Die 80er Jahre: Jahre der Wahrheit

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Die Geschichte unterwirft sich nicht den Daten des Kalenders, und dennoch werden die Jahrzehnte in den Köpfen der Menschen oft mit bestimmten Zeitläuften der Geschichte verbunden. Wenn man von den 30er Jahren spricht, denkt man sofort an die große Krise, die den Kapitalismus vor 50 Jahren erschütterte; wenn man sich an die 40er Jahre erinnert, denkt man zunächst an den Krieg; an diesen Krieg, der Menschenleben in der Größenordnung eines Landes wie Ita­lien oder Frankreich vernichtet hat. Wel­ches Bild verbinden wir jetzt zu Beginn der 80er Jahre mit den 70er Jahren, und was wird das hervorstechende Merkmal der 80er Jahre sein?

Die Krise?

Die Krise hat den 70er Jahren ihren Stempel aufgedrückt und wird die 80er noch mehr kennzeichnen. Zwischen den 60er und den 70er Jahren gab es eine ganz reale Veränderung der Weltwirtschaftslage. Die 60er Jahre waren die letzten Jahre des Wiederaufbaus, die Jahre, in denen der letzte Glanz eines künstlichen „Wohlstands“ noch strahlte, welcher auf den flüchtigen Mechanismen des Wiederaufbaus des industriellen und wirtschaftlichen Potentials Europas und Japans beruhte, das im Krieg zerstört worden war. So­bald dieses Potential wiederhergestellt war, fand sich der Kapitalismus in der tödlichen Sackgasse wieder: die Sättigung der Märkte. Deshalb unterscheidet sich das jetzt abgeschlossene Jahrzehnt von dem vorangegangenen in wirtschaftlicher Hin­sicht: „Wohlstand“ in den 60er Jahren, Flau­te in den 70ern. Dagegen wird es zwischen den 70er und den 80er Jahren keinen so gearteten Unterschied geben, außer dass die ökonomische Stagnation sich noch verschärfen wird.

Das menschliche Elend und die Massaker?

Die vor uns stehenden Jahre kündigen sich als besonders „reichhaltig“ in dieser Hinsicht an: Nie zuvor hat es so viele Hungersnöte und so viele Völkermorde auf der ganzen Welt gegeben. Durch die vielen sog. „Befreiungen“ der Völker, durch die ihnen gewährten Hilfeleistungen (die im Allgemeinen auf die Lieferung von Mordinstrumenten hinauslaufen) werden die Großmächte sie bald von der Weltkarte radiert haben. Diese Apokalypse ist nicht neu. Im kommenden Jahrzehnt wird es mit der Vertiefung der Krise immer mehr Kambodschas geben, ungeachtet all der Petitionen und all der „humanitären Kampagnen“. Doch handelt es sich hier schlicht um ein noch fürchterlicheres Beispiel für die Schrecken, die seit dem II. Weltkrieg ununterbrochen erfolgt waren und die einen großen Teil der Menschheit in die totale Hölle gestürzt haben. In diesem Sinn kann man trotz der Tatsache, dass sich die Massaker noch vervielfachen werden, das kommende Jahrzehnt nicht als das Jahrzehnt der Völkermorde bezeichnen, unterscheidet es sich doch in dieser Hinsicht nicht von den vorherigen.

Jedoch beweisen die Ereignisse der letzten Zeit, dass sehr wichtige Veränderungen in der Tiefe der Gesellschaft he­ranreifen. Diese betreffen weniger die öko­nomische Infrastruktur oder das Ausmaß des Elends ihrer Mitglieder, als vielmehr die Daseins- und Handlungsweisen der grund­legenden Klassen der Gesellschaft: Bour­geoisie und Proletariat.

In einer gewissen Weise waren die 70er Jah­re die Jahre der Illusion. Selbst in den großen Metropolen des Kapitalismus wurden Bourgeoisie und Proletariat mit der nackten Reali­tät der Krise konfrontiert, häufig auf brutale Weise. Aber gleichzeitig hatten, vor allem in den am weitesten entwickelten Ländern, diese beiden Klassen, welche über das Schicksal der Welt entscheiden, die Tendenz gehabt, die Augen vor dieser Realität zu verschließen: die Bourgeoisie, weil ihr der Anblick ihres historischen Scheiterns un­erträglich ist, das Proletariat, teil­s weil es unter den von der herrschenden Klas­se verbreiteten Illusionen leidet, teils weil es ihm nicht leicht fällt, sich der ungeheuren histo­rischen Verantwortung bewusst zu werden und sie zu schultern, welche die Krise und das Verständnis ihrer Folgen der revolutionären Klasse aufbürdet. Angesichts der sich entwickelnden Krise hat sich die Bourgeoisie jahrelang an die Hoffnung geklammert, dass es ir­gendwelche Lösungen gibt. Und es trifft zu, dass seit 1967 noch jeder regelmäßig wiederkehrenden Krise (1967, 1970-71, 1974-75), die von einer chronischen Inflation begleitet wurde, ein „Aufschwung“ gefolgt war. Während des „Aufschwungs“ von 72-73 verzeichneten übrigens die west­lichen Länder (vor allem die USA) die höchsten Wachstumsraten seit dem Krieg. Obwohl es Wellen von galoppierender Inflation gab, war eine bestimmte deflationäre Regierungspolitik dabei erfolgreich, die Inflationsrate auf weniger als fünf Prozent zu halten; es genügte also, diesen Ländern nachzueifern, und alles ist gut. Natürlich war sich die Bourgeoisie bewusst, dass die „konjunkturbelebenden“ Programme nur die Inflation belebten und dass die „Konjunkturprogramme“ eine neue… Rezession hervorriefen. Doch selbst wenn die Dinge nicht wie geplant liefen, konnte sich die Bourgeoisie nicht von dem Gedanken lösen, dass, wenn sie einfach fortfährt, das tote Gewicht der Wirtschaft wegzuschneiden und Austerität sowie Arbeitslosigkeit durchzusetzen, eines Tages die Geschäfte zur Normalität zurückkehren würden.

Heute hat die Bourgeoisie diese Illusion aufgegeben. Nach dem Scheitern aller Heilmittel, die sie ihrer Wirtschaft verabreicht hat und die diese schließlich noch mehr vergiftet haben, hat die Bourgeoisie zwar halbherzig, aber schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass es keine Lösung für die Krise gibt. Sie stellt fest, dass sie sich in einer Sackgasse befindet und dass ihr nur noch die Flucht nach vorn übrigbleibt. Für die Bour­geoisie ist diese Flucht nach vorn der Krieg.

Dieser Marsch in den Krieg ist nichts Neues; in Wirklichkeit hat der Kapitalismus seit dem II. Weltkrieg nie abgerüstet (wie das nach Ende des I. Weltkrieges wenigstens teilweise der Fall gewesen war). Und seit dem Ende der Sechziger, als der Kapitalismus erneut eine Verschlechterung seiner Wirtschaftslage erlebt hatte, haben sich die imperia­listischen Spannungen unaufhörlich verschärft und die Rüstungsausgaben phänomenal er­höht. Heute wird in jeder Minute eine Million Dollar in die Herstellung von Mord- und Zerstörungsmitteln gepumpt. Bis jetzt hatte sich die Bourgeoisie noch halb unbewusst auf einen neuen Krieg zubewegt. Die objektiven Bedürfnisse ihrer Wirt­schaft haben sie in Richtung Krieg gedrängt, doch war sich die Bourgeoisie noch nicht  wirklich im Klaren, dass der Krieg in der Tat die einzige Perspektive ist, die ihr System der Menschheit anzubieten hat. Die Bourgeoisie ist sich nicht völlig der Tatsache bewusst, dass ihre Unfähigkeit, das Proletariat für den Krieg zu mobilisieren, das einzige ernsthafte Hindernis bildet, das den Weg dahin verstellt.

Mit dem totalen Scheitern ihrer Ökonomie realisiert die Bourgeoisie heute langsam ihre wahre Lage und reagiert darauf. Auf der einen Seite bewaffnet sie sich bis an die Zähne. Überall werden die Verteidigungsausgaben in schwindelerregen­de Höhen getrieben. Die ohnehin fürchterlichen Waffen werden durch noch „effizientere“ (Backfire, Pershing 2, Neu­tronenbomben, usw.) ersetzt. Aber die Bourgeoisie handelt nicht nur auf militärischer Ebene. Wie wir in unserer Stellungnahme zu der Iran-USA-Krise (s. Weltrevolution Nr. 1) hingewiesen haben, hat die Bourgeoisie auch eine massive Kampagne unternommen, um eine Kriegspsychose zu entfesseln, mit der die Bevölkerung auf ihre mehr und mehr kriegerischen Absichten vor­bereitet werden soll. Weil ein Krieg denkbar ist und weil die Menschen nicht auf diese Perspektive vorbereitet sind, müssen alle Vorwände ausgenutzt werden, um eine „nationale Einheit, einen „Nationalstolz“ zu schaffen sowie die Öffentlichkeit von schäbigen Interessenskämpfen (gemeint ist der Klassenkampf) abzulenken und sie zum Altruismus des Patriotismus und der Verteidigung der Zivilisation gegen die bedrohlichen Kräfte der Barbarei wie den islamischen Fanatismus, die Geldgier der Araber, den Totalitarismus oder Imperialismus zu lenken. So lauten die Reden, die die herr­schende Klasse überall auf der Welt und immer häufiger hält.

Die Bourgeoisie ändert ihre Sprache gegenüber der Arbeiterklas­se. Solange eine Lösung der Krise möglich schien, hat sie die Ausgebeuteten mit illusorischen Versprechungen eingeschläfert: Akzeptiert heute die Austerität, und morgen wird alles besser. Die Linken waren mit dieser Art von Lüge sehr erfolgreich: Die Krise ist nicht das Ergebnis der unüberwindbaren Widersprüche der kapitalistischen Produk­tionsweise, sondern schlicht eine Frage des „schlechten Managements“ oder der „Habgie­r der Monopole“ und anderer „Multis“. Man brauche nur die Linke zu wählen, und alles würde anders werden! Heute hat die­se Sprache ihre Wirkung verloren. Wo die Linke an die Macht gelangt war, hat sie nichts Besseres als die Rechte vollbracht und war, vom Stand­punkt der Arbeiterklasse aus betrachtet, sogar noch schlechter. Da heute die Versprechungen einer „goldenen Zukunft“ niemanden mehr täu­schen können, hat die herrschende Klasse andere Register gezogen. Nun wird das Gegenteil heraus trompetet: Das Schlimmste steht uns noch bevor, und wir können nichts dagegen tun, „die anderen sind schuld“, es gibt keinen Ausweg. Dabei hofft die Bourgeoisie, die nationale Einheit herzustellen, die Churchill unter anderen Umständen erlangte, indem er der britischen Bevölkerung „Blut, Schweiß und Trä­nen“ versprach.

In dem Maße wie die Bourgeoisie ihre eigenen Illusionen verliert, ist sie gezwungen, der Arbeiterklasse gegenüber klar von der Zu­kunft zu reden, die sie ihr anzubieten hat. Wenn die Arbeiterklasse resigniert hätte und wie in den 30er Jahren demora­lisiert wäre, wäre diese Sprache wirksam: „Auch wenn es nun einmal keinen anderen Ausweg gibt, sollte man dennoch retten, was man retten kann: die ‚Demokratie‘, die ‚Er­de meiner Vorfahren‘, den ‚Lebensraum‘, für den Krieg und die damit verbunde­nen Opfer !“ So lautet das Echo, das die herrschende Klasse von uns hören möchte. Zu ihrem Leidwesen teilen die neuen Generationen von Arbeitern nicht die Resignation ihrer Vorgänger. Sobald die Krise die Arbeiter zu beeinträchtigen begann - noch bevor die Krise als solche erkannt wurde, mit Ausnahme einiger winziger Minderheiten von Re­volutionären, die die Lehren des Marxismus nicht vergessen hatten -, hat die Arbei­terklasse ihren Kampf aufgenommen. Ihre Kämpfe Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre zeigten mit ihrer großen Reichweite und militanten Entschlossenheit, dass die schreckliche Konterrevolution, die nach der Niederschlagung der revolutionären Welle nach dem I. Welt­krieg so stark auf der Gesellschaft gelastet hatte, zu Ende war. Es war nicht mehr die „Mitternacht des Jahrhunderts“. Der Kapitalismus musste erneut mit diesem Riesen rechnen, den er endgültig einge­schlafen glaubte: dem Proletariat. Zwar strotzte das Proletariat vor Kraft, allein es fehlte ihm an Erfahrung, und es lief in die Fallen, die die Bourgeoisie ihm stellte, nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte. Darauf bauend, dass sich ihre Wirtschaftskrise viel langsamer als in den 30er Jahren entwickelt, gelang es der Bourgeoisie, dem Proletariat ihre eigenen Illusionen über eine „Lösung“ der Krise aufzuschwatzen. Einige Jahre lang glaubte das Proletariat dem Schwindel der „linken Alterna­tive“, ob sie sich Labour-Regie­rung, Volksmacht, Programme Commun, Moncloa-Pakt, historischer Kompromiss oder ähnlich nannte. Indem sie eine Zeit lang den offenen Kampf aufgab, hat sich die Ar­beiterklasse in die Sackgassen der Wahlen und der Demokratie führen lassen und fast ohne Gegenwehr mit immer größeren Dosen der Austerität und Arbeitslosigkeit arrangiert. Aber was ihre erste Kampfwelle, die 1968 anfing, bereits andeutete, bestätigt sich auch heute: Die heuti­gen bürgerlichen Mystifikationen haben nicht die Kraft von einst. Durch ihren häufigen Gebrauch haben sich die Sprüche über die „Verteidigung des Vaterlandes“, der „Zivilisation“, der „Demokratie“, des „sozialistischen Vaterlandes“ verschlissen. Und die „nationalen Inte­ressen“, der „Terrorismus“ und anderes können diese nicht ersetzen. Wie unser Artikel „Unsere Intervention und ihre Kritiker“ (Siehe Internationale Revue Nr.20, engl., franz. und span. Ausgabe) hervorhebt, hat das Proletariat wieder zum Kampf zurückgefunden. So wurde die Linke, sofern sie in der Regierung war, gezwungen, in die Opposition zurückzukehren, um durch die Radikalisierung ihres Wortgeklingels ihre kapitalistische Aufgabe zu erfüllen.

Mit einer Krise, deren Auswirkungen von Tag zu Tag schwerer auf der Arbeiterklasse lasten, mit der Erfahrung einer ersten Welle von Kämpfen sowie der Kenntnis des Arsenals von Fallen, die die Bourgeoisie aufstellt, um diese Kämpfe zu ersticken, und schließlich mit dem zögerlichen, aber ganz realen Auftreten von revolutionären Minderheiten bekräftigt die Arbeiterklasse erneut ihre Macht und ihr enormes Kampfpotential. Wenn einerseits die Bourgeoisie der Menschheit keine andere Zukunft als den totalen Krieg anbieten kann, so zeigen andererseits die Kämpfe, die sich heute entwickeln, dass das Proletariat nicht willens ist, der Bourgeoisie freie Hand zu gewähren und dass es eine andere Zukunft anzubieten hat, eine Zukunft, in der es weder Krieg noch Ausbeutung geben wird: den Kommunismus.

In dem jetzt angebrochenen Jahrzehnt wird somit über diese Alternative entscheiden: Entweder setzt das Proletariat seine Offen­sive fort, fällt dem mörderischen Treiben des zugrundegehenden Kapitalismus in die Arme und sam­melt seine Kräfte für dessen Umsturz, oder es wird in die Falle laufen, sich erschöp­fen und von den Reden und der Unterdrüc­kung seitens der Bourgeoisie demoralisie­ren lassen; und dann wäre der Weg frei zu einem neuen Holocaust, der die ganze menschli­che Gesellschaft auszulöschen droht.

Wenn die 70er Jahre sowohl für die Bour­geoisie als auch für das Proletariat Jahre der Illusionen waren, so werden, weil sich in diesen Jahren die Wirklichkeit dieser Welt vollständig entblößen und die Zukunft der Menschheit mehr oder weniger entscheiden wird, die Achtziger Jahre der Wahrheit sein.