Antwort an einen Leserbriefschreiber zum Thema: Rassismus und Spaltung der Arbeiterklasse

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Lieber Genosse,

Dein Leserbrief dreht sich um die Themen Rassismus und Spaltung der Arbeiterklasse, und zwar anhand der Protestkundgebungen von Roma in der Ostslowakei im Frühjahr 2004. Die Roma protestierten gegen die Kürzung der Sozialhilfe um die Hälfte. Die Demonstration wurde von der Polizei auseinandergejagt, wobei es zahlreiche Verletzte und auch einen Toten (natürlich unter den Roma) gab. Du schreibst, dass für Dich grotesk gewesen sei, „dass die ‚slawischen’ Arbeiter einfach zusahen, obwohl viele von ihnen ebenfalls von dieser Halbierungsmaßnahme hart getroffen werden“. Du gehst weiter gestützt auf verschiedene Quellen davon aus, dass der Rassismus gegen Roma in Osteuropa weit verbreitet ist und sagst, dass Du es für nötig hältst, dass „Kommunisten dazu Stellung beziehen und eine Taktik gegenüber dem Rassismus entwickeln (...)

Lieber Genosse,

Dein Leserbrief dreht sich um die Themen Rassismus und Spaltung der Arbeiterklasse, und zwar anhand der Protestkundgebungen von Roma in der Ostslowakei im Frühjahr 2004. Die Roma protestierten gegen die Kürzung der Sozialhilfe um die Hälfte. Die Demonstration wurde von der Polizei auseinandergejagt, wobei es zahlreiche Verletzte und auch einen Toten (natürlich unter den Roma) gab. Du schreibst, dass für Dich grotesk gewesen sei, „dass die ‚slawischen’ Arbeiter einfach zusahen, obwohl viele von ihnen ebenfalls von dieser Halbierungsmaßnahme hart getroffen werden“. Du gehst weiter gestützt auf verschiedene Quellen davon aus, dass der Rassismus gegen Roma in Osteuropa weit verbreitet ist und sagst, dass Du es für nötig hältst, dass „Kommunisten dazu Stellung beziehen und eine Taktik gegenüber dem Rassismus entwickeln (...) Lenin soll etwa zu Anfang des 20. Jahrhunderts einmal in der Immigrantenfrage - in Russland gab es das ‚Problem’, dass aus allen vor allem den östlichsten Regionen des Zarenreiches wandernde Proletarier in die eher westlichen Zentren drängten - gesagt haben: ‚Lasset sie kommen, auf dass wir sie organisieren!’ Es hat tatsächlich einen fortschrittlichen Charakter, wenn Proletarier aus der Provinz und der Peripherie in die Zentren des Kapitalismus wandern, weil sie hier die proletarische Armee stärken, ganz besonders dann, wenn wir Kommunisten sie ihrer Diskriminierung, ihrer Assimilierung und Integrierung durch den bürgerlichen Staat zum Trotz, wenn wir sie agitieren. Der Kampf gegen Rassismus ist kein gesonderter Teil des Kampfes, sondern integraler Teil des Gesamtkampfes gegen den Kapitalismus. (...) Wenn in einem bürgerlichen Staat Schutzgesetze gegen Diskriminierung ... gegen Folter bestehen, fordern wir deren Einhaltung und denunzieren deren Nichteinhaltung und deren Alibifunktion.“ Im Anhang zu Deinem Brief weist Du weiter auf die Gefahr hin, dass sich Arbeitsimmigranten mit ihrem Herkunftsstaat identifizieren, was sich als politisches Hindernis auf dem Weg zur Kooperation mit der proletarischen Weltgemeinschaft erweise. Schliesslich kommst Du noch auf Gefahren für die Proletarier der Roma-Minderheit zu sprechen: „Die Proletarier der Roma dürfen nicht den Fehler machen, sich politisch mit den Minderheiten-Organisationen zu identifizieren. Sie müssen sich politisch auf das internationale Klassenterrain begeben. Nur auf dem internationalen Klassenterrain können sie ihre Klassenschwestern und -Brüder finden. (...) Auch in der Roma-Minderheit-Gruppe gibt es die Spaltung in Proletarier und Bourgeois.“ 

Wir möchten mit unserer Antwort gleich mit diesem letzten Gedanken beginnen, da er letztlich den Rahmen für die Stellungnahme zu den übrigen Ausführungen gibt: Entscheidend ist bei jedem Kampf, bei jedem Protest, bei jeder Bewegung, auf welchem Klassenterrain sie sich befinden. Ist der Kampf ein proletarischer oder ein Klassen übergreifender? Die Arbeiterklasse hat ihre spezifischen Interessen. Sie muss in ihren Kämpfen darauf achten, dass sie die Kontrolle über ihre Mittel und Ziele nicht verliert; sie muss ihre Selbständigkeit gegenüber anderen Klassen (Bourgeoisie, Kleinbürgertum, Lumpenproletariat) und gegenüber den Organen des Staates (Gewerkschaften) verteidigen. Über diese Grundsätze sind wir uns wahrscheinlich einig.

Weniger klar ist aufgrund der vorhandenen Informationen der genaue Charakter der Proteste der Roma vor gut einem Jahr. Es spricht aber vieles dafür, dass sich die Roma als Leute, die die gleiche Sprache sprechen, zur Wehr setzten, und nicht als Arbeiter. Aus den Zeitungsberichten, die Du uns seinerzeit zukommen liessest, ergibt sich nicht, dass sich primär die Roma-Arbeiter an den Protestkundgebungen versammelt hätten. Vielmehr veranstalteten anscheinend die Roma-Familien als Roma, eben klassenübergreifend, den Protest. Dass beispielsweise irgendwo Arbeiter in einen Streik getreten wären, liess sich den Meldungen aus der Presse (die natürlich die bürgerliche ist und mit Vorsicht genossen werden muss) nicht entnehmen. Es ist ohnehin davon auszugehen, dass sich primär Sozialhilfeempfänger an diesen Protestaktionen beteiligten, die zwar zum grösseren Teil zur Arbeiterklasse gehören dürften, aber ohne Beteiligung von Arbeitern, die noch im Produktionsprozess stehen, einen schweren Stand haben mussten. Dies erklärt wohl auch zu einem guten Teil, weshalb anscheinend nur Roma an den Kundgebungen teilnahmen, denn wenn sich Arbeiter in den Betrieben gegen Angriffe auf die Lebensbedingungen zur Wehr setzen, spielen Hautfarbe und Muttersprache meistens keine Rolle mehr.

Wenn sich Roma als Volksgruppe zur Wehr setzen, kann auch kein Gefühl einer Klassenidentität aufkommen, selbst wenn die meisten Proletarier wären (was im konkreten Fall alles andere als verbürgt ist). Dies ist in der heutigen Zeit die grosse Herausforderung für die Arbeiterklasse, nicht nur am östlichen Rand von Mitteleuropa, sondern selbst dort, wo sich die starken Konzentrationen der Arbeiterklasse befinden: Deutschland, Frankreich, Italien, Grossbritannien etc. Die Arbeiter müssen sich wieder als Klasse wahrnehmen, begreifen und Vertrauen in ihre Stärke gewinnen. Dieser Prozess wird aber voraussichtlich zuerst in den Zentren der kapitalistischen Wirtschaft in Gang kommen - er ist bereits in Gang, wenn auch erst schüchtern und uneinheitlich. Die Proteste von verarmten Bauern in Bolivien, von Arbeitslosen in Argentinien, von Roma in der Ostslowakei sind zwar verständlich, aber meist nicht nur ohnmächtig, sondern darüber hinaus dazu verdammt, auf dem Roulette-Tisch der Bourgeoisie von Gewerkschaften, Piqueteros, der Mafia, NGOs etc. hin- und hergeschoben zu werden (vgl. dazu auch den Artikel des NCI in der neusten Internationalen Revue Nr. 35 „Die Mystifikation der Piqueteros in Argentinien“). Es sind diese bürgerlichen Organisationen, die daraus ihren Nutzen ziehen, manchmal die einen, manchmal die anderen - in jedem Fall jede gegen jede.

Wir teilen Deine Empörung gegenüber dem Rassismus, gegenüber jeder Art von Pogrommentalität. Wir haben bereits im letzten längeren Brief (vom 20. Februar) auf die Wichtigkeit einer proletarischen Ethik hingewiesen. Aber für die Lage der Roma in Osteuropa ist der „Rassismus der Slawen“ (Du sagst es zwar nicht so, aber den Gedanken konsequent zu Ende geführt, bedeutet er dies) weder der Kern des Problems noch der Ansatzpunkt für eine Lösung. Der Schlüssel liegt vielmehr, wie Du richtig mit Deinem Hinweis auf den Internationalismus vermutest, in der Erkenntnis der Arbeiter welcher Zunge auch immer, dass sie alle Arbeiter sind und ein gemeinsames Interesse haben: dasjenige an der Abschaffung der Lohnsklaverei und der Profitlogik.

Zu den „Schutzgesetzen gegen Diskriminierung und Folter“: Wir sind damit einverstanden, dass eine revolutionäre Organisation die Nichteinhaltung dieser Gesetze und deren Alibifunktion entlarven muss. Aber „deren Einhaltung“ zu „fordern“, ist nicht unsere Funktion - im Gegenteil: Dies würde die Illusion nähren, dass ihnen doch irgendwie noch eine positive, progressive Funktion zukomme. Und genau diese Lüge müssen wir ja schonungslos als solche beleuchten und zerreissen. Die Demokratie gehört auf den Müllhaufen der Geschichte, sie soll nicht mehr eingefordert werden, nicht einmal in Teilaspekten.

Was den von Dir zitierte Satz Lenins betrifft, so darf man nicht vergessen, dass der Kapitalismus zur damaligen Zeit (Anfang des 20. Jahrhunderts) noch eine andere Dynamik hatte als heute. Die relativ hoch entwickelte Industrie im Westen des Zarenreichs, war noch in der Lage, die anströmenden proletarisierten oder sich proletarisierenden Bauern in den Produktionsprozess zu integrieren, ihnen Arbeit zu geben und sie als Arbeitskräfte auszubeuten. Die Putilov-Werke in St. Petersburg waren die grösste Fabrik der Welt. Wie fürchtet sich dagegen das deutsche Kapital heute vor einer Öffnung der EU-Tore für die türkischen Arbeiter! Heute findet gewissermassen der umgekehrte Prozess statt: Es sind nicht mehr die Bauern aus der Peripherie, die sich in den Zentren proletarisieren, sondern Arbeiter von überall, die auch im Zentrum keine Anstellung mehr finden und in der Konsequenz der absoluten Verarmung preisgegeben sind. Der Kapitalismus ist in seiner Endphase angelangt, wo er sein „letztes Wort“ spricht - in seiner Zerfallsphase: „Man begreift die Narrheit der ökonomischen Weisheit, die den Arbeitern predigt, ihre Zahl den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals anzupassen. Der Mechanismus der kapitalistischen Produktion und Akkumulation passt diese Zahl beständig diesen Verwertungsbedürfnissen an. Erstes Wort dieser Anpassung ist die Schöpfung einer relativen Überbevölkerung oder industriellen Reservearmee, letztes Wort das Elend stets wachsender Schichten der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht des Pauperismus.“ (Marx, Kapital, MEW 23, 674)       

Die Zeit des Kapitalismus ist abgelaufen; doch nicht nur dies - sie läuft mittlerweile auch gegen die Arbeiterklasse. Die Bedingungen für die proletarische Revolution werden nicht besser, sondern mit jedem Tag schwieriger. Dies war vor 100 Jahren wesentlich anders. Insofern gilt auch für den von Dir zitierten Satz Lenins: Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Oder wie Engels sagte: „Darin aber grade lag die wahre Bedeutung und der revolutionäre Charakter der Hegelschen Philosophie (...), dass sie der Endgültigkeit aller Ergebnisse des menschlichen Denkens und Handelns ein für allemal den Garaus machte.“ (MEW 21, 267) Eine Invarianz ist dem Marxismus fremd, zutiefst zuwider.

Wir möchten diesen Brief hiermit einstweilen abschliessen. Vielleicht hat es andere wichtige Aspekte in Deinem Schreiben, auf die wir noch nicht eingegangen sind. Wir haben nicht zu jedem Punkt, mit dem wir einverstanden sind, ausdrücklich Stellung genommen, sondern sind eher auf diejenigen Fragen eingegangen, die für uns in Deinem Brief unklar oder mit denen wir nicht einverstanden sind. Schreib uns aber gerne, wenn Du auch eine Stellungnahme zu anderen, hier nicht behandelten Themen wünschst. Und selbstverständlich sind wir an Deiner Replik auf unsere Antwort interessiert.

Mit den besten Wünschen und Grüssen

IKS

 

Erbe der kommunistischen Linke: