1. November in Berlin

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Ein erstes Anzeichen einer unterirdischen Bewusstseinsentwicklung

Als Ende Oktober die Delegiertenversammlung der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di in Berlin tagte, wurde viel darüber spekuliert, ob Frank Bsirske, Vorsitzender einer der größten Einzelgewerkschaften der Welt, zu der bevorstehenden Demonstration am 1. November in der Bundeshauptstadt aufrufen würde oder nicht.

Ver.di und PDS lassen ATTAC und den Sozialforen den Vortritt

Er tat es nicht – obwohl viele Geschäftsführer und Bezirksleiter von Ver.di bereits zu den Erstunterzeichnern des Demonstrationsaufrufes ”gegen den Sozialabbau” gehörten; obwohl Bsirske selbst auf der Delegiertenversammlung ein Abrücken seiner Gewerkschaft von der rot-grünen Bundesregierung sowie ihre Hinwendung zu neuen ”Bündnispartnern” unter den ”Globalisierungskritikern” und ”Sozialforen” angekündigt hatte; obwohl Bsirske selbst, als ”Privatperson”, auf der Berliner Demonstration am 1. November auftauchte.

Es kommt immer wieder vor, dass Gewerkschaften aus dem Grunde nicht von zentraler Stelle zu Arbeiterkundgebungen aufrufen, weil sie fürchten, die Kontrolle über die Proteste zu verlieren, falls zu viele Arbeiter daran teilnehmen. Dieser Erklärungsansatz für die Zurückhaltung Bsirskes scheidet diesmal aber aus, da in den Betrieben, Büros oder Krankenhäusern die Unruhe angesichts der Angriffe des Kapitals noch nicht in eine konkrete Kampfbereitschaft umgeschlagen ist. Vielmehr liegt einer der Gründe für diese Zurückhaltung darin, dass die Unzufriedenheit noch lange nicht den Punkt erreicht hat, wo die Gewerkschaften genötigt wären, in den Betrieben zu mobilisieren, um in geordneten, kontrollierten Bahnen Dampf abzulassen und so die Arbeiterschaft unter Kontrolle zu halten.

Doch diesmal gab es noch einen anderen Grund, weshalb Ver.di oder die IG Metall lieber im Hintergrund bleiben wollten. Denn noch während in Berlin über 100.000 Demonstranten vom Alexanderplatz Richtung Gendarmenmarkt marschierten, verkündeten die staatlichen Nachrichtensender im Fernsehen bereits die Geburt einer angeblich neuen, von den im Bundestag (einschließlich der PDS) sitzenden Parteien, aber auch von den Gewerkschaften unabhängigen, ”sozialen” und ”außerparlamentarischen” Bewegung. Und übereinstimmend wurden den ”Sozialforen” sowie den ”Globalisierungskritikern” von ATTAC die Hauptrolle bei der Mobilisierung der ”unerwartet vielen” Demonstranten zugeschrieben.

Es mag sein, dass der Sprecher von ATTAC ehrlich überrascht war von dem Ausmaß dieses ”Mobilisierungserfolges”. Doch in Wirklichkeit hatten vor allem PDS und Gewerkschaften in ungewöhnlicher Bescheidenheit und im Stillen für diesen angeblichen Mobilisierungserfolg der angeblich vom Parlament und den Gewerkschaften unabhängigen ”neuen” Bewegung gesorgt. So bildeten die altbekannten Aktivisten des DGB mit den traditionellen Fahnen und Stickern ihrer Einzelgewerkschaften sowie die Scharen von Ostberliner Rentnern, aus welchen sich das Wahlvolk der PDS rekrutiert, zahlenmäßig die beiden Hauptbestandteile dieser Demonstration. Den ”Globalisierungskritikern” wurde zu ihrem ”Erfolg” verholfen, damit sie erfolgreich ihre Rolle in der Bekämpfung der Gefahr unabhängiger Arbeiterkämpfe und der Entstehung einer eigenen, proletarischen Perspektive spielen.

Die Berliner Demonstration offenbart eine unterirdische Bewusstseinsentwicklung

Das soll nicht heißen, dass die Demonstration vom 1. November nicht ein erster und somit bedeutender Ausdruck des erwachenden Arbeiterwiderstands in Deutschland ist. Während dieser Protestaktion ist vielmehr von so manchem Teilnehmer ein echter Unmut und ein Widerstandswillen zu beobachten gewesen, was wir nur begrüßen können. Doch noch beschränkt sich, zumal in Deutschland, diese Bereitschaft, zu kämpfen und auf die Straße zu gehen, auf Minderheiten bzw. einzelne Teile der lohnabhängigen Bevölkerung, während das Gros der Arbeiterklasse noch zu wenig Selbstvertrauen und Klassenidentität besitzt und noch zu sehr von der machtvollen Offensive des Gegners eingeschüchtert ist, um bereits ein offenes Kräftemessen mit dem Kapital zu wagen. Und diese Situation der mühevollen und erst allmählichen Wiederbelebung der proletarischen Kampfbereitschaft beschränkt sich keineswegs auf Deutschland. Selbst in Frankreich, wo im Frühjahr zeitweise Millionen gegen die Renten- und andere Angriffe der Regierung auf die Straße gingen, war die Kampfbereitschaft der Klasse überhaupt noch nicht allgemein, sondern wurde hauptsächlich von Beschäftigten des Erziehungssektors bzw. von Minderheiten anderer Sektoren zum Ausdruck gebracht.

Diese Feststellung soll keinesfalls die Bedeutung der Proteste gegen die ”Rentenreformen” in Frankreich, Österreich und Italien noch der 1. November-Demonstration in Berlin schmälern. Es geht im Gegenteil darum, die wirkliche, tiefe Bedeutung dieser Aktionen zu erfassen.

Das Auffälligste an dem Berliner Aufmarsch, wie zuvor bei den Großdemonstrationen etwa in Frankreich, war die Aufgeschlossenheit vieler Teilnehmer gegenüber revolutionärer Ideen. Dies äußerte sich beispielsweise in dem relativ guten Verkauf der Presse unserer Organisation, sowie in dem teilweise sehr regen Interesse an unserem (untenstehend abgedrucktem) Flugblatt, welches wir für diese Demonstration geschrieben haben. Eine solche Offenheit gegenüber radikalen marxistischen Positionen wäre in den ersten Jahren nach 1989 (unter dem Eindruck der verlogenen Propaganda, dass mit dem Stalinismus der Kommunismus gescheitert sei) noch völlig undenkbar gewesen. Ja, selbst Anfang und Mitte der 80er Jahre, während der Arbeiterkampf sich noch auf einem aufsteigenden Ast befand, war eine solch politische Offenheit eher ungewöhnlich. Das bedeutet: Selbst wenn erst relativ dünne Schichten der Klasse davon erfasst sind, ist dies ein Anzeichen für eine unterirdische Bewusstseinsentwicklung innerhalb des Proletariats. Diese Entwicklung, des ”alten Maulwurfs” (Marx), welcher die Fundamente der bürgerlichen Ordnung untergräbt, vollzieht sich heute unter dem Eindruck eines qualitativ verschärften Charakters der bürgerlichen Angriffe, sowie der inzwischen deutlicher gewordenen Sackgasse der krisengeschüttelten kapitalistischen Wirtschaft. Es bestätigt sich hiermit ein Grundkonzept des Marxismus: dass die Wirtschaftskrise auf längere Sicht die Arbeiter nicht nur zum Kampf anspornt, sondern auch noch die Entwicklung des Bewusstseins der großen Arbeitermassen stimuliert. Und auch wenn z.Z. erst kleinere Teile der Klasse von diesem Prozess erfasst werden, so verspricht die langsam ansteigende Kampfbereitschaft und die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes die Möglichkeit der Wiedereroberung der proletarischen Klassenidentität, und damit die Einbeziehung breiterer und tieferer Schichten in diese (noch) unterirdische Bewusstseinsentwicklung.

Auffallend in Berlin war auch, dass vornehmlich Rentner einerseits und sehr junge, oft erwerbslose Demonstranten andererseits sich am kämpferischsten und politisch am aufgeschlossensten zeigten. Dies mag damit zusammenhängen, dass einerseits besonders diese Schichten ins Visier der Angriffe der Regierung geraten sind, während sie andererseits, im Unterschied zu den (noch) Beschäftigten, nicht mehr durch die Drohung mit Entlassungen erpresst werden können. Jedenfalls ist dieses Zusammenkommen so unterschiedlicher Generationen zum gemeinsamen Kampf besonders willkommen, da die Solidarität der Generationen ein wesentlicher Bestandteil des proletarischen Klassenkampfes ist, sowie die unabdingbare Antwort auf den Versuch des Kapitals, jung und alt gegeneinander aufzuhetzen. Zudem bedeutet dies die allmähliche Einbeziehung von zwei neuen Generationen im Arbeiterkampf und im Prozess des politischen Nachdenkens. Die Aktivierung gerade der Älteren – jener Generation, welche vor 1968 die Konterrevolution auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges am eigenen Leib erlebt hat, nach 1968 manchen Versprechungen der Sozialdemokratie im Westen bzw. des Reformstalinismus im Osten Glauben geschenkt hat und sich heute betrogen und geschunden fühlt – verstärkt das Potenzial für die Wiederbelebung des historischen Gedächtnisses der Arbeiterklasse.

Die Intervention der Revolutionäre

Angesichts dieses langsamen und schwierigen, erst keimenden Prozesses der Weiterentwicklung der Kampfkraft und des Klassenbewusstseins, welcher die lange Rückflussphase nach 1989 abzulösen beginnt, kann sich die herrschende Klasse keineswegs damit trösten, dass diese Entwicklung erst kleinere Teile der Arbeiterklasse erfasst. Denn falls diese Arbeit des politischen Nachdenkens über die Probleme des Klassenkampfes und die Perspektiven der Gesellschaft fortgesetzt und vertieft wird, werden die Träger dieses Prozesses dazu übergehen, wiederum breitere Schichten der Klasse dahingehend zu beeinflussen, sobald die Arbeiterkämpfe massiver und allgemeiner werden. Die herrschende Klasse muss folglich bestrebt sein, diesen Prozess des politischen Nachdenkens im Keim zu ersticken.

Und dies bringt uns zurück auf unsere Ausgangsfrage: weshalb die Gewerkschaften, weshalb die PDS auf der Berliner Demonstration den Sozialforen, ATTAC sowie den darin wirkenden basisgewerkschaftlichen und linksextremen Aktivisten so generös den Vortritt überließen. Dies geschah, weil die etablierten Parteien und Gewerkschaften zu diskreditiert sind, um diese Minderheiten einfangen zu können. Weil der Niedergang des Stalinismus eine Bresche in den ideologischen Schutzschild des Kapitalismus geschlagen hat, welche durch eine aufgepeppte, ”anarcho-föderale”, basisdemokratischere Version des alten Staatskapitalismus in Gestalt der ”Alternativglobalisierer” geschlossen werden soll. Die Herrschenden wollen so die bereits heute kämpferischen und politisch nachdenklichen Arbeiter daran hindern, den Kapitalismus insgesamt in Frage zu stellen, und in ihre scheinradikale, basisgewerkschaftliche Schutzmauer gegen künftige Arbeiterkämpfe einbauen. Die in Berlin öffentlich akklamierte ”neue soziale Bewegung” soll vor allem das politische Nachdenken innerhalb der Klasse aufhalten, nicht nur indem falsche, reformistische Alternativen angeboten werden, sondern auch indem das Nachdenken selbst zugunsten eines blinden Aktivismus zurückgedrängt wird. Es geht dabei darum, die fortgeschritteneren Arbeiter daran zu hindern zu erkennen, dass nur der autonome Arbeiterkampf eine Antwort auf die Angriffe des Kapitals liefern kann, indem er durch das Zusammenschweißen des Proletariats und die Wiederbelebung seiner Klassensolidarität die kollektive, revolutionäre Perspektive des Kommunismus eröffnet

Deshalb sahen wir die Hauptaufgabe der Intervention der Revolutionäre auf dieser Demonstration darin, einen politischen Kampf gegen die Bourgeoisie um diese ersten aufwachenden Arbeiterschichten zu führen. Unsere Presse und unser Flugblatt waren darauf ausgerichtet, die Perspektive des Klassenkampfes gegen den bürgerlichen, klassenübergreifenden Reformismus zu verteidigen.

Die IKS war nicht die einzige Kraft auf dieser Demonstration, welche entgegen diesem Reformismus die Notwendigkeit der Zerschlagung des Kapitalismus aufzeigte. So verteilten die ”Unabhängigen Rätekommunisten” ein Flugblatt mit dem Titel ”Recht auf Arbeit? Recht auf Faulheit? Nieder mit der Lohnarbeit!”, welches v.a. den Mythos des ”Sozialstaates” angreift. Doch obwohl an einer Stelle erklärt wird: ”Wir orientieren uns am Kampf der Arbeiterklasse gegen die Lohnarbeit”, wird in diesem Flugblatt nirgends darauf hingewiesen, wie die revolutionäre Perspektive in den täglichen Abwehrkämpfen der Arbeiter entstehen kann. Stattdessen erscheint diese Perspektive in anarchistischer Manier als das Produkt einer individuellen Revolte: ”Das Überleben haben wir genauso satt wie die alternative Politik linker wie rechter Couleur oder die Logik des kleineren Übels und die unzähligen faulen Kompromisse. Setzen wir dem Totalitarismus der Ware unsere Bedürfnisse, Sehnsüchte, Träume und Wünsche entgegen. Kämpfen wir für das volle Leben, nicht nur ein einigermaßen akzeptables Überleben.”

Die ”Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft” hingegen bezogen sich in ihrem ”Aufruf zum Sozialrevolutionären Block” am 1.November etwas mehr auf die Kämpfe der Arbeiterklasse. Doch indem die Genossen einen eigenen Block anstrebten, erhoben sie faktisch den Anspruch, den Verlauf der Demonstration beeinflussen bzw. ändern zu können. Doch dies wäre nur möglich gewesen, wenn bereits innerhalb der Klasse bedeutende Tendenzen am Werk wären, den Gewerkschaften und bürgerlichen Linksreformisten die Kontrolle über die Aktionen streitig zu machen. Doch davon sind wir noch meilenweit entfernt. In Ermangelung einer solchen Perspektive läuft diese Politik auf den ohnmächtigen Versuch hinaus, an Stelle der Arbeitermassen den Klassenkampf führen zu wollen. Wir glauben hier noch den Einfluss der alten Mär zu erkennen, derzufolge man immer ”mitmachen” muss und niemals ”außerhalb” stehen darf. Mit einer solchen Logik rechtfertigen die Maoisten und Trotzkisten heute noch ihre ”kritische” Mitarbeit in den Gewerkschaften.

Doch in Wahrheit laufen die Genossen Gefahr, sich außerhalb des wirklichen Kampfes um die politische Entwicklung der Arbeiterklasse zu stellen, da sie auf solchen Demonstrationen ihre Hauptaufmerksamkeit eben nicht auf eine vertiefte Widerlegung der Argumente der Veranstalter richten und dadurch die politische Einflussnahme proletarischer Stimmen vor Ort alles andere als fördern. Aus unserer Sicht benötigen die Revolutionäre eine vertiefte, marxistische Analyse jeder konkreten Stufe und jedes Ereignisses des Klassenkampfes, um erkennen zu können, wann die Stunde der Propaganda, wann die Stunde der Agitation und wann die Stunde der politischen Führung in einer konkreten Aktion der kämpfenden Arbeiter geschlagen hat.