Diskussionsveranstaltung der IKS in Berlin: Marxismus und Dekadenzfrage

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Am 31 Januar lud die IKS zu einer Diskussionsveranstaltung in Berlin zum Thema "Die kapitalistische Wirtschaftskrise: Triebkraft der Arbeiterkämpfe" ein. Dort trugen wir unsere Analyse vor, derzufolge die jüngsten Arbeiterkämpfe in Frankreich, Österreich, Italien, Großbritannien, Griechenland, Polen und den USA eine erste Wende im internationalen Klassenkampf seit 1989 bedeuten. Es zeichnet sich der Anfang vom Ende des Rückgangs der Kampfbereitschaft und des Klassenbewusstseins der großen Arbeitermassen ab, welcher Ende der 80er Jahre durch den angeblichen Sieg des Kapitalismus über die Idee des Sozialismus eingeleitet wurde. Wir führen diese neue, wenn auch zaghafte Vorwärtsbewegung des Proletariats in erster Linie auf die Zuspitzung der kapitalistischen Wirtschaftskrise zurück. Dies zwingt eine an mangelndem Selbstbewusstsein und Klassenidentität leidende, aber noch ungeschlagene Arbeiterklasse dazu, den Kampf wieder aufzunehmen und die eigenen Illusionen über den Kapitalismus allmählich aufzugeben. Diese Analyse der IKS geht davon aus, dass die jetzige Krise keine vorübergehende, rein zyklische Erscheinung ist, sondern Ausdruck des historischen Niedergangs dieses Gesellschaftssystems. Gerade darum kann es einem kämpfenden, und dadurch seine eigene Klassenidentität zurückerobernden Proletariat langfristig auch gelingen, eine kommunistische Perspektive wieder zu eröffnen - nicht zuletzt indem es begreift, dass mit dem Stalinismus nicht der Kommunismus, sondern ein Teil der bürgerlichen Welt unterging. Deshalb thematisierte unser Einleitungsreferat auch die Frage der Dekadenz des Kapitalismus. Daraus entwickelte sich eine interessante Diskussion, da mehrere Teilnehmer Einwände gegen diese Position der IKS vorbrachten. Zweck dieses Artikels ist es nicht, die Diskussion auf der Veranstaltung wiederzugeben. Wir wollen an dieser Stelle die Diskussionsteilnehmer (darunter Anhänger der jüngsten Gruppierung linkskommunistisch Interessierter in Berlin, die "Freunde der klassenlosen Gesellschaft" ausdrücklich dazu einladen, über einzelne Einwände hinaus ihre Position zur Theorie der Dekadenz schriftlich auszuformulieren. Sehr gerne würden wir auch die Seiten von Weltrevolution zu Verfügung stellen, um eine solche Debatte öffentlich fortzuführen. Die Wiedergabe und Ausbau unserer eigenen Argumentation auf der Veranstaltung soll an dieser Stelle dazu dienen, eine solche, auch schriftliche Debatte voranzubringen. Gegenüber unserem Einleitungsreferat wurde eingewendet, erstens dass die Frage der Dekadenz des Kapitalismus nicht relevant sei, um die heutige Krise zu beurteilen, und zweitens, dass die Wirtschaftskrise einen zyklischen, wiederkehrenden Charakter habe und als solches kein Faktor wäre, welcher zur Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins innerhalb des Proletariats wesentlich beitragen könnte. Vielmehr sei die Erfahrung der kapitalistischen Ausbeutung am eigenen Leibe ausschlaggebend für das Aufbegehren der Klasse gegen das System. Diese Einwände werfen die sehr grundsätzliche Frage auf, welchen Platz die Dekadenztheorie in dem marxistischen Verständnis der Entwicklung sowohl der Wirtschaftskrise wie des proletarischen Klassenbewusstseins einnimmt.

Die Bedeutung der Dekadenzfrage für den Marxismus

Um diese Fragen zu beantworten, kamen wir auf die berühmte Vorrede zur 1859 erschienenen Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" zurück (1). Dort, wo er sein erstes, noch vor dem ersten Band des Kapitals erschienenes, größeres Studium der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft vorstellt, dessen "Anatomie" in der "politischen Ökonomie" zu suchen sei, erläutert Marx "das allgemeine Resultat" seines Studiums, welches "einmal gewonnen, meinem Studium zum Leitfaden diente". Es folgen zwei "Leitfäden", welche aus unserer Sicht - ohne jeden Zweifel - einen entscheidenden Durchbruch, eine Art kopernikanische Wende in dem Begreifen der Menschheitsgeschichte bedeuten. Erstens: "Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." Zweitens: "Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um." Es handelt sich hierbei um Grundsätze der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung. Wie Engels 1883 am Grab von Karl Marx sich ausdrückte: "Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte." Es geht um die Frage, ob die Geschichte eine sinnlose Aneinanderreihung von Ereignissen und Ausschreitungen darstellt, welche höchstens für die beteiligten Menschen und Klassen selbst, nicht aber für die Menschheit insgesamt von Bedeutung sind. Oder ob diese Mühen und die Kämpfe miteinander zusammenhängen und eine Menschheitsgeschichte ergeben; ob darin eine - sicherlich nicht lineare - Entwicklung sich abzeichnet, ein Fortschritt hin zu einer Vermehrung der Kultur und des Bewusstseins. Unter &Mac226;Produktivkraft' versteht der Marxismus die - von vornherein gesellschaftliche - Arbeitskraft leibhaftiger Menschen, mit allem, was dazu gehört: Natur, Technik, Wissenschaft, Organisation. Eine gewisse Entwicklungsstufe dieser Produktivkräfte geht mit einer bestimmen Gesellschaftsweise einher. In Bezug auf die Urgesellschaft hat Lewis Morgan (der zu Lebzeiten von Marx und Engels Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete) darauf hingewiesen, dass die Fortschrittsstufen der Gesellschaft mit der Ausweitung deren Unterhaltsquellen einhergehen. Die drei von ihm ausgemachten Stufen der &Mac226;Wildheit' bringt er jeweils mit der Ausbildung der artikulierten Sprache, dem Gebrauch des Feuers und der Erfindung von Bogen und Pfeil in Zusammenhang; die drei Stufen der &Mac226;Barbarei' mit der Einführung der Töpferei, der Zähmung von Haustieren bzw. die Kultur von Nutzpflanzen, und mit dem Schmelzen des Eisenerzes. Mit der Entstehung der Klassengesellschaft findet der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Triebfeder der geschichtlichen Entwicklung seinen Ausdruck im Gegensatz und Kampf der gesellschaftlichen Klassen. Die Rebellion der Produktivkräfte gegen die zu Fesseln gewordenen Verhältnisse findet ihren höchsten Ausdruck im Klassenkampf. Marx spricht in derselben "Vorrede" von aufeinander folgenden, fortschrittlichen Gesellschaftsformationen. "In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden." Das bedeutet, dass in der Menschheitsgeschichte ein Fortschritt stattfindet, und dass die revolutionären Klassen, welche gegen die zu "Fesseln" der Produktivkräfte gewordenen Eigentumsverhältnisse kämpfen, bewusst oder unbewusst nicht nur für ihre eigenen Interessen, sondern für die Entwicklung der Menschheit streiten. Gerade der Marxismus hat den widersprüchlichen, oft paradox erscheinenden Lauf dieses Fortschritts in der Geschichte aufgezeigt. So stellte beispielsweise die Sklaverei gegenüber der klassenlosen Urgesellschaft einen Fortschritt dar. Sie entstand als die Produktion so weit entwickelt war, dass die menschliche Arbeitskraft mehr erzeugen konnte als zu ihrem Unterhalt nötig war. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte es lohnend werden, diese Arbeitskraft auszubeuten. Dies stellte gewissermaßen sogar für die Sklaven selbst zunächst einen Fortschritt dar. "Bisher hatte man mit den Kriegsgefangenen nichts anzufangen gewußt, sie also einfach erschlagen, noch früher hatte man sie verspeist. Aber auf der jetzt erreichten Stufe der "Wirtschaftslage" erhielten sie einen Wert: man ließ sie also leben und machte sich ihre Arbeit dienstbar", schreibt Engels in seinem Buch "Anti-Dühring". Er fügt hinzu: "Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. (...) In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus." (2) Doch die Sklaverei selbst erwies sich als unfähig, über einen bestimmten Punkt hinaus die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft weiterzuentwickeln. Einerseits bietet sie dem Produzenten keinerlei Anreize, um sich mit ihrer eigenen Produktion zu identifizieren. So können beispielsweise nur sehr grobe Arbeits-instrumente eingesetzt werden, welche die unachtsame Behandlung bzw. die mutwillige Zerstörungswut durch die gänzlich unfreien Produzenten auszuhalten imstande sind. Andererseits ist die Sklaverei auch durch das radikale Desinteresse der herrschenden Klasse selbst an der Produktion gekennzeichnet, welche als die Welt der Unfreiheit und der Unkultur verachtet wird. So erklärt sich, dass in der Antike ansatzweise bereits bekannte Techniken der Dampfkraft oder der Elektrizität lediglich zum Einsatz kamen, um im Kolosseum Käfige zu heben oder im Tempel Lichteffekte zu erzeugen. Obwohl der Untergang der antiken Welt einen gewaltigen Rückgang der Kultur mit sich brachte, so stellte dennoch die Leibeigenschaft des Mittelalters einen echten Fortschritt gegenüber der Sklaverei dar, da die Produzenten nunmehr teilweise für sich selbst arbeiten können. Die feudale Produktionsweise wiederum, mit ihrer lokalen, streng reglementierten, auf der Grundlage der Naturalwirtschaft basierten Gesellschaft, wird zu einer Fessel der Produktivkräfte, sobald die Entwicklung der Warenwirtschaft sich so weit durchsetzt, dass die Produktion auf der Grundlage der freien Lohnarbeit sich zu verallgemeinern beginnt.

Dekadenz und kapitalistische Wirtschaftskrise

In der oben zitierten "Vorrede" stellt Marx ausdrücklich klar, dass die moderne kapitalistische Produktionsweise keine Ausnahme darstellt gegenüber diesem Gesetz der Entwicklung mittels aufeinanderfolgender, jeweils eine aufsteigende und eine niedergehende Phase durchschreitender Formen der Klassengesellschaft. "Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." Was sind nun die "Produktivkräfte" und die "materiellen Bedingungen", der Überwindung dieser Gesellschaft, welche der Kapitalismus selbst hervorbringt? Und ab welchem Zeitpunkt sind diese Bedingungen ausreichend vorhanden? Auf unserer öffentlichen Veranstaltung wurde zum Beispiel argumentiert, dass die Pariser Kommune bewiesen habe, dass die erfolgreiche proletarische Revolution bereits im Frühkapitalismus möglich gewesen wäre. Für die IKS hat die Pariser Kommune bewiesen, dass 1871 eine lokale und kurzzeitige Machtergreifung des Proletariats, nicht aber der Übergang zum Sozialismus möglich war. Bereits 1850 hatte Marx geschrieben: "Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten." (3) Marx sagt in derselben Vorrede: "Eine Gesellschaft geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue, höhere Produktionsverhältnisse treten nie an ihre Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind". In ihrer berühmten Polemik mit Bernstein - die 1899 geschriebene Broschüre "Sozialreform oder Revolution" - fasst Rosa Luxemburg diese Vorbedingungen zusammen, worauf sich der Sozialismus stützt: "vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Macht und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet. Es ist der erste der genannten Grundpfeiler des wissenschaftlichen Sozialismus, den Bernstein beseitigt. Er behauptet nämlich, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht einem allgemeinen wirtschaftlichen Krach entgegen." (4) M.a.W. die Voraussetzungen des Sozialismus sind zunächst die volle Entwicklung der Industriegesellschaft und des Weltmarktes, aber auch des Weltproletariats d.h. die Entfaltung der Vergesellschaftung der Produktion sowie des revolutionären Subjektes. Das ist der Grund, weshalb die marxistische Bewegung in der aufsteigende Phase des Kapitalismus sich nicht gleichgültig verhielt gegenüber der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern beispielsweise die Vereinigung der USA (durch den Bürgerkrieg unter der Führung Präsident Lincolns), Deutschlands oder Italiens begrüßte. Aber zu den Voraussetzungen des Sozialismus gehört auch das Umschlagen der zyklischen Krise des aufstrebenden Kapitalismus in einen "allgemeinen wirtschaftlichen Krach", als Ausdruck des wachsenden Widerspruchs der materiellen Produktivkräfte mit den zu eng gewordenen Produktionsverhältnissen. Die Lohnarbeit, Produktion für den Markt, der Nationalstaat stellen wesentliche Bestandteile dieses eisernen Korsetts dar, welches gesprengt werden muss, damit die Produktivkräfte und alle anderen Kräfte der Menschheit sich frei entfalten können. Chronische Überproduktion, permanente Massenarbeitslosigkeit, Allgegenwärtigkeit des imperialistischen Krieges gehören zu den Markenzeichen dieser Niedergangskrise; der 1. und 2. Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise ab 1929, der nukleare Wettlauf nach 1945, die permanente Überproduktionskrise seit Ende der 1960er Jahre, sowie der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 gehören zu den wichtigsten Meilensteinen ihrer Entwicklung.

Dekadenz und revolutionäre Bewusstseinsentwicklung

Nachdem Marx in der Vorrede beschrieben hat, wie die Entwicklungsformen der Produktivkräfte auf einer bestimmten Höhe Fesseln derselben werden, stellt er fest: "Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um." Was das Verhältnis dieses objektiven Umschlags der Gesellschaft von ihrer aufsteigenden in ihrer niedergehenden Phase, zur subjektiven Bewusstseinsentwicklung betrifft, führt Marx aus. "Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern Muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären." Daraus schließen wir, dass eine allgemeine Entwicklung eines Bewusstseins der gesamten Arbeiterklasse über die Notwendigkeit, den Kapitalismus zu zerschlagen den Eintritt des Systems in seine Niedergangsphase zur Voraussetzung hat. Man weiß, dass in der Zeit der 2. Internationalen die Vorstellung sich breitmachte, dass die Krise des Kapitalismus quasi automatisch zum Sieg des Sozialismus muss. Als Reaktion auf diesen unmarxistischen Fatalismus, welcher den subjektiven Faktor - den Kampfeswille und das Klassenbewusstsein des Proletariats - verneint, haben unterschiedliche politische Strömung sich dazu hinreißen lassen, den umgekehrten Fehler zu begehen. Es handelt sich hierbei um einen ebenso unmarxistischen Voluntarismus, welcher die Bedeutung der objektiven Voraussetzungen der Revolution - Dekadenz und Wirtschaftskrise etwa - schmälert oder verneint. Der "Bordigismus" beispielsweise verneint die Dekadenz des Kapitalismus und fasst die heutigen Wirtschaftskrisen immer noch als zyklische Ereignisse wie im 19. Jahrhundert auf. Daraus ergibt sich aber das Problem, dass die zyklische Krise niemals einer revolutionären Bewußtseinsentwicklung der Klasse insgesamt den Weg bahnen wird. Weshalb sollten die noch so leidenden Arbeiter die Revolution machen, wenn sie annehmen müssen, dass die Krise wieder vorübergehen wird? So verfällt der "Bordigismus" einem Voluntarismus der Partei: Die Revolution soll dadurch siegen, dass eine furchtbar leidende, aber mehr oder minder unbewusste Klasse sich hinter die Klassenpartei stellt. Doch die russischen Arbeiter stellten sich 1917 nicht unbewußt hinter die Bolschewiki, sondern weil diese sich mittlerweile von der Auffassung der Marxisten selbst überzeugt hatten, dass der Weltkrieg den Niedergang des Kapitalismus und damit die Notwendigkeit des Sozialismus eingeläutet hatte. Einen anderen, diesmal rein voluntaristischen Ansatz dieser Art stellt die Gruppe &Mac226;Gegenstandpunkt' dar. Auch diese Denkrichtung hat mit der Dekadenztheorie von Marx nichts am Hut. Sie geht vom zyklischen Charakter der Krise aus und ist davon überzeugt, dass der Kapitalismus stets diese Krise auf Kosten der Arbeiterklasse überwinden kann. So sieht diese Gruppe die Sprungfeder des revolutionären Bewusstseins nicht in der zunehmenden Krisenhaftigkeit und Anarchie des Kapitalismus, sondern in einer -aus unserer Sicht - abstrakten, alltäglichen Erfahrung der Ausbeutung. Da aber die Ausbeutung seit Jahrtausenden, die spezifisch kapitalistische Ausbeutung seit Jahrhunderten besteht, ist kaum ersichtlich, weshalb das Proletariat plötzlich, ohne weitere Gründe, dagegen rebellieren sollte. So nimmt Gegenstandpunkt Zuflucht in einer vormarxistischen Auffassung und Praxis der reinen Aufklärung: die Arbeiter werden eine revolutionäre Einsicht entwickeln, nachdem sie von Gegenstandpunkt geschult worden sind. Es ist aus unserer Sicht unmarxistisch, die Frage der Ausbeutung und die der Krise in der Entwicklung des Klassenbewusstseins einander entgegenzustellen. Im Kapital Band 1 erklärt Marx gerade, wie die kapitalistische Ausbeutung selbst unvermeidlich, gesetzmäßig das Phänomen der "Überbevölkerung" - also Erwerbslosigkeit und absolute Verarmung - hervorbringt. Marx nennt diese Verelendung des Proletariats das "absolute Gesetz der kapitalistische Akkumulation". Das bedeutet, dass die kapitalistische Ausbeutung selbst die Krise hervorbringt, wie umgekehrt die Vertiefung der Krise zur Verschärfung der Ausbeutung führt. Die Vorstellung, dass die Auffassung von auf- und absteigendes Gesellschaftsformationen zum Fatalismus führt, ist irrig. Vielmehr ging der Fatalismus großer Teile der ihrem Ende zuneigenden 2. Internationale mit der Aufgabe der geschichtlichen Sichtweise des Marxismus einher. Bereits das Kommunistische Manifest hatte nämlich festgestellt, dass der Ausgang der Kämpfe einer revolutionären Epoche nicht von vornherein feststeht, sondern "jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete, oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen." (5) Im Verlauf der Diskussion auf unserer Berliner Veranstaltung wurde angedeutet, dass die marxistische Sicht des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Triebfeder des Fortschritts ein Überbleibsel des idealistischen Einflusses Hegels auf Marx sein könnte. Die Idee eines Gesamtplans der Geschichte setze schließlich eine Art &Mac226;Weltgeist' oder &Mac226;Gott' voraus, welche die Geschicke der Menschheit lenken. In Wahrheit aber glaubt der Marxismus keineswegs, dass der &Mac226;subjektive Faktor' in der Geschichte und insbesondere der Klassenkampf eine bloß passive Widerspiegelung einer von allein sich abspielenden Entwicklung darstellt. Vielmehr betont Marx die Rolle des Klassenkampfes selbst in der Entwicklung der Produktivkräfte. "Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf dem Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muss eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst." (6) Die siegreiche Revolution eines bewussten, selbsttätigen Proletariats - das ist heute die Voraussetzung der Aufrechterhaltung und Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft.

Fussnoten(1) Marx-Engels Werke (MEW), Bd 13, S. 9,10 (2) MEW Bd 20, S. 168 (3) MEW Bd 7, S. 440 (4) Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd 1/1, S. 375 (5) MEW Bd 4, S. 462 (6) Marx, Das Elend der Philosophie, 1847, MEW Bd 4, S. 181