Kosmoprolet & Aufheben Klassenkampf und Generationen

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In den letzten Monaten sind zwei Zeitschriften erschienen, die wichtige Beiträge zur politischen Debatte der Arbeiterklasse leisten. Im Juni 2007 erschien Kosmoprolet, die Zeitschrift der Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft. Dieses ca. 140 Seiten umfassende Heft bringt einen Beitrag zur Lage in Venezuela unter Chavez sowie verschiedene Artikel über die Gedankenwelt der Autonomie und über die aktuelle Debatte innerhalb dieses Milieus in Italien. Vor allem aber werden darin 28 "Thesen zur Klassengesellschaft" vorgestellt, die einen bedeutenden Beitrag zur Debatte über programmatische Fragen sowie über die Lage der Welt von heute beinhalten (www.klassenlos.tk). Im Herbst 2007 ist nun die zweite Ausgabe der Zeitschrift Aufheben ([email protected]) erschienen. Während die erste Nummer verschiedene Beiträge zur Frage der Religion brachte, konzentriert sich die neue Ausgabe auf Fragen des Klassenkampfes. Sowohl aktuelle Kämpfe werden berücksichtigt (ein Genosse von Eiszeit in der Schweiz analysiert den Streik bei Swissmetal in Reconvilier - www.eiszeit.tk) als auch historische Studien, wie der Artikel über die "Rückkehr der Wobblies" (www.wobblies.de). Und während der Genosse "Red Devil" sich mit den politischen Lehren aus dem geschichtlichen Verlauf des Klassenkampfes befasst (www.geocities.com/raetekommunismus), stellt der Diskussionszirkel Rheinland (https://de.geocities.com/zirkelrunde/) die Frage, inwiefern die Anzeichen des Massenstreiks, so wie Rosa Luxemburg sie vor ziemlich genau 100 Jahre ausmachte, sich in den Klassenkämpfen von heute bereits ankündigen.

Während Kosmoprolet mit den besagten 28 Thesen eher bestrebt zu sein scheint, eine Art von Minimalkonsens innerhalb der eigenen Reihen herzustellen, bleibt die Redaktion von Aufheben ihrer bisherigen Praxis treu, verschiedene Stimmen (z.B. zu einem bestimmten Themenkomplex) zu Wort kommen zu lassen. Dazu heißt es: "Wir meinen allerdings, dass unsere Form des ‚Pluralismus' derzeit der Entwicklung innerhalb des revolutionären Lagers am ehesten entspricht." Zugleich wird im Editorial von Aufheben der Wunsch geäußert, das eigene Zeitungsprojekt mit dem von Kosmoprolet zusammenzuführen. Wir hoffen, dass ein solcher Schritt, sollte er Wirklichkeit werden, eine noch größere Öffnung der politischen Debatte mit sich bringt, eine weitere Vermehrung der Diskussionsbeiträge.

Die zweite Ausgabe von Aufbrechen ist aus unserer Sicht besonders interessant, weil sie sich schwerpunktmäßig mit den Klassenkämpfen Ende der 1960er Jahre befasst. Dabei füllt sie zwei wichtige Wissenslücken in Bezug auf diese Zeit, indem sie sowohl die Geschichte der Lehrlingsbewegung in der Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre als auch die Vorgeschichte der Wiederaufnahme des Klassenkampfes in Deutschland ab 1969 (Stichwort: Septemberstreiks) wiederentdeckt. Die Artikel des Genossen Riga ("Ich will nicht werden was mein Alter ist!") sowie von Peter Birke ("Der Eigen-Sinn der Arbeitskämpfe: Wilde Streiks und Gewerkschaften in der Bundesrepublik vor und nach 1969") sind wertvolle Beiträge zur Wiederaneignung der Geschichte unserer Klasse. Die Tatsache, dass beide Artikel sich mit Aspekten des Klassenkampfes gerade in Deutschland befassen, hat mit Lokalpatriotismus nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil ist es ein Anliegen des internationalen Proletariats, die verschüttete Geschichte der Arbeiterkämpfe in diesem zentralen Land des Kapitalismus in Europa ans Tageslicht zu befördern.

Birke bestätigt die Einsicht Rosa Luxemburgs, dass die historisch bedeutenden Momente des Klassenkampfes stets eine Vorgeschichte haben, durch einen unterirdischen Reifungsprozess vorbereitet werden. Schon lange vor 1969 stellt er eine Veränderung der Streikkultur fest, wozu u.a. viele lokale, wilde Streiks beigetragen haben. Wir erfahren, dass es zwischen 1949-76 mehr als 1.500 nicht gewerkschaftlich sanktionierte und somit illegale Streiks gegeben hat. Der Beitrag zur Lehrlingsbewegung wiederum macht klar, dass das internationale Wiederaufflammen des proletarischen Klassenkampfes Ende der 1960er mehr war als eine Häufung von wilden Streiks, sondern einherging mit einer veränderten Art und Weise, die Gesellschaft zu betrachten und in die Zukunft zu blicken.

So wichtig das Schließen von Wissenslücken ist, das Heft von Aufbrechen leistet mehr. In mehreren Beiträgen finden wir die Erkenntnis wieder, dass die Kämpfe ab 1968 eine neue Geschichtsepoche einläuteten. Auch wird erkannt, dass wir uns heute erneut in einer Phase des langsam ansteigenden Klassenkampfes befinden. Wir finden diese Einsichten auch in den Thesen von Kosmoprolet. These 16 sagt dazu: "Der Pariser Mai und der ‚schleichende Mai' in Italien sind Gipfelpunkte einer neuen Welle von Klassenkämpfen, die ab 1968 die entwickelten Regionen der Welt erschütterten" (S. 31).  Man zeigt auf, wie der Klassenkampf heute die internationalen Bewegungen des Kapitals auf Schritt und Tritt begleitet bzw. begleiten wird. "Aber bald entdeckt auch das Kapital, dass es, wohin auch immer es wandelt, den Klassenkampf  im Gepäck mitschleppt. Nach wenigen Jahren erweisen sich die neuen Lohnarbeiter in New Delhi oder Shanghai als widerspenstige und undankbare Zeitgenossen, die die Kosten der Ausbeutung erneut nach oben treiben. In diesen Klassenkämpfen liegt die Hoffnung begründet, dass auf ein Jahrhundert der imperialistischen Mythologie eine neue Ära des proletarischen Internationalismus folgt." (These 20, S. 37, 38) Ursache dieser Bewegung ist die Verschärfung der Lage des gesamten Weltproletariats: "Spiegelbildlich zur Entstehung neuer Arbeiterklassen in der bisherigen Peripherie kehrt in den alten Zentren die verschwunden geglaubte Verelendung wieder." (These 22, S. 39)

Es setzt sich unter den Politisierten immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Entwicklung der Kämpfe von heute und von morgen die Lehren und die Inspiration von damals dringend braucht, um ihr Potenzial voll ausschöpfen zu können. Diese Notwendigkeit wird umgekehrt und in negativer Weise bestätigt durch die Versuche der herrschenden Klasse, diesem Prozess entgegenzutreten. "Das zu verhindern ist der Grund dafür, dass seit geraumer Zeit die bürgerlichen Medien eine öffentliche Kampagne gegen die 68er Bewegung lancieren, um auch diesen Teil der Geschichte des Kapitals und seiner Klassenkämpfe in ihren Sinne zu entsorgen. So werden die damaligen Ereignisse z.B. auf die Ideologien und Interventionen der RAF, der Kommune 1 usw. zurechtgestutzt. Als hätte es, außer in den Köpfen von ein paar ‚Spinnern' keine Klassenkämpfe in der BRD gegeben." (S. 48, Fußnote 169).

 

Klassenkampf und Krise

Eine andere Erkenntnis des Artikels von Peter Birke ist, dass der Klassenkampf des Proletariats ein ständiges Phänomen ist, das selbst in den Phasen tiefster Niederlagen niemals ganz verschwindet. So der Streik vom Sommer 1955, der, von zwei Werften in Hamburg ausgehend, sich auf andere Betriebe und Städte ausdehnte. Dieser Kampf fand zwei Jahre nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und ein Jahr vor der proletarischen Erhebung in Ungarn statt. Auch teilten die Kombattanten im "freien Westen" das Schicksal ihrer Klassenbrüder- und schwestern im Ostblock: Sie wurden als Agenten der Gegenseite im Kalten Krieg verleumdet und mit der nackten Gewalt des Staates konfrontiert. Das waren keine aussichtsreichen Zeiten für erfolgreiche Abwehrkämpfe. Jedoch zeigt die bloße Existenz dieser Kämpfe in Zeiten der Konterrevolution, wie irrig die Vorstellung ist, dass das Proletariat - von Ausnahmen abgesehen - sich gut und gerne im Kapitalismus einrichtet. Solche Eruptionen zeugen vielmehr davon, welcher Unmut, welche Ablehnung zu allen Zeiten sich innerhalb der Klasse anstaut, bis er sich einen Weg an die Oberfläche bahnen kann.

Hochinteressant ist ebenfalls die sich wandelnde Rolle der Arbeitslosigkeit in der Geschichte des Klassenkampfes. Peter Birke schildert einen Vorfall bei Volkswagen Mitte der 1950er, als die Belegschaft sozusagen im Schlaf ihre Forderungen durchsetzen konnte. Es ging um einen Fahrkostenzuschuss. Die Betroffenen verharrten solange in ihren Fahrzeugen vor dem Werk, bis die Werksleitung nachgab. Gerade um diese Zeit begann die Phase, in der die Kapitalisten der Arbeiterklasse immer mehr Zulagen gewähren mussten, nicht so sehr wegen der Militanz der Belegschaften, sondern aufgrund der wachsenden Knappheit an Arbeitskräften. Damals hieß es: Kein Mensch arbeitet für Tariflohn. Was die Gewerkschaften aushandelten und stolz als das Ergebnis ihrer Stärke hinstellten, war keine Errungenschaft, sondern stellte den alleruntersten Minimallohn dar. Wie jede andere Ware im Kapitalismus ist auch die Ware Arbeitskraft geneigt, sich zu verteuern, wenn sie knapp wird. Einer der Auslöser der internationalen Welle des Klassenkampfes Ende der 1960er Jahre, die der Epoche der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution ein Ende bereitete, war denn auch das Bemühen der Unternehmer, diese übertariflichen Zuschläge - die gewährt wurden, um die Stammbelegschaften zu halten - im Zeichen der zu Ende gehenden Nachkriegshochkonjunktur wieder rückgängig zu machen. Auch die Rückkehr der Inflation, sprich: die Entwertung der Reallöhne trieb die Arbeiterklasse damals in den Kampf - eine Tatsache, die Peter Birke kurioserweise nicht ausdrücklich erwähnt. Natürlich lag der tiefere Sinn dieser Kämpfe in der Infragestellung des Kapitalismus. Birke ist zuzustimmen, wenn er sagt, dass die Massenstreiks von damals auch eine Revolte gegen die Fabrik als solche, das Gefängnis und der Friedhof der lebendigen Arbeit waren. Aber dieses Gefängnis kann nur durch eine siegreiche sozialistische Revolution zertrümmert werden. Weder die Klasse noch die Lage insgesamt war dafür schon reif. Somit wiesen die Kämpfe dieser Zeit vornehmlich einen defensiven Charakter auf, auch wenn sie das gaullistische Regime in Frankreich 1968 zum Wanken brachten und die Fragen der Revolution sowie des wirklichen Sozialismus wieder aufwarfen.

Damals glaubte z.B. die Autonomia in Italien, dass die Arbeiterkämpfe - sprich: die durch sie zuweilen erzielten hohen Lohnzuwächse bzw. die Einschränkungen der Ausbeutung - die Krise des Kapitalismus verursacht oder ausgelöst hatten. Tatsächlich aber war es so, dass die stärksten Reallohnzuwächse in den 1950er und 1960er Jahren erzielt wurden - in einer Phase also, in der die Wirtschaftskrise als überwunden galt und die Kampfkraft des Proletariats noch sichtlich geschwächt war! Die historische Wiederaufnahme des Klassenkampfes wiederum war eine Reaktion auf die Rückkehr der offenen Krise. Deshalb blieben die materiellen Errungenschaften dieser Kämpfe nur von kurzer Dauer.

Die durch die Krise ausgelöste weltweite Welle von Kämpfen des Proletariats war ab Mitte der 1970er Jahre zunehmend auch eine Reaktion auf etwas, was man durchaus als den schrecklichen Normalzustand des dekadenten Kapitalismus bezeichnen kann: die Massenarbeitslosigkeit. Die Phase der Vollbeschäftigung, teilweise gar der Arbeitskraftverknappung in den Industriestaaten der Nachkriegszeit war eine zeitlich begrenzte Ausnahmesituation gegenüber dieser Entwicklung, die sich seit dem I. Weltkrieg durchgesetzt hatte. Es ist vornehmlich die Geißel der Arbeitslosigkeit - die von Marx beschriebene "industrielle Reservearmee" -, die dafür sorgt, dass die Akkumulation des Kapitals von einer Akkumulation des Elends auf Seiten des Proletariats begleitet wird. Auch heute arbeitet niemand mehr für den gewerkschaftlichen Tariflohn. Er wird überall unterschritten.

Heute stricken Linkspartei und Globalisierungsgegner an der Legende des Keynesianismus, der in der Nachkriegszeit mittels Sozialstaat und starken Gewerkschaften für Wohlstand für alle gesorgt haben soll. Die Arbeiterkämpfe Ende der 1960er Jahre machen aber deutlich: Das Proletariat konnte auch deshalb so selbstständig außerhalb und auch gegen die Gewerkschaften kämpfen, weil es wusste, dass es die vorangegangenen Besserungen eben nicht den ewig zur "Lohnmäßigung" mahnenden Gewerkschaften zu verdanken hatte.

Die Erklärung für die Renaissance des Klassenkampfes erschöpft sich eben nicht in der Erkenntnis über die "Veränderung der Streikkultur". Ein entscheidender Faktor war die Änderung der Perspektive. Im Vergleich zu heute schien das Niveau der Arbeitslosigkeit damals gering, das Ausmaß der Reallohneinbußen kaum minder. Entscheidend war, dass der Glaube an die "Wirtschaftswunderjahre", an einer allmählichen, aber stetigen Besserung der Lage der Lohnarbeiter innerhalb des Kapitalismus an Glaubwürdigkeit verlor.

 

Die Autonomia und 1968-69

Wie Rosa Luxemburg aufgezeigt hat, liegt das Wesen des Massenstreiks und dessen Heranreifung darin, dass die Gesamtheit der Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Kulturbedingungen, kurz: der Reproduktionsbedingungen des Proletariats nach und nach im Kampf thematisiert und in öffentlichen Debatten reflektiert wird. So wird der Umsturz des Lohnsystems bis in seine Wurzeln hinein vorbereitet. Das ganze Spektrum dieses Kampfes findet seinen Widerhall in der breiten Palette der Forderungen, die Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre aufgestellt wurden.

Demgegenüber neigte der bereits oben erwähnte Ansatz der Autonomia dazu, diese Kämpfe auf einige ihrer Aspekte zu reduzieren. Die Revolte gegen das Regime der Ausbeutung, gegen Fließband, Normerhöhung und sinnentleerte, entfremdete Arbeit wird als Kern der Bewegung angesehen. Der Kampf für Lohnerhöhungen als Reaktion auf die Verteuerung z.B. - die in Polen 1970 bis 1980 oder in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern eine so wichtige Rolle spielte - wird dagegen vergleichsweise ausgeblendet. Für die Theorie der Autonomia war das Streben der Facharbeiter nach Selbstverwaltung und nach der Bewahrung der eigenen kreativen Rolle im Produktionsprozess das Wesen der Oktoberrevolution in Russland sowie der Rätebewegung in Westeuropa am Ende des I. Weltkriegs. Die Ersetzung des Facharbeiters durch den ungelernten Massenarbeiter mittels Fordismus, Keynesianismus und Sozialstaat war die Reaktion des Kapitals auf diese Bedrohung. Aus dieser Sicht erklärt sich die Explosion des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre dadurch, dass die Massenarbeiter nun so weit waren, den Aufstand gegen dieses Regime der Massenproduktion zu proben. Die Tatsache, dass dieser Kampf zu offenen Konfrontationen mit den Gewerkschaften, mit den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien führte, wurde dadurch erklärt, dass die Arbeiter nicht mehr um ihren Platz in der Produktion rangen, sondern gegen die Arbeit an sich rebellierten, während die Organisationen der "alten Arbeiterbewegung" als Vertreter der Arbeitswelt mit dieser untrennbar verbunden waren.

Der Standpunkt der Autonomisten in Italien der 1960er Jahre hatte einen großen Vorzug: Er erkannte ohne Wenn und Aber an, dass 1968 in Frankreich, 1969 in Italien usw. etwas wahrhaft Historisches auf der Ebene des Klassenkampfes vor sich ging. Demgegenüber versagten die mehr oder minder fossilen Überbleibsel der Kommunistischen Linken in Italien wie Programma Comunista oder Battaglia Comunista voll und ganz darin, die Bedeutung dieses Kampfes zu begreifen. Daher erklärt sich u.a. die Anziehungskraft des Operaismus heute, zu einer Zeit also, in der die politisierten Vorkämpfer des Proletariats das wahre Ausmaß und die wirkliche Bedeutung dieser Kämpfe wiederentdecken. Verschiedene Beiträge in Aufheben und in Kosmosprolet ringen noch um dieses Erbe des Operaismus bzw. um die Frage der Vereinbarkeit "operaistischer" und "linkskommunistischer" Theorien des Klassenkampfes. In mehreren Artikeln in Kosmoprolet, einschließlich der 28 Thesen, wie auch im Artikel von Birke in Aufheben finden wir sowohl Kritiken an der Sichtweise der Autonomie als auch die Wiederholung ihrer klassischen Thesen.

Aus unserer Sicht jedenfalls kann die Theorie der Autonomia das Phänomen der Wiedergeburt des Klassenkampfes beschreiben, aber nicht wirklich erklären. Die Theorie der "Arbeiterwissenschaft", die die Gruppe um die Zeitschrift Quaderni Rossi zwischen 1961 und 1965 entwickelte, richtete sich ebenso ausdrücklich gegen den "Linkskommunismus" wie gegen den "Reformismus" (sprich: Sozialdemokratie oder Stalinismus). Sie warf der Kommunistischen Linken - sowohl der an die Notwendigkeit der Klassenpartei festhaltenden "Italienischen Linken" als auch dem "Rätekommunismus" - vor, genauso wenig wie der "Leninismus" verstanden zu haben, dass der Schwerpunkt des Klassenkampfes im Produktionsprozess selbst liegt. Das ist eine außerordentliche Einschränkung der Sichtweise. Kann man die Geschichte des Befreiungskampfes des Proletariats begreifen, ohne ihre theoretische oder organisatorische Dimension zu berücksichtigen? Kann man die Oktoberrevolution von 1917 in Russland oder die Novemberrevolution von 1918 in Deutschland verstehen, wenn man die Erhebung gegen den imperialistischen Krieg ausblendet? Kann man 1968 enträtseln, ohne die Selbstentlarvung des Stalinismus in der Tschechoslowakei und des demokratischen Westens in Vietnam, ohne das Unbehagen der Jugend weltweit gegenüber der kapitalistischen Kultur usw. in Betracht zu ziehen?

 

Die Rolle der Generationen

Neben der Wiederkehr der offenen weltweiten Krise des Systems gibt es einen anderen wichtigen Erklärungsansatz, um das Phänomen 1968 zu erklären: den Faktor Zeit. Einst hatte Marx darauf hingewiesen, als er, auf die biblische Geschichte des Auszugs des jüdischen Volkes aus Ägypten anspielend, anmerkte, das 40-jährige Umherirren in der Wüste erkläre sich dadurch, dass erst eine neue Generation das "Gelobte Land" betreten könne.

Im Artikel über die Lehrlingsbewegung lesen wir dazu:

"Vor diesen Hintergrund betrachtet ist die legendäre Streikwelle von 1969, welche nur wenig später ihren Auftakt während eines 2tätigen Spontanstreiks bei Hoesch in Dortmund nimmt, an dem sich ca. 27.000 beteiligten (entgegen allen Maßregelungsversuchen des DGB) ohne die vorwärtstreibende Kraft der jungen Arbeiter in den vorangegangenen Jahren eigentlich nicht mehr vorstellbar. Wenn in den Einschätzungen zur Bewegung der Arbeiter 1967-69 in verschiedenen revolutionären Zusammenhängen gelegentlich von einer ‚neuen Arbeiterbewegung' oder einer ‚neuen Generation von ungeschlagenen Proletariern' die Rede ist, also von denen, die nicht persönlich verstrickt waren in die unzähligen Niederlagen der alten Arbeiterbewegung, dann sind es konkret diese jungen Menschen gewesen. Nur ihnen konnte es zu dieser Zeit gelingen mit den überlebten Strukturen und Traditionen (der alten Arbeiterbewegung) zu brechen, da sie nicht in diesen verheimatet waren." (Aufheben, S. 33)

Bis zu einem bestimmten Punkt war zur damaligen Zeit ein Bruch zwischen den Generationen notwendig, damit die Arbeiterklasse den durch die historische Niederlage der Weltrevolution entstandenen Mief und die Resignation und Verzerrung der Realität abschütteln konnte. Aber der Artikel zur Lehrlingsbewegung scheint auch zu erkennen, dass es sich hierbei zugleich um ein notwendiges Übel handelte. Der Artikel spricht in diesem Zusammenhang von einem Dilemma der Bewegung und zitiert Oswald Todtenberg, der 1971 über die Lehrlingsbewegung schrieb: "Entweder ist sie in erster Linie erfolgreich - in der Mobilisierung und Politisierung weiterer Jugendlicher - dann scheitert sie langfristig daran, dass die Jugendlichen allein weiter relativ unbedeutend für den Kampf um die Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung bleiben. Oder sie wenden sich unmittelbar an die wichtigsten gesellschaftlichen      Gruppen, an die Arbeiter und Angestellten, und scheitern dabei vorläufig an der politischen Unbeweglichkeit dieser Gruppen, an der Tatsache also, dass diese nicht nur aktuell unpolitisch, sondern entpolitisiert worden sind." (S. 28)

Der Klassenkampf war die Geburtsstätte der Lehrlingsbewegung, wie der Genosse Riga schreibt. Gleichzeitig hatten die Protagonisten das Gefühl, so etwas wie einer revolutionären Jugendbewegung anzugehören, die sie von der älteren Generation der Arbeiterklasse unterschied. Dies führte eine Zeitlang dazu, dass die Lehrlingsbewegung eine verbindende Rolle zwischen den Arbeitern und Angestellten einerseits und der kämpfenden Jugend in den Universitäten andererseits übernahm. Doch das Dilemma blieb. Tatsächlich war es das Aufflammen der Kämpfe in den Betrieben, das die Illusion über einen eigenständigen Kampf oder gar über eine führende Rolle der Studenten den Garaus machte. Diese Antwort der Arbeiterklasse folgte der Revolte der Studenten in Frankreich 1968 auf dem Fuße, in Deutschland erst 1969, also ca. zwei Jahre später. Der Artikel zitiert die "Rote Zelle Germanistik" innerhalb der SDS und der APO wie folgt: "Mit den Septemberstreiks wurde die Diskussion auf eine neue Grundlage gestellt. Die Streiks lösten nicht nur Begeisterung aus, sie führten auch zu einer Ernüchterung der Studenten, die erkennen mussten, dass sie trotz aller revolutionären Parolen sich total abstrakt zum Proletariat verhalten hatten, indem sie die Arbeiter als völlig ruhig, immer nur als Objekt der Agitation...nicht als Subjekt von Klassenkämpfen betrachtet hatten. Die Unfähigkeit der Studentenbewegung, den streikenden Arbeitern sinnvolle Unterstützung zu geben, führte zu der Frage, welche Rolle die revolutionäre Intelligenz im Klassenkampf zu spielen hätte, wobei uns zum ersten Mal klar war, dass nicht wir, sondern das Proletariat den Klassenkampf führen wird." (S. 41).

Die Streikwellen der späten 1960er klärten die Frage des Verhältnisses der Arbeiterklasse zu den Studenten, zumal die damalige Studentenschaft noch lange nicht so stark durchproletarisiert war wie heute (so dass kein Gefühl der Zugehörigkeit zur Klasse der Lohnarbeit aufkommen konnte, so wie wir es 2006 in Frankreich erlebt haben). Aber das Problem des Verhältnisses zwischen den Generationen blieb. Der Begriff "Generationenkonflikt" gehörte zu den gängigsten Schlagwörter dieser Zeit. Er hat sich so stark eingeprägt, so dass es heute für eine Selbstverständlichkeit gehalten wird, dass jede Generation eine Revolte gegen ihre Vorgänger veranstalten muss. Ist das so? Die Geschichte der Arbeiterbewegung jedenfalls zeigt ein anderes Bild. Zwar galt es als selbstverständlich, dass die junge Generation ihre eigenen Qualitäten im Kampf einbringt: der ganze Elan, die Energie und die Frische, auch die Träume des jungen Lebens. Aber genau so selbstverständlich war es auch, dass die Älteren ihre Erfahrungen an die junge Generation weiter gaben, die wie in einer geschichtliche Kette ihren Platz im Kampf des Proletariats einnahmen.

Der Konflikt der Generationen in den 1960er Jahren war natürlich keine Erfindung der historischen Akteure von damals. Für die Arbeiterklasse war es ein durch den Verlauf der Geschichte vorgegebenes Problem. Das buchstäblich unaussprechliche Leid und Trauma, das die Lohnabhängigen, ja die ganze Menschheit im 20. Jahrhundert aufgrund der welthistorischen Niederlage des Proletariats über sich ergehen lassen mussten, ließ nicht nur eine, sondern auch eine zweite Generation, die Kriegs- und die Nachkriegsgeneration verstummen. Gerade der vorübergehende wirtschaftliche Nachkriegsaufschwung in den Industrieländern besiegelte dieser Niederlage. Die Generation des "Wirtschaftswunders" war nicht nur außerstande, die Lehren aus den Niederlagen zu ziehen. Oft genug konnte sie über das Erlittene nicht mal sprechen. Die neue Generation wiederum betrat 1968 mit revolutionärem Elan, aber auch mit einem tiefen Gefühl der Unsicherheit die Bühne. Wir meinen hiermit vor allem die Entwurzelung, die sich einzustellen pflegt, wenn man aus jeglichem historischen Kontext herausgerissen wird. Der Bruch in der organischen Kontinuität der Arbeiterbewegung war eine der schwerwiegendsten Folgen der langen Konterrevolution.

War die vorangegangene Generation unfähig zu sprechen, so war die neue Generation oft nicht in der Lage zuzuhören.

Auch die herrschende Klasse hatte diesen Generationskonflikt nicht erfunden. Aber sie tat alles, um ihn zu vertiefen und auszunutzen. Damals machten nicht nur die Massenstreiks der Arbeiterklasse von sich reden. Auch die chinesische Kulturrevolution machte Furore. Wie die Nationalsozialisten in Deutschland oder Stalin in der UdSSR hatten die Maoisten im Nachkriegschina die junge Generation von Kindesbeinen an von der Elterngeneration abgesondert, ja gegen Letztere aufgehetzt. Als es zum Machtkampf innerhalb der Staatspartei kam, mobilisierte Mao die auf seine Person als Vaterfigur eingeschworenen StudentInnen und SchülerInnen für seine Zwecke. Wie eine wild gewordene Meute ließ er sie durchs Land hetzen und foltern.

Aber die schlimmste Folge der Konterrevolution war das Vorherrschen linkskapitalistischer Ideologien und Vorbilder. Zwar entstanden damals viele politische Gruppen und Zirkel, die bemüht waren, sich die Lehren wieder anzueignen, die vor allem die Kommunistische Linke aus den Niederlagen ihre Klasse gezogen hatte. Aber diese Ansätze blieben unter den Politisierten von damals stark in der Minderheit. Die meisten verschwanden rasch wieder aufgrund ihrer Unerfahrenheit.

So ergab sich ab 1968 die Tragödie, dass die Mehrheit der Politisierten, welche die neue Generation hervorbrachte, Opfer linkskapitalistischer Ideologien geworden sind. Reaktionäre Mythen wie die des Antifaschismus oder der nationalen Befreiungsbewegungen gewannen rasch die Oberhand. Als solche spielten diese Politisierten - zumeist ungewollt - eine negative, ja zerstörerische Rolle gegenüber den aufflammenden Arbeiterkämpfen. Durch ihr Unwissenheit über die wirklichen Lehren des historischen Klassenkampfes abgetrennt, durch ihre Unsicherheit anfällig für Dogmen, für Ideologien und für Idole, wirkten diese Militanten auf zweifache Weise negativ. Zum einem durch die von ihnen propagierten, reaktionären Bewegungen und Ziele. Zum anderen durch ihre Verhaltensweise, ihre Dialogunfähigkeit, ihre bürgerlichen Machtkämpfe untereinander, die auf die Arbeiterklasse abstoßend wirkten. Die Klasse reagierte mit zunehmendem Misstrauen auf die zerstörerische Rolle der großen Mehrzahl der damals Politisierten, was natürlich sehr positiv war. Aber diese Reaktion nahm die Form der Ablehnung der Politik und des Rückzugs in den eigenen Betrieb an, was die gewerkschaftliche Sabotage der Kämpfe von innen nur begünstigen konnte. Der Artikel gibt Beispiele, wie etwa die Rivalitäten der K-Gruppen untereinander dazu führten, dass innerhalb der Lehrlingsbewegung die Entsendung von Delegierten und die politische Debatten auf den Treffen und Konferenzen eingeschränkt wurden.

Der Genosse Riga sieht die zunehmend negative Rolle der K-Gruppen als ein Ergebnis aus den Niederlagen der Kämpfe nach 1968. Wir meinen, dass das Problem weiter gefasst werden muss. 1968 markierte das Ende der Konterrevolution. Das bedeutet aber nicht, dass die negativen Folgen dieser Konterrevolution nicht weiter wirkten. Der Stalinismus warf noch immer seinen Schatten. Es hat sich herausgestellt, dass es der Anstrengung von mehr als einer Generation bedarf, um das tote Gewicht dieses Albtraums abzuschütteln. Heute wächst eine neue Generation heran, die ohne die Träume und die Illusionen, die die Generation der 68er noch mitbekam, aufwächst und die den gemeinsamen Kampf und die Diskussion zwischen den Generationen sucht. "Die Kämpfe in Frankreich während des vergangenen Jahres, welche sich auf allen Ebenen direkt gegen Reformen richteten, geben uns einen Vorgeschmack darauf, was uns als Kommunisten in Europa zukünftig bevorstehen kann." (S. 48).