich im Wesentlichen vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum I. Weltkrieg erstreckte. Danach verschwanden diese Bedingungen, und daher war von da an die Entstehung neuer, lebensfähiger nationaler Projekte nicht mehr möglich. Warum also sollte es heute plötzlich wieder möglich geworden sein, etwas durchzuführen, was schon während des 20. Jahrhunderts unmöglich gewesen war? Da keine der neuen Nationen, die seit dem Ersten Weltkrieg gebildet worden waren, in der Lage gewesen war, adäquate Existenzmittel zu sammeln, warum sollte die Entstehung einer neuen Großmacht – wie es die Vereinigten Staaten von Europa wären – plötzlich nun möglich sein?
Die dritte logische Konsequenz einer hypothetischen europäischen Einheit setzt eine Abschwächung der Tendenz zur Verschärfung imperialistischer Antagonismen unter den konkurrierenden Ländern Europas voraus. Doch wie Marx Mitte des 19. Jahrhunderts (im Kommunistischen Manifest) hervorhob, ist der Antagonismus zwischen den einzelnen Fraktionen der Bourgeoisie eine Konstante: „Die Bourgeoisie befindet sich in fortwährendem Kampf; anfangs gegen die Aristokratie; später gegen Teile der Bourgeoisie selbst, deren Interessen mit dem Fortschritt der Industrie in Widerspruch geraten; stets gegen die Bourgeoisie aller auswärtigen Länder.“ (Karl Marx, „Manifest der Kommunistischen Partei“, MEW Bd. 4, S. 459-492) Während die Widersprüche zwischen der Bourgeoisie und den Überbleibseln des Feudalismus oder ihrer eigenen rückwärts gewandten Sektoren von der kapitalistischen Revolution größtenteils überwunden worden waren, zumindest in den entwickelten Hauptländern, haben sich im Gegensatz dazu die Antagonismen zwischen den Nationen im gesamten 20. Jahrhundert nur vertieft. Warum also sollten wir erwarten, dass sich dieser Prozess umkehrt, wenn sich die Konflikte zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse während der gesamten Periode der Dekadenz immer weiter verschärft haben?
In der Tat besteht ein unzweideutiges Kennzeichen einer Produktionsweise, die die Periode ihrer Dekadenz betreten hat, in der Explosion von Antagonismen zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse. Diese können nicht mehr ausreichend Mehrwert aus den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen ziehen, die fortan obsolet geworden sind, und neigen somit dazu, dies durch die Ausplünderung ihrer Rivalen zu tun. Dies traf auf die Dekadenz der feudalen Produktionsweise (1325–1750) zu, als dem Hundertjährigen Krieg die Kriege zwischen den großen europäischen absolutistischen Monarchien folgten: „... Gewalttätigkeiten waren ohne Zweifel ein permanenter und besonderer Charakterzug der mittelalterlichen Gesellschaft. Dennoch erreichten sie während der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert eine neue Dimension (...) Der Krieg wurde zu einem endemischen Phänomen, genährt von gesellschaftlichen Frustrationen (...) Die Generalisierung von Kriegen war vor allem der ultimative Ausdruck von Funktionsstörungen einer Gesellschaft, die sich im Würgegriff von Problemen befand, die sie nicht meisterte. Und so suchte sie Zuflucht in Kriegen, um den Problemen des Alltags zu entgehen.“ (Guy Bois, La Grande dépression médiévale)2.Diese Periode der Dekadenz der feudalen Produktionsweise steht in einem großen Kontrast zum Aufstieg des Mittelalters (1000–1325): „Noch deutlicher als zu Feudalzeiten erlebte die Periode zwischen – grob gesagt – 1150 und 1300 über weite geographische Gebiete hinweg Phasen eines beinahe vollständigen Friedens, dank dessen die wirtschaftliche und demographische Expansion wachsen konnte.“ (P. Contamine, La Guerre au Moyen Age)3 Dasselbe trifft auf die Produktionsweise der Sklavenhaltergesellschaften, auf die Zerstückelung des Römischen Reiches und die Ausbreitung von endlosen Konflikten zwischen Rom und seinen Provinzen zu.
Dies war auch der Fall, als der Kapitalismus seine Dekadenzperiode betrat. Um sich eine Vorstellung von der Kluft zwischen den Existenzbedingungen während des Aufstiegs des Kapitalismus und denen seiner Dekadenz zu machen, wollen wir hier aus Eric Hobsbawns „Das Zeitalter der Extreme“ (1994)2 zitieren, in dem er sehr gut den fundamentalen Unterschied zwischen dem „langen 19. Jahrhundert“ und dem „kurzen 20. Jahrhundert“ aufzeigt: „Wie sollen wir dem kurzen 20. Jahrhundert einen Sinn abgewinnen – Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion? (...) während des Kurzen 20. Jahrhunderts wurden mehr Menschen auf Weisung und mit Erlaubnis ermordet als jemals zuvor in der Geschichte. (...) Es war ohne Zweifel das mörderischste Jahrhundert von allen, über das wir Aufzeichnungen besitzen: mit Kriegszügen von nie gekannten Ausmassen und von nie dagewesener Häufigkeit und Dauer, sowohl was das Niveau, die Häufigkeit und die Dauern dieser Kriege betrifft (und welche in den zwanziger Jahren kaum ein Unterbruch hatten), als auch bezüglich dem Ausmass der grössten Hungersnöte der Geschichte und den systematischen Genoziden. Im Unterschied zum langen 19. Jahrhundert, welches eine Periode des nahezu ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritts zu sein schien und auch wirklich war, sind wir seit 1914 Zeugen eines markanten Rückgangs dieser bis anhin für die entwickelten Länder als selbstverständlich angenommenen Werte. (...) Dies alles änderte um 1914 (...) Kurz gesagt, 1914 leitete die Epoche der Massaker ein (...) Die Mehrzahl der nicht-revolutionären und nicht-ideologischen Kriege der Vergangenheit waren nicht als Kämpfe auf Leben und Tod bis zur totalen Erschöpfung geführt worden. (...) Warum führten die dominanten Mächte unter diesen Umständen der Ersten Weltkrieg bis zum Nichts, also als Krieg, der nur entweder ganz gewonnen oder ganz verloren werden konnte? Der Grund dafür ist, dass dieser Krieg, im Unterschied zu den vorausgegangenen Konflikten mit begrenzten und genau festgelegten Zielen, mit uneingeschränkten Absichten geführt wurde. (...) Dies war ein absurdes und selbstzerstörerisches Ziel, welches zugleich Sieger und Besiegte ruinierte. Letztere führte er in die Revolution, die Sieger zum Zusammenbruch und zur physischen Erschöpfung. (...) Im modernen Krieg werden alle Bürger hineingezogen und die Mehrheit von ihnen wird mobilisiert; sei es, dass er mit Rüstung geführt wird, deren Produktion eine Umleitung der ganzen Wirtschaft erfordert und in unvollstellbarem Umfang eingesetzt wird; sei es, dass er unglaubliche Zerstörungen erzeugt, aber auch die Existenz der in ihn verwickelten Länder dominiert und verändert. So sind alle diese Phänomene dem Krieg des 20. Jahrhunderts eigen. (...) Diente der Krieg dem Wirtschaftswachstum? Es ist klar, dass dem nicht so ist.“4 Der Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzperiode machte fortan die Entstehung neuer, wirklich lebensfähiger Nationen unmöglich. Die relative Sättigung zahlungskräftiger Märkte – im Verhältnis zu den enormen Bedürfnissen der Akkumulation, die von der Entwicklung der Produktivkräfte geschaffen wurden – , die der Dekadenz des Kapitalismus zugrunde liegt, verhindert jede „friedliche“ Lösung seiner unüberwindlichen Widersprüche. Daher ist seither die Zahl der Handelskriege zwischen den Nationen und die Entwicklung des Imperialismus nur gewachsen. In einem solchen Kontext sind Nationen, die spät die Weltbühne betreten haben, unfähig, ihre Rückständigkeit zu überwinden: Im Gegenteil, der Abstand zu den entwickelten Ländern wächst unerbittlich.
Selbst in der Zeit vor dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts, in einer Epoche, die eigentlich günstig für die Entstehung neuer Nationen gewesen war, war die nationale Einheit Europas ausgeschlossen, weil die Voraussetzungen für diese Einheit nicht existierten; seither ist ihre Existenz noch irrelevanter geworden. Ja, in der gegenwärtigen und finalen Phase der Dekadenz, in der Phase des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft5, sind die Bedingungen für die Entstehung einer neuen Ausgangslage nicht nur noch ungünstiger, sie üben darüber hinaus Druck auf existierende, aber weniger stabile Nationen aus und führen zu deren Auflösung (die UdSSR, Jugoslawien, Tschechoslowakei, etc.) sowie zur Verschärfung der Spannungen selbst zwischen den stärksten und stabilsten Ländern (siehe weiter unten das Kapitel über Europa in der Zerfallsperiode).
Eine historische Parallele:Die absolutistischen Monarchien
Kommt dieser Prozess der europäischen Vereinigung inmitten der kapitalistischen Dekadenz überraschend? Ist er ein Zeichen dafür, dass die kapitalistische Produktionsweise ihre alte Stärke wiederentdeckt hat, dass sie der Dekadenz ein Schnippchen geschlagen hat? Allgemein ausgedrückt: Können wir ein ähnliches Phänomen während der Dekadenz früherer Gesellschaften beobachten, und wenn ja, worin bestand seine Bedeutung?
Die Dekadenz der feudalen Produktionsweise ist in diesem Zusammenhang interessant, da sie Zeuge der Bildung der großen absolutistischen Monarchien war, die über zerstreute Lehnsgüter hinauszugehen schienen, welche so kennzeichnend für die feudale Produktionsweise waren. Während des 16. Jahrhunderts verhalf dies dem absolutistischen Staat im Westen zum Leben. Die zentralisierten Monarchien stellten einen entscheidenden Bruch mit der pyramidenhaften und zerstreuten Souveränität in den mittelalterlichen gesellschaftlichen Gebilden dar. Diese Zentralisierung der monarchischen Macht bewirkte den Aufstieg eines stehenden Heeres und einer Bürokratie, einer nationalen Steuererhebung sowie einer kodifizierten Rechtsprechung und den Beginn eines vereinigten Marktes. Obgleich all diese Elemente als Charakteristikum des Kapitalismus erscheinen mögen – dies um so mehr, als sie mit dem Verschwinden der Leibeigenschaft zusammenfallen – sind sie dennoch ein Ausdruck des verfallenden Feudalismus.
Tatsächlich ging die „nationale Vereinigung“, die auf mannigfaltigen Ebenen von den absolutistischen Monarchien durchgeführt worden war, nicht über den geohistorischen Rahmen des Mittelalters hinaus, sondern drückte vielmehr die Tatsache aus, dass Letzterer zu eng geworden war, um die fortdauernde Entwicklung der Produktivkräfte zu umfassen. Die absolutistischen Staaten stellten eine Form der Zentralisierung der feudalen Aristokratie dar, indem sie ihre Macht stärkten, um der Dekadenz der feudalen Produktionsweise zu widerstehen. Die Zentralisierung der Macht ist in der Tat ein weiteres Kennzeichen der Dekadenz einer jeden Produktionsweise – im Allgemeinen durch eine Wiederverstärkung des Staates, der die kollektiven Interessen der herrschenden Klasse repräsentiert – um einen stärkeren Widerstand gegen die ruinösen Krisen ihres historischen Abstiegs auf die Beine zu stellen.
Wir können eine Analogie dazu in der Bildung der Europäischen Union im Besonderen und in all den regionalen Wirtschaftsabkommen auf der ganzen Welt im Allgemeinen feststellen. Sie sind Versuche, über den zu engen Rahmen der Nation hinauszugehen, um sich der Verschärfung der ökonomischen Konkurrenz in der kapitalistischen Dekadenz zu stellen. Die Bourgeoisie ist daher gefangen zwischen einerseits der immer größeren Notwendigkeit, über den nationalen Rahmen hinauszugehen, um ihre wirtschaftlichen Interessen besser zu verteidigen, und andererseits den nationalen Grundlagen ihrer Macht und ihres Eigentums. Europa ist keinesfalls eine Überwindung dieses Widerspruchs, sondern ein Ausdruck des bürgerlichen Widerstandes gegen die Widersprüche der Dekadenz ihrer eigenen Produktionsweise. Als Louis XIV. die Granden des Reiches dazu einlud, in seinen Hof in Versailles zu ziehen, geschah dies nicht zu ihrem Wohlgefallen, sondern vielmehr um sie zu unter kaiserliche Kuratel zu stellen und sie daran zu hindern, Komplotte in ihren Provinzen gegen ihn zu schmieden. In gewisser Weise ist das strategische Kalkül innerhalb der Europäischen Union dem nicht unähnlich. So zieht es Frankreich vor, Deutschland an Europa gebunden und die Deutsche Mark mit dem Euro verschmolzen zu sehen, statt Zeuge zu werden, wie Deutschland bei seiner Expansion in Mitteleuropa, wo die Deutsche Mark bereits zur heimlichen Leitwährung geworden war, seine historische Interesssen entfaltet. Nach seinem Versuch, die EFTA gegen die EWG zu bilden, zieht es Großbritannien nun vor, in letztgenanntem Verein mitzumachen, um so die Politik der EWG zu beeinflussen bzw. zu sabotieren, statt sich auf seiner Insel zu isolieren, wohingegen Deutschland im Sinn hat, unter dem Mantel der europäischen Fiktion die Entfaltung seiner tatsächlich imperialistischen Ambitionen als künftiger Anführer eines imperialistischen Blocks weiter zu betreiben, der in der Lage ist, mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu rivalisieren.
Europa – eine Kreation des Imperialismus aus Gründen des Kalten Krieges
Die Wurzeln der Europäischen Gemeinschaft lagen in der Existenz des Kalten Krieges, der unmittelbar nach dem II. Weltkrieg folgte. Durch die Wirtschaftskrise und die gesellschaftlichen Verwerfungen destabilisiert, war Europa eine potenzielle Beute des russischen Imperialismus und wurde daher von den Vereinigten Staaten gestützt, um einen Schutzwall gegen die Avancen des Ostblocks zu bilden. Dies wurde dank des Marshallplans erreicht, der im Juni 1947 allen europäischen Ländern in Aussicht gestellt worden war. Auch die Schaffung einer Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft entsprach dem Kalkül, Europa im Zusammenhang mit einer dramatischen Zuspitzung der Ost-West-Spannungen anlässlich des Koreakrieges zu stärken. Die Schaffung der EWG 1957 vervollständigte die Stärkung des westlichen Blocks auf dem Kontinent. Diese Entwicklung in Europa, die im Wesentlichen auf wirtschaftlichem Gebiet und, mit der Präsenz von Truppen und Waffen der NATO, auf militärischer Ebene erfolgte, beweist, dass Europa, weit davon entfernt, eine friedliche Idylle zu sein, die Hauptbühne von interimperialistischen Konflikten blieb, so wie es in der gesamten Geschichte des Kapitalismus gewesen war.
Im Gegensatz zur Propaganda der herrschenden Klasse war der Friede, der seit dem Ende des II. Weltkrieges in Europa herrschte, nicht die Folge eines Prozesses der europäischen Vereinigung oder der Friedfertigkeit, die plötzlich unter den historischen Rivalen ausgebrochen war, sondern die Folge des Zusammentreffens von drei ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Faktoren. So erlaubte die wirtschaftliche Wiederbelebung in Kombination mit keynesianischen Regulierungen dem Kapitalismus, sein Überleben zu verlängern, ohne gezwungen zu sein, sofort Zuflucht zu suchen in einem dritten Weltkonflikt, wie es zwischen dem I. und II. Weltkrieg der Fall gewesen war, als 1929 nach nur zehn Jahren des Wiederaufbaus, zwischen 1919 und 1929, die schlimmste Überproduktionskrise in der Geschichte ausbrach und bis zum Vorabend des II.Weltkrieges anhielt. So bildeten sich im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg zwei imperialistische Blöcke (NATO und Warschauer Pakt), die sich auf dem Kontinent gegenüberstanden; die Vereinigten Staaten und die UdSSR, die beiden jeweiligen Blockführer, waren eine Zeitlang in der Lage, ihre direkten Konfrontationen an die Peripherie zu drängen. Dies hinderte jedoch lokale Konflikte zwischen 1945 und 1989 nicht daran, mehr Opfer zu verursachen als sämtliche Schlachten des II.Weltkrieges zusammen! Und schließlich versperrte die Tatsache, dass das Proletariat ideologisch nicht bereit war, in den Krieg zu ziehen, nachdem es 1968 die historische Bühne wieder betreten hatte, den Weg zur Kriegshetze der beiden imperialistischen Blöcke genau in dem Augenblick, als es für sie immer dringlicher wurde, angesichts der sich ausbreitenden Wirtschaftskrise zu offenen Feindseligkeiten zu schreiten.
Europa – eine leere Hülle und politische Handgreiflichkeiten
Unter ziemlich günstigen Umständen waren die europäischen Staaten in der Lage gewesen, im Wesentlichen auf wirtschaftlicher Ebene zu Übereinkünften zu gelangen: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas, die europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft, die Schaffung einer europaweiten Mehrwertsteuer, der Gemeinsame Markt und das Europäische Währungssystem sind allesamt Beispiele dafür. Im Gegensatz dazu waren die politischen Misshelligkeiten eine Konstante in der Politik der EWG und EU, die unmittelbar nach der Niederlage Deutschlands im Krieg mit der deutschen Frage ihren Anfang nahm. Frankreich wollte ein schwaches und unbewaffnetes Deutschland. Die Vereinigten Staaten hingegen erzwangen wegen der Erfordernisse des Kalten Kriegs den Wiederaufbau eines starken, wiederaufgerüsteten Deutschland, was 1949 zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland führte. 1954 lehnte Frankreich die Ratifizierung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft trotz der Tatsache ab, dass das EWG-Abkommen bereits 1952 von den fünf europäischen Partnern unter dem Druck der Amerikaner unterzeichnet worden war. Das Vereinigte Königreich, das sich geweigert hatte, der 1957 gebildeten EWG beizutreten, versuchte seinerseits, eine weiter gefasste Freihandelszone zu errichten, die alle Länder der OECD umfasste und den Gemeinsamen Markt beinhalten sollte, was ihn so seiner Exklusivität beraubt hätte. Als die Franzosen sich weigerten, taten sich die Briten mit anderen europäischen Ländern zusammen, um am 20. November 1959 mit der Unterzeichnung des Stockholmer Vertrages die European Free Trade Association (EFTA) zu gründen. Bei zwei Gelegenheiten, 1963 und 1967, lehnte Frankreich die EWG-Kandidatur Großbritanniens ab, da es in ihm ein trojanisches Pferd der Amerikaner erblickte. 1967 provozierte Frankreich dabei eine ernste Krise, die sechs Monate andauerte, indem es eine Politik des „leeren Stuhls“ betrieb; sie endete mit einem Kompromiss, der Europa zwar das weitere Überleben ermöglichte, dabei aber das Einstimmigkeitsprinzip bei allen EWG-Beschlüssen etablierte. Nachdem Großbritannien im Januar 1973 der EWG beigetreten war, zögerte es nicht, bei zahllosen Gelegenheiten Sand in das Getriebe der EWG-Politik zu streuen, beginnend mit der Neuaushandlung des Beitrittsvertrages ein Jahr später und im weiteren mit Veränderungen in der EG-Agrarpolitik, Neuverhandlungen über den britischen Beitrag zum EG-Etat (s. Margaret Thatchers berühmtes „Ich will mein Geld zurück“), mit der Weigerung, einer gemeinsamen Währung beizutreten, etc. Erst kürzlich haben die Unstimmigkeiten über das Datum der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU die Spaltung Europas auf der Ebene seiner imperialistischen Rivalitäten enthüllt. Frankreich verhält sich offen feindselig gegenüber diesem Land, das sich entweder mit Deutschland oder mit den USA eng verbunden fühlt. Letztere haben tatsächlich einen unerhörten Druck ausgeübt, damit die Türkei als künftiger Kandidat akzeptiert wird, sei es durch direkte Telefonate des Präsidenten mit europäischen Führern oder indirekt, via des britischen Lobbyismus, durch eine unterschwellige, aber offiziell abgesegnete Strategie, die da lautet: Je mehr die EU erweitert wird, desto weniger wird sie zur politischen Integration und vor allem zur Entwicklung einer gemeinsamen Politik und Strategie auf der internationalen Bühne in der Lage sein.
Die vollständige Abwesenheit jeglicher gemeinsamen Politik oder der Instrumente für diese Politik (eine gemeinsame Armee), das Fehlen eines substanziellen Etats der EU in der Größenordnung nationaler Etats (derzeit knapp 1,27% des BSP von Euroland!) und der völlig überproportionierte Anteil der Landwirtschaft am EU-Etat (nahezu die Hälfte dessen wird für einen Bereich ausgegeben, der nicht mehr als 4–5% der Wertschöpfung in der EU repräsentiert), etc. – all dies demonstriert deutlich genug, dass die fundamentalen Attribute eines europäischen supranationalen Staates fehlen oder da, wo sie existieren, keine wirkliche Macht oder Unabhängigkeit besitzen. Die politische Funktionsweise der Europäischen Union ist eine reine Karikatur, typisch für die Funktionsweise der Bourgeoisie in der Epoche der Dekadenz. Das Parlament hat keine Macht, der Schwerpunkt des politischen Lebens wird von der Exekutive, dem Rat der Minister, so stark vereinnahmt, dass selbst die Bourgeoisie sich regelmäßig über das „Defizit an demokratischer Legitimation“ beschwert!
Dies ist insofern kaum überraschend, als dass die politische Strategie der Europäer bereits während des Kalten Krieges nur sehr bedingt vorkam und durch die Disziplin des amerikanischen Blocks in engen Grenzen gehalten wurde. Diese Strategie hatte schon zu jener Zeit nur geringe Konsistenz, doch nach dem Fall der Berliner Mauer, der das Verschwinden der beiden Blöcke markierte, verringerte sie sich noch mehr. Seitdem gibt es keine außenpolitische Frage, zu der Europa in der Lage wäre, eine gemeinsame Position zu definieren. Es ist zerrissen zwischen verschiedenen oder gar gegensätzlichen Positionen in der Frage des Nahen Ostens, des Golfkrieges, des Konflikts in Jugoslawien und im Kosovo, etc. Dasselbe trifft auf den Vorschlag der Schaffung einer europäischen Armee zu. Während einige (wie Frankreich und Deutschland zum Beispiel) auf mehr Integration drängen, einschließlich einer größeren Unabhängigkeit gegenüber den verbliebenen Militärstrukturen der NATO, wollen andere (Großbritannien und die Niederlande zum Beispiel) in ihnen verbleiben.
Europa: eine im Wesentlichen wirtschaftliche Übereinkunft
Wenn die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa eine Illusion ist, wenn eine wirkliche, allumfassende europäische Integration ein Aberglauben ist, wenn die Wurzeln der Existenz einer begrenzten europäischen Einigung in den Erfordernissen des Kalten Krieges lagen – was steckt dann hinter der politischen Absicht, heute diese Strukturen zu stärken?
Wie wir gesehen haben, waren die Geburt der Europäischen Gemeinschaft und ihre Erstarkung zuallererst Ausdrücke der Notwendigkeit, den sowjetischen Expansionsdrang nach Europa zu bremsen. Obgleich sie für die imperialistischen Bedürfnisse des amerikanischen Blocks geschaffen wurde und sich gar für die wirtschaftliche Expansion durch Letzteren als nützlich erwies (wie Japan und die „neu industrialisierten Länder“), wurde sie Zug um Zug zu einem ernsthaften wirtschaftlichen Konkurrenten für die Vereinigten Staaten, einschließlich ihrer Domänen in der Hochtechnologie (Airbus, Arianespace, etc.). Dies ist eines der Resultate der wirtschaftlichen Konkurrenz während des Kalten Krieges. Bis zum Fall der Berliner Mauer war die europäische Integration im Wesentlichen ökonomischer Natur. Beginnend als eine Binnenfreihandelszone für Waren und dann als Zollunion gegen andere Länder, wurde sie schließlich zu einem gemeinsamen Markt für Güter, Kapital und Arbeit. Schließlich krönte Europa diese Integration mit der Aufstellung des EU-Regelwerks. Das Ziel dieser wirtschaftlichen Integration war von Beginn an gewesen, Europas Stellung auf dem Weltmarkt zu stärken. Die Schaffung eines erweiterten Marktes, der eine großräumige Ökonomie ermöglichte, sollte die Mittel schaffen, um europäische Firmen gegenüber fremder Konkurrenz, besonders durch die Amerikaner und Japaner, zu stärken. Die Schaffung des Single Act 1985/86 wurde aus der allgemeinen wirtschaftlichen Lage Europas geboren: Europa litt mehr an den zehn Krisenjahren als Japan und die Vereinigten Staaten.
Europa im Angesicht des Zerfalls und des Zusammenbruchs der Blöcke
Seit dem Beginn der 80er Jahre ist der Kapitalismus durch eine Situation gezeichnet, in der die beiden grundsätzlichen und antagonistischen Klassen der Gesellschaft in Konfrontation und Gegensatz zueinander stehen, ohne dass eine von beiden in der Lage ist, ihre Alternative durchzusetzen. Doch noch weniger als all den anderen, vorausgegangenen Produktionsweisen ist es dem gesellschaftlichen Leben unter dem Kapitalismus möglich, ein „Einfrieren“ oder eine „Stagnation“ zu ertragen. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich immer weiter verschärfen, können die Unfähigkeit der Bourgeoisie, auch nur den Hauch einer Perspektive für die gesamte Gesellschaft anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, sich selbst offen zu behaupten, nur zum Phänomen eines allgemeinen Zerfalls führen, zu einer Gesellschaft, die am lebendigen Leib verrottet. Der Kollaps des Ostblocks 1989 war lediglich der spektakulärste einer Reihe von unmissverständlichen Ausdrücken der Tatsache, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihre letzte Lebensphase angelangt ist.
Dies trifft auch auf die ernste Zuspitzung der politischen Verwerfungen in den peripheren Ländern zu, die die Großmächte in wachsendem Maße daran hindert, sie zu benutzen, um im eigenen Gebiet für Ordnung zu sorgen, und sie somit dazu zwingt, immer direkter in militärische Konfrontationen zu intervenieren. Dies wurde bereits in den 1980er Jahren deutlich, im Libanon und vor allem im Iran. Besonders im Iran erlangten die Ereignisse eine bis dahin unbekannte Dimension: Ein Land, das einem Block angehört, ja, wichtiges Mitglied eines Militärbündnisses ist, gerät aus dessen Kontrolle, ohne auch nur ansatzweise unter die Vorherrschaft des anderen Blocks zu gelangen. Dies war nicht die Folge der Schwäche des Blocks als Ganzes, ja, nicht einmal eine Frage der Entscheidung dieses Landes, die auf die Verbesserung der Stellung des nationalen Kapitals abzielt – ganz im Gegenteil, denn diese Politik hätte nur zu einer wirtschaftlichen und politischen Katastrophe geführt. Tatsächlich ließen sich vom Standpunkt der Interessen des nationalen Kapitals die Ereignisse im Iran – nicht einmal illusorisch – rational erklären. Am deutlichsten wird dies durch die Machtergreifung der Geistlichen veranschaulicht, einer Gesellschaftsschicht, die niemals eine Kompetenz im Management der wirtschaftlichen oder politischen Angelegenheiten besessen hatte. Der Aufstieg des islamischen Integrationismus und sein Sieg in einem verhältnismäßig wichtigen Land sind Lehrbeispiele für die Zerfallsphase und sind seitdem durch die Entwicklung dieses Phänomens in etlichen anderen Ländern bestätigt worden.
Hier können wir die Entstehung von Phänomenen erblicken, die den klassischen Charakteristiken der kapitalistischen Dekadenz eine qualitative Änderung attestieren.
Historisch obsolet geworden, entwickeln herrschende Klassen stets eine Reihe von Mechanismen und Strukturen, um die Kräfte zu konfrontieren, die ihre Macht untergraben (wachsende Wirtschaftskrisen und militärische Konflikte, die Verwerfungen des Gesellschaftskörpers, der Zerfall der herrschenden Ideologie, etc.). Was die Bourgeoisie betrifft, bestehen diese Mechanismen im Staatskapitalismus, in einer immer totalitäreren Kontrolle der Zivilgesellschaft, in der Unterwerfung der verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie unter die höheren Interessen der Nation, in der Bildung von Militärbündnissen, um der internationalen Konkurrenz zu begegnen, etc.
Solange die Bourgeoisie in der Lage ist, das Gleichgewicht der Klassenkräfte zu beherrschen, können die Ausdrücke des Zerfalls, Kennzeichen einer jeden dekadenten Produktionsweise, in gewisse Grenzen gehalten werden, die mit dem Überleben ihres Systems vereinbar sind. In der Zerfallsphase selbst jedoch bestehen diese Charakteristiken fort und werden von der wachsenden allgemeinen Krise verschärft, während die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, ihre Lösung durchzusetzen, und der Arbeiterklasse, ihre eigenen Perspektiven aufzustellen, das Feld allen Arten gesellschaftlicher und politischer Auflösungserscheinungen überlässt – bis hin zur Explosion des Jeder-gegen-Jeden: „Elemente des Zerfalls können in allen dekadenten Gesellschaften gefunden werden: die Verwerfungen des Gesellschaftskörpers, das Dahinrotten ihrer politischen, ökonomischen und ideologischen Strukturen, etc. Dasselbe traf seit dem Beginn seiner dekadenten Epoche auf den Kapitalismus zu (...) in einer historischen Situation, in der die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, in den Kampf um die eigenen Interessen und um die einzig ‚realistische‘ Perspektive – die kommunistische Revolution – zu treten, wo aber auch die herrschende Klasse nicht imstande ist, auch nur den Hauch einer Perspektive für sich selbst zu verschaffen, selbst kurzfristig nicht, hilft die frühere Fähigkeit der Letzteren während der Dekadenzperiode, das Phänomen des Zerfalls zu begrenzen und zu kontrollieren, nicht mehr weiter, sondern fällt unter den wiederholten Schlägen der Krise in sich zusammen.“ (ebenda siehe Fussnote 4)
Die Geschichte zeigt, dass die Gesellschaft, wenn sie in ihren eigenen Widersprüchen verfangen ist, ohne sie lösen zu können, in ein wachsendes Chaos, in endlose Kämpfe zwischen Warlords stürzt. Das Bild des Zerfalls ist voll von wachsendem Chaos und Jeder-gegen-Jeden. Einer der Hauptausdrücke des Zerfalls des Kapitalismus zeigt sich in der wachsenden Unfähigkeit der Bourgeoisie, die politische Lage der verschiedensten Art zu kontrollieren: bei der Disziplin unter ihren verschiedenen imperialistischen Fraktionen, bei der Zügelung ihres imperialistischen Heißhungers, etc. Die Unfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, der Gesellschaft auch nur die leiseste Perspektive anzubieten, führt unvermeidlich zu wachsendem, allgemeinem Chaos.
Ende der 80er Jahre sollte sich diese Diagnose auf spektakulärste Weise bestätigen. Die Auflösung des Ostblocks und der UdSSR, der Tod des Stalinismus, die Auflösung Russlands selbst, dem kurz darauf der Golfkrieg folgte, verliehen diesen Charakteristiken einer zerfallenden Produktionsweise unmissverständlich Ausdruck: die Explosion des „Jeder-für-sich-selbst“, die Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und wachsendes Chaos.
In diesem Zusammenhang müssen wir die Reorientierung der europäischen Politik während der 1990er Jahre sehen. Die bis dahin im Wesentlichen ökonomische Ausrichtung schlug nach dem Fall der Berliner Mauer im Dezember 1989 eine deutlich politischere Richtung ein; der Gipfel von Straßburg beschleunigte den Prozess der Etablierung des Euros und lud die osteuropäischen Länder an den Verhandlungstisch. Zu diesem Zeitpunkt war es beschlossene Sache, dass künftig neue Mitglieder integriert werden würden, und die materiellen Mittel, um dies zu erreichen, führten im Mai 1980 zur Bildung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBAE), zu Investitionen in mannigfaltigen Bereichen, zu Kooperationsprogrammen, etc. Der im Wesentlichen geostrategische Charakter dieser Erweiterung Europas in Richtung Osten wurde durch die Tatsache demonstriert, dass der wirtschaftliche Nutzeffekt sich als nichtexistent oder gar negativ erweisen sollte, wie zum Beispiel die Integration Ostdeutschlands in die Bundesrepublik. Das durchschnittliche Bruttosozialprodukt pro Einwohner in den zehn Kanididaten-Ländern ist nicht einmal halb so groß wie in den 13 EU-Staaten. Die Handelsbeziehungen sind zutiefst asymmetrisch. Während 70% der Exporte der ost- und mitteleuropäischen Länder in die Europäische Union gehen, können Erstere nur 4–5% der Exporte Letzterer für sich verbuchen. Während die östlichen Länder sich in einer empfindlichen Abhängigkeit von der Wirtschaftslage Westeuropas befinden, ist dies umgekehrt nicht der Fall. Ein weiteres Element ihrer Verwundbarkeit rührt aus der Tatsache, dass es ein strukturelles Handelsdefizit in sämtlichen ost- und mitteleuropäischen Ländern gibt, was sie vom Zufluss fremden Kapitals abhängig macht. Die Beschäftigungsquote ist seit 1990 in dieser Region um 20% gesunken, und viele Länder sind noch immer in ernsten ökonomischen Problemen verstrickt.
Die wahren Gründe für die Integration der neuen Kandidaten in die EU sind woanders zu suchen. Der erste Grund ist klar imperialistisch. Was ansteht, ist der Ausverkauf der Überbleibsel des ehemaligen Ostblocks. Der zweite ergibt sich aus den Konsequenzen des Zerfalls selbst: Für die EU ist es lebenswichtig, eine relativ stabile Pufferzone an ihren östlichen Grenzen zu installieren, um sich nicht vom wirtschaftlichen und sozialen Chaos anstecken zu lassen, das von der Auflösung des Ostblocks ausgeht. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist es wichtig, dass die wichtigeren der neuen Mitgliedsländer wirtschaftlich am stärksten und geographisch Westeuropa am nächsten sind (Polen, Tschechien, Slowakei und Slowenien), während die drei baltischen Länder (Estland, Lettland und Litauen) den Zugang Russlands zur Ostsee einschränken. Im Endeffekt ist die EU-Politik gegenüber Osteuropa das Ergebnis der überragenden Stellung der imperialistischen Ziele. Einerseits wetteifert die EU, mit Deutschland an der Spitze, mit den Vereinigten Staaten um das Eigentum der Überbleibsel des alten Ostblocks. Das Ziel der Europäischen Union ist es, so viel ost- und mitteleuropäische Länder wie möglich unter ihren Einflussbereich zu bringen, möglichst einschließlich Russlands, das trotz seiner Anlehnung an Amerika heute Deutschland zum Haupthandelspartner hat. Frankreich auf der anderen Seiten ist ebenfalls an einer Expansion der EU in den Osten interessiert, wenn sie von der EU, und nicht von einem unabhängigen Deutschland, das seine alten Vorkriegsreflexe wiederentdeckt, ausgeführt wird. Deutschland ist seinerseits bereit, diese Strategie zu akzeptieren, weil es dadurch die Betreibung seiner imperialistischen Ambitionen bedeckt halten kann, eingedenk dessen, dass es noch nicht bereit ist, offen die Führungsrolle eines neuen imperialistischen Blocks als Widerpart der Vereinigten Staaten anzunehmen.
Die Bedeutung des Euro
Die Zerfallsphase und der Zusammenbruch der imperialistischen Blöcke sind der Rahmen zum Verständnis für die Schaffung einer einzigen Währung. Sie hat vier Grundlagen:
1) Die erste ist geostrategischer und imperialistischer Natur. Die französische und deutsche Bourgeoisie ist daran interessiert zu verhindern, dass die deutsch-französische Allianz unter dem Druck divergierender imperialistischer Interessen zusammenbricht. Einerseits befürchten die Franzosen, dass ein vereinigtes Deutschland zu einem Expansionsfeld im Osten gelangt, während Frankreich dem nichts entgegensetzen kann. Frankreich ist es gelungen, sicher zu stellen, dass die osteuropäische Währung nicht die Deutsche Mark ist, was dazu geführt hätte, Frankreich wirtschaftlich aus dieser Zone auszuschließen. Andererseits war es die Politik Deutschlands seit 1989 gewesen, unter dem Mantel der EU zu verbleiben, um seine eigenen imperialistischen Interessen zu verbergen. Es hat daher ein großes Interesse daran, Frankreich und andere, zweitrangige europäische Länder an seine Expansionspolitik zu binden. Es ist schon banal, darauf hinzuweisen, dass Mitglieder der deutschen Bourgeoisie geäußert haben, dass „Deutschland heute wirtschaftlich das erreicht hat, was Hitler mit dem Krieg erreichen wollte“!
2) Die zweite Grundlage ist die Notwendigkeit, sich den zerstörerischen Kräften der Krise zu widersetzen, die durch Phänomene wesentlich vergrößert wurden, welche eine Besonderheit der Zerfallsphase sind. Durch die Installierung des Euro machte die EU der Destabilisierung durch Währungsspekulationen ein Ende, unter der sie schon etliche Male in der Vergangenheit gelitten hatte (Spekulationen gegen die Lire, der erzwungene Austritt des englischen Pfunds aus dem EWS, etc.). Schon die Installierung des EWS (Europäisches Währungssystem) 1979 war ein Versuch, eine Währungsschlange zu bilden, die stabiler gegenüber dem Dollar und dem Yen sein sollte, und so die EU besser von der monetären Anarchie abzuschirmen, die mittlerweile besonders in den Ländern an der Peripherie des Kapitalismus Schäden verursacht hatte. Dies ist einer der Hauptunterschiede zur Krise von 1929, unter der zunächst die Vereinigten Staaten und daraufhin die europäischen Länder gelitten hatten. Obwohl die Wurzeln der Überproduktionskrisen sowohl in den 30er Jahren als auch heute in den entwickelten kapitalistischen Ländern liegen, ist es in der gegenwärtigen Krise den Letzteren gelungen, die Hauptauswirkungen der Krise bis jetzt in die Peripherie abzulenken. Während auf der Ebene der interimperialistischen Spannungen ihre zentrifugalen Kräfte sich jederlei Art von Disziplin entzogen haben, ist die Bourgeoisie auf der ökonomischen Ebene noch zu einem Minimum an Zusammenarbeit fähig, worin die eigentliche Essenz ihrer Herrschaft als eine Klasse zum Ausdruck kommt: die Gewinnung von Mehrarbeit. So war, im Gegensatz zu den 30er Jahren, die herrschende Klasse im Wirtschaftsbereich in der Lage, ihre Bemühungen zu koordinieren, um wiederholte Marktzusammenbrüche moderat zu gestalten und die zerstörerischsten Auswirkungen der Krise und des Zerfalls einzuschränken.
3) Die dritte Grundlage ist sowohl wirtschaftlicher als auch imperialistischer Natur. Alle europäischen Bourgeoisien wollen ein starkes Europa, das imstande ist, der internationalen und besonders der amerikanischen sowie japanischen Konkurrenz Paroli zu bieten. Dieses Bedürfnis wird um so heftiger verspürt, als dass die europäischen Länder die Ambition haben, die Nationen Osteuropas einschließlich Russland in ihren Einflussbereich zu holen, was weitaus schwieriger wäre, wenn ihre Ökonomie dollarisiert wird.
4) Der dritte Grund ist rein technischer Art: die Eliminierung der Kosten für den Devisenaustausch innerhalb Euroland und der mit dem Floaten der Austauschraten verknüpften Unsicherheit (einschließlich der Kosten, die das Devisensicherungsgeschäft mit sich bringt). Da der größte Teil des Handels der europäischen Länder innerhalb der EU abgewickelt wird, ließ das Beharren auf verschiedene nationale Währungen im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und Japan die Produktionskosten steigen. Eine einzige Währung war in diesem Sinn eine natürliche Folgerung aus der ökonomischen Integration. Es gab immer weniger wirtschaftliche Argumente, um in einem Markt, in dem Steuern und Handelsregeln größtenteils vereinheitlicht sind, an verschiedenen nationalen Währungen festzuhalten.
Europa – die Basis für einen neuenimperialistischen Block?
Als Vorposten des amerikanischen imperialistischen Blocks in Europa gegründet, wurde die EWG immer mehr zu einer ökonomischen Einheit in Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten. Politisch jedoch blieb sie in der Periode des Kalten Kriegs und bis zum Fall der Berliner Mauer von Letzteren dominiert. Mit dem Verschwinden der beiden imperialistischen Blöcke 1989 fand sich Europa erneut mitten im Zentrum imperialistischer Begierden. Seither haben die Gestaltung und die geostrategischen Interessen der verschiedenen imperialistischen Mächte paradoxerweise nicht in Richtung einer Auflösung, sondern einer größeren Integration Europas gedrängt!
Auf der ökonomischen Ebene unterstützen sämtliche europäischen Bourgeoisien das Projekt eines großen, einheitlichen Marktes, um mit den Amerikanern und Japanern zu konkurrieren. Doch in Fragen ihrer imperialistischen Interessen haben wir gesehen, wie jede der drei Großmächte Europas ihre Karte gegen die beiden anderen ausspielt. Und schließlich ermuntern selbst die Amerikaner die EU zur Erweiterung, wohl wissend, dass, je mehr heterogene Bestandteile und imperialistische Orientierungen in die EU integriert werden, desto weniger die EU in der Lage sein wird, irgendeine wichtige Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen.
Ein genauerer Blick erspart uns Illusionen über die Fortsetzung der europäischen Integration heute. Jeder Teilnehmer in diesem Prozess nimmt nur infolge seines eigenen temporären imperialistischen Interesses und Kalküls teil. Der Konsens zugunsten einer Erweiterung der Europäischen Union ist in seiner Struktur zerbrechlich, denn er basiert auf heterogenen und divergierenden Grundlagen, die nur infolge einer Änderung in den Konstellationen des internationalen Kräftegleichgewichts zu Stande gekommen waren. Keine der Grundlagen für die Existenz der EU rechtfertigt heute die Schlussfolgerung, dass es bereits Formen eines mit dem amerikanischen Block rivalisierenden neuen imperialistischen Blocks gäbe. Worin bestehen die Hauptgründe, die zu dieser Schlussfolgerung führen?
1) Anders als eine wirtschaftliche Koordinierung, die auf einem Vertrag zwischen souveränen Bourgeoisien beruht, wie heute in der EU, ist ein imperialistischer Block eine Zwangsjacke, der einer Gruppe von Staaten durch die militärische Überlegenheit eines Landes aufgezwängt und nur aufgrund des gemeinsamen Wunsches akzeptiert wird, einer anderen Gefahr zu widerstehen oder ein feindliches Militärbündnis zu zerstören. Die Blöcke im Kalten Krieg erschienen nicht als Resultat langwieriger Verhandlungen und Übereinkünfte, wie die Europäische Union: Sie waren das Resultat des militärischen Kräfteverhältnisses, das auf dem Boden der Niederlage Deutschlands etabliert worden war. Der westliche Block wurde geboren, weil Westeuropa und Japan von den Vereinigten Staaten besetzt worden war, während der Ostblock nach der Okkupation Osteuropas durch die Rote Armee ins Leben gerufen worden war. Genausowenig kollabierte der Ostblock wegen irgendwelcher Änderungen seiner wirtschaftlichen Interessen oder seiner Wirtschaftsbündnisse, sondern weil sein Anführer, der den Zusammenhalt des Blocks durch seine Streitkräfte sicherte, nicht mehr in der Lage war, seine Autorität mit Panzern aufrechtzuerhalten, wie er es während des ungarischen Aufstandes 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968 getan hatte. Der westliche Block schied einfach deswegen dahin, weil sein gemeinsamer Feind und damit alles, was ihn zusammengehalten hat, verschwunden war. Ein imperialistischer Block ist stets ein Zweckbündnis, niemals eine Liebesheirat. Wie Winston Churchill einst schrieb, sind militärische Allianzen nicht das Ergebnis der Liebe, sondern der Angst: die Angst vor einem gemeinsamen Feind.
2) Noch fundamentaler ist, dass Europa historisch nie einen homogenen Block gebildet hatte und stets von konfliktträchtigen Begierden zerrissen wurde. Europa und Amerika sind die beiden Zentren des Weltkapitalismus. Die USA als vorherrschende Macht in Nordamerika war durch ihre kontinentalen Dimensionen, durch ihre Lage, die potenzielle Feinde in Europa und Asien auf sicherem Abstand hielt, und durch ihre ökonomische Stärke dazu bestimmt, zur führenden Macht in der Welt zu werden. Wie wir 1999 schrieben:
„Seine ökonomische und strategische Stellung hat im Gegensatz dazu Europa dazu verdammt, zum hauptsächlichen Brennpunkt imperialistischer Spannungen im dekadenten Kapitalismus zu werden. Als Hauptschlachtfeld in beiden Weltkriegen und als der Kontinent, der im Kalten Krieg durch den ‚Eisernen Vorhang‘ geteilt worden war, hatte Europa nie eine Einheit gebildet, und im Kapitalismus wird es diese auch nie erreichen.
Wegen seiner historischen Rolle als Geburtsort des modernen Kapitalismus und seiner geographischen Lage als Halbkontinent von Asien gegenüber Nordafrika war Europa im 20. Jahrhundert zum Schlüssel des imperialistischen Ringens um die Weltherrschaft geworden. Gleichzeitig ist Europa, nicht zuletzt wegen seiner geographischen Lage, militärisch besonders schwierig zu beherrschen. Großbritannien musste selbst zu jenen Zeiten, als es noch ‚die Weltmeere beherrschte‘, zu einem komplizierten System des ‚Kräftegleichgewichts‘ greifen, um Europa in Schach zu halten. Was Deutschland unter Hitler angeht, so war selbst 1941 seine Vorherrschaft über den Kontinent mehr äußerlich als real, solange Großbritannien, Russland und Nordafrika sich in Feindeshand befanden. Selbst den Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gelang es nie, mehr als die Hälfte des Kontinents zu beherrschen.
Die Ironie will es, dass seit ihrem ‚Sieg‘ über die UdSSR die Position der Vereinigten Staaten in Europa mit dem Verschwinden des ‚Reichs des Bösen‘ beträchtlich geschwächt worden war. Obgleich die einzige Supermacht der Welt eine enorme militärische Präsenz in der Alten Welt aufrechterhält, ist Europa nicht ein unterentwickeltes Gebiet, das von einer Handvoll GI-Kasernen in Schach gehalten werden kann: Vier der führenden G8-Industrieländer sind europäisch (...) wenn Europa heute das Zentrum der imperialistischen Spannungen ist, so vor allem deswegen, weil die Hauptmächte Europas selbst unterschiedliche militärische Interessen haben. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass beide Weltkriege vor allem als Kriege zwischen den europäischen Mächten begannen – so wie die Balkankriege der 1990er Jahre.“ (Bericht über die imperialistischen Konflikte für den 13. Kongress der IKS, Internationale Revue Nr 24)
3) Der Marxismus hat bereits aufgezeigt, dass interimperialistische Konflikte nicht notwendigerweise identisch sind mit Wirtschaftsinteressen. Während in den beiden Weltkriegen sich in der Tat zwei Pole gegenüberstanden, die die wirtschaftliche Hegemonie für sich beanspruchten, war dies im Kalten Krieg nicht mehr der Fall, als der westliche Block alle großen Wirtschaftsmächte um sich scharte gegen den wirtschaftlichen schwachen Ostblock, dessen ganze Stärke auf der Atommacht der UdSSR beruhte. Euroland ist eine perfekte Illustrierung der Tatsache, dass die imperialistischen strategischen Interessen und die Welthandelsinteressen der Nationalstaaten nicht identisch sind. Frankreich und Deutschland, die beiden Nationen, die die Triebkraft der EU darstellen, sind dreimal in den letzten 150 Jahren gegeneinander in den Krieg gezogen, während seit Napoleons Zeiten Großbritannien stets versucht hat, die Spaltungen Kontinentaleuropas aufrechtzuerhalten. „Die Volkswirtschaft der Niederlande zum Beispiel ist vom Weltmarkt im Allgemeinen und von der deutschen Wirtschaft im Besonderen äußerst abhängig. Daher ist dieses Land einer der leidenschaftlichsten Anhänger der deutschen Politik für eine gemeinsame Währung gewesen. Auf imperialistischer Ebene jedoch widersetzt sich die holländische Bourgeoisie gerade wegen ihrer geographischen Nähe zu Deutschland den Interessen ihres mächtigen Nachbarn, wo immer sie kann, und stellt einen der loyalsten Verbündeten der USA in der ‚Alten Welt‘ dar. Wenn der Euro zuallererst ein Eckpfeiler eines künftigen deutschen Blocks wäre, so wäre Den Haag der erste, der sich dem widersetzen würde. Doch in Wirklichkeit unterstützen Holland, Frankreich und andere Länder, die sich vor einer imperialistischen Wiederauferstehung Deutschlands fürchten, die gemeinsame Währung, gerade weil sie nicht ihre nationale Sicherheit, d.h. ihre militärische Souveränität, beeinträchtigt.“ (ebenda) Angesichts der imperialistischen Rivalitäten zwischen den europäischen Ländern selbst und auch in Anbetracht der Tatsache, dass Europa heute sich im eigentlichen Herzen der interimperialistischen Spannungen des Planeten befindet, ist es wenig realistisch anzunehmen, dass wirtschaftliche Interessen allein die europäischen Länder zusammenschweißen können. Dies ist um so mehr ausgeschlossen, als Europa, auch wenn es auf ökonomischer Ebene integriert ist, auf politischer Ebene weit davon entfernt ist, geschweige denn auf militärischer Ebene oder in der Außenpolitik. Wie können wir annehmen, dass Euroland bereits ein imperialistischer Block ist, der mit den Vereinigten Staaten rivalisiert, wenn es nicht einmal zwei wesentlichen Eigenschaften eines imperialistischen Blocks besitzt: eine Armee und eine imperialistische Strategie. Diese Tatsachen demonstrieren täglich, dass ein vereintes Europa eine Utopie ist, was wir insbesondere im Dissens unter seinen Mitgliedsländern und in der Unfähigkeit sehen können, die Regelung internationaler Konflikte zu beeinflussen, selbst wenn diese vor der eigenen Tür, wie in Jugoslawien, stattfinden.
Fritz
Fußnoten:
1 s. unsere Broschüre „Nation oder Klasse“
2 eigene Übersetzung
3 eigene Übersetzung
4 eigene Übersetzung
5 s. unsere Thesen in „Der Zerfall – die letzte Phase des Kapitalismus“ in Internationale Revue Nr. 13.
Non ridere, non lugere, neque detestari sed intelligere.“ (Lache nicht, weine nicht und fluche nicht – verstehe).Spinoza: Ethik
Die gegenwärtige Debatte in der IKS über die Fragen der Solidarität und des Vertrauens begann 1999/2000 im Zuge einer Antwort auf eine Reihe von Schwächen in diesen zentralen Fragen innerhalb unserer Organisation. Hinter dem konkreten Versagen, Solidarität gegenüber in Schwierigkeiten geratenen Genossen zu manifestieren, wurde eine tiefer liegende Schwierigkeit identifiziert, ein permanentes Verhalten der alltäglichen Solidarität zwischen unseren Militanten zu entwickeln. Hinter den wiederholten Manifestationen des Immediatismus in der Analyse und Intervention bezüglich des Klassenkampfes (insbesondere die Weigerung, das volle Ausmaß des Rückschlags nach 1989 anzuerkennen) und einer deutlichen Neigung, uns mit „unmittelbaren Beweisen“ zu trösten, die angeblich den historischen Kurs bestätigen, entdeckten wir einen fundamentalen Mangel an Vertrauen in das Proletariat und in den Rahmen unserer Analyse. Hinter dem Schaden, der in unserem Organisationsgewebe angerichtet wurde und der sich besonders in RI zu konkretisieren begann, erkannten wir einen Mangel an Vertrauen zwischen verschiedenen Teilen und sMitgliedern der Organisation und in unsere eigene Funktionsweise.
In der Tat war es die Tatsache, dass wir von verschiedenen Manifestationen des Vertrauensmangels in unsere grundlegenden Positionen, in unsere Organisationsprinzipien und zwischen Genossen und Organen konfrontiert wurden, die uns dazu zwang, über die einzelnen Fälle hinauszugehen und diese Fragen in einem allgemeineren, fundamentaleren und somit theoretischeren Zusammenhang zu stellen.
Noch spezifischer, das Wiederauftreten des Clanwesens2 im Herzen der Organisation erfordert eine Vertiefung unseres Verständnisses dieser Fragen. Wie die Aktivitätsresolution des 14. Kongresses der IKS sagt:
„Der Kampf der 90er Jahre war notgedrungen ein Kampf gegen den Zirkelgeist und die Clans. Doch wie wir damals bereits gesagt hatten, waren die Clans die falsche Antwort auf ein reales Problem: jenes der Schwäche des proletarischen Vertrauens und der Solidarität innerhalb unserer Organisation. Daher löste die Abschaffung des existierenden Clans nicht automatisch das Problem der Schaffung eines Parteigeistes und einer wahren Brüderlichkeit in unseren Reihen, das nur das Ergebnis tiefgehender, bewusster Bemühungen sein kann. Obwohl wir damals darauf bestanden, dass der Kampf gegen den Zirkelgeist permanent ist, hielt sich die Idee aufrecht, dass, wie zurzeit der Ersten und Zweiten Internationalen, das Problem hauptsächlich mit einer Phase der Unreife verknüpft ist, die überwunden und hinter uns gelassen werde. In Wahrheit ist das Problem des Zirkelgeistes und Clanwesens heute permanenter und hinterhältiger als zu Zeiten des Kampfes von Marx gegen den Bakunismus oder von Lenin gegen den Menschewismus. Tatsächlich gibt es eine Parallele zwischen den gegenwärtigen Schwierigkeiten der Klasse als Ganzes, ihre Klassenidentität wiederzuerlangen und die elementaren Klassenreflexe der Solidarität mit anderen Arbeitern und jener der revolutionären Organisation wiederzuentdecken, um im alltäglichen Funktionieren einen Parteigeist aufrechtzuerhalten. In diesem Sinn hat die Organisation, indem sie die Fragen des Vertrauens und der Solidarität als zentrale Fragen der Periode stellte, begonnen, an dem Kampf von 1993 wieder anzuknüpfen und ihm eine ‚positive‘ Dimension beizufügen, um sich noch stärker gegen das Eindringen kleinbürgerlicher Abwege der Organisation zu wappnen.“
In diesem Sinn betrifft die aktuelle Debatte direkt die Verteidigung, ja, sogar das Überleben der Organisation. Genau aus diesem Grund ist es wichtig, um so mehr alle theoretischen und historischen Zusammenhänge dieser Fragen zu entwickeln. So gibt es in Bezug auf die organisatorischen Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, zwei wesentliche Ansatzpunkte. Die Enthüllung der organisatorischen Schwächen und des Unverständnisses, die das Wiederaufleben des Clanwesens ermöglichten, und die konkrete Analyse der Ausbreitung dieser Dynamik ist die Aufgabe des Berichts, den die Untersuchungskommission3 präsentieren wird. Die Aufgabe diese Orientierungstextes besteht dagegen im Wesentlichen darin, einen theoretischen Rahmen zu erstellen, der ein tieferes historisches Verständnis und eine Lösung dieser Probleme ermöglicht.
In der Tat ist es wichtig zu verstehen, dass die Auseinandersetzung um den Parteigeist notgedrungen eine historische Dimension hat. Gerade die Dürftigkeit der Debatte über Vertrauen und Solidarität bis dato war ein Hauptfaktor bei der Ermöglichung des Clanwesens gewesen. Allein der Umstand, dass solch ein Orientierungstext nicht zu Beginn, sondern ein Jahr nach der Eröffnung dieser Debatte verfasst worden ist, bezeugt die Schwierigkeiten, die die Organisation hatte, um diese Fragen in den Griff zu bekommen. Doch der beste Beweis dieser Schwächen ist die Tatsache, dass die Debatte über Vertrauen und Solidarität von einer unerhörten Auszehrung der vertrauensvollen und solidarischen Bindungen zwischen den Genossen begleitet wurde!
In der Tat sehen wir uns mit fundamentalen Fragen des Marxismus konfrontiert, die die eigentliche Grundlage unseres Verständnisses der Natur der proletarischen Revolution bilden und die ein integraler Bestandteil der Plattform und Statuten der IKS sind. In diesem Sinn erinnert uns die Dürftigkeit der Debatte daran, dass die Gefahr der theoretischen Verkümmerung und Sklerose einer revolutionären Organisation stets präsent ist.
Die zentrale These dieses Orientierungstextes ist die, dass die Schwierigkeit, Vertrauen und Solidarität tiefer in die IKS zu verwurzeln, ein fundamentales Problem in der gesamten Geschichte der IKS gewesen ist. Diese Schwäche ist ihrerseits das Resultat wesentlicher Merkmale der historischen Periode seit 1968. Es ist eine Schwäche nicht nur der IKS, sondern der gesamten Generation des betroffenen Proletariats. Wie die Resolution des 14. Kongresses sagte:
„Es ist eine Debatte, die das tiefste Nachdenken der gesamten IKS erfordert, da sie das Potenzial hat, unser Verständnis nicht nur für den Aufbau einer Organisation mit einem wahrhaft proletarischen Leben, sondern auch für die historische Periode, in der wir leben, zu vertiefen.“
In diesem Sinn geht die auf dem Spiel stehende Frage über die Organisationsfrage als solche hinaus. Insbesondere die Frage des Vertrauens tangiert alle Aspekte im Leben des Proletariats und in der Arbeit der Revolutionäre – so wie der Verlust an Vertrauen in die Klasse sich selbst gleichermaßen in der Abschaffung der programmatischen und theoretischen Errungenschaften manifestiert.
a) In der Geschichte der marxistischen Bewegung finden wir keinen einzigen fundamentalen Text, der über das Vertrauen wie über die Solidarität verfasst worden ist. Auf der anderen Seite stehen diese Fragen im Zentrum der grundlegendsten Beiträge des Marxismus, von der Deutschen Ideologie und dem Kommunistischen Manifest bis hin zu Sozialreform oder Revolution und Staat und Revolution. Das Fehlen einer spezifischen Diskussion über diese Fragen in der Arbeiterbewegung der Vergangenheit ist kein Anzeichen für ihre relative Unwichtigkeit. Ganz das Gegenteil. Diese Fragen waren so fundamental und selbstverständlich, dass sie nie für sich selbst gestellt wurden, sondern stets in Antwort auf andere Probleme.
Wenn wir heute dazu gezwungen sind, diesen Fragen eine besondere Debatte und eine theoretische Untersuchung zu widmen, so deshalb, weil sie ihre „Selbstverständlichkeit“ verloren haben.
Dies ist das Resultat der Konterrevolution, die in den 1920er-Jahren begann, und des Bruchs in der organischen Kontinuität, die sie verursachte. Aus diesem Grund ist es hinsichtlich der Schaffung von Vertrauen und lebendiger Solidarität innerhalb der Arbeiterbewegung notwendig, zwei Phasen in der Geschichte des Proletariats zu unterscheiden. Während der ersten Phase, die vom Beginn seiner Selbstbehauptung als autonome Klasse bis zur revolutionären Welle 1917–23 reichte, war die Arbeiterklasse trotz einer Reihe von oftmals blutigen Niederlagen in der Lage, mehr oder weniger kontinuierlich ihr Selbstvertrauen und ihre politische und gesellschaftliche Einheit zu formen. Die wichtigsten Manifestationen dieser Fähigkeit waren, in Ergänzung zum Arbeiterkampf selbst, die Entwicklung einer sozialistischen Vision, einer theoretischen Kapazität, einer politischen revolutionären Organisation. All dies, das Werk von Jahrzehnten und Generationen, wurde von der Konterrevolution unterbrochen und gar in sein Gegenteil verkehrt. Nur winzige revolutionäre Minderheiten waren imstande, ihr Vertrauen in das Proletariat in den folgenden Jahrzehnten aufrechtzuerhalten. 1968, mit dem Ende der Konterrevolution, begann sich diese Tendenz erneut umzukehren. Jedoch blieben die neuen Ausdrücke des Selbstvertrauens und der Klassensolidarität durch diese neue und ungeschlagene proletarische Generation in den immediatistischen Kämpfen verwurzelt. Sie beruhten nicht im gleichen Maße wie vor der Konterrevolution auf eine sozialistische Vision, auf die politische Erschaffung einer Klassentheorie und auf das Weiterreichen angesammelter Erfahrung und Kenntnisse von einer Generation an die nächste. Mit anderen Worten, das historische Selbstvertrauen des Proletariats und seine Traditionen der aktiven Einheit und kollektiven Auseinandersetzung gehören zu den Aspekten seiner Auseinandersetzung, die am meisten durch den Bruch in der organischen Kontinuität gelitten haben. Zudem gehören sie zu den schwierigsten Aspekten, die es wiederherzustellen gilt, da sie mehr als viele andere von einer lebenden politischen und sozialen Kontinuität abhängen. Dies erhöht umgekehrt die besondere Verwundbarkeit der neuen Generationen der Klasse und ihrer revolutionären Minderheiten.
In erster Linie war es die stalinistische Konterrevolution, die dazu beitrug, das Vertrauen des Proletariats in seine eigene historische Mission, in die marxistische Theorie und in seine revolutionären Minderheiten zu unterminieren. Infolgedessen neigt das Proletariat nach 1968 mehr als vergangene unbesiegte Generationen der Klasse dazu, unter dem Gewicht des Immediatismus, des Fehlens einer langfristigen Vision zu leiden. Indem sie ihm große Teile seiner Vergangenheit raubte, hielt und hält die Konterrevolution und die heutige Bourgeoisie dem Proletariat eine klare Vision seiner Zukunft vor, ohne die die Klasse kein tiefer gehendes Vertrauen in ihre eigene Kraft entwickeln kann.
Was das Proletariat von jeder anderen Klasse in der Geschichte unterscheidet, ist die Tatsache, dass es vom ersten Tag seiner Entstehung als eine unabhängige, gesellschaftliche Kraft sein eigenes Projekt einer zukünftigen Gesellschaft vorstellte, das auf dem gemeinsamen Eigentum der Produktionsmittel basiert. Als erste Klasse in der Geschichte, deren Ausbeutung auf der radikalen Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln und auf der Ersetzung der individuellen durch die gesellschaftliche Arbeitskraft beruht, wird sein Befreiungskampf durch die Tatsache gekennzeichnet, dass der Kampf gegen die Folgen der Ausbeutung (der allen ausgebeuteten Klassen gemeinsam ist) stets mit der Entwicklung einer Vision der Überwindung der Ausbeutung verknüpft gewesen war. Die erste kollektiv produzierende Klasse in der Geschichte, das Proletariat, ist dazu aufgerufen, die Gesellschaft auf einer bewussten Grundlage neu zu schaffen. Da es als eigentumslose Klasse nicht in der Lage ist, irgendeine Macht in der herrschenden Gesellschaft zu erringen, liegt die historische Bedeutung seines Klassenkampfes gegen die Ausbeutung darin, sich selbst und somit der Gesellschaft im Ganzen das Geheimnis seiner eigenen Existenz als Totengräber der kapitalistischen Anarchie zu offenbaren.
Aus diesem Grund ist die Arbeiterklasse die erste Klasse, deren Vertrauen in die eigene historische Rolle untrennbar verbunden ist mit ihrer eigenen Lösung der Krise der kapitalistischen Gesellschaft.
Diese einmalige Stellung als die einzige Klasse in der Geschichte, die gleichzeitig ausgebeutet und revolutionär ist, hat zwei wichtige Konsequenzen:
– ihr Vertrauen in sich selbst ist vor allem ein Vertrauen in die Zukunft und beruht daher in besonderem Maße auf eine theoretische Vorgehensweise;
– sie entwickelt in ihren Tageskämpfen ein Prinzip, das ihrer historischen Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, entspricht – das Prinzip der Klassensolidarität, Ausdruck ihrer Einheit.
In diesem Sinn besteht die Dialektik der proletarischen Revolution im Wesentlichen in der Dialektik des Verhältnisses zwischen dem Ziel und der Bewegung, zwischen dem Kampf gegen die Ausbeutung und dem Kampf für den Kommunismus. Die natürliche Unreife der ersten Gehversuche der Klasse auf der historischen Ebene zeichnet sich durch eine Parallele zwischen der Entwicklung des Arbeiterkampfes und der Theorie des Kommunismus aus. Die Verknüpfung zwischen diesen beiden Polen war anfangs von den Beteiligten selbst noch nicht wirklich verstanden worden. Dies wurde in dem oft blinden und instinktiven Charakter der Arbeiterkämpfe einerseits und im Utopismus des sozialistischen Projektes andererseits widergespiegelt.
Erst die historische Reifung des Proletariats brachte diese beiden Elemente zusammen, konkretisiert durch die Revolution 1848–49 und vor allem durch die Geburt des Marxismus, des wissenschaftlichen Verständnisses der historischen Bewegung und des Ziels der Klasse.
Zwei Jahrzehnte später enthüllte die Pariser Kommune, das Produkt dieser Reifung, den Inhalt des Vertrauens des Proletariats in seine Rolle, seines Strebens nach Übernahme der Führung in der Gesellschaft, um sie in Übereinstimmung mit seiner eigenen politischen Vision umzuwandeln.
Worin liegt der Ursprung dieses erstaunlichen Selbstvertrauens einer mit Füßen getretenen und enteigneten Klasse, die all das Elend der Menschheit in ihren Reihen konzentriert – ein Selbstvertrauen, das bereits 1870 offenbar wurde? Wie der Kampf aller ausgebeuteten Klassen hat der Kampf des Proletariats einen spontanen Aspekt. Das Proletariat ist dazu verurteilt, darauf zu reagieren, was die dominierende Gesellschaft ihm aufzwingt. Doch im Gegensatz zum Kampf aller anderen ausgebeuteten Klassen besitzt der Kampf des Proletariats vor allem einen bewussten Charakter. Die Fortschritte seines Kampfes sind in erster Linie das Produkt seines eigenen politischen Reifungsprozesses. Das Proletariat von Paris war eine politisch gebildete Klasse, die durch verschiedene Schulen des Sozialismus, vom Blanquismus bis hin zum Proudhonismus, gegangen war. Es war diese politische Gestaltung in den darauffolgenden Jahrzehnten, die zu einem großen Umfang die Fähigkeit der Klasse erklärt, die herrschende Ordnung auf diese Weise herauszufordern (ebenso wie sie die Unzulänglichkeiten dieser Bewegung erklärt). Gleichzeitig war 1870 auch das Resultat der Entwicklung einer bewussten Tradition der internationalen Solidarität, welche alle wichtige Arbeiterkämpfe in den 1860er Jahren in Westeuropa auszeichnete.
Anders ausgedrückt, war die Kommune das Produkt einer unterirdischen Reifung, die besonders durch ein größeres Vertrauen in die historische Mission der Klasse und durch eine ausgebildetere Praxis der Klassensolidarität charakterisiert ist.
Mit dem Beginn der Dekadenz wird die zentrale Rolle von Vertrauen und Solidarität hervorgehoben, da die proletarische Revolution auf der historischen Agenda erscheint. Einerseits ist durch die Unmöglichkeit einer organisierten Vorbereitung der Kämpfe via Massenparteien und Gewerkschaften der spontane Charakter des Arbeiterkampfes ausgeprägter.4 Andererseits wird die politische Vorbereitung dieser Kämpfe durch eine Verstärkung der Klassensolidarität und des Vertrauens noch wichtiger. Die fortgeschrittensten Sektoren des russischen Proletariats, die 1905 die ersten waren, die die Waffe des Massenstreiks und der Arbeiterräte entdeckten, gingen durch die Schule des Marxismus, durch eine Reihe von Phasen: die Phase des Kampfes gegen den Terrorismus, der Bildung von politischen Zirkeln, der ersten Streiks und politischen Demonstrationen, des Kampfes um die Bildung der Klassenpartei und der ersten Erfahrungen mit der Massenagitation. Rosa Luxemburg, die die erste war, die die Rolle der Spontaneität in der Epoche der Massenstreiks begriff, beharrte darauf, dass ohne diese Schule des Sozialismus die Ereignisse von 1905 niemals möglich gewesen wären.
Doch es war die revolutionäre Welle von 1917–23 und vor allem die Oktoberrevolution, die am deutlichsten die Natur der Fragen von Vertrauen und Solidarität offenbarten. Die Quintessenz der historischen Krise war in der Frage des Aufstandes enthalten. Zum ersten Mal in der gesamten Geschichte der Menschheit befand sich eine Klasse in der Lage, die Richtung der Weltereignisse mit Bedacht und bewusst zu ändern. Die Bolschewiki griffen auf Engels‘ Konzeption der „Kunst des Aufstandes“ zurück. Lenin erklärte, dass die Revolution eine Wissenschaft ist. Trotzki sprach vom „Algebra der Revolution“. Durch das Studium der Entwicklung der gesellschaftlichen Realität, durch den Aufbau einer Klassenpartei, die in der Lage ist, die historische Prüfung zu bestehen, durch die geduldige und aufmerksame Vorbereitung auf den Moment, wo die objektiven und subjektiven Bedingungen für die Revolution vereint sind, und durch die revolutionäre Kühnheit, die notwendig ist, um die Gelegenheit zu nutzen, beginnt das Proletariat und seine Vorhut durch den Triumph seines Bewusstseins und seiner Organisation, die Entfremdung zu überwinden, die die Gesellschaft dazu verdammt, das hilflose Opfer blinder Kräfte zu sein. Gleichzeitig ist die bewusste Entscheidung, die Macht zu ergreifen und somit im Interesse der Weltrevolution alle Härten solch einer Handlung auf sich zu nehmen, der höchste Ausdruck der Klassensolidarität. Dies ist eine neue Qualität im Aufstieg der Menschheit, der Beginn des Sprungs vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. Und dies ist das Wesen des Selbstvertrauens des Proletariats und der Solidarität in seinen Reihen.
b) Eine der ältesten Maximen in der Militärstrategie ist die Notwendigkeit, das Selbstvertrauen und die Einheit der gegnerischen Armee zu unterminieren. Ähnlich hat die Bourgeoisie stets die Notwendigkeit begriffen, diese Qualitäten innerhalb des Proletariats zu bekämpfen. Insbesondere während des Aufstiegs der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand das Bedürfnis, die Idee der Arbeitersolidarität zu bekämpfen, in steigendem Maße im Mittelpunkt der Weltsicht der kapitalistischen Klasse, wie das Aufkommen der sozialdarwinistischen Ideologie, die Philosophie Nietzsches, der „elitäre Sozialismus“ des Fabianismus, etc. bezeugen. Jedoch war die Bourgeoisie bis zum Eintritt ihres Systems in die Dekadenz nicht imstande, das Mittel zu finden, um diese Prinzipien innerhalb der Arbeiterklasse in ihr Gegenteil zu verkehren. Besonders die grausame Repression, die sie gegen das Proletariat von 1848 bis 1870 sowie gegen die Arbeiterbewegung in Deutschland zurzeit des Sozialistenverbotes ausübte, scheiterte – auch wenn sie zu zeitweisen Rückschlägen im Prozess zum Sozialismus führten – daran, das historische Vertrauen der Arbeiterklasse wie auch ihre Traditionen der Solidarität ernsthaft zu beschädigen.
Die Ereignisse des I. Weltkrieges offenbarten, dass diese proletarischen Prinzipien nur „von innen“, nur durch den Verrat durch Teile der Arbeiterklasse selbst, vor allem durch Teile der politischen Organisation der Klasse zerstört werden konnten. Die Liquidierung dieser Prinzipien innerhalb der Sozialdemokratie begann bereits Anfang des 20. Jahrhunderts mit der „Revisionismus“-Debatte. Der destruktive, schädliche Charakter dieser Debatte war nicht nur durch das Eindringen bürgerlicher Positionen und die zunehmende Überbordwerfens des Marxismus offenbar geworden, sondern auch und vor allem durch die Heuchelei, die sich im Organisationsleben breitmachte. Auch wenn die Position der Linken formell übernommen wurde, bestand in Wahrheit das Hauptresultat dieser Debatte darin, die Linken vollkommen zu isolieren – vor allem in der deutschen Partei. Die inoffiziellen Verleumdungskampagnen gegen Rosa Luxemburg, die auf den Korridoren der Parteikongresse als etwas Fremdes, ja, sogar als blutrünstiges Element porträtiert worden war, bereiteten bereits den Boden für ihren Mord im Januar 1919.
In der Tat war das wesentliche Prinzip der Konterrevolution, die in den 1920er Jahren begann, die Zerstörung der bloßen Idee von Vertrauen und Solidarität. Die verabscheuungswürdige Idee des „Sündenbocks“, die Barbarei des Mittelalters, trat erneut im Herzen des industriellen Kapitalismus auf, in der Hexenjagd der Sozialdemokratie gegen die Spartakisten und des Faschismus gegen die Juden, die üble Minderheit, die allein verhindere, dass eine friedliche Harmonie im Nachkriegseuropa einkehrt. Doch es ist vor allem der Stalinismus, der die Speerspitze der bürgerlichen Offensive bildete, indem er die Prinzipien des Vertrauens und der Solidarität mit jenen des Misstrauens und der Denunzierung innerhalb der jungen kommunistischen Parteien ersetzte und das Ziel des Kommunismus und die Mittel zu seiner Erlangung diskreditierte.
Die Zerstörung dieser Prinzipien wurde jedoch nicht über Nacht erreicht. Noch während des II. Weltkrieges bewiesen Zehntausende von Arbeiterfamilien genug Solidarität und riskierten ihr Leben, indem sie staatlich Verfolgte versteckten. Und der Streik des holländischen Proletariats gegen die Deportation der Juden erinnert uns stets daran, dass die Solidarität der Arbeiterklasse die einzig wahre Solidarität mit der Gesamtheit der Menschheit ist. Doch dies war die letzte Streikbewegung im 20. Jahrhundert, auf die die Linkskommunisten Einfluss besessen hatten.5
Wie wir wissen, wurde diese Konterrevolution durch eine neue und ungeschlagene Generation von Arbeitern im Jahre 1968 beendet, die erneut das Selbstvertrauen hatte, die Ausweitung ihres Kampfes und ihrer Klassensolidarität in die eigenen Hände zu nehmen und einmal mehr die Frage der Revolution zu stellen sowie neue revolutionäre Minderheiten zu gebären. Jedoch nahm diese neue Generation, traumatisiert vom Verrat aller großen Arbeiterorganisationen der Vergangenheit, eine skeptische Haltung gegenüber der Politik, gegenüber ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer Klassentheorie und ihrer historischen Mission ein. Dies schützte sie nicht gegenüber der Sabotage durch die Linke des Kapitals und hinderte sie daran, die Wurzeln ihres Selbstvertrauens zu erneuern und bewusst ihre große Tradition der Solidarität wiederzubeleben. Was die revolutionären Minderheiten angeht, so sind auch diese davon betroffen. Tatsächlich entstand zum ersten Mal eine Situation, in der revolutionäre Positionen auf ein wachsendes Echo stießen, während die Organisationen, die sie vertraten, selbst von den kämpferischsten Arbeitern nicht anerkannt wurden.
Trotz der Unbekümmertheit und „Anmaßung“ dieser neuen Generation nach 1968, der es anfangs gelang, die herrschende Klasse zu überraschen, steckt hinter ihrer Skepsis gegenüber der Politik ein weitreichender Mangel an Selbstvertrauen. Niemals zuvor haben wir solch einen Gegensatz gesehen zwischen einerseits der Fähigkeit, sich in massiven, größtenteils selbstorganisierten Kämpfen zu engagieren, und andererseits dem Fehlen dieser elementaren Selbstsicherheit, die das Proletariat zwischen 1840 und 1917/18 ausgezeichnet hatte. Und dieser Mangel an Selbstsicherheit hat auch tiefe Spuren in den linkskommunistischen Organisationen hinterlassen. Nicht nur in denen der IKS oder der CWO, sondern auch und nicht weniger in einer Gruppe wie die bordigistische PCInt, die die Konterrevolution überlebt hatte, aber infolge ihrer Ungeduld, von der Klasse als Ganzes anerkannt zu werden, zu Beginn der 80er Jahre auseinanderbrach. Wie wir wissen, haben sowohl der Bordigismus als auch der Rätekommunismus während der Konterrevolution diesen Verlust an Selbstvertrauen theoretisiert, als sie Revolutionäre und Klasse voneinander trennten, indem sie den einen Teil der Klasse aufforderten, misstrauisch gegenüber dem anderen Teil zu sein.6 Darüber hinaus waren sowohl die bordigistische Idee der „Invarianz“ als auch die entgegengesetzte rätekommunistische Idee der „neuen Arbeiterbewegung“ falsche theoretische Antworten auf die Konterrevolution in dieser Frage. Doch auch die IKS, die solche Theoretisierungen ablehnte, war nicht frei von den Beschädigungen des proletarischen Selbstbewusstseins und der Verringerung seiner Basis. (...)
Wir sehen also, wie in dieser historischen Periode alles – der Mangel an Vertrauen der Klasse in sich selbst, der Arbeiter in die Revolutionäre und umgekehrt der Revolutionäre in sich selbst, in ihre historische Rolle, in die marxistische Theorie und in die Organisationsprinzipien, die ein Erbe der Vergangenheit sind, und der gesamten Klasse in die langfristige, historische Natur ihrer Mission – miteinander verknüpft ist.
In Wirklichkeit ist diese von der Konterrevolution übernommene politische Schwäche einer der Hauptfaktoren beim Eintritt des Kapitalismus in die Phase des Zerfalls. Abgeschnitten von seiner historischen Erfahrung, seiner theoretischen Waffen und der Vision seiner historischen Rolle, mangelt es dem Proletariat an das notwendige Selbstvertrauen, um bei der Entwicklung einer revolutionären Perspektive weiter zu schreiten. Mit dem Zerfall wird dieser Mangel an Vertrauen, an Perspektiven zum Schicksal der gesamten Gesellschaft, indem die Menschheit in die Gegenwart eingesperrt wird.7 Es ist daher kein Zufall, dass die historische Periode des Zerfalls vom Zusammenbruch des größten Überbleibsels der Konterrevolution, dem der stalinistischen Regimes, eingeläutet wurde. Aufgrund dieser erneuten Diskreditierung seines Klassenziels und seiner wichtigsten politischen Waffen ist das Proletariat mit einer historisch einmaligen Situation konfrontiert: Eine historisch ungeschlagene Generation von Arbeitern verliert in nicht unbedeutendem Maße ihre Klassenidentität. Um aus dieser Krise herauszukommen, wird sie die Klassensolidarität wieder erlernen, eine historische Perspektive wieder entwickeln, in der Hitze des Klassenkampfes die Möglichkeit und Notwendigkeit für die verschiedenen Teile der Klasse, sich gegenseitig zu vertrauen, wieder entdecken müssen. Das Proletariat ist nicht besiegt worden. Es hat die Lehren aus seinen Kämpfen vergessen, nicht verloren. Was es vor allem verloren hat, ist sein Selbstvertrauen.
Daher gehören die Fragen des Vertrauens und der Solidarität zu den wichtigsten Schlüsseln für den Ausweg aus der historischen Sackgasse. Sie sind zentral für die Zukunft der gesamten Menschheit, für die Verstärkung des Klassenkampfes in den kommenden Jahren, für den Aufbau der marxistischen Organisation, für die konkrete Wiederbelebung einer kommunistischen Perspektive innerhalb dieser Kämpfe.
a) Wie der Orientierungstext von 19938 aufzeigt, hatten all die Krisen, Tendenzen und Abspaltungen in der Geschichte der IKS ihre Wurzeln in der Organisationsfrage. Selbst wo wichtige politische Divergenzen bestanden, gab es weder eine Übereinstimmung in diesen Fragen unter den Mitgliedern dieser „Tendenzen“, noch rechtfertigten diese Divergenzen im Allgemeinen eine Abspaltung und sicherlich auch nicht die Art von unverantwortlichen und unreifen Spaltungen, die zur allgemeinen Regel innerhalb unserer Organisation wurden.
Wie der 93er OT hervorhebt, haben all die Krisen also ihren Ursprung im Zirkelgeist und insbesondere im Clanwesen. Wir können daraus schließen, dass während der gesamten Geschichte unserer Strömung das Clanwesen stets die Hauptmanifestation des Mangels an Vertrauen in die Klasse und die Hauptursache für die Infragestellung der Einheit der Organisation gewesen war. Ferner waren die Clans, wie ihre weitere Entwicklung außerhalb IKS bewies, die Hauptträger des Keims der programmatischen und theoretischen Degeneration in unseren Reihen.9
Diese Tatsache, die acht Jahre zuvor ans Tageslicht gebracht wurde, ist dennoch so erstaunlich, dass sie eine historische Reflexion verdient. Der 14. Kongress der IKS begann mit diesem Nachdenken, indem er feststellte, dass in der vergangenen Arbeiterbewegung das vorherrschende Gewicht des Zirkelgeistes und Clanwesens hauptsächlich auf den Beginn der Arbeiterbewegung beschränkt blieb, während die IKS während ihrer gesamten Existenz von diesem Problem geplagt wurde. Die Wahrheit ist, dass die IKS die einzige Organisation in der Geschichte des Proletariats ist, innerhalb der sich die Penetration fremder Ideologien so regelmäßig und überwältigend über den Weg organisatorischer Probleme manifestiert haben.
Dieses unerhörte Problem muss innerhalb des historischen Kontexts der vergangenen drei Jahrzehnte verstanden werden. Die IKS ist der Erbe der höchsten Synthese des Nachlasses der Arbeiterbewegung und der Linkskommunisten insbesondere. (...)
Doch die Geschichte zeigt, dass die IKS das programmatische Erbe viel leichter verinnerlicht als das organisatorische. Das war hauptsächlich die Folge des Bruchs in der organischen Kontinuität, der durch die Konterrevolution verursacht worden war. Erstens, weil es leichter fällt, sich über das Studium politische Position zu Eigen zu machen, als die organisatorischen Fragen zu erfassen, die eher eine lebendige Tradition darstellen, deren Weiterreichen weitaus stärker von der Verbindung zwischen den Generationen abhängt. Zweitens, weil, wie wir bereits gesagt haben, der Schlag gegen das Selbstvertrauen der Klasse, der von der Konterrevolution ausgeübt worden war, hauptsächlich ihr Vertrauen in ihre politische Mission und somit in ihre politischen Organisationen erschüttert hat. Während also die Gültigkeit unser programmatischer Positionen oft von der Realität spektakulär bekräftigt wurde (und seit 1989 wurde diese Gültigkeit selbst von einem wachsenden Teil des politischen Sumpfes bestätigt), erzielte unser organisatorische Aufbau nicht denselben Erfolg. Ab 1989, dem Ende der Nachkriegsperiode, gelang der IKS im numerischen Wachstum, in dem Einfluss unserer Interventionen auf den Klassenkampf, in der Verbreitung unserer Presse oder im Maß der Anerkennung unserer Organisation durch die Klasse in ihrer Gesamtheit kein entscheidender Schritt nach vorn. Es war in der Tat eine paradoxe historische Situation. Auf der einen Seite begünstigten das Ende der Konterrevolution und die Eröffnung eines neuen historischen Kurses die Entwicklung unserer Positionen: Die neue, ungeschlagene Generation war mehr oder weniger offen misstrauisch gegenüber der Linken des Kapitals, den bürgerlichen Wahlen, der Aufopferung für die Nation. Doch auf der anderen Seite war unsere kommunistische Militanz vielleicht weniger respektiert als zurzeit von Bilan. Diese historische Situation führte zu tiefen Zweifeln über die historische Mission der Organisation. Diese Zweifel kamen auf der allgemeinen politischen Ebene manchmal in der Entwicklung von offen rätekommunistischen, modernistischen oder anarchistischen Konzeptionen an die Oberfläche – mehr oder weniger offene Kapitulationen vor dem herrschenden Ambiente. Doch vor allem drückten sie sich auf etwas schamhaftere Weise auf der organisatorischen Ebene aus.
Wir müssen dem hinzufügen, dass sich im Verlaufe des Kampfes der IKS für den Parteigeist ein wichtiger Unterschied zu vergangenen Organisationen auftat, obwohl es auch Ähnlichkeiten mit ihnen gibt – das Erbe unserer Funktionsprinzipien von unseren Vorgängern und ihre Verankerung durch eine Reihe von organisatorischen Kämpfen. Die IKS ist die erste Organisation, die den Parteigeist nicht unter den Bedingungen der Illegalität schmiedet, sondern in einer Atmosphäre, die von demokratischen Illusionen durchtränkt ist. Die Bourgeoisie hat in dieser Frage aus der Geschichte gelernt: Nicht Repression, sondern die Kultivierung einer Atmosphäre des Misstrauens ist die beste Waffe der Liquidierung von Organisationen. Was für die Klasse insgesamt zutrifft, gilt auch für Revolutionäre: Es ist der Verrat von Prinzipien von Innen, der proletarisches Vertrauen zerstört.
Infolgedessen war die IKS nie in der Lage, die Art von lebendiger Solidarität zu entwickeln, die in der Vergangenheit stets in der Klandestinität geschmiedet worden war und die eine der Hauptkomponenten des Parteigeistes ist. Hinzu kommt, dass der Demokratismus der ideale Boden für die Kultivierung des Clanwesens ist, da er die lebende Antithese zum proletarischen Prinzip bildet, wonach Jeder all seine Fähigkeiten für die Allgemeinheit gibt, und den Individualismus, die Unverbindlichkeit und das Vergessen von Prinzipien begünstigt. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Parteien der Zweiten Internationalen zu einem großen Teil durch den Demokratismus zerstört worden waren und dass selbst der Triumph des Stalinismus demokratisch legitimiert worden war, wie die Italienische Linke hervorgehoben hat. (...)
b) Es ist offensichtlich, dass das Gewicht all dieser negativen Faktoren von der Eröffnung der Periode des Zerfalls multipliziert wurde. Wir wollen hier nicht wiederholen, was die IKS bereits über dieses Thema gesagt hat. Wichtig ist hier, dass infolge der Tatsache, dass der Zerfall dazu neigt, die sozialen, kulturellen, politischen, ideologischen Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft zu zerfressen, insbesondere durch die Unterminierung des Vertrauens und der Solidarität, es eine spontane Tendenz in der heutigen Gesellschaft gibt, sich in Clans, Cliquen und Banden zu sammeln. Diese Gruppierungen besitzen, sofern sie nicht auf kommerziellen oder anderen materiellen Interessen beruhen, oft einen völlig irrationalen Charakter und basieren auf persönlichen Loyalitäten innerhalb der Gruppe sowie auf einen häufig sinnlosen Hass gegen reale oder eingebildete Feinde. In Wahrheit ist dieses Phänomen teilweise ein Rückfall in atavistische, im heutigen Rahmen vollkommen pervertierte Formen des Vertrauens und der Solidarität, die den Vertrauensverlust in die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen und den Versuch widerspiegeln, sich selbst angesichts der wachsenden Anarchie Mut einzuflößen. Überflüssig zu sagen, dass diese Gruppierungen, weit davon entfernt, eine Antwort auf die Barbarei des Zerfalls darzustellen, selbst ein Ausdruck des Letztgenannten sind. Es spricht für sich, dass heute auch die beiden Hauptklassen davon betroffen sind. In der Tat sind im Moment lediglich die stärksten Sektoren der Bourgeoisie mehr oder weniger in der Lage, sich dieser Entwicklung offenbar zu widersetzen. Was das Proletariat anbetrifft, ist das Ausmaß, in dem es im täglichen Leben davon tangiert ist, vor allem ein Ausdruck der Beschädigung seiner Klassenidentität und der daraus resultierenden Notwendigkeit, sich seine eigene Klassensolidarität wiederanzueignen.
Wie der 14. Kongress sagte: Wegen des Zerfalls liegt der Kampf gegen das Clanwesen nicht hinter uns, sondern vor uns.
c) Das Clanwesen ist also der prinzipielle Ausdruck des Verlusts an Vertrauen in die Arbeiterklasse in der Geschichte der IKS. Doch die Form, die es annimmt, ist offenes Misstrauen nicht gegenüber der Organisation, sondern gegenüber einem Teil von ihr. In Wirklichkeit bedeutet seine Existenz die Infragestellung der Einheit der Organisation und ihrer Funktionsprinzipien. Daher entwickelt das Clanwesen, auch wenn an seinem Anfang ein echtes Anliegen und ein mehr oder minder intaktes Vertrauen gestanden haben mag, notwendigerweise ein Misstrauen gegenüber all diejenigen, die sich nicht auf seiner Seite befinden, was zu einer offenen Paranoia führt. Im Allgemeinen sind sich diejenigen, die dieser Dynamik zum Opfer fallen, dieser Realität vollkommen unbewusst. Dies bedeutet nicht, dass ein Clan nicht ein gewisses Bewusstsein darüber besitzt, was er tut. Doch es ist ein falsches Bewusstsein, das dazu dient, sich selbst und Andere zu täuschen.
Der Orientierungstext von 1993 erklärt bereits die Ursache diese Verwundbarkeit, von der in der Vergangenheit solche Militanten wie Martow, Plechanow oder Trotzki betroffen waren: das besondere Gewicht des Subjektivismus in Organisationsfragen. (...)
In der Arbeiterbewegung lag der Ursprung des Clanwesens stets in der Schwierigkeit verschiedener Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten. Mit anderen Worten, es stellte eine Niederlage beim ersten Schritt zum Aufbau einer jeden Gemeinschaft dar. Daher treten Clan-typische Verhaltensweisen in Momenten des Zustroms neuer Mitglieder oder der Formalisierung und Weiterentwicklung organisatorischer Strukturen auf. In der Ersten Internationalen war es die Unfähigkeit des Neuankömmlings Bakunin, „seinen Platz zu finden“, was sich in den bereits herrschenden Ressentiments gegen Marx äußerte. Im Gegensatz dazu ging es 1903 um den Status der „alten Garde“, die das auslöste, was in der Geschichte als Menschewismus einging. Dies hinderte ein Gründungsmitglied wie Lenin natürlich nicht daran, den Parteigeist zu verfechten, oder einen der Neuankömmlinge, der die meisten Ressentiments provozierte
– Trotzki – sich auf die Seite derer zu begeben, die sich vor ihm fürchteten.10 (...)
Gerade weil er den Individualismus überwindet, ist der Parteigeist in der Lage, die Persönlichkeit und die Individualität jedes seiner Mitglieder zu respektieren. Die Kunst des Aufbaus einer Organisation besteht nicht zuletzt darin, Rücksicht auf all diese verschiedenen Persönlichkeiten zu nehmen, d.h. sie maximal zu harmonisieren und ihnen zu ermöglichen, ihr Bestes für das Kollektiv zu geben. Das Clanwesen dagegen kristallisiert sich gerade um das Misstrauen gegen die Persönlichkeit und um deren unterschiedliches Gewicht. Daher ist es so schwierig, eine Clandynamik gleich zu Beginn zu identifizieren. Selbst wenn viele Genosse das Problem spüren, ist die Realität des Clanwesens so schmutzig und lächerlich, dass es Mut erfordert zu erklären, dass „der König ohne Kleider da steht“. Wie peinlich!
Wie Plechanow einst bemerkte, spielen im Verhältnis zwischen Bewusstsein und Emotionen Letztere die konservative Rolle. Doch dies bedeutet nicht, dass der Marxismus die Geringschätzung ihrer Rolle durch den bürgerlichen Nationalismus teilt. Es gibt Emotionen, die der Sache des Proletariats dienen, und es gibt andere, die ihr schaden. Es ist sicher, dass seine Mission nicht ohne eine gigantische Entwicklung der revolutionären Leidenschaften erfolgreich sein wird, ohne einen unerschütterlichen Siegeswillen, ohne ein Fußfassen der Solidarität, der Selbstlosigkeit und des Heroismus, ohne die die Feuerprobe des Kampfes um die Macht und im Bürgerkrieg niemals bestanden werden kann. Und ohne eine bewusste Pflege der gesellschaftlichen und individuellen Eigenschaften der Menschheit kann keine neue Gesellschaft geschaffen werden. Diese Qualitäten sind keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen im Kampf geschmiedet werden, wie Marx sagte.
(...) Im Gegensatz zur Haltung der revolutionären Bourgeoisie, bei der der Ausgangspunkt ihrer Radikalisierung die Ablehnung der Vergangenheit war, hat das Proletariat stets bewusst seine revolutionäre Weltanschauung auf die Grundlage all der Errungenschaften der Menschheit gestellt, die ihm vorausgingen. Grundsätzlich ist das Proletariat deswegen in der Lage, solch eine historische Sichtweise zu entwickeln, weil seine Revolution keine besonderen Interessen vertritt, die jenen der Menschheit in ihrer Gesamtheit entgegenstehen. Daher bestand das Vorgehen des Marxismus gegenüber allen theoretischen Fragen, die sich ihm bei seiner Mission stellten, stets darin, die besten Errungenschaften zum Ausgangspunkt zu machen, die ihm hinterlassen worden waren. Für uns ist nicht nur das Bewusstsein des Proletariats, sondern auch jenes der Menschheit insgesamt etwas, was im Laufe der Geschichte angehäuft und weitergereicht wurde. Dies war die Vorgehensweise von Marx und Engels gegenüber der klassischen deutschen Philosophie, der englischen Nationalökonomie oder gegenüber dem utopischen französischen Sozialismus.
Ähnlich müssen wir hier begreifen, dass das proletarische Vertrauen und seine Solidarität spezifische Konkretisierungen der allgemeinen Entwicklung dieser Qualitäten in der menschlichen Geschichte sind. In beiden Fragen ist es die Aufgabe der Arbeiterklasse, über das, was bereits erreicht worden ist, hinauszugehen. Doch um dies zu tun, muss sich die Klasse selbst auf die Grundlage des bereits Erreichten stellen.
Die hier gestellten Fragen sind von fundamentaler historischer Bedeutung. Ohne ein Minimum an elementarer Solidarität wird die menschliche Gesellschaft zu einem Ding der Unmöglichkeit. Und ohne zumindest rudimentärem gegenseitigen Vertrauen ist kein gesellschaftlicher Fortschritt möglich. In der Geschichte führte der Zusammenbruch dieser Prinzipien stets zu ungezügelter Barbarei.
a) Solidarität ist eine praktische Tätigkeit der gegenseitigen Unterstützung zwischen Menschen, die sich beispielsweise in einem Kampf befinden. Sie ist der konkrete Ausdruck der sozialen Natur der Menschheit. Im Gegensatz zu solchen Regungen wie die christliche Nächstenliebe und der Selbstopferung, die die Existenz eines Interessenkonfliktes voraussetzen, ist die materielle Basis der Solidarität die Gemeinsamkeit der Interessen. Daher ist die Solidarität kein utopisches Ideal, sondern eine materielle Kraft, so alt wie die Menschheit selbst. Doch dieses Prinzip, das das effektivste, weil kollektive Mittel zur Verteidigung der eigenen, „niederen“ materiellen Interessen repräsentiert, kann den Anstoß zu den selbstlosesten Handlungen geben, einschließlich der Opferung des eigenen Lebens. Diese Tatsache, die der bürgerliche Utilitarismus nie in der Lage war zu erklären, resultiert aus der einfachen Wahrheit, dass, wo immer gemeinsame Interessen existieren, die einzelnen Teile dem Allgemeingut untergeordnet sind. Solidarität ist also die Überwindung nicht des „Egoismus“, sondern des Individualismus und des Partikularismus im Interesse der Gesamtheit. Daher ist die Solidarität stets eine aktive Kraft, die gekennzeichnet ist durch Initiative, nicht aber durch die Haltung, auf die Solidarität der Anderen zu warten. Wo das bürgerliche Prinzip des Aufrechnens von Vor- und Nachteilen herrscht, ist keine Solidarität möglich.
Obwohl in der Geschichte der Menschheit die Solidarität zwischen den Gesellschaftsmitgliedern ursprünglich vor allen anderen instinktiven Reflexen kam, muss der Bewusstseinsgrad, der für ihre Praktizierung notwendig ist, um so mehr steigen, je komplexer und konfliktreicher die menschliche Gesellschaft wird. In diesem Sinn ist die Klassensolidarität des Proletariats bis heute die höchste Form menschlicher Solidarität.
Dennoch hängt das Aufkommen der Solidarität nicht nur vom allgemeinen Bewusstsein ab, sondern auch von der Pflege sozialer Emotionen. Um sich zu entwickeln, erfordert die Solidarität einen sie begünstigenden kulturellen und organisatorischen Rahmen. Ist ein solcher Rahmen innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe gegeben, ist es möglich, Verhaltensweisen, Traditionen und das „ungeschriebene Recht“ der Solidarität weiterzuentwickeln, die von einer Generation zur nächsten weitergereicht werden können. In diesem Sinn hat die Solidarität nicht nur einen unmittelbaren, sondern auch einen historischen Einfluss.
Doch bleiben solche Traditionen unbeachtet, bekommt die Solidarität einen freiwilligen Charakter. Daher ist die Idee des Staates als die Verkörperung von Solidarität, die insbesondere von der Sozialdemokratie und dem Stalinismus gepflegt wird, eine der größten Lügen in der Geschichte. Solidarität kann niemals gegen den eigenen Willen aufgezwungen werden. Sie ist nur möglich, wenn sowohl jene, die Solidarität ausüben, als auch jene, die Solidarität empfangen, die Überzeugung teilen, dass sie notwendig ist. Solidarität ist der Mörtel, der eine gesellschaftliche Gruppe zusammenhält, der eine Gruppe von Individuen in eine einzige vereinigte Kraft umwandelt.
b) Wie die Solidarität ist auch das Vertrauen ein Ausdruck des sozialen Charakters der Menschheit. Als solcher setzt auch das Vertrauen eine Gemeinsamkeit von Interessen voraus. Es kann nur herrschen im Verhältnis zu anderen menschlichen Wesen, um gemeinsame Ziele und Handlungen zu teilen. Daraus ergeben sich zwei Hauptaspekte: gegenseitiges Vertrauen der Beteiligten, Vertrauen in das gemeinsame Ziel. Die prinzipiellen Grundlagen des sozialen Vertrauens sind also stets ein Maximum an Klarheit und Einheit.
Jedoch ist der wesentliche Unterschied zwischen menschlicher Arbeit und tierischer Aktivität, zwischen der Arbeit des Architekten und der Bildung eines Bienenstocks, wie Marx es formulierte, der Vorsatz dieser Arbeit auf der Grundlage eines Plans.11 Daher ist Vertrauen stets mit der Zukunft verknüpft, mit etwas, was in der Gegenwart nur in Form einer Idee oder einer Utopie existiert. Gleichzeitig ist gegenseitiges Vertrauen daher immer konkret, basierend auf der Fähigkeit einer Gemeinschaft, die erforderlichen Aufgaben zu erfüllen.
So ist das Vertrauen im Gegensatz zur Solidarität, die eine Handlung ist und nur in der Gegenwart existiert, eine Verhaltensweise, die vor allem auf die Zukunft gerichtet ist. Dies verleiht ihm den merkwürdig geheimnisvollen Charakter, der schwierig zu definieren oder zu identifizieren ist, der schwierig weiterzuentwickeln und aufrechtzuerhalten ist. Es gibt kaum einen anderen Bereich im menschlichen Leben, wo es so viel Täuschung und Selbsttäuschung gibt. In der Tat basiert das Vertrauen auf der Erfahrung, auf das „Learning by doing“, um realistische Ziele zu setzen und die geeigneten Mittel dafür zu entwickeln. Doch aufgrund seiner Funktion, etwas Neues, was bisher noch nicht existiert hat, in die Welt zu setzen, verliert es nie seinen „theoretischen“ Aspekt. Keine der großen Errungenschaften der Menschheit wäre ohne diese Fähigkeit möglich gewesen, unbeirrt an einer realistischen, aber – angesichts des Fehlens jeglichen unmittelbaren Erfolges – schwierigen Aufgabe festzuhalten. Es ist die Erweiterung des Bewusstseinsgrades, die ein wachsendes Vertrauen ermöglicht, während das Schwanken der blinden und unbewussten Kräfte in Natur, Gesellschaft und im Individuum zur Zerstörung dieses Vertrauens neigen. Es ist nicht so sehr die Existenz von Gefahren, die das menschliche Vertrauen untergraben, sondern vielmehr die Unfähigkeit, sie zu begreifen. Doch da das Leben ständig neue Gefahren produziert, ist das Vertrauen eine besonders zerbrechliche Qualität, die Jahre der Entwicklung benötigt, aber über Nacht zerstört werden kann.
Wie die Solidarität kann Vertrauen weder dekretiert noch erzwungen werden, sondern erfordert eine adäquate Struktur und Atmosphäre für seine Entwicklung. Was Solidarität und Vertrauen zu solch schwierigen Fragen macht, ist die Tatsache, dass sie Angelegenheiten nicht nur des Kopfes, sondern auch des Herzens sind. Es ist notwendig, „Vertrauen zu empfinden“. Das Fehlen von Vertrauen beinhaltet umgekehrt die Herrschaft von Furcht, Ungewissheit, Zweifeln und Lähmung der bewussten kollektiven Kräfte.
c ) Während sich heute die bürgerliche Ideologie – in ihrer Überzeugung, dass allein die Eliminierung der Schwachen im Konkurrenzkampf ums Überleben die Vervollkommnung der Gesellschaft sichert – mit dem angeblichen „Tod des Kommunismus“ tröstet, sind diese bewussten und kollektiven Kräfte die Grundlage für den Aufstieg der Menschheit. Schon die Vorgänger der Menschheit gehörten mit Sicherheit zu jenen hoch entwickelten tierischen Spezies, deren soziale Instinkte ihnen einen entscheidenden Vorteil im Überlebenskampf verliehen. Diese Spezies trugen bereits die rudimentären Merkmale der kollektiven Stärke in sich: Die Schwachen wurden beschützt, und die Stärken der individuellen Mitglieder wurden zu Stärken der Gesamtheit. Diese Aspekte waren elementar bei der Entstehung der Menschheit, deren Sprößlinge länger hilflos blieben als andere Spezies. Auch mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und der Produktivkräfte hörte das Individuum niemals auf, von der Gesellschaft abhängig zu sein. Die sozialen Instinkte (Darwin nannte sie „altruistisch“), die bereits in der Tierwelt existieren, nahmen in zunehmendem Maße einen bewussten Charakter an. Selbstlosigkeit, Mut, Loyalität, Hingebung zur Gemeinschaft, Disziplin und Ehrlichkeit wurden in den frühen kulturellen Ausdrücken der Gesellschaft gerühmt – die ersten Ausdrücke einer wahrhaft menschlichen Solidarität.
Aber der Mensch ist vor allem die einzige Spezies, die Gebrauch macht von selbst hergestellten Werkzeugen. Es ist die Aneignungsweise von Subsistenzmitteln, die das Handeln der Menschheit in die Zukunft lenkt.
„Beim Tier erfolgt die Handlung unmittelbar nach dem Eindruck: Es sucht seine Beute oder sein Futter, und in einem packt es zu, begreift, isst oder tut das, was für sein Verständnis notwendig ist, und dies verinnerlicht es als Instinkt (...) Beim Menschen jedoch entsteht zwischen dem Eindruck und der Handlung eine lange Kette von Gedanken und Erwägungen. Woher kommt dieser Unterschied? Es ist schwerlich zu übersehen, dass er eng mit dem Gebrauch von Werkzeugen verbunden ist. Auf dieselbe Weise, wie zwischen dem Eindruck und der Handlung der Gedanke steht, so gelangt das Werkzeug zwischen dem Menschen und dem, was er zu erlangen trachtet. Ferner muss zwischen seinem Eindruck und seinem Gebrauch ein Gedanke stehen, da das Werkzeug zwischen dem Menschen und dem äußeren Objekt steht.“ Er nimmt ein Werkzeug in die Hand, „folglich macht sein Geist denselben Umweg und folgt nicht dem ersten Eindruck.“
Zu lernen, nicht dem ersten Eindruck zu folgen, ist eine gute Beschreibung des Sprungs aus der Tierwelt in die Menschheit, aus dem Reich der Instinkte in das Reich des Bewusstseins, vom immediatistischen Gefängnis der Gegenwart zu zukunftsgerichteten Handlungen. Jede wichtige Entwicklung in der frühen menschlichen Gesellschaft wurde von einer Verstärkung dieses Aspekts begleitet. So wurden mit dem Auftreten von sesshaften landwirtschaftlichen Gesellschaften die Alten nicht mehr getötet, sondern als jene geschätzt, die in der Lage waren, Erfahrungen weiterzureichen.
Im so genannten primitiven Kommunismus war dieses embryonale Vertrauen in die Macht des Bewussteins zur Bändigung der Naturgewalten äußerst zerbrechlich gewesen, während die Kraft der Solidarität innerhalb einer jeden Gruppe weitaus mächtiger gewesen war. Doch bis zum Erscheinen von Klassen, Privateigentum und des Staates verstärkten sich diese beiden Kräfte, so ungleich sie gewesen waren, gegenseitig.
Die Klassengesellschaft riss diese Einheit auseinander, indem sie den Kampf zur Bändigung der Natur verstärkte und dabei die soziale Solidarität durch den Kampf der Klassen innerhalb ein und derselben Gesellschaft ersetzte. Es wäre falsch anzunehmen, dass dieses allgemeine gesellschaftliche Prinzip durch die Klassensolidarität ersetzt wurde. In der Geschichte der Klassengesellschaften ist das Proletariat die einzige Klasse, die zu einer wahren Solidarität fähig ist. Während die herrschenden Klassen stets Ausbeuter gewesen waren, für die Solidarität nie mehr als eine momentane Gelegenheit ist, beinhaltete der reaktionäre Charakter der ausgebeuteten Klassen, dass ihre Solidarität notgedrungen einen heimlichen, utopischen Charakter besaß, wie dies für das „Gemeineigentum an Gütern“ des Frühchristentums oder der Sekten im Mittelalter galt. Der wesentliche Ausdruck der sozialen Solidarität innerhalb einer Klassengesellschaft vor dem Aufstieg des Kapitalismus bestand in den Überbleibseln der Naturalwirtschaft, einschließlich der Rechte und Pflichten, welche die gegensätzlichen Klassen immer noch aneinanderbanden. All dies wurde schließlich von der Warenwirtschaft und ihrer Verallgemeinerung im Kapitalismus zerstört.
„Wenn in der gegenwärtigen Gesellschaft die sozialen Instinkte noch einige Gültigkeit besitzen, so nur dank der Tatsache, dass die allgemeine Warenproduktion noch ein sehr junges Phänomen ist, kaum 100 Jahre alt, und dass in dem Maße, wie der Urkommunismus verschwindet und (...) dieser aufhört, eine Quelle sozialer Instinkte zu sein, eine neue und viel stärkere Quelle entsteht, der Klassenkampf der aufsteigenden, ausgebeuteten Volksklassen.“
Mit der Entwicklung der Produktivkräfte wuchs das Vertrauen der Gesellschaft in ihre Fähigkeit, die Naturgewalten zu beherrschen, in beschleunigtem Maße. Der Kapitalismus leistete den bei weitem wichtigsten Beitrag in diese Richtung und kulminierte im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Fortschritts und Optimismus. Doch gleichzeitig unterminierte er, indem er die Menschen im Konkurrenzkampf gegeneinander stellte und den Klassenkampf in einem unerhörten Maße verschärfte, in nie dagewesener Weise einen anderen Pfeiler des sozialen Selbstvertrauens – das der gesellschaftlichen Einheit. Darüber hinaus ordnete er den Menschen in dem Maße, wie er ihn von den blinden Naturgewalten befreite, neuen, blinden Kräften innerhalb der Gesellschaft selbst unter, die von der Warenproduktion ausgelöst wurden, deren Gesetze außerhalb der Kontrolle oder gar des Verständnisses – „hinter dem Rücken“ – der Gesellschaft stehen. Dies führte seinerseits zum 20. Jahrhundert, dem tragischsten in der Geschichte, das große Teile der Menschheit in unaussprechliche Verzweiflung stürzte.
In ihrem Kampf für den Kommunismus gründet sich die Klasse selbst nicht nur auf einer Entwicklung der Produktivkräfte, die vom Kapitalismus erreicht wurde, sondern stellt einen Teil ihres Vertrauens in die Zukunft auch auf den Boden wissenschaftlicher Errungenschaften und der theoretischen Einblicke, die von der Menschheit bereits geschaffen worden waren. Gleichermaßen schließt das Erbe der Klasse im Ringen um eine wirksame Solidarität die gesamten Erfahrungen der Menschheit bis heute ein, um soziale Bande, einheitliche Ziele, Freundschaftsbeziehungen, Verhaltensweisen wie Respekt und Achtung vor unseren brüderlichen Mitstreitern, etc. zu schmieden.
In der Internationalen Revue Nr. 32 (November 2003) werden wir den zweiten und abschließenden Teil dieses Textes veröffentlichen. Darin werden die folgenden Fragen behandelt:
- die Dialektik des Selbstvertrauens des Proletariats: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
- das Vertrauen, die Solidarität und der Parteigeist sind nie definitive Errungenschaften
- kein Parteigeist ohne individuelle Verantwortung.
Fußnoten:
1 Die Fussnoten, die dem ursprünglichen Text neu hinzugefügt wurden, befinden sich unten auf der Seite. Diejenigen, die sich bereits im Text befanden, stehen nun am Schluss des Artikels.
2 Die IKS hat die Fragen der Umwandlung des Zirkelgeistes in das Clanwesen, der Clans, die in unserer Organisation aufgetreten sind und den Kampf gegen diese Schwächen, den wir ab 1993 geführt haben, in verschiedenen Arikeln analysiert und beschrieben, vgl. dazu insbesondere „Die Frage der Funktionsweise in der Organisation der IKS“ und „Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“ in der Internationalen Revue Nr. 30.
3 Es handelt sich dabei um die Untersuchungskommission, die durch den 14. Kongress der IKS ernannt wurde, vgl. dazu „Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“ in der Internationalen Revue Nr. 30.
4 Vgl. dazu den Artikel „Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus“ in der IKS-Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse. Wir weisen in diesem Artikel nach, aus welchen Gründen sich die Kämpfe des 20. Jahrhunderts (und später) im Gegensatz zu denjenigen des 19. Jahrhunderts nicht auf vorbestehende Massenorganisationen der Klasse abstützen können.
5 Im Februar 1941 riefen die antisemitischen Maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht eine Massenmobilisierung der holländischen Arbeiter hervor. Der Streik brach am 25. Februar in Amsterdam aus und breitete sich am Tag darauf auf zahlreiche andere Städte aus, namentlich auf Den Haag, Rotterdam, Groningen, Utrecht, Hilversum, Haarlem und griff selbst auf Belgien über, bevor er brutal durch die Repressionskräfte unterdrückt wurde, insbesondere durch die SS. Vgl. dazu unser Buch „The Dutch and German Communist Left“, S. 316 ff. (auf Englisch und Französisch).
6 Die rätistische Auffassung über die Parteifrage, die durch die Holländische Kommunistische Linke entwickelt wurde, und die bordigistische Auffassung, eine Abwandlung der Italienischen Linken, scheinen sich auf den ersten Blick radikal zu widersprechen: Während diese davon ausgeht, dass die kommunistische Partei die Aufgabe hat, die Macht zu ergreifen und die Diktatur im Namen des Proletariats auszuüben, selbst wenn die Gesamtheit der Klasse dagegen ist, so betrachtet jene umgekehrt jede Partei, einschließlich die kommunistische Partei, als eine Gefahr für die Klasse, da sie notwendigerweise dazu bestimmt sei, ihre Macht gegen die Interessen der Revolution zu missbrauchen. Effektiv aber stimmen beide Auffassungen darin überein, dass sie eine Trennung, ja einen Gegensatz herstellen zwischen der Partei und der Klasse und dass sie dieser gegenüber grundsätzlich einen Mangel an Vertrauen entgegenbringen. Für die Bordigisten ist die Klasse in ihrer Gesamtheit nicht in der Lage, die Diktatur auszuüben, und deshalb ist es für sie notwendigerweise die Partei, die diese Aufgabe übernehmen muss. Entgegen allem Anschein hat der Rätismus nicht mehr Vertrauen in das Proletariat, denn er geht davon aus, dass dieses dazu verurteilt ist, seine Macht abzugeben, sobald eine Partei existiert.
7 Zu unserer Analyse des Zerfalls vgl. insbesondere "Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus" in Internationale Revue Nr. 13.
8 Dieser Text wurde in der Internationalen Revue Nr. 30 unter dem Titel "Die Frage der Funktionsweise der Organisation in der IKS" veröffentlicht.
9 „Dies geschieht deshalb, weil In einer Clandynamik (...) das gemeinsame Vorgehen nicht auf wirklicher politischer Übereinstimmung (fußt), sondern vielmehr auf Freundschaft, Loyalität, gemeinsamen persönlichen Interessen oder geteilten Frustrationen. (...) Wenn eine solche Dynamik entsteht, entscheiden die Mitglieder oder Sympathisanten des Clans nicht infolge einer bewussten und rationalen Wahl über ihre Haltung und die Entscheidungen, die sie treffen, sondern als Resultat der Claninteressen, die dazu neigen, sich gegen jene der Organisation zu richten.“ („Die Frage der Funktionsweise der Organisation in der IKS“ in der Internationalen Revue Nr. 30, S. 41) Sobald die Militanten eine solche Haltung annehmen, drehen sie der ernsthaften theoretischen Arbeit, dem Marxismus, den Rücken zu und werden zu Trägern einer Tendenz zur theoretischen und programmatischen Degenerierung. Um nur ein Beispiel zu zitieren sei an die clanhafte Gruppierung erinnert, die 1984 in der IKS auftauchte und dann die "Externe Fraktion der IKS" wurde; diese stellte schließlich unsere Plattform, die sie angeblich verteidigen wollte, total in Frage und warf die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus über Bord, die das Vermächtnis der Kommunistischen Internationale und der Kommunistischen Linken war.
10 Als Trotzki im Herbst 1902 in Westeuropa ankam, nachdem er der Verbannung in Sibirien entflohen war, ging im bereits der Ruf eines sehr talentierten Journalisten voraus (eines seiner Pseudonyme, die er erhielt, war "Pero", die Feder). Er wurde bald einmal ein enger Mitarbeiter der Iskra, die von Lenin und Plechanow herausgegeben wurde. Im März 1903 schrieb Lenin Plechanow, um ihm vorzuschlagen, Trotzki in die Redaktion der Iskra zu kooptieren, doch Plechanow lehnte ab: In Tat und Wahrheit ging es darum, dass Plechnow fürchtete, das Talent des jungen (23-jährigen) Militanten werfe einen Schatten auf sein eigenes Prestige. Dies war eines der ersten Anzeichen eines Abgleitens Plechanows, der vorher der Hauptverantwortliche für die Verbreitung des Marxismus in Russland gewesen war und schließlich seine Karriere als Sozialchauvinist im Dienst der Bourgeoisie beendete.
11 „Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor es sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt“ (Das Kapital, Erster Band, Buch 1, 5. Kapitel).
A Rosa Luxemburg: Die Revolution in Russland.
B Hans-Christian Anderson: Des Königs Kleide.Es muss hinzugefügt werden, dass Andersons Geschichten manchmal realistischer sind als die Märchen, die das Clanwesen uns auftischt.
C Anton Pannekoek: Marxismus und Darwinismus.
D Karl Kautsky: Ethische und materialistische Geschichtsauffassung.
Die russische Publikation der IKS-Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus zeugt vom Wiedererwachen revolutionärer Elemente in einem Land mit einer einst sehr starken proletarischen politischen Tradition. Diese Tradition wurde dann aber erstickt unter der schrecklichen Last der stalinistischen Konterrevolution. Die IKS ist sich durchaus bewusst, dass es ohne diesen Wiederaufbruch von Revolutionären nicht zur Übersetzung unserer Broschüre gekommen wäre. Wir begrüßen sie daher als Beitrag zur Klärung der kommunistischen Positionen in Debatten, die gegenwärtig sowohl im russischen Milieu selbst stattfinden als auch zwischen diesem Milieu einerseits und den Ausdrücken eines wirklichen Kommunismus auf internationaler Ebene andererseits.
Die Einleitung früherer Ausgaben dieser Broschüre enthält schon eine Geschichte des Konzepts der Dekadenz in der marxistischen Bewegung. Sie zeigt, dass dieses Konzept seit Marx und bis zur Kommunistischen Internationalen und den Linksfraktionen, die auf die Entartung und den Tod der Kommunistischen Internationalen mit Widerstand reagierten, keineswegs eine rein moralische oder kulturelle Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft war. Dies wäre die vulgäre Interpretation der „Dekadenz“ in der Gestalt der Missbilligung verschiedener Formen der Kunst, der Mode und gesellschaftlicher Sitten. Im Gegensatz dazu aber leitet sich der marxistische Begriff der Dekadenz in folgerichtiger Weise aus den dem historischen Materialismus eigenen Voraussetzungen ab. Er bildet den Grundstein des Beweises dafür, dass erstens der Kapitalismus als Produktionsweise seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in seinem historischen Niedergang begriffen ist, und zweitens, dass diese Periode gleichzeitig die proletarische Revolution auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt hat. Dieses Vorwort zur russischen Ausgabe soll sich auf den überaus wichtigen Beitrag zum Konzept des historischen Kurses konzentrieren, der von der direkten Erfahrung der russischen Arbeiterklasse und den theoretischen Bemühungen ihrer revolutionären Minderheiten stammt.
Wir wollen uns hier kurz fassen, weshalb wir diesen Beitrag in der Form einer Chronologie wiedergeben. Weitere Dokumente, die vielleicht von den russischen Genossen selbst geschrieben werden, sollen sich mit mehr Tiefgang dieser Frage widmen. Die chronologische Form wird hier der Aufzeichnung der wichtigsten Etappen dieses Prozesses nützlich sein, zu dem die russische Fraktion der Arbeiterbewegung ihren Beitrag für das Verständnis des Proletariats insgesamt leistete.
1903: Die Spaltung in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands in Bolschewiki und Menschewiki lässt sich nicht einfach auf die Organisationsfrage einer Arbeiterpartei unter den repressiven Umständen des Zarismus zurückführen. Bis zu einem gewissen Grade kann in Russland schon auf die totalitären Umstände vorgegriffen werden, mit denen die Arbeiterklasse in der bevorstehenden revolutionären Epoche konfrontiert sein wird, einer Epoche, in der es der Arbeiterklasse nicht mehr möglich sein wird, dauerhafte Massenorganisationen aufrechtzuerhalten. Russland nämlich sieht sich, der eigenen Rückständigkeit zum Trotze, einem stark konzentrierten Proletariat gegenüber und ist unfähig, die Arbeiterbewegung in einen legalen und demokratischen Rahmen zu zwingen. Lenin verwirft das menschewistische Konzept einer „breiten“ Arbeiterpartei und besteht auf der Notwendigkeit einer disziplinierten Partei von militanten Revolutionären mit einem eindeutigen Programm. Lenin greift demnach schon auf die Organisationsform der Partei vor, die ihre allgemeine Notwendigkeit in der Epoche erhält, in welcher der unmittelbare Kampf für die Revolution an die Stelle des Kampfes um Reformen innerhalb der bürgerlichen Ordnung tritt.
1905: „Die heutige russische Revolution steht auf einem Punkt des geschichtlichen Weges, der bereits über den Berg, über den Höhepunkt der kapitalistischen Gesellschaft hinweggeschritten ist“ (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Werke Bd. 2, S. 149). Mit seinen Massenstreiks und der Entdeckung der Sowjets als Organisationsform kündigt das russische Proletariat das Herannahen der neuen Epoche an, in der die alten gewerkschaftlichen Methoden unbrauchbar sein würden. Während Rosa Luxemburg mit prägnanter Schärfe die Dynamik des Massenstreiks aufzeigt, beginnt seinerseits der linke Flügel der russischen Sozialdemokratie die ersten Lehren aus den Ereignissen von 1905 zu ziehen: Lenin unterstreicht die dialektische Beziehung zwischen der Partei, der Organisation der Minderheit der Revolutionäre, und den Sowjets. In ihrer Eigenschaft als allgemeines Organ der Gesamtheit der Klasse stellen die Sowjets die Grundlage einer revolutionären Diktatur dar. Lenins Position steht damit im Gegensatz zu derjenigen der „Super-Leninisten“, die unmittelbar nach dem Auftreten der Sowjets dazu aufrufen, sie in der Partei aufgehen zu lassen. Trotzki ist sich der Wichtigkeit der Sowjets noch deutlicher bewusst; sie sind für ihn die für den Massenstreik und den Kampf um die proletarische Macht geeignete Organisationsform. In seiner Theorie der permanenten Revolution nähert er sich der Schlussfolgerung an, dass die geschichtliche Entwicklung die Möglichkeit einer bürgerlichen Revolution in rückständigen Ländern wie Russland bereits hinter sich gelassen hat: Von nun an muss jede wahre Revolution von der Arbeiterklasse geführt werden, sich sozialistische Ziele aneignen und sich auf Weltebene ausdehnen.
1914–1916: Von allen gegen den weltweiten imperialistischen Krieg gerichteten proletarischen Strömungen sind die Bolschewiken um Lenin am klarsten. Lenin zeigt, dass es in diesem imperialistischen Massaker weder nationale noch demokratische oder fortschrittliche Ziele zu verteidigen gibt, und er ruft die Losung der „Verwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg“ aus. Er verwirft damit die Argumente der Sozialchauvinisten, die sich mit Marx’ Worten schmücken, nur um deren Geist zu ersticken. Der Krieg hat die Türen zu einer neuen Epoche geöffnet, wo die proletarische Revolution nunmehr kein weit entferntes Ziel ist, sondern unmittelbar auf der Tagesordnung der Geschichte steht. In seinem Buch Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus, beschreibt Lenin den imperialistischen Kapitalismus als ein im Niedergang begriffenes System. Zur gleichen Zeit zeigt Bucharins Buch Imperialismus und Weltwirtschaft, dass das Eintauchen des Kapitalismus in den Militarismus das Resultat der Schaffung einer Weltwirtschaft ist, welche die objektive Grundlage für eine höhere Produktionsform verbreitet hat, selbst nun aber sich als barbarisches Hindernis in den Weg ihrer Verwirklichung stellt. Diese These geht Hand in Hand mit derjenigen von Rosa Luxemburg über die historischen Grenzen des kapitalistischen Systems. Diese These, welche sie in ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals vertritt, bildet einen fundamentalen Bezugspunkt in unserer Broschüre. Wie Rosa Luxemburg erkennt auch Bucharin, dass in einer von imperialistischen Riesen geprägten Weltordnung die „nationalen Befreiungskämpfe“ jeglichen Sinn verloren haben. Schließlich zeigt die Arbeit Bucharins, dass er erfasst hat, welche Form diese neue kapitalistische Wirtschaft auf Weltebene annehmen wird: die eines Kampfes auf Leben und Tod zwischen riesigen „staatskapitalistischen Trusts“. Damit nimmt er vorweg, dass die im Krieg angenommene staatliche Form des Kapitals zur bewährten Organisationsform des Kapitals während seiner ganzen niedergehenden Periode wird.
1917: Von neuem zeigt das russische Proletariat die Einheit zwischen Theorie und Praxis. Es erhebt sich gegen den imperialistischen Krieg, stürzt den Zarismus, organisiert sich in Sowjets und richtet sich ein auf die revolutionäre Machtübernahme. Nun sieht sich Lenin konfrontiert mit der „alten Garde“ der Bolschewisten, welche sich an veraltete, aus einer vorhergehenden Periode stammende Formeln klammern. Um diesen entgegenzutreten, schreibt Lenin seine Aprilthesen, in denen er erklärt, dass das Ziel des Proletariats in Russland keine zwitterhafte „demokratische Revolution“ sein kann, sondern der proletarische Aufstand als erster Schritt zu einer sozialistischen Weltrevolution. Hier wiederum gilt die Oktoberrevolution als praktischer Beweis der marxistischen Methode, die von den Aprilthesen angewandt worden ist. Und es sind eben diese Aprilthesen, die von den „orthodoxen Marxisten“, die nicht zur Einsicht des Anbruchs einer neuen Periode gelangt sind, als „anarchistisch“ verachtet werden.
1919: In Moskau wird die Kommunistische Internationale ins Leben gerufen, als Schlüssel zur weltweiten Ausweitung der proletarischen Revolution. Die Plattform der Komintern bassiert auf der Anerkennung, dass „ein neues Zeitalter angebrochen ist – das Zeitalter des Niedergangs des Kapitalismus, seiner inneren Auflösung, das Zeitalter der proletarischen kommunistischen Revolution“ und dass in der Konsequenz das alte Minimalprogramm überholt ist, und mit ihm auch die von der Sozialdemokratie verwendeten Methoden zu dessen Umsetzung. Von da an galt der Begriff der Dekadenz des Kapitalismus als Grundstein des kommunistischen Programms.
1920–27: Die Tatsache, dass die Ausdehnung der Revolution gescheitert ist, ebnet der Bürokratisierung des russischen Staates und der bolschewistischen Partei den Weg. Letztere identifiziert sich fälschlicherweise mit dem russischen Staat. Ein Prozess innerer Konterrevolution beginnt, der seinen Höhepunkt Ende der 20er Jahre im Triumph des Stalinismus erreicht. Doch gegen die Degenerierung der bolschewistischen Partei und der von ihr dominierten Kommunistischen Internationalen bildet sich Widerstand von Seiten der Linkskommunisten in Ländern wie Deutschland, Italien und Russland selbst. Die kommunistische Linke verwirft die Tendenz, alte sozialdemokratische Praktiken wieder zu beleben. Demnach richtet sie sich gegen den Parlamentarismus und gegen Allianzen mit ehemaligen, mittlerweile aber ins bürgerliche Lager übergegangenen sozialistischen Parteien. In Russland zum Beispiel gibt es die Arbeitergruppe Miasnikovs, die 1923 gegründet wird. Sie bringt besonders deutlich ihre Ablehnung der Taktik der Einheitsfront der Kommunistischen Internationale zum Ausdruck. Gleichzeitig kritisiert diese Gruppe den Verlust der politischen Kontrolle des Proletariats über den „Sowjetstaat“. Als die Stalinisten ihren Sieg ausbauen, sind die russischen Linkskommunisten unter den ersten, die begreifen, dass der Stalinismus einzig die bürgerliche Konterrevolution verkörpert. Sie sehen, das sich die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse selbst in einer vollkommen verstaatlichten Wirtschaft erhalten können.
1928–1945: Eine ganze Generation von Revolutionären wird durch den stalinistischen Terror vernichtet oder verbannt. Die politische Stimme der russischen Arbeiterklasse ist während Jahrzehnten zum Schweigen verdammt. Damit fällt die Aufgabe, die notwendigen Lehren aus dieser Niederlage zu ziehen und das Wesen und die Charakteristiken des stalinistischen Regimes zu verstehen, den Linkskommunisten in Europa und Amerika zu. Dies ist keine leichte Aufgabe. Es muss mit zahlreichen irrigen Theorien abgerechnet werden, so zum Beispiel mit der Theorie Trotzkis vom „entarteten Arbeiterstaat“, bevor die wesentliche Essenz aus dieser Erfahrung wirklich gefasst werden kann: Das bedeutet, dass das stalinistische Regime des integralen Staatskapitalismus mit seinem totalitären politischen Apparat und seiner auf den Krieg ausgerichteten Wirtschaft vor allem ein Produkt des dekadenten Kapitalismus ist. Denn der Kapitalismus dieser Epoche ist ein vom Krieg lebendes System. In dieser Epoche stützt sich der Kapitalismus auf den Staat, um einen explosiven Ausbruch der tiefer liegenden ökonomischen und sozialen Widersprüche zu verhindern. Die kommunistische Linke widerlegt deutlich die Illusionen über einen stalinistischen Staatskapitalismus, der einen Weg zur Lösung dieser Widersprüche verkörpern oder dem Kapital sogar ein zunehmendes Wachstum ermöglichen würde. Die kommunistische Linke zeigt deutlich die schrecklichen sozialen Kosten, welche die stalinistische Industrialisierung in den 30er Jahren gefordert hat. Letztere hat die Voraussetzungen für nur noch zerstörerische imperialistische Konflikte geschaffen. Die gierige Beteiligung der UdSSR an der zweiten Aufteilung des Erdballs bestätigt die Argumente der kommunistischen Linken, wonach das stalinistische Regime sehr wohl seine eigenen Appetite hat. Es ist eine Bestätigung der kommunistischen Linken in ihrer Ablehnung jeglicher Zugeständnisse gegenüber Trotzkis Aufforderung zur „Verteidigung der UdSSR gegen imperialistische Angriffe“.
1945–1989: Die Sowjetunion wird zum Führer einer der beiden imperialistischen Blöcke, die mit ihren Rivalitäten die internationale Lage während vier Jahrzehnten dominieren werden. Dabei ist der stalinistische Block weit weniger entwickelt als sein westlicher Rivale. Er ist eingeschränkt durch die Last eines enormen Militärsektors, zu unbeweglich in seinen politischen und wirtschaftlichen Strukturen, als dass er sich den Forderungen des kapitalistischen Weltmarkts anpassen könnte. Dies zeigen wir auch in unseren Thesen über die ökonomische und politische Krise im Ostblock, die als Anhang in eben dieser Broschüre erscheinen. Ende der 60er Jahre bricht die Wirtschaftskrise des Kapitalismus einmal mehr offen aus, nachdem sie in der Nachkriegszeit von der Wiederaufbauperiode überschattet gewesen ist. Die Krise versetzt der UdSSR und ihren Satellitenstaaten unaufhörlich Rückschläge. Dabei ist der stalinistische Apparat unfähig, auch nur die geringste wirtschaftliche oder politische „Reform“ umzusetzen, ohne dass sein gesamtes Gefüge in Frage gestellt würde. Zudem ist es ihm unmöglich, Kriegsmobilisierungen durchzuführen, da er sich nicht auf die Loyalität des eigenen Proletariats stützen kann (als konkreter Beweis dazu dient der Massenstreik in Polen 1980). Somit zerfällt das stalinistische Gebäude unter der Last seiner Widersprüche. Entgegen der lügnerischen Propaganda über den Untergang des Kommunismus ist es in Tat und Wahrheit ein besonders schwacher Teil der weltweiten kapitalistischen Wirtschaft, der zusammenbricht, einer Wirtschaft, die insgesamt keine Lösung auf ihre historische Krise finden kann.
1989: Der Untergang des russischen Blocks führt zur schnellen Auflösung des Westblocks, dem es nun an einem „gemeinsamen Feind“ mangelt, um seine Geschlossenheit begründen zu können. Diese enorme Veränderung der Weltlage bedeutete den Eintritt des dekadenten Kapitalismus in eine neue und zugleich in seine letzte Phase, die Phase des Zerfalls. Die wichtigsten Merkmale dieser Phase werden ebenfalls von den „Thesen“ im Anhang dieser Broschüre beleuchtet. Hier beschränken wir uns darauf, die Lage in Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als charakteristisch für diese neue Phase zu bezeichnen: Auf internationaler Ebene, während nun ein chaotischer Kampf des Jeder-gegen-jeden an die Stelle der ehemals bipolaren imperialistischen Rivalitäten getreten ist, verteidigt Russland weiterhin seine imperialistischen Ziele, wenn auch weniger „übermütig“ als früher. Auf nationaler Ebene droht die territoriale Einheit Russlands aufgrund nationalistischer Aufstände und zahlreicher mörderischer Kriege wie gegenwärtig in Tschetschenien auseinander zu brechen; auf wirtschaftlicher Ebene geht der Mangel an jeglicher finanzieller Stabilität einher mit der Arbeitslosigkeit und einer galoppierenden Inflation; auf sozialer Ebene gibt es einen beschleunigten Zerfall der Infrastruktur, eine immerzu wachsende Umweltverschmutzung, eine zunehmende Zahl an psychisch Erkrankten und Drogenabhängigen, einen Zuwachs an kriminellen Banden auf allen Stufen, auch auf den höchsten Verwaltungs- und Regierungsebenen.
Dieser innere Zerfallsprozess bewirkt, dass viele Menschen sich sehnsüchtig an die „guten alten Zeiten“ des Stalinismus erinnern. Aber es kann keinen Schritt zurück mehr geben: In allen Ländern ist der Kapitalismus heute ein System in tödlicher Krise. In schreiender Weise stellt es die Menschheit vor die Alternative zwischen dem Versinken in der Barbarei und der kommunistischen Weltrevolution. Das gegenwärtige Wiedererwachen revolutionärer Elemente in Russland zeigt deutlich, dass die Alternative der kommunistischen Weltrevolution von der sich auf dem Vormarsch befindenden Barbarei nicht für allemal begraben werden konnte.
Unsere Absicht in diesem Vorwort ist es gewesen zu zeigen, dass das Konzept der Dekadenz des Kapitalismus der russischen Arbeiterbewegung keineswegs fremd ist, ebenso wenig wie der Begriff des Kommunismus. Es ist heute die Aufgabe der neuen Generation der Revolutionäre in Russland, die Theorie den stalinistischen Räubern zu entwinden und sie der Arbeiterklasse in Russland und der restlichen Welt zurück zu geben.
IKS, Februar 2001
Fußnoten:
Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische
[2] https://de.internationalism.org/tag/3/54/zerfall
[3] https://de.internationalism.org/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[4] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke
[5] https://de.internationalism.org/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke
[6] https://de.internationalism.org/tag/3/43/imperialismus
[7] https://de.internationalism.org/tag/2/33/die-nationale-frage
[8] https://de.internationalism.org/tag/3/45/kommunismus
[9] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/naher-osten
[10] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/irak
[11] https://de.internationalism.org/tag/3/46/krieg
[12] https://de.internationalism.org/tag/geographisch/europaische-union
[13] https://de.internationalism.org/tag/2/29/proletarischer-kampf