Sozialdemokratie und Kommunismus - von Anton Pannekoek

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Während die Herrschenden gerne so tun, als ob die Arbeiterbewegung längst Schiffbruch erlitten habe und sie der Vergangenheit angehöre, nur um die Geschichte der Arbeiterbewegung zu verzerren und auf den Kopf zu stellen, wenn sie nicht gar ganz zu verschweigen, wollen wir uns hier in unserer Zeitung um eine Darstellung der wirklichen Geschichte der Arbeiterbewegung bemühen. Nachfolgend veröffentlichen wir einen Beitrag aus dem Jahre 1920 von Anton Pannekoek, der den Werdegang der Arbeiterbewegung im vorigen Jahrhundert bis 1918/1919 aufrollt.

SOZIALDEMOKRATIE UND KOMMUNISMUS

DER WERDEGANG DER ARBEITERBEWEGUNG

Der Weltkrieg hat nicht nur eine gewaltige Umwälzung aller wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse gebracht: er hat auch den Sozialismus völlig umgewandelt. Wer mit der deutschen Sozialdemokratie aufgewachsen ist und sich in ihren Reihen an dem Kampf der Arbeiterklasse beteiligte, steht oft verwirrt den neuen Erscheinungen gegenüber und fragt sich, ob denn alles, was er bisher gelernt und getätigt hat, falsch war und weshalb er umlernen und einer neuen Lehre folgten soll. Die Antwort ist: es war nicht falsch, aber es war eine unvollkommene, zeitweilige Wahrheit. Der Sozialismus ist nicht eine feste unveränderliche Lehre. Mit der Entwicklung der Welt wächst die Einsicht der Menschen und mit den neuen Verhältnissen kommen neue Methoden zur Erreichung unseres Ziels auf. Das zeigt sich schon bei einem kurzen Überblick über die Entwicklung des Sozialismus im letzten Jahrhundert.

Am Anfang des 19. Jahrhunderts herrschte der utopische Sozialismus. Weitblickende Denker mit klarem Empfinden für die Unerträglichkeiten des Kapitalismus arbeiteten Entwürfe für eine bessere Gesellschaft aus, in der die Arbeit genossenschaftlich organisiert sein sollte. Ein Wendepunkt trat ein, als Marx und Engels 1847 das kommunistische Manifest herausgaben. Hier treten zuerst die Hauptpunkte des späteren Sozialismus klar hervor: aus dem Kapitalismus selbst wird die Kraft zur Umwandlung in eine sozialistische Gesellschaft herauswachsen: diese Kraft ist der Klassenkampf des Proletariats. Die armen, verachteten, unwissenden Arbeiter werden die Träger dieser Umwälzung sein, indem sie den Kampf gegen die Bourgeoisie aufnehmen, dadurch Kraft und Fähigkeit erwerben und sich als Klasse organisieren: durch eine Revolution wird das Proletariat die politische Herrschaft erobern und die wirtschaftliche Umwälzung durchführen.

Hervorzuheben ist dabei, daß Marx und Engels ihr Ziel nicht Sozialismus und sich selbst nicht Sozialisten nennen. Engels hat das nachher erklärt: zu jener Zeit wurden mit dem Namen Sozialismus verschiedene Richtungen der Bourgeoisie bezeichnet, die aus Mitleid mit dem Proletariat oder aus anderen Gründen, die kapitalistische Ordnung umändern wollten: oft waren ihre Ziele reaktionär. Der Kommunismus dagegen war eine proletarische Bewegung. Kommunisten hießen die Arbeitergruppen, die das System des Kapitalismus bekämpften. Von dem Kommunistischen Arbeiterbund ging das Manifest aus, das dem Proletariat Ziel und Richtung seines Kampfes wies.

Das Jahr 1848 brachte die bürgerlichen Revolutionen, die dem Kapitalismus den Weg in Mitteleuropa bahnten und damit auch die Umwandlung der überlieferten Kleinstaaterei in kräftige Nationalstaaten vorbereitete. Die Industrie entwickelte sich in den 50er und 60er Jahren in einem gewaltigen Tempo und in dieser Prosperität versank alle revolutionäre Bewegung so gründlich, daß sogar der Name des Kommunismus vergessen wurde. Als dann in den 60er Jahren aus diesem breiteren Kapitalismus die Arbeiterbewegung wieder emporkam, in England, Frankreich und Deutschland, hatte sie zwar einen viel breiteren Boden als die früheren kommunistischen Sekten, aber ihre Ziele waren viel begrenzter und bescheidener: Verbesserung der unmittelbaren Lage, Gewerkschaften, demokratische Reformen. In Deutschland entfaltete Lassalle eine Agitation für Produktionsgenossenschaften mit Staatshilfe: der Staat sollte sich seiner sozialen Aufgaben zugunsten der Arbeiterklasse bewußt werden, und um ihn dazu zu zwingen, sollte die Demokratie, die Herrschaft der Massen über den Staat dienen. So wird es verständlich, daß die von Lassalle begründete Partei sich den bescheidenen Namen Sozialdemokratie zulegte: in diesem Namen wird zum Ausdruck gebracht, daß das Ziel der Partei die Demokratie mit sozialem Zweck war.

Aber allmählich wuchs die Partei über diese engen ersten Ziele hinaus. Die stürmische kapitalistische Entwicklung Deutschlands, die Kriege zur Gründung des deutschen Reiches, das Bündnis von Bourgeoisie und junkerlichem Militarismus, das Sozialistengesetz, die reaktionäre Zoll- und Steuerpolitik, trieben die Arbeiterschaft in einen scharfen Klassenkampf hinein und machten sie zur Führerin in der europäischen Arbeiterbewegung, die ihren Namen und ihre Losungen übernahm. Die Praxis schärfte ihren Geist zum Verständnis der Marx'schen Lehren, die vor allem von Kautsky in zahlreichen Popularisierungen und Anwendungen den Sozialisten zugänglich gemacht wurden. Und so wurden die Prinzipien und Ziele des alten Kommunismus: das kommunistische Manifest von ihr als ihre Programmschrift, der Marxismus als ihre Theorie, der Klassenkampf als ihre Taktik, die Eroberung der politischen Herrschaft durch das Proletariat, die soziale Revolution als ihr Ziel anerkannt.

Dennoch war ein Unterschied vorhanden: der Charakter des neuen Marxismus, der Geist der ganzen Bewegung war anders als der alte Kommunismus. Die Sozialdemokratie wuchs empor inmitten einer kräftigen kapitalistischen Entwicklung. An einen gewaltsamen Umsturz war vorerst nicht zu denken. Deshalb verlegte man die Revolution auf die ferne Zukunft und stellte sich mit Propaganda und Organisation zu deren Vorbereitung und mit dem Kampfe für unmittelbare Verbesserungen zufrieden. Die Theorie betonte, daß die Revolution als Folge der wirtschaftlichen Entwicklung notwendig kommen müsse, und vergaß dabei, daß die Aktion, die spontane Tätigkeit der Massen zu ihrem Kommen notwendig sei. So wurde sie zu einer Art ökonomischer Fatalismus. Die Sozialdemokratie und die nachher emporkommenden Gewerkschaften wurden zu einem Glied der kapitalistischen Gesellschaft: sie verkörperten darin den wachsenden Widerstand und die Opposition der Arbeitermassen, und sie waren das Organ, das die völlige Verelendung der Massen durch den Druck des Kapitals verhinderten. Durch das allgemeine Wahlrecht wuchsen sie zu einer starken Opposition innerhalb des bürgerlichen Parlaments empor. Ihr Grundcharakter war, trotz der Theorie reformistisch auf das Unmittelbare, Kleine gerichtet, statt revolutionär: und die Grundursache dafür lag in der kapitalistischen Prosperität, die den proletarischen Massen eine gewisse Lebenssicherheit gab und keine wirklich revolutionäre Stimmung aufkommen ließ.

In dem letzten Jahrzehnt verstärkten sich diese Tendenzen. Die Arbeiterbewegung hatte nahezu erreicht, was unter diesen Umständen erreichbar war: sie war zu einem mächtigen Parteigebilde ausgewachsen, das eine Million Mitglieder und ein Drittel aller Wählerstimmen umfaßte, und neben ihr stand eine Gewerkschaftsbewegung, die den Hauptteil der organisierungsfähigen Arbeiter in sich aufgenommen hatte. Sie stieß jetzt ihr Haupt gegen eine mächtigere Schranke, gegen die sie mit den altbewährten Mitteln nicht aufkommen konnte: die starken Organisationen des Großkapitals in Syndikaten, Unternehmerverbänden und Interessengemeinschaften, sowie die von Finanzkapital, schwerer Industrie und Militarismus geführte Politik des Imperialismus, die größtenteils außerhalb des Parlaments geleitet wurde. Zu einer völligen Umwandlung und Erneuerung der Taktik war aber diese Arbeiterbewegung nicht fähig, die mächtigen Organisationen waren einmal da, sie waren Selbstzweck geworden und wollten sich behaupten. Träger dieser Tendenz war die Bürokratie, dies zahlreiche Heer der Beamten, Führer, Parlamentarier, Sekretäre, Redakteure, die eine eigene Gruppe mit eigenen Interessen bildeten. Unter ihren Händen war allmählich das Ziel, unter Beibehaltung der alten Namen, ein anderes geworden. Eroberung der politischen Herrschaft durch das Proletariat war für sie Eroberung der Mehrheit durch ihre Partei, Ersetzung der regierenden Politiker und der Staatsbürokratie durch sie, die sozialdemokratischen Politiker und die Partei- und Gewerkschaftsbürokratie. Neue Gesetze zugunsten des Proletariats, die sie dann erlassen würden, sollten den Sozialismus verwirklichen. Und diese Auffassung herrschte nicht nur bei den Revisionisten, auch Kautsky, der theoretische Politiker der Radikalen, erklärte in einer Diskussion, daß die Sozialdemokratie den Staat mit all seinen Organen und Ministerien erhalten und bloß andere Leute, Sozialdemokraten, an die Stelle der damaligen Minister einsetzen wollte.

Der Weltkrieg brachte auch die Krise innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Sozialdemokratie stellte sich unter die Losung der "Vaterlandsverteidigung" überall in den Dienst des Imperialismus: die Partei- und Gewerkschaftsbürokratie arbeiteten Hand in Hand mit der Staatsbürokratie und dem Unternehmertum, die Arbeiter zu zwingen, Kraft, Blut und Leben bis zum äußersten herzugeben. Es war der Zusammenbruch der Sozialdemokratie als Partei der proletarischen Revolution. Nun kam, trotz der scharfen Unterdrückung in allen Ländern die Opposition allmählich empor und erhob aufs Neue die alte Fahne des Klassenkampfes, des Marxismus und der Revolution. Unter welchem Namen sollte sie kämpfen? Sie könnte sich mit Recht auf die alten Losungen der Sozialdemokratie berufen, die die sozialdemokratischen Parteien im Stich gelassen hatten. Aber der Name "Sozialist" war jetzt bedeutungslos und kraftlos geworden, da praktisch der Unterschied zwischen Sozialisten und Bürgerlichen völlig verschwunden war. Um den Klassenkampf zu führen, mußte zuerst und in schärfster Weise der Kampf gegen die Sozialdemokratie geführt werden, die das Proletariat in den Abgrund des Elends, der Unterwürfigkeit, des Krieges, der Vernichtung, der Machtlosigkeit gestürzt hatte. Konnten die neuen Kämpfer diesen geschändeten, entehrten Namen annehmen? Ein neuer Name war notwendig und welcher Name war da mehr geeignet als der alte ursprüngliche der ersten Träger des Klassenkampfes? In allen Ländern springt derselbe Gedanke auf, wieder den Namen Kommunismus anzunehmen.

Wieder, wie zu Marx' Zeiten stehen sich der Kommunismus als proletarisch-revolutionäre und der Sozialismus als bürgerlich-reformistische Richtung gegenüber. Und der neue Kommunismus ist nicht einfach eine Neuauflage der Lehre der radikalen Sozialdemokratie. Aus der Weltkrise hat er neue Einsichten gewonnen, die ihn weit über jene alte Lehre hinausheben. Den Unterschied dieser Lehre wollen wir jetzt betrachten.

 

Was ist der Unterschied zwischen der proletarischen und bürgerlichen Revolution? Wie kann die Arbeiterklasse die Macht ergreifen? Darf sie ihre Macht an irgendeine Partei "delegieren"? Welche Rolle spielen die Massenaktionen der Arbeiter und welche massive Entwicklung des Bewußtseins ist für diese Revolution notwendig?

Im nachfolgenden veröffentlichen wir den 2. Teil eines Artikels aus dem Jahre 1920 von A. Pannekoek, wo er die Auffassungen der Sozialdemokratie von der Revolution verwirft und die Position der Kommunisten aufzeigt. Auch wenn Pannekoek nicht näher auf den eigentlichen Hintergrund der Entwicklung eingeht, nämlich den Wechsel vom aufsteigenden zum niedergehenden Kapitalismus, halten wir es dennoch für wichtig, diesen Text unverändert, aber leicht gekürzt zu veröffentlichen. Diese "Vernachlässigung" ist z.T. darauf zurückzuführen, daß der Text 1920 geschrieben wurde, als die Diskussion um die tiefergehenden theoretischen Ursachen wegen der aktuellen Ereignisse damals in den Hintergrund gedrängt wurde. Ungeachtet dieser Schwäche liefert der Artikel einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung.

 

MASSENAKTION UND REVOLUTION

Der Gegensatz zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie trat auch schon vor dem Kriege, wenn auch nicht unter diesem Namen auf. Er betraf damals die Taktik des Kampfes. Unter dem Namen "Linksradikale" trat damals in der Sozialdemokratie eine Opposition hervor (aus ihr stammen die älteren der heutigen Kommunisten), die gegenüber den Radikalen und den Revisionisten die Notwendigkeit der Massenaktion verfocht. In diesem Streite war es vor allem, in dem die radikalen Wortführer, namentlich Kautsky, den revolutionsfeindlichen Charakter ihrer Anschauungen und ihrer Taktik hervortreten lassen mußten.

Der parlamentarische und der gewerkschaftliche Kampf hatten unter dem kräftig emporstrebenden Kapitalismus den Arbeitern einige Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse gebracht und zugleich einen kräftigen Damm gegen die nie ruhenden Verelendungstendenzen des Kapitalismus gebaut. Aber in dem letzten Jahrzehnt gab dieser Damm trotz der stark wachsenden Organisation allmählich nach: der Imperialismus stärkte die Macht des Unternehmertums und des Militarismus, schwächte das Parlament, trieb die Gewerkschaften in die Defensive und bereitete den Weltkrieg vor. Es wurde klar, daß die alten Kampfmethoden nicht mehr ausreichten. Instinktiv empfanden das die Massen: in allen Ländern sieht man sie in Aktionen losbrechen, oft gegen den Willen ihrer Führer, bald in riesigen gewerkschaftlichen Kämpfen, bald in Verkehrsstreiks, die die Wirtschaft lähmen, bald in Demonstrationen politischen Charakters. Oft erschüttert der Ausbruch proletarischer Empörung und proletarischer Kraft die Selbstsicherheit der Bourgeoisie in solchem Maße, daß sie Zugeständnisse macht; oft auch werden die Bewegungen durch Metzeleien erstickt. Die sozialdemokratischen Führer suchen diese Aktionen auch für ihre politischen Ziele zu benutzen; sie erkennen die Nützlichkeit politischer Streiks für bestimmte Ziele an, bloß unter der Bedingung, daß sie sich innerhalb der vorgeschriebenen Schranken halten, auf Geheiß der Führer begonnen und abgebrochen werden, und jedenfalls der offiziellen Taktik dieser Führer untergeordnet bleiben. So werden sie bisweilen auch angewandt; aber meist ohne viel Resultat. Die stürmische Gewalt des Elementarausbruchs der Massen wird durch die Politik der Kompromisse, der er dienen soll, gelähmt. Was die herrschende Bourgeoisie sonst mit Furcht schlägt: die Unsicherheit, wie weit sich die Aktion zu einer revolutionären Bewegung entwickeln könnte, fehlte bei den "disziplinierten" Massenaktionen, deren Harmlosigkeit im Voraus angekündigt wurde.

Die revolutionären Marxisten, die späteren Kommunisten haben damals schon die Beschränktheit der herrschenden sozialdemokratischen Auffassung durchschaut. Sie sahen, daß während der ganzen Geschichte die Massen, die Klassen selbst die treibende und die aktive Kraft aller Umwälzungen waren. Die Revolutionen entstanden nie aus dem klugen Beschluß anerkannter Führer; wenn die Verhältnisse, wenn die Lage unerträglich geworden war, brachen die Massen aus irgendeinem Anlaß los, fegten die alten Gewalten weg und die neue, zur Herrschaft berufene Klasse oder Schicht gestaltete Staat oder Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen um. Nur während des letzten halben Jahrhunderts ruhiger kapitalistischer Entwicklung konnte die Illusion aufkommen, die Führer, die einzelnen Personen, lenkten nach ihrer höheren Einsicht die Geschichte. Die Parlamentarier im Parlament, die Beamten der Zentralvorstände glauben, ihre Taten, Reden, Verhandlungen, Entscheidungen, bestimmen den Gang der Ereignisse; die Massen hinter ihnen sollen nur gelegentlich auftreten, wenn sie gerufen werden, den Worten der Wortführer Nachdruck zu verleihen, um dann wieder schleunigst von der politischen Bildfläche zu verschwinden. Die Masse habe bloß eine passive Rolle zu spielen, sie habe die Führer zu wählen, die dann als die aktive wirksame Kraft der Entwicklung handeln.

War diese Auffassung schon beschränkt im Hinblick auf die früheren Revolutionen in der Geschichte, so ist sie es noch mehr, wenn man den tiefen Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer proletarischen Revolution ins Auge faßt. In bürgerlichen Revolutionen trat die Volksmasse von Arbeitern und Kleinbürgern nur einmal auf (wie in Paris im Februar 1848) oder nur dann und wann, wie in der großen französischen Revolution, um das alte Königtum oder eine neue unhaltbare Gewalt, wie die der Girondisten zu stürzen. Hatten sie ihre Arbeit getan, dann traten als neue Männer, als neue Regierung, die Vertreter der Bourgeoisie auf, um die Staatsinstitute, die Verfassung, die Gesetze, umzugestalten und zu erneuern. Proletarische Massenkraft war nötig, um das alte zu stürzen, aber nicht um das neue aufzubauen, denn der Neuaufbau war die Organisation einer neuen Klassenherrschaft.

Nach diesem Muster dachten sich die radikalen Sozialdemokraten auch die proletarische Revolution - die sie - im Gegensatz zu den Reformisten - als notwendig voraussahen. Eine große Volkserhebung sollte die alte militärisch-absolutistische Herrschaft wegfegen, die Sozialdemokraten an die Spitze bringen, und dies würde dann das weitere besorgen und durch neue Gesetze den Sozialismus aufbauen. So dachten sie sich die proletarische Revolution. Aber diese Revolution ist etwas ganz anderes. Die proletarische Revolution ist die Befreiung der Massen aus aller Klassenherrschaft und Ausbeutung. Das bedeutet, daß sie selbst ihre Geschicke in die Hand nehmen, daß sie selbst Meister über ihre Arbeit sein müssen. Aus dem alten Geschlecht beschränkter Arbeitssklaven, die nur an sich denken und nichts weiter sehen als ihre Werkstatt, müssen neue Menschen werden, trotzig, kampfbereit, unabhängigen Geistes, von kräftiger Solidarität erfüllt, nicht mehr durch den schlauen Betrug der bürgerlichen Lehren zu verwirren, und fähig, selbständig die Arbeit zu regeln. Diese Umwandlung kann nicht nur durch einen einzigen Revolutionsakt zustande kommen; ein langer Prozeß des Kampfes ist nötig, in dem die Arbeiter durch Not und bittere Enttäuschungen, durch gelegentliche Siege und wiederholte Niederlagen allmählich die Kraft, die feste Einheit und die Reife zur Freiheit und Herrschaft gewinnen. Dieser Kampfprozeß ist die proletarische Revolution.

 

Wie lange dieser Prozeß dauern wird, ist nach Ländern und Umständen verschieden und hängt vor allem von der Widerstandskraft der herrschenden Klasse ab. Daß er in Rußland relativ rasch vollendet war, lag daran, daß die Bourgeoisie schwach war und durch ihr Bündnis mit dem Landadel die Bauern auf die Seite der Arbeiter trieb. Das große Machtinstitut der Bourgeoisie ist die Staatsgewalt, die gewaltige, feinverzweigte Organisation der Herrschaft mit allen ihren Machtmitteln: Gesetzgebung, Schule, Polizei, Justiz, Militär und der Bürokratie, die die Leitung aller Zweige des öffentlichen Lebens in die Hand nahm. Die Revolution ist der Kampf des Proletariats gegen diesen Machtapparat der herrschenden Klasse, und es kann seine Freiheit nur gewinnen, indem es der feindlichen Organisation eine stärkere, festere Organisation gegenüberstellt. Staatsgewalt und Bourgeoisie suchen die Arbeiter machtlos, zersplittert und zaghaft zu halten, jede erwachende Einheit durch Gewalt und Betrug zu brechen, in allen Aktionen ihre Kraft zu zermürben. Demgegenüber tritt die Arbeitermasse in Massenaktionen auf, deren Wirkung die Lähmung und Abbröckelung der staatlichen Organisation ist. Solange letztere intakt bleibt, kann das Proletariat nicht siegen, denn immer wieder wird es sie gegen sich auftreten sehen. Der Kampf muß also - wenn nicht die Welt im Kapitalismus zugrunde gehen soll - damit enden, daß schließlich unter den unaufhörlichen mächtigen Aktionen des Proletariats die bürokratische Staatsmaschinerie zermürbt wird und machtlos zusammenbricht...

(Der vollständige Text kann bei der IKS angefordert werden)