Nicht der Standort Deutschland, der Kapitalismus verursacht Krise und Elend

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Heutzutage werden sämtliche Angriffe gegen die Arbeiterklasse in Deutschland ohne Ausnahme – insbesondere die “Agenda 2010” der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung - damit gerechtfertigt, dass es notwendig sei, den “Reformstau” in der Bundesrepublik “aufzulösen”, damit der Standort wieder wettbewerbsfähig werde. Deutschland sei der neue “kranke Mann Europas” geworden. So gäbe es kein anderes Mittel als das Wiedererlangen der Konkurrenzfähigkeit, um die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Die Botschaft ist klar: Nicht der Kapitalismus als Wirtschaftsweise, als Gesellschaftssystem ist schuld an der chronischen Stagnation und am wachsenden Elend im führenden Industriestaat Europas, sondern das Fehlen einer zufriedenstellend kapitalistischen, sprich wettbewerbsorientierten Einstellung “der Deutschen” – und in erster Linie der deutschen Arbeiterschaft – zum Wirtschaftsleben. Zu hohe Arbeitskosten, zu großzügige Sozialleistungen, zu kurze Arbeitszeiten, zu viele Urlaubs- und Feiertage seien somit Schuld an den nicht abreißenden Meldungen von Werksschließungen und Massenentlassungen in Deutschland. Diese Argumentationslinie hat – vom Standpunkt des Kapitals – den großen Vorteil, dass sie nicht nur die täglich stattfindenden Angriffe gegen die Arbeiter rechtfertigt, und die Arbeiter selbst dafür verantwortlich macht, dass die Krise des Systems ihre Situation so brutal verschlechtert, sondern darüber hinaus sozusagen die Systemfrage von der Tagesordnung streicht. Da sie von vorn herein den Kapitalismus als einzig denkbares System voraussetzt, kann es nur noch darum gehen, wie man sich für den kapitalistischen Wettbewerb im “Zeitalter der Globalisierung” fit macht.

In der Zeit nach 1989, als infolge des Zusammenbruchs des Stalinismus das Scheitern einer angeblichen Alternative zum Kapitalismus die Unmöglichkeit einer anderen als die bürgerliche Welt des Jeder gegen Jeden als eine Art Binsenwahrheit erscheinen ließ, war es für die Herrschenden noch verhältnismäßig unproblematisch, so zu argumentieren. Die Illusionen über eine neue Epoche des florierenden Kapitalismus “jenseits aller totalitären Ideologien” waren noch frisch. Die “humanitären” Rechtfertigungen der imperialistischen Kriegseinsätze auf dem Balkan sowie die Euphorie über die neuen Märkte im Osten oder im Bereich der Informationstechnologien verliehen der versprochenen neuen Weltordnung des Friedens und des Wohlstandes für alle noch eine gewisse Glaubwürdigkeit.

Heutzutage hingegen werden an der “Standortdebatte” gewisse Korrekturen vorgenommen. Zum einem man hat an die “Spitze des Staates” einen Mann namens Horst Köhler als Staatspräsidenten geholt, der nicht nur ein ausgewiesener Wirtschaftsfachmann sein soll, sondern der es auch noch versteht, Optimismus zu verbreiten. Denn dieser Mann liebt nicht nur sein Vaterland, sondern glaubt auch noch an “die Ideen” seiner Landsleute, welche imstande seien, Deutschland an die Weltspitze der Wohlstandspyramide zurückzuführen. Leute vom Schlage des einstigen Chefs des Internationalen Währungsfonds hegen mittlerweile den Verdacht, dass das einseitige Jammern über die Misere des Standorts letzten Endes – da die Lage so oder so nicht besser wird – in eine Art Pessimismus gegenüber dem Kapitalismus insgesamt ausarten könnte. Bekanntermaßen wird ein solcher Pessimismus unter “Fachleuten” inzwischen dafür verantwortlich gemacht, dass die Leute angesichts drohender Einkommenseinbußen und Dauerarbeitslosigkeit den viel zitierten “Konsumstreik” angetreten sein sollen.

Doch neben dieser Art von Zweckoptimismus fällt in letzter Zeit außerdem auf, dass den Argumenten der Gewerkschaftslinken und der ihnen nahestehenden Wirtschaftsforschungsinstitute in der Öffentlichkeit zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Von dieser Seite wird bestritten, dass Deutschland überhaupt an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. So brachte “Die Zeit” von 15. April einen Leitartikel mit der Schlagzeile “Der Mythos vom Abstieg”, welcher die starke Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik betonte, und deren wirtschaftliche Schwierigkeiten auf die Folgen der Wiedervereinigung und der Euro-Einführung zurückführte.

Auf den ersten Blick kann dieser Standpunkt arbeiterfreundlicher erscheinen als der andere. Denn er wird von Gewerkschaftsvertretern ins Feld geführt als Argument gegen bestimmte “Opfer”, welche die Unternehmer von den Lohnabhängigen einfordern, nach dem Motto: wenn die Behauptung, dass die deutsche Wirtschaft ihren Konkurrenten gegenüber im Nachteil sei, so nicht stimmt, dann müssen bestimmte Maßnahmen auch nicht hingenommen werden. Denn diese Maßnahmen wären aus dieser Sicht zum Wohle der Wirtschaft nicht notwendig, sondern seien eher Ausdruck der maßlosen Profitgier der Unternehmer.

Doch bei Lichte betrachtet erweist sich auch diese Betrachtungsweise als urkapitalistisch. Denn die Kehrseite des Arguments, dass Maßnahmen, welche zur Verteidigung der Wettbewerbsfähigkeit des Konzerns oder des Standortes nicht zwingend erforderlich sind, nicht hingenommen werden müssen, lautet, dass alles, was diesem Ziel wirklich dient, widerspruchslos hingenommen werden muss. Diese Logik kann man als die Quintessenz der gewerkschaftlichen Sichtweise bezeichnen.

Auch wenn die Gewerkschaften niemals revolutionäre Organe waren, so waren sie doch als Interessenvertreter der Arbeiter immer darauf aus, die Verbesserungen für ihre Mitglieder herauszuschlagen, welche mit dem Gedeihen des Unternehmens bzw. des Staates vereinbar sind. Seitdem der Kapitalismus Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch in eine Phase permanenter Krisenhaftigkeit eingetreten ist – die Niedergangsphase des Systems – verschwindet dieser wirtschaftliche Spielraum für systemverträgliche Reformen und damit auch die Existenzberechtigung der Gewerkschaften als Vertreter von Arbeiterinteressen. Doch die Gewerkschaften selbst verschwinden nicht, sondern übernehmen nunmehr eine neue Rolle, indem sie - mit einer “Arbeitersprache” verbrämt – für die Durchsetzung und Rechtfertigung der Angriffe sorgen, welche wirklich “notwendig” sind, um auf Kosten der Arbeiterklasse die Arbeitsplätze oder den Standort zu verteidigen.

Somit dient die Verbreitung solcher Argumente heute in erster Linie einer notwendig gewordenen Verstärkung der Präsenz der Gewerkschaften und ihrer Ideologie in den Reihen der Arbeiter, um die immer schärfer werdenden kapitalistischen Angriffe wirkungsvoller durchzusetzen.

Darüber hinaus dient die Verbreitung der gewerkschaftlichen und “linken” Argumente über die Vorteile des Standortes gerade heute der Erschwerung der Befassung von klassenbewussteren Arbeitern mit einer über den Kapitalismus hinausgehenden, kommunistischen Perspektive. Denn gerade die Einsicht, dass der Kapitalismus heute für seine Lohnsklaven außer ständigen Verschlechterungen nichts anzubieten hat, verleitet gerade politisch aktive, mit der Sache des Proletariats sich identifizierende Menschen dazu, das System insgesamt in frage zu stellen. Wie die “Antiglobalisierungsbewegung” dient auch der Hinweis von “Die Zeit” und anderer bürgerlicher Sprachrohre dazu, dass es dem System bzw. dem “eigenen” Standort gar nicht so schlecht gehe, dazu, Illusionen über die Möglichkeit von Reformen innerhalb des bestehenden Systems zu schüren.

Wir haben jetzt unsererseits vor, die Wettbewerbslage des deutschen Kapitals unter die Lupe zu nehmen, um aufzuzeigen, dass die Probleme des “Standortes” in Wirklichkeit entscheidende Hinweise auf die neue Phase des historischen Bankrotts des Kapitalismus liefern.

Deutschland: Der kranke Mann Europas?

Die Argumente zugunsten der These von Deutschland als “der kranke Mann Europas” beziehen sich zu allererst darauf, dass die Bundesrepublik ab Mitte der 90er Jahre das niedrigste Wirtschaftswachstum der Europäischen Union aufzuweisen hat. Dies fällt um so mehr auf, da die alte Bundesrepublik vor 1989 - innerhalb einer Weltwirtschaft also, deren Wachstum seit dem 2. Weltkrieg ohnehin von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer schwächer wurde – immerhin eine überdurchschnittliche Wachstumsrate zustande brachte. Deshalb wurde die alte BRD neben Japan damals in der Welt noch als Wirtschaftsmodell hochgehalten. Die Dinge haben sich gewissermaßen ins Gegenteil verkehrt. Denn heute weist beispielsweise Großbritannien – das in den 70er Jahren als der “kranke Mann Europas” traurige Berühmtheit erlangte – kontinuierlich ein höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland auf. Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik im Verlauf der 90er Jahre immer mehr von ausländischen Investoren gemieden wurde, während die angelsächsischen Länder kräftig von ausländischen Investitionen profitieren konnten. So erregte im vorigen Jahr die Tatsache Aufsehen, dass das Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens pro Einwohner erstmals seit Jahrzehnten das von Deutschland übertraf.

Das besonders niedrige Wachstumsniveau der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren ist unstrittig. Aber in wie fern lässt sich daraus auf einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit schließen? Die Stagnation der Wirtschaft ist eine allgemeine, sich regelmäßig verschärfende Tendenz des niedergehenden, an seiner eigenen Überproduktion erstickenden Kapitalismus. Muss man nicht die “deutsche Malaise” vielmehr als globalen Ausdruck der Systemkrise des Kapitalismus betrachten, auf den die Bundesrepublik als stark exportabhängige Industrienation besonders empfindlich reagiert?

Betrachten wir zunächst die Entwicklung des pro Kopf Bruttoinlandsproduktes innerhalb der Europäischen Union. Abgesehen von Luxemburg (das als kleines Land mit einem großen Finanzplatz die Leistungstabelle einsam anführt) liegen Dänemark und Irland mit circa 35.000 Euro jährlich vorn, während die großen Industrienationen Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien (in der Reihenfolge) ungefähr bei 25.000 Euro (Italien deutlich weniger) jährlich liegen. Nimmt man aber die alte Bundesrepublik – ohne die neuen Bundesländer – so liegt die Wirtschaftsleistung pro Einwohner mit Dänemark und Irland gleichauf. Mit anderen Worten: Das Zurückfallen Deutschlands gegenüber Großbritannien und anderen Nachbarländern ist nicht Ausdruck einer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit der traditionellen westdeutschen gewerblichen Produktion, sondern legt Zeugnis ab von dem Scheitern des “Aufbaus Ost”. Und tatsächlich – während in den alten wie in den neuen Bundesländern in den letzten 10 Jahren mehrere Millionen Industriearbeitsplätze verloren gegangen sind, sind neue Jobs, wenn überhaupt, fast ausschließlich “im Westen” entstanden.

Wir sehen also, dass an den Argumenten der Kritiker der relativen Leistungen des deutschen Standortes etwas dran ist, dass aber diese Argumente auch kritisch hinterfragt werden müssen. Kommen wir nun zu den Argumenten der Gewerkschaften und “linken” Wirtschaftsforscher. Sie weisen darauf hin, dass sich die deutschen Exporte in den letzten 10 Jahren beinahe verdoppelt haben, und damit viel rascher gestiegen sind als die der Eurozone insgesamt oder als die von Großbritannien, der USA oder Japans. Die Folge: Deutschland hat seine Stellung als “Exportweltmeister” aus der Zeit vor der Wiedervereinigung zurückerobert, bestreitet heute 10% des gesamten Welthandels. V.a. im Bereich der “Königsdisziplin” der kapitalistischen Wirtschaft – im Maschinenbau, der Produktion von Produktionsmittel – soll der Abstand der deutschen Industrie zu seinen Konkurrenten nicht schmaler, sondern größer geworden sein. Dazu “Die Zeit” von 15.04.2004: “Die Innovationsoffensive, die der Kanzler ankündigte, ist in vielen Firmen längst Realität. “Wir sind technologisch weltweit führend” sagt Olaf Wortmann vom Maschinenbauverband VDMA. Infolgedessen haben sich die Lohnstückkosten weit günstiger entwickelt als in fast allen Konkurrenzländern. “Die Wettbewerbsfähigkeit ist in Deutschland kein Problem mehr” sagt Harald Jörg, Volkswirt bei der Dresdner Bank.”.

Nun, auch diese Argumente sind größtenteils zutreffend. Es handelt sich auf beiden Seiten – auf Unternehmer- ebenso wie auf Gewerkschaftsseite – um Halbwahrheiten, welche bekanntlich die Wahrheit viel wirksamer entstellen als glatte Lügen. Die Unternehmer haben recht, dass die deutsche Wirtschaft noch radikaler stagniert als die ihrer Konkurrenten. Sie führen uns aber hinters Licht, wenn sie behaupten, diese “Krankheit” sei ein spezifisches Produkt lokaler, deutscher Bedingungen. Die bürgerliche Linke hat recht, wenn sie bestreitet, dass der Niedergang des einstigen “Wirtschaftsmodells” auf einen allgemeinen Verlust an Konkurrenzkraft zurückgeht. Doch auch die Linke führt den Zusammenbruch des deutschen Modells allein auf spezifische Bedingungen zurück: Die Kosten der Wiedervereinigung, die Folgen der Euroeinführung und die Auswirkungen einer “falschen, neoliberalen” Wirtschaftspolitik. Sie können und wollen nicht erklären, weshalb die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht mehr die für die Kapitalisten so erfreulichen Auswirkungen auf ihre Gewinnmargen hat sowie auf die Stabilität der sozialen Lage wie in den Nachkriegsjahrzehnten. Da der kapitalistische Wettbewerb angesichts einer immer allgemeiner werdenden Überproduktion stets brutaler und auch kostspieliger wird, steigen die Investitionsrisiken, fällt die durchschnittliche Profitrate.

Die Bedeutung des Rückgangs der Massenkaufkraft

Worauf ist also das immer schwächere Wirtschaftswachstum im einstigen “Wirtschaftswunderland” zurückzuführen? Hier sprechen die Statistiken eine deutliche Sprache. Während die deutschen Exporte steigen, wird seit Mitte der 90er Jahre eine Flaute der Binnennachfrage beklagt. Selbst die nach oben beschönigten, offiziellen bürgerlichen Statistiken z.B. der OECD weisen nach, dass in kaum einem anderen Industriestaat die Reallöhne sich – für die Arbeiter und Angestellte – so negativ entwickelt haben wie in Deutschland. Und angesichts von Werksschließungen, direkten Lohnkürzungen und brutalsten Kürzungen der Sozialleistungen (Gesundheitsreform, Hartzgesetze usw.) erscheint nichts sicherer als die Fortsetzung dieses Trends.

Es steht außer Frage: das Schrumpfen der Massenkaufkraft der arbeitenden Bevölkerung spielt die Hauptrolle bei der mittlerweile chronisch gewordenen Stagnation der deutschen Wirtschaft. Die bürgerliche Linke, die Gewerkschaften und die “Globalisierungskritiker” wollen daraus schließen, dass kräftige Lohnerhöhungen das Beste wären, um die kapitalistische Wirtschaft zu stützen. Doch sie glauben ihren eigenen Argumenten nicht. Denn überall, in den Konzernen wie in der Politik, sind die Gewerkschaften, sind die Linken emsig dabei, eigene “Sparvorschläge” zu entwickeln, um auf Kosten der Arbeiterklasse den “Standort” zu verteidigen.

Was ist also die Ursache dieses Verlustes an Massenkaufkraft der Bevölkerung, welche sich so negativ auf die Weltkonjunktur auswirkt? Auffallend ist, dass dieses Phänomen weltweit anzutreffen ist. Noch bedeutender aber ist die Tatsache, dass dieses Phänomen gerade heute sich besonders dort bemerkbar macht, wo der Lebensstandard des Proletariats im internationalen Vergleich bisher am höchsten war. Es handelt sich neben Deutschland um Länder wie Frankreich, Italien, aber auch die Schweiz. Ferner fällt auf, dass es gerade diese Länder sind, deren Wirtschaftswachstum neuerdings besonders schwach ausfällt. Deutschland, Frankreich und Italien sind beispielsweise auch diejenigen Länder, welche innerhalb der Europäischen Union am meisten gegen die einst in Maastricht beschlossenen Stabilitätskriterien verstoßen. Schließlich handelt es sich (außer bei der Schweiz) um Länder, wo die offizielle Arbeitslosenrate heute besonders hoch ist. Alles nur Zufall? Nein, kein Zufall. In Großbritannien oder den USA begann die radikale Demontage des “Sozialstaates” bereits in den 80er Jahren. Die führenden Bourgeoisien des westlichen Kontinentaleuropas betrieben diese Demontage weitaus langsamer. Einerseits, weil diese Länder sich noch auf traditionelle “Standortvorteile” stützen konnten, und andererseits, weil eine größere Vorsicht auch geboten erschien angesichts besonders großer Konzentrationen des Proletariats, welche zudem potenziell über eine besondere geschichtliche Kampferfahrung verfügen. Was die Wirtschaftsflaute dieser Länder zum Ausdruck bringt, ist v.a. die Tatsache, dass selbst die stärksten nationalen Kapitalien sich ein ausgedehntes Sozialsystem überhaupt nicht mehr leisten können, und dieses auch dann radikal abbauen müssen, wenn die Folge ein noch größeres und gefährlicheres Schrumpfen der Weltwirtschaft ist.

Die deutsche Wirtschaftsmisere ist somit in erster Linie Ausdruck einer historischen Wende in der Geschichte des Kapitalismus hin zu einer immer massiveren Verelendung der Arbeiter in den Kernländern des Weltsystems.

Das Paradox der modernen Massenarbeitslosigkeit

Heute ist es für die Herrschenden wirtschaftlich nicht mehr tragbar, Millionen Erwerbsloser zu unterstützen. Die Tatsache beispielsweise, dass ausländische Investoren in der Ära von Helmut Kohl einen großen Bogen um Deutschland gemacht haben, ist in erster Linie auf die dort noch bestehenden “zu hohen” Sozialleistungen zurückzuführen. Erst in Folge des unter Rot-Grün eingeleiteten, viel radikaleren “Sozialabbaus” wurde eine Trendwende erreicht. Dazu “Die Zeit”: “Seit 1998 verzeichnen die Statistiker einen kräftigen Zustrom ausländischen Kapitals nach Deutschland. Zuletzt konnte außer Frankreich kein Industrieland so viele Investitionen aus dem Rest der Welt anziehen.”

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, auf die marxistische Sicht der Rolle der Erwerbslosigkeit im Kapitalismus zurückzukommen. In der vorkapitalistischen Klassengesellschaft wird die Mehrarbeit, von der die herrschenden Klassen leben, den Ausgebeuteten mit Gewalt aufgezwungen. Eine Besonderheit des Kapitalismus ist, dass die Mehrarbeit - sprich die Ausbeutungsverhältnisse - nicht mehr offen zu Tage liegt. Die Mehrarbeit, welche die Proletarier zugunsten des persönlichen Konsums der Kapitalisten v.a. aber zugunsten der Kapitalakkumulation leisten, wird nicht mehr mit Gewalt erzwungen, sondern aufgrund des wirtschaftlichen Mechanismus selbst den Ausgebeuteten aufgenötigt. Es ist vornehmlich die Arbeitslosigkeit, welche diesen Zwang ausübt. Somit bedarf die effizient von statten gehende kapitalistische Ausbeutung eines bestimmten Grades an Erwerbslosigkeit und an "pauperisierten" Menschen, um den Zwang zur Lohnarbeit sowie den auf die Löhne gerichteten Druck aufrecht zu erhalten. Marx nennt diese - für einen normal funktionierenden Kapitalismus erforderliche - Schicht des Proletariats die "industrielle Reservearmee". Die Wichtigkeit der Arbeitslosigkeit für den Kapitalismus lässt sich übrigens auch durch die negativen Folgen belegen, welche auftreten, wenn dessen Entfaltung eingeschränkt wird. Dort wo, wie im Stalinismus oder im Faschismus - aus politischen und ideologischen Erwägungen, und im Hinblick auf die Kriegsmobilisierung - der Mechanismus der Reservearmee zu Gunsten einer staatlich gelenkten "Vollbeschäftigung" mehr oder weniger außer Kraft gesetzt wird, muss die kapitalistische Ausbeutung dann doch mit Gewaltmitteln durchgedrückt werden. Dies erweist sich auf Dauer jedoch als ein wenig wirksames Mittel der Mehrwertauspressung.

Die Arbeitslosigkeit kann also ein bestimmtes Niveau nicht unterschreiten, ohne dass das normale Funktionieren des kapitalistischen Arbeitsmarktes darunter leidet. Gibt es aber einen Pegelstand der Arbeitslosigkeit, welcher nach oben hin nicht überschritten werden darf, ohne das System zu gefährden?

Das gibt es. Allerdings ist diese Begrenzung keine starre, sondern bildet eine mehr politische als wirtschaftliche Größenordnung. Ein zu großes Arbeitslosenheer gefährdet nämlich die soziale Stabilität des Kapitalismus - den sog. "sozialen Frieden".

Da die herrschende Klasse sich dieser Gefahr wohl bewusst war, führte sie relativ früh - in Deutschland bereits unter Bismarck - die Arbeitslosenversicherung ein. Im niedergehenden Kapitalismus wurde dieses Versicherungssystem v.a. nach dem 2. Weltkrieg ausgebaut, um eine bereits geschlagene Arbeitergeneration ideologisch ideologisch fester an das System zu binden. In den Jahrzehnten nach 1968 wurde dieses System - der Entwicklung einer Massenerwerbslosigkeit zum Trotz - angesichts von einer neuen, ungeschlagenen Arbeitergeneration im Prinzip aufrecht erhalten. Zwar wurden immer wieder schmerzhafte Einschnitte in diesem "sozialen Netz" vorgenommen. Doch an das Prinzip der minimalen Absicherung wagte man sich noch nicht heran.

Zwar stimmt es, dass es sich um eine kapitalistische Versicherung wie jede andere handelt, für deren Kosten die Arbeiter selbst aufzukommen haben. Auf Dauer jedoch belastet dieses System die kapitalistische Wirtschaft immer mehr. Denn wenn die Massenarbeitslosigkeit wie heute zu einem Dauerphänomen wird, dann werden in den Reproduktionskosten der lebendigen Arbeitskräfte nicht nur die Kosten des Erhalts der beschäftigten Arbeiter und der Aufzucht einer neuen Arbeitergeneration, sondern nun auch die des Erhalts der Arbeitslosen eingeschlossen. Es entsteht folgendes Paradox: Die Arbeitslosigkeit, welcher im Kapitalismus die Funktion der Verbilligung der Arbeitskräfte zukommt, ist zu einem wichtigen Faktor deren Verteuerung geworden.

Wenn heute also in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien oder wie in der Schweiz die Leistungen des "Sozialstaates" und der Arbeitslosenversicherungen regelrecht demontiert werden, und wenn diese Demontage über ein brutales Abwürgen der Massenkaufkraft die wirtschaftliche Stagnation dieser Länder verstärkt, dann ist dies ein sicheres Anzeichen dafür, dass weltweit die Tage des "Wohlfahrtstaates" als Garant des "sozialen Friedens" gezählt sind.

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