„Volksaufstand“ in Argentinien

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Nur das Proletariat auf seinem Klassenterrain kann die Bourgeoisie zurückdrängen

Die Ereignisse in Argentinien zwischen dem Dezember 2001 und dem Februar 2002 haben großes Interesse unter den politisch bewussten Elementen überall auf der Welt geweckt. Sie haben unter kämpferischen Arbeitern am Arbeitsplatz Diskussionen und Nachdenken ausgelöst. Einige trotzkistische Gruppen haben sogar vom „Beginn der Revolution“ gesprochen.

Unter den Linkskommunisten hat das IBRP (Internationale Büro für die revolutionäre Partei)  mehrere Artikel diesen Ereignissen gewidmet und eine Deklaration veröffentlicht, derzufolge in „Argentinien (...) die verheerende Wirtschaftskrise eine machtvolle und entschlossene proletarische Bewegung auf einem Klassenterrain und in Selbstorganisation belebt (hat), die einen Bruch zwischen den Klassen ausdrückt“.[i]

Das Interesse, das die sozialen Erhebungen in Argentinien weckten, ist verständlich und völlig legitim. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 hat die internationale Lage keinerlei proletarische Massenbewegungen mit denselben Ausmaßen wie die Streikbewegung in Polen 1980 oder die Kämpfe im argentinischen Cordoba 1969 mehr erlebt. Die Bühne des Weltgeschehens wurde von Kriegen (der Golfkrieg 1991, Jugoslawien, Afghanistan, Nahost ...) dominiert, von den noch verheerenderen Auswirkungen der fortschreitenden Weltwirtschaftskrise (Massenentlassungen, Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne und Renten) und von den verschiedenen Ausdrücken des kapitalistischen Zerfalls (Umweltzerstörung, Häufung von „natürlichen“ und „zufälligen“ Katastrophen, die Entwicklung von religiösem und sozialem Fanatismus, Kriminalität etc.).

Diese Situation – deren Ursachen wir bereits im Detail analysiert haben[ii] – ist ein Grund, warum politisierte Elemente den Ereignissen in Argentinien, die einen Bruch in dieser ununterbrochenen Folge von „schlechten Neuigkeiten“ zu markieren scheinen, so große Aufmerksamkeit schenken: In Argentinien haben Straßenproteste ein bisher nie dagewesenes Bäumchen-wechsle-dich-Spiel der Präsidenten verursacht (fünf in 15 Tagen) und  dabei die Form von „selbstorganisierten“ Nachbarschafts-Versammlungen angenommen, die lautstark „alle Politiker“ ablehnen.

Revolutionäre haben die Pflicht, solche gesellschaftlichen Bewegung genau zu verfolgen, um Stellung zu beziehen und zu intervenieren, wo immer die arbeitende Klasse einen Ausdruck findet. Es trifft sicherlich zu, dass die Arbeiter an der Welle der Mobilisierung in Argentinien teilgenommen haben und dass in einigen isolierten Kämpfen klare Klassenforderungen formuliert wurden sowie das offizielle Gewerkschaftstum konfrontiert wurde. Wir erklären uns solidarisch mit diesen Auseinandersetzungen, doch der beste Beitrag, den wir als eine revolutionäre Organisation leisten können, besteht darin, die Ereignisse so klar wie möglich zu analysieren. Diese Klarheit entscheidet über die Fähigkeit revolutionärer Organisationen, adäquat zu intervenieren und dabei den historischen und internationalen Rahmen zu berücksichtigen, der von der marxistischen Methode definiert wird. Das Schlimmste, was die Vorhutorganisationen des Proletariats tun können, wäre, Illusionen innerhalb der Arbeiterklasse zu streuen, indem sie ihre Schwächen stark redet und ihre Niederlagen mit Siegen verwechselt. Weit entfernt davon, dem Proletariat zu helfen, die Initiative zu erringen, seine Kämpfe auf seinem eigenen Terrain weiterzuentwickeln und sich selbst als einzige gesellschaftliche Kraft in totalem Gegensatz zum Kapitalismus zu behaupten, würde dies eine solche Wiederbelebung weitaus schwieriger gestalten.

Von dieser Perspektive aus betrachtet, heißt die Frage, die wir uns selbst zu stellen haben: Worin besteht die Klassennatur der Ereignisse in Argentinien? Handelt es sich um eine Bewegung, in der das Proletariat seine „Selbstorganisation“ und seinen „Bruch“ mit dem Kapitalismus vollziehen kann, wie das IBRP sagt? Unsere Antwort kann nur lauten: NEIN. Das Proletariat in Argentinien ist von einer Bewegung der Klassen übergreifenden Revolte durchtränkt und verwässert worden, einer Bewegung des Volksprotestes, die nicht die Stärke des Proletariats, sondern seine Schwäche ausdrückt. Die Klasse ist nicht imstande gewesen, sowohl ihre Autonomie als auch ihre Selbstorganisation zu behaupten.

Das Proletariat hat kein Bedürfnis, sich mit Illusionen abzufinden und sich krampfhaft an sie zu klammern. Was es benötigt, ist, den Faden seiner eigenen revolutionären Perspektiven wieder aufzunehmen, sich selbst auf der gesellschaftlichen Bühne als die einzige Klasse zu behaupten, die in der Lage ist, der Menschheit eine Zukunft anzubieten und dabei die anderen nicht-ausbeutenden Gesellschaftsschichten mit sich zu ziehen. Dabei muss das Proletariat der Realität ins Gesicht schauen und darf nicht Angst vor ihr haben. Um sein Klassenbewusstsein weiterzuentwickeln und um seinen Kampf den auf dem Spiel stehenden Schicksalsfragen anzupassen, darf es nicht mit der schonungslosesten Kritik an seinen eigenen Schwächen und Fehlern, mit einem gründlichen Nachdenken über die Schwierigkeiten geizen, denen es auf seinem Weg begegn et. Die Ereignisse in Argentinien werden dem Weltproletariat – und dem Proletariat in Argentinien, dessen Kampffähigkeit noch lange nicht erschöpft ist – als eine klare Lektion dienen: Klassen übergreifende Revolten schwächen nicht die Macht der Bourgeoisie, sondern das Proletariat.

Der Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft ist eine deutliche Manifestation der sich verschlimmernden Krise.

Wir wollen uns hier nicht auf eine detaillierte Analyse der Wirtschaftskrise in Argentinien einlassen. Wir verweisen unsere Leser auf unsere territoriale Presse. (s. insbesondere Weltrevolution, Nr. 110 und 111)Von besonderer Bedeutung in dieser Situation ist der brutale Anstieg der Arbeitslosigkeit von 7% im Jahr 1992 auf 17% im Oktober 2001 und schließlich auf 30% im Verlauf nur eines Monats (Dezember 2001) sowie – zum ersten Mal seit der spanischen Kolonialära – das Auftreten von Hunger, und das in einem Land, das bis vor kurzem noch als dem „europäischen Niveau“ sehr nahestehend galt und dessen hauptsächliche Produkte ausgerechnet Fleisch und Weizen sind.

Weit entfernt davon, ein lokales Phänomen zu sein, das durch Korruption oder den Wunsch, „wie Europäer zu leben“, verursacht worden ist, ist die argentinische Krise eine neue Episode in der Verschärfung der kapitalistischen Wirtschaftskrise. Diese Krise ist weltweit und betrifft alle Länder. Doch bedeutet dies nicht, dass sie alle von ihnen in derselben Weise oder in demselben Ausmaß betrifft. „Obwohl sie kein Land ausspart, wirkt sich die Weltkrise am verheerendsten nicht in den mächtigsten, hochentwickelten Ländern aus, sondern in den Ländern, die zu spät die weltwirtschaftliche Arena betreten haben und denen der Weg zur Weiterentwicklung von den alten Mächten endgültig versperrt worden war.“ („The proletariat of Western Europe in the centre of the generalisation of the class struggle“, International Review Nr. 31, engl./frz./span.) Darüber hinaus haben die mächtigsten Länder angesichts der sich verschlimmernden Krise Maßnahmen ergriffen, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen und sie auf die schwächsten Länder abzuwälzen („Liberalisierung“ des Welthandels, „Globalisierung“ von Finanztransaktionen, Investitionen in den Schlüsselsektoren der schwächsten Länder auf dem Weg der Privatisierungen, die Politik des IWF, etc. – d. h. all das, was „Globalisierung“ genannt wird). Es handelt sich hier um nichts anderes als die durch die größten Länder erzwungene Anwendung einer ganzen Reihe von staatskapitalistischen Maßnahmen auf die gesamte Weltwirtschaft, was den Zweck verfolgt, sich selbst vor der Krise zu schützen und zu ermöglichen, die schlimmsten Auswirkungen auf die Schwächsten abzulenken (s. „Bericht über die Wirtschaftskrise“ in Internationale Revue Nr. 28). Die von der Weltbank gelieferten Zahlen (World Development Indicators 2001) sind in diesem Zusammenhang vielsagend: Zwischen 1980 und 2000 erhielten private Kreditgeber von den lateinamerikanischen Ländern 192 Milliarden Dollar mehr zurück, als sie ihnen geliehen hatten, während 1999–2002, also in nur zwei Jahren, diese Differenz nicht weniger als 86,2 Milliarden Dollar betrug, das heißt, nahezu die Hälfte des Betrages der 20 Jahre zuvor. Der IWF seinerseits bewilligte zwischen 1980 und 2000 diesen Ländern Kredite in Höhe von 71,3 Milliarden Dollar, während diese Länder in der gleichen Periode 87,7 Milliarden Dollar zurückzahlten!

Und die Situation in Argentinien ist nur die Spitze des Eisberges. Hinter Argentinien gibt es weitere Länder, die, aus verschiedenen Gründen (Erdölfelder, strategische Position, etc.) genauso wichtig, potenzielle Kandidaten für den nächsten ökonomischen und politischen Kollaps sind: Venezuela, Türkei, Mexiko, Brasilien, Saudiarabien ...

Eine autonome proletarische Bewegung oder eine blinde, chaotische, Klassen übergreifende Revolte?

Wie das IBRP in seiner italienischen Zeitschrift kurz und bündig feststellte, antwortet der Kapitalismus auf Hunger mit noch mehr Hunger. Es machte ebenfalls klar, dass die vielfältigen „wirtschaftlichen Lösungen“, die von den Regierungen, der Opposition oder „alternativen Bewegungen“ wie das Sozialforum von Porto Alegre vorgeschlagen werden, keine Alternative anbieten. Dieses raffinierte Gebräu der Demagogen ist nach und nach von den Tatsachen der jetzt 30 Jahre dauernden Krise diskreditiert worden (s. den „Bericht über die Wirtschaftskrise“ in der Internationalen Revue Nr. 28 und „30 Jahre offene Wirtschaftskrise des Kapitalismus“ in der Internationalen Revue, Nrn. 24–26). Es zieht daher die richtige Schlussfolgerung, dass es „nutzlos ist, sich selbst etwas vorzumachen: Auf dieser Stufe der Krise hat der Kapitalismus nichts anderes anzubieten als allgemeine Armut und Krieg. Nur das Proletariat kann diesen tragischen Kurs aufhalten.“ (IBRP-Website, oben zitiert)

Und dennoch schätzt das IBRP die Protestbewegung in Argentinien wie folgt ein:

“Spontan gingen Proletarier raus auf die Straßen und zogen junge Leute, Studenten und wesentliche Bereiche des proletarisierten Kleinbürgertums mit sich, die wie sie selbst pauperisiert waren. Gemeinsam richteten sie ihren Ärger gegen die kapitalistischen Heiligtümer: all die Supermärkte und Geschäfte im Allgemeinen, die wie die Bäckereien im Gefolge vorsintflutlicher Brotrevolten angegriffen wurden. In der Hoffnung, die Rebellen einzuschüchtern, fand die Regierung keine bessere Antwort, als eine brutale Repression anzuzetteln, die in Dutzenden von Toten und Tausenden von Verletzten mündete. Die Revolution wurde jedoch nicht ausgelöscht, sondern verbreitete sich stattdessen auf den Rest des Landes und begann in wachsendem Maße einen Klassencharakter anzunehmen.“

Wir können drei Komponenten in der sozialen Bewegung Argentiniens unterscheiden:

            Zuerst die Angriffe auf die Supermärkte, die im Wesentlichen von Randschichten, Verlumpten und auch von den jungen Arbeitslosen ausgeführt wurden. Diese Bewegungen sind von der Polizei, privatem Wachschutz und den Ladeninhabern grausam unterdrückt worden. In mehreren Fällen sind sie ausgeartet in Wohnungseinbrüchen in armen Wohngegenden und in der Ausplünderung von Büros, Warenhäuser, etc.[iii] Die Hauptkonsequenz aus dieser „ersten Komponente“ der sozialen Bewegung waren tragische Konfrontationen unter Arbeitern gewesen, wie dies durch die blutige Konfrontation zwischen den piqueteros, die sich Nahrungsmittel aneignen wollten, und Arbeitern der Läden des Zentralmarkts von Buenos Aires am 11. Januar verdeutlicht wurde (s. dazu Weltrevolution Nr. 111). Für die IKS ist dieser Gewaltausbruch innerhalb der Arbeiterklasse (eine Veranschaulichung der Methoden, die den verlumpten Schichten des Proletariats eigen sind) ein Ausdruck ihrer Schwäche, nicht ihrer Stärke. Diese gewaltsamen Konfrontationen zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse sind ein Hindernis für ihre Einheit und können nur den Interessen der herrschenden Klasse dienen.

            Die zweite Komponente war die Bewegung der cacerolas (Kochtopfschläger) gewesen. Diese setzte sich vornehmlich aus den „Mittelklassen“ zusammen, die wegen der Beschlagnahme und Abwertung ihrer Ersparnisse im so genannten „kleinen Bankurlaub“ (dem corralito) aufgebracht waren. Diese Schichten sind in einer verzweifelten Situation. „In Argentinien wird die Armut mit hoher Arbeitslosigkeit kombiniert, in die die ‚neuen Armen‘, Ex-Angehörige der Mittelklassen, infolge der zerfallenden gesellschaftlichen Mobilität fallen; die Umkehrung der Immigrationswelle in das Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ (aus einer Website, die Zusammenfassungen der argentinischen Presse enthält). Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Rentner, einige Bereiche des Industrieproletariats teilten mit dem Kleinbürgertum das fürchterliche Los des corralito: Die Mühen eines Lebens voller Arbeit, angespart, um die kümmerliche staatliche Rente aufzubessern, haben sich buchstäblich in Nichts aufgelöst. Jedoch verleiht keines dieser Merkmale der Bewegung der cacerolas einen proletarischen Charakter: Sie bleibt eine Klassen übergreifende Volksrevolte, die von nationalistischem und ‚ultra-demokratischem‘ Denken geprägt ist.

            Die dritte Komponente wird von einer Reihe von Arbeiterkämpfen gebildet. Es hat Streiks von Lehrern in den meisten der 23 Provinzen Argentiniens, eine landesweite, kämpferische Bewegung von Eisenbahnarbeitern und einen Streik von Bankangestellten gegeben. Die Kämpfe im Ramos-Mejias-Krankenhaus in Buenos Aires führten zu Zusammenstößen sowohl mit der uniformierten Polize, als auch mit den Gewerkschaften. Während der letzten beiden Jahre gab es zahllose Mobilisierungen von Arbeitslosen mit denjenigen, die sich engagierten, Straßen im ganzen Land zu blockieren (die berühmten piqueteros).

Selbstverständlich können Revolutionäre einen solchen Kampfgeist, der von der Arbeiterklasse in Argentinien an den Tag gelegt wird, nur begrüßen. Doch wie wir stets gesagt haben, ist der Kampfgeist der Arbeiter, so groß er ist, nicht das einzige, ja, nicht einmal ein Hauptkriterium, das uns ermöglicht, das Kräfteverhältnis zwischen den beiden fundamentalen Klassen in der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, klar zu ermessen. Die erste Frage, die wir beantworten müssen, ist diese: Kann die Dynamik dieser Arbeiterkämpfe, die überall im Land und in vielen verschiedenen Industriebranchen ausgebrochen sind, zu einer Massenbewegung führen, die imstande wäre, die Feuerschneisen zu überspringen, die von der herrschenden Klasse gelegt worden sind (besonders von der demokratischen Opposition und von den Gewerkschaften)? Die Realität der Ereignisse zwingt uns, mit „nein“ zu antworten. Gerade weil die Arbeiterkämpfe zerstreut blieben und sich als unfähig erwiesen, sich zu einer massiven, vereinten Bewegung der gesamten Arbeiterklasse zu entwickeln, zeigte sich das Proletariat in Argentinien nicht imstande, sich selbst an die Spitze der Bewegung des sozialen Protestes zu stellen und den Rest der nicht-ausbeutenden Schichten in sein Kielwasser zu ziehen. Im Gegenteil, weil die Arbeiter außerstande waren, die Führung der Bewegung zu übernehmen, wurden ihre eigenen Kämpfe von der hoffnungslosen Revolte anderer gesellschaftlicher Schichten durchtränkt und vergiftet. Auch wenn sie selbst Opfer des Kollapses der argentinischen Wirtschaft sein mögen, haben Letztere keine historische Zukunft. Für Marxisten wird die einzige Methode, die es uns erlaubt, in solch einer Situation klar zu sehen, in der Frage zusammengefasst: Wer führt die Bewegung an? Welche Klasse hat die Initiative ergriffen und den Ereignissen ihre Dynamik aufgeprägt? Nur wenn sie diese Frage richtig beantworten können, können Revolutionäre zum Fortschritt des Proletariats in Richtung seiner eigenen Befreiung und daher zur Befreiung der Menschheit von dem tragischen Kurs beitragen, auf den der Kapitalismus zusteuert.

Und hier begeht das IBRP einen verhängnisvollen Fehler in der Methode. Es ist nicht das Proletariat, das neben den Studenten die jungen und großen Bereiche des Kleinbürgertums mit sich gezogen hat: Im Gegenteil, die verzweifelte, konfuse und chaotische Revolte wild durcheinander gewürfelter Volksschichten hat die Arbeiterklasse durchtränkt und in die Irre geführt. Schon eine oberflächliche Überprüfung der Positionen, Forderungen und Mobilisierungsmethoden der Nachbarschafts-Versammlungen, die in Buenos Aires gewuchert und sich übers ganze Land ausgebreitet haben, demonstrieren dies mit brutaler Deutlichkeit. Was wurde in der Ankündigung des „weltweiten cacerolazo“ am 23. Februar 2002, die auf ein weites Echo in mehr als 20 Städten auf vier Kontinenten stieß, gesagt? „Globale cacerolazo. Wir sind alle Argentinier – jedermann auf die Straßen in New York – Porto Allegre – Barcelona – Toronto – Montreal (fügt eure Städte und eure Länder hinzu); die räuberische Weltbank – Alca – die Multis – weg mit ihnen allen! Regierungen und Politiker sind korrupt, keiner von ihnen sollte bleiben, keiner von ihnen! Lang leben die Volksversammlungen! Argentinisches Volk, erhebe dich!“ Dieses „Programm“, das all den Ärger über die „Politiker“ artikuliert, ist dasselbe wie jenes, das tagtäglich von jenen selbst ernannten Politikern von der extremen Rechten bis zur extremen Linken und selbst von „ultraliberalen“ Regierungen vertreten wird, die alle wissen, wie man den Ultraliberalismus, die Multis, die Korruption, etc. „kritisiert“.

Darüber hinaus ist diese Bewegung des „Volksprotestes“ stark vom extremen und reaktionären Nationalismus geprägt worden. In allen Demonstrationen der Nachbarschafts-Versammlungen ist dasselbe Ziel bis zum Erbrechen wiederholt worden: „ein anderes Argentinien schaffen“, „unser Land auf eigenen Fundamenten wiederaufbauen“. Auf der Internet-Seite der vielen Nachbarschafts-Versammlungen gab es nationalistische Debatten wie: „Sollen wir die Auslandsschulden zurückbezahlen?“ „Sollen wir den Peso oder den Dollar benutzen?“ Eine Website schlägt lobenswerterweise die „Erziehung und Bewusstwerdung“ der Leute und die Eröffnung einer Debatte über Rousseaus Gesellschaftsvertrag vor und ruft zur Rückkehr zu den Klassikern Argentiniens im 19. Jahrhunderts wie San Martín oder Sarmiento auf. Man muss mit Blindheit geschlagen sein (oder Märchen für bare Münze nehmen), übersähe man, dass dieser Nationalismus auch die Arbeiterkämpfe infiziert hat: Die Arbeiter von TELAM führten ihre Demonstration mit argentinischen Flaggen an; in einem Arbeiterbezirk von Groß-Buenos Aires begann eine Nachbarschafts-Versammlung mit der Ablehnung der Zahlung einer neuen Gemeindesteuer und endete mit dem Singen der Nationalhymmne.

Weil sie Klassen übergreifend und ohne Perspektive war, konnte diese Bewegung nichts anderes tun, als dieselben reaktionären Lösungen fordern, die zur tragischen Situation geführt haben, in die die Bevölkerung gestürzt wurde. Doch diese Wiederholung des Alten, diese Suche nach der guten, alten Zeit ist ein beredtes Zeugnis des Charakters dieser impotenten und zukunftslosen gesellschaftlichen Revolte. Wie von einem Teilnehmer der Versammlungen in aller Offenheit geäußert wurde: „Viele haben gesagt, dass wir keine Vorschläge machen, dass alles, was wir tun können, darin besteht zu opponieren. Und wir können mit Stolz sagen, dass dies richtig ist, wir sind gegen das etablierte System des Neoliberalismus. Wie der Bogen, der durch Unterdrückung überspannt wird, sind wir die Pfeile, die gegen die totalitäre Vorherrschaft des ultra-liberalen Denkens abgeschossen werden. Unsere Aktion wird von unseren Leuten unterstützt werden, Zentimeter für Zentimeter, um das älteste Volksrecht, den Volkswiderstand, auszuüben.“ (entnommen der Website)

Zwischen 1969 und 1973 waren in Argentinien die Ereignisse in Cordoba, der Mendoza-Streik, das Anschwellen der Streiks, die das Land überschwemmten, der Schlüssel zur sozialen Revolution. Obgleich sie weit entfernt von einem aufständischen Charakter waren, markierten diese Kämpfe die Wiederbelebung des Proletariats, das die gesamte politische und gesellschaftliche Tagesordnung des Landes beeinflusste.

Doch im Argentinien vom Dezember 2001 ist die Situation angesichts der Verschlimmerung des kapitalistischen Zerfalls nicht mehr dieselbe. Das Proletariat ist heute mit neuen Schwierigkeiten  konfrontiert, Hindernisse, die noch überwunden werden müssen, um sich selbst zu behaupten und seine Klassenidentität und Autonomie weiterzuentwickeln. Anders als in der Periode zu Beginn der 70er Jahre ist die soziale Lage in Argentinien heute durch eine Klassen übergreifende Bewegung gekennzeichnet, die die Stärke des Proletariats verwässert und sich als unfähig erwiesen hat, mehr als nur flüchtig auf die politische Situation einzuwirken. Die Bewegung der cacerolas hat sicherlich eine große Leistung vollbracht, die es wert ist, ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen zu werden – den Sturz von fünf Präsidenten innerhalb von 15 Tagen. Aber all dies ist nur kurzlebig. Welche Clique auch immer an der Regierung ist, es ist immer noch die Bourgeoisie, die die Macht in Argentinien so wie anderswo in den Händen hält. Nun beklagen sich die Volksversammlungen auf ihren Websites bitterlich darüber, dass sich die Bewegung auf mysteriöse Weise soweit zerstreut hat, dass es dem raffinierten Duhalde gelungen ist, die Ordnung wiederherzustellen, ohne die galoppierende Verarmung wenigstens zu mindern und ohne einen Wirtschaftsplan zu haben, der auch nur zur minimalsten Lösung führt.

Die Lehren aus den Ereignissen in Argentinien

In der gegenwärtigen historischen Periode, die wir als die Zerfallsphase des Kapitalismus bezeichnen, läuft das Proletariat ernsthaft Gefahr, seine Klassenidentität, das Vertrauen in sich selbst zu verlieren, in seine revolutionären Fähigkeiten, sich selbst als eine autonome und bestimmende gesellschaftliche Kraft in der gesellschaftlichen Entwicklung zu etablieren. Diese Gefahr ist das Produkt von mehreren miteinander verknüpften Faktoren:

             der Schlag gegen das Bewusstsein des Proletariats infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks und der Fähigkeit der Bourgeoisie, dies mit dem „Zusammenbruch des Kommunismus“ und dem „historischen Scheitern des Marxismus und des Klassenkampfes“ zu identifizieren;

             das Gewicht des Zerfalls des kapitalistischen Systems, das soziale Bande aushöhlt und eine Atmosphäre der Konkurrenz selbst innerhalb des Proletariats fördert;

             die Angst vor der Politik und Politisierung, die eine Konsequenz der Form ist, die die Konterrevolution (durch die Mittel des Stalinismus aus dem „Inneren“ der proletarischen Bastion und der Parteien der Kommunistischen Internationalen) angenommen hat, und des enormen historischen Schlages ist, der durch die Degeneration zweier der besten Kreationen der politischen Fähigkeiten und des Bewussteins des Proletariats innerhalb des Zeitraums von nur einer Generation ausgeübt worden war: zunächst der sozialistischen Parteien und schließlich, keine zehn Jahre später, der kommunistischen Parteien.

Diese Gefahr könnte letztendlich das Proletariat daran hindern, angesichts des vollkommenen Zusammenbruchs der gesamten Gesellschaft, wohin die historische Krise des Kapitalismus führt, die Initiative zu ergreifen. Argentinien zeigt deutlich diese potenzielle Gefahr: Die allgemeine Lähmung der Wirtschaft und die heftigen Erschütterungen im politischen Apparats der Bourgeoisie konnten vom Proletariat nicht dazu genutzt werden, sich selbst als eine autonome gesellschaftliche Kraft zu etablieren, um für seine eigenen Ziele zu kämpfen und die anderen Gesellschaftsschichten in sein Kielwasser zu ziehen. Untergetaucht in einer Klassen übergreifenden Bewegung, die typisch für den Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft ist, ist das Proletariat in eine sterile und zukunftslose Revolte gezwängt worden.

Aus diesem Grund sind die Spekulationen von den Trotzkisten, Anarchisten und der „Antiglobalisierungsbewegung“ im Allgemeinen über die Ereignisse in Argentinien, die als „Beginn der Revolution“, als eine „neue Bewegung“ oder als „praktische Demonstration, dass eine andere Gesellschaft möglich ist“, dargestellt werden, sehr gefährlich.

Weitaus Besorgnis erregender ist, dass das IBRP diesen konfusen Schwärmereien durch den Beitrag der eigenen Illusionen über die „Stärke des Proletariats in Argentinien“ Vorschub leistet.[iv]

Diese Spekulationen entwaffnen die jungen Minderheiten, die das Proletariat weltweit hervorbringt und die angesichts einer auseinanderbrechenden Welt nach einer revolutionären Alternative suchen. Daher ist es uns wichtig, die Gründe für die Annahme des IBRP zu erklären, dort auf eine „gigantische Klassenbewegung“ gestoßen zu sein, wo sich in Wahrheit nur die Windmühlen der Klassen übergreifenden Revolte bewegen.

Zunächst einmal sei gesagt, dass das IBRP stets das Konzept des historischen Kurses abgelehnt hat, mit dem wir versuchen, die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie in der gegenwärtigen Lage zu verstehen, die mit der historischen Wiederbelebung des Proletariats seit 1968 geschaffen wurde. Für das IBRP erscheint all dies als reiner Idealismus, als ein Absturz in „Prognosen und Vorhersagen“.[v] Seine Ablehnung dieser historischen Methode verleitet es zu einer immediatistischen und empiristischen Sichtweise, sowohl was das Militär als auch was den Klassenkampf angeht. Dabei lohnt es sich, die Analyse des IBRP über den Golfkrieg in Erinnerung zu rufen, die ihn als „den Beginn des III. Weltkrieges“ darstellte. Dieselbe photographische Methode verleitete das IBRP dazu, die Palastrevolution, die das Ceausescu-Regime in Rumänien zu Fall brachte, als eine „Revolution“ darzustellen: „Rumänien ist das erste Land in den Industrieregionen, wo die Weltwirtschaftskrise eine wahre und authentische Volksrevolution zum Leben erweckt hat, die in den Sturz der Regierung mündete (...) in Rumänien sind alle objektiven und fast alle subjektiven Bedingungen versammelt, um den Aufstand in eine wahre und authentische soziale Revolution umzuwandeln.“ („Ceausescu ist tot, aber der Kaptialismus ist immer noch am Leben“ in Battaglia Comunista, Januar 1990)

Wer jegliche Art von Analyse des historischen Kurses ablehnt, liefert sich auf Gedeih und Verderb den unmittelbaren Ereignissen aus. Das Fehlen jeglicher Methode, um die historische Weltlage und das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu analysieren, verleitet das IBRP zur Idee, dass wir an dem einen Tag am Rande des III. Weltkriegs stehen und an dem anderen Tag vor einer proletarischen Revolution. Wie das Proletariat – gemäß der „analytischen Methode“ des IBRP – von einer Situation, in der es sich für die Vorbereitung eines Dritten Weltkrieges hinter der Fahne des Nationalismus anwerben lässt, unversehens in eine Situation gerät, wo es bereit ist, einen revolutionären Angriff zu starten, bleibt für uns ein Geheimnis, und wir warten noch immer auf eine kohärente Erklärung des IBRP für diese Sprünge.

Im Gegensatz zu diesem demoralisierenden Hin und Her sind wir selbst davon überzeugt, dass nur eine globale und historische Vision die Revolutionäre davor bewahrt, zum Spielball der Ereignisse zu werden und fälschlicherweise Volksrevolten für proletarischen Klassenkampf zu halten.

Das IBRP verspottet ohne Ende unsere Theorie über den Zerfall des Kapitalismus, indem es sagt, dass „sie benutzt wird, um alles zu erklären“. Dennoch ist das Konzept des historischen Kurses sehr wichtig, um eben diese Unterscheidung zwischen Revolten und dem Klassenkampf des Proletariats zu machen. Solch eine Unterscheidung ist wichtig in unserer Zeit. Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus führt in der Tat zu Protesten, Tumulten, Zusammenstößen zwischen Klassen, Schichten und Fraktionen. Die Revolte ist die faule und welke Frucht einer in ihren Grundfesten erschütterten, sterbenden Gesellschaft. Sie hilft nicht, ihre Widersprüche zu überwinden, sondern verschlimmert sie stattdessen. Sie ist der eine Teil der Alternative, die im Kommunistischen Manifest für den Klassenkampf in der ganzen Geschichte dargestellt worden war: „ein Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endet oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“. Es ist diese zweite Alternative, der „gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“, die das Fundament für das Konzept des Zerfalls des Kapitalismus bildet. Dies ist das Gegenteil zum Klassenkampf des Proletariats, der, falls er auf seinem eigenen Klassenterrain Ausdruck findet und seine Autonomie durch sein Streben nach Ausweitung und Selbstorganisation bewahrt, das Potenzial besitzt, um die „selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ (ebenda) zu werden. All die Bemühungen der bewusstesten Elemente des Proletariats und, etwas allgemeiner, der kämpfenden Arbeiter müssen danach trachten zu vermeiden, die Volksrevolte mit dem autonomen Klassenkampf zu verwechseln, müssen danach streben, das Gewicht des allgemeinen gesellschaftlichen Zerfalls daran zu hindern, dass das Proletariat in die Sackgasse blinder Revolten gezerrt wird. Während das Terrain der Revolte zu einer fortschreitenden Auszehrung der Fähigkeiten des Proletariats führt, führt das Terrain des Klassenkampfes zur revolutionären Zerstörung des kapitalistischen Staates in allen Ländern.

Die proletarische Perspektive

Während die Ereignisse in Argentinien klar die Gefahr aufzeigen, der das Proletariat gegenübersteht, falls es zulässt, auf das verrottete Terrain des Klassen übergreifenden „Volks“aufstandes gezerrt zu werden, wird das Endspiel der sozialen Evolution zur Barbarei oder Revolution jedoch nicht hier ausgespielt werden, sondern in den weltgrößten Arbeiterkonzentrationen und besonders in Westeuropa.

“Eine soziale Revolution ist nicht einfach das Zerschlagen der Ketten, der Zusammenbruch der alten Gesellschaft. Sie ist auch und gleichzeitig eine Handlung zum Aufbau einer neuen Gesellschaft. Sie ist kein mechanischer Vorgang, sondern eine gesellschaftliche Tatsache, die mit den Antagonismen der menschlichen Interessen, mit dem Streben und den Kämpfen der Klassen verknüpft ist.“ (International Review Nr. 31, engl./frz./span.) Die mechanistischen und vulgären materialistischen Visionen erblicken in der proletarischen Revolution nur einen Aspekt in der Explosion des Kapitalismus, doch sie sind nicht in der Lage, den wichtigsten und entscheidendsten Aspekt zu sehen – die revolutionäre Zerstörung des Kapitalismus durch die bewusste Aktion der proletarischen Klasse, das heißt, durch den, wie Lenin und Trotzki ihn nannten, „subjektiven Faktor“. Diese vulgärmaterialistischen Sichtweisen verhindern die Wahrnehmung des Ernstes der historischen Situation, die gekennzeichnet ist durch den Eintritt des Kapitalismus in die letzte Phase seiner Dekadenz: seinen Zerfall. Stattdessen gibt sich der mechanistische und betrachtende Materialismus mit dem „objektiv revolutionären“ Aspekt zufrieden: mit der unerbittlichen Verschlimmerung der Wirtschaftskrise, den gesellschaftlichen Erschütterungen, der Verkommenheit der herrschenden Klasse. Der Vulgärmaterialismus geht leichtfertig über die Gefahren für das Bewusstsein des Proletariats und für die Entwicklung seiner Einheit und seines Selbstvertrauens hinweg, die im Zerfall des Kapitalismus verborgen sind (genauso wie in seinem ideologischen Gebrauch durch die herrschende Klasse).[vi]

Doch der Schlüssel zur revolutionären Perspektive in unserer Epoche ist gerade die Fähigkeit des Proletariats, die „subjektiven“ Elemente (Selbstvertrauen, Vertrauen in seine revolutionäre Zukunft, Einheit und Klassensolidarität) in seinem Kampf zu entwickeln, die es ihm in wachsendem Maße erlauben, dem Gewicht des sozialen und ideologischen Zerfalls des Kapitalismus entgegenzuwirken und Letzteren zu überwinden. Und in eben jenen großen Arbeiterkonzentrationen Westeuropas existieren die günstigsten Bedingungen für diese Entwicklung. „Soziale Revolutionen fanden nicht da statt, wo die herrschende Klasse am schwächsten war und ihre Strukturen am wenigsten entwickelt waren, sondern im Gegenteil da, wo ihre Strukturen hinsichtlich der Produktivkräfte den höchsten Punkt erreicht haben und wo die Klasse, die die neuen Produktionsverhältnisse trägt und dazu bestimmt ist, die alte Klasse zu ersetzen, am stärksten ist (...) Marx und Engels richteten ihre Perspektive nach den Punkten aus, wo das Proletariat am stärksten, konzentriertesten und am besten positioniert war, um die gesellschaftliche Umwandlung durchzuführen. Obwohl die Krise die unterentwickelten Länder gerade infolge ihrer wirtschaftlichen Schwäche und ihres Mangels an Spielraum für Manöver am brutalsten trifft, dürfen wir nicht vergessen, dass die Quelle der Krise in der Überproduktion, also in den Hauptzentren der kapitalistischen Entwicklung liegt. Dies ist ein weiterer Grund, warum die Bedingungen für eine Antwort auf die Krise und für ihre Überwindung im Wesentlichen in den Hauptzentren ruhen.“[vii]

In der Tat muss die deformierte Vision des IBRP, die einen Klasseninhalt in den Ereignissen in Argentinien zu erblicken vermeint, im Zusammenhang mit seiner Analyse des Potenzials des Proletariats in den peripheren Ländern des Kapitalismus betrachtet werden, die insbesondere in seinen „Thesen über kommunistische Taktik in den Ländern der kapitalistischen Peripherie“ zum Ausdruck kommt, welche auf dem 6. Kongress von Battaglia Comunista verabschiedet worden waren (veröffentlicht in Italien in Prometeo, Nr. 13, Juni 1997, und auf Englisch in Internationalist Communist Nr. 16). Diesen Thesen zufolge schaffen die Bedingungen in den Ländern der Peripherie „ein größeres Potenzial für die Radikalisierung des Bewusstseins als in den großen Metropolen“. Infolgedessen „besteht die Möglichkeit, dass die Zirkulierung des kommunistischen Programms unter den Massen leichter sein wird und der ‚Aufmerksamkeitsgrad‘, den kommunistische Militante dort erzielen können, höher ist als in den gesellschaftlichen Gebilden des fortgeschrittenen Kapitalismus.“  Wir haben diese Analyse bereits im Detail zurückgewiesen (s. International Review Nr. 100, „The class struggle in the countries of the capitalist periphery“, engl./frz./span.Ausgabe), so dass es unnötig ist, dies hier erneut zu tun. Was wir dennoch sagen wollen, ist, dass die verzerrte Sichtweise des IBRP über die Bedeutung der gegenwärtigen Revolte in Argentinien eine Veranschaulichung nicht nur seiner Unfähigkeit ist, die Idee des kapitalistischen Zerfalls oder des historischen Kurses zu begreifen, sondern auch der Unrichtigkeit dieser Thesen.

Unsere Analyse bedeutet absolut nicht, dass wir die Kämpfe des Proletariats in Argentinien und in anderen Zonen, wo der Kapitalismus schwächer ist, mit Verachtung strafen oder unterschätzen. Sie bedeutet einfach, dass Revolutionäre, als die Vorposten des Proletariats und mit einer klaren Vision von der Marschrichtung der proletarischen Bewegung als Ganzes ausgestattet, die Verantwortung haben, deutlich und exakt auf die Stärken und Grenzen des Arbeiterkampfes hinzuweisen, darauf, wer die Verbündeten sind und welche Richtung sein Kampf einschlagen sollte. Um dem gerecht zu werden, müssen Revolutionäre sich mit all ihrer Kraft der opportunistischen Versuchung – durch Ungeduld, Immediatismus oder einen historischen Mangels an Vertrauen in das Proletariat – entgegenstemmen und dürfen nicht eine Klassen übergreifende Revolte (wie wir sie in Argentinien gesehen haben) mit einer Klassenbewegung verwechseln.

Adalen,  10. März 2002


[i] Die Deklaration befindet sich auf der Website des IBRP (www.ibrp.org) und trägt den Titel „A lesson from Argentina: Either the Revolutionary Party and Socialism or Generalised Poverty and War“.

[ii] s. unsere Artikel über den Zusammenbruch des Ostblocks in der Internationalen Revue Nr. 12, über die Frage „Why the proletariat has not yet overthrown capitalism?“ in der International Review Nr. 103-104 (engl./frz./span. Ausgabe) sowie den „Bericht über den Klassenkampf“ in der letzten und vorliegenden Nummer der Internationalen Revue Nr. 30.

[iii] Die Zeitung Pagina vom 12. Januar 2002 veröffentlichte „einen sensationellen Bericht, demzufolge  in einigen Wohngegenden von Groß-Buenos Aires die Plünderungen sich von den Geschäften zu den Wohnungen verlagert haben“.

[iv] Im Gegensatz dazu hat der PCI in Le Proletaire eine klare Position eingenommen, was schon im Titel dieses Artikels deutlich wird: „Die Cacerolazos können Präsidenten stürzen. Um gegen den Kapitalismus zu kämpfen, ist der Klassenkampf notwendig“, der den Klassen übergreifenden Charakter der Bewegung entlarvt und sagt, dass „ein Weg, dieser Politik zu trotzen, nicht existiert: Der Kampf gegen den Kapitalismus, der Arbeiterkampf vereint alle Proletarier nicht hinter populistischen Absichten, sondern hinter jenen der Klasse; der Kampf ist nicht national, sondern international; das endgültige Ziel des Kampfes ist nicht die Reform, sondern die Revolution.“

[v] zu unserer Auffassung über den historischen Kurs siehe die Artikel in der Internationalen Revue Nrn. 5, 29 und der vorliegenden Nummer. Wir haben mit dem IBRP über diese Konzeption in Artikeln der International Review Nr. 36 und 89 (engl./frz./span. Ausgabe) polemisiert.

[vi] „Die verschiedenen Elemente, die die Stärke der Arbeiterklasse bilden, stoßen direkt mit den verschiedenen Erscheinungsweisen des ideologischen Zerfalls zusammen:

– solidarische und kollektive Aktionen sehen sich einer Atomisierung des „Nach-mir-die-Sintflut“ gegenüber;

– das Bedürfnis nach einer Organisation steht dem gesellschaftlichen Zerfall gegenüber, der Desintegration von sozialen Beziehungen, auf die jede Gesellschaft baut;

– das Vertrauen des Proletariats in die Zukunft und in seine eigene Stärke wird ständig durch die alles durchdringende Hoffnungslosigkeit und den Nihilismus innerhalb der Gesellschaft untergraben;

– Bewusstsein, Klarheit, der zusammenhängende und einheitliche Gedanke, der Sinn für Theorie haben eine harte Zeit, um sich der Flucht in die Illusion, in Drogen, Sekten, in den Mystizismus, die Ablehnung oder Zerstörung des Gedankens zu erwehren, die für unsere Epoche kennzeichnend sind.“ (“Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“ in der Internationalen Revue Nr. 13)

[vii] ebenda

Geographisch: 

Theoretische Fragen: 

Erbe der kommunistischen Linke: