Aktualisierung der Thesen zum Zerfall (2023)

Printer-friendly version

Die IKS verabschiedete im Mai 1990 Thesen mit dem Titel Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, die unsere umfassende Analyse der Lage der Welt zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des imperialistischen Ostblocks Ende 1989 und für die Zeit danach darstellten. Der Kerngedanke dieser Thesen war, wie der Titel schon sagt, dass die Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, in eine neue Phase seiner Entwicklung eingetreten war, die vom allgemeinen Zerfall der Gesellschaft beherrscht wird. Auf ihrem 22. Kongress 2017 hatte unsere Organisation durch die Annahme eines Textes mit dem Titel Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017) eine Aktualisierung des Dokuments von 1990 für notwendig erachtet, um "die wesentlichen Punkte der Thesen mit der gegenwärtigen Situation [zu] konfrontieren: In welchem Maße sind die verschiedenen Elemente bestätigt, ja sogar verstärkt worden, und inwieweit sind sie widerlegt worden oder müssen weiterentwickelt werden". Dieses zweite Dokument, das 27 Jahre nach dem ersten verfasst wurde, machte deutlich, dass sich die 1990 angenommene Analyse weitgehend bestätigt hatte. Gleichzeitig wurden in diesem Text von 2017 Aspekte der Weltlage angesprochen, die in dem Text von 1990 nicht enthalten waren, die aber das dort gezeichnete Bild vervollständigten und an Bedeutung gewonnen hatten: die Explosion der Ströme von Menschen, die vor Kriegen, Hunger und Verfolgung fliehen, und auch der Anstieg des fremdenfeindlichen Populismus, der sich zunehmend auf das politische Leben der herrschenden Klasse auswirkt.

Die IKS hält es heute für notwendig, die Texte von 1990 und 2017 erneut zu aktualisieren, und zwar nicht ein Vierteljahrhundert nach letzterem, sondern nur sechs Jahre danach, weil wir in der letzten Zeit eine spektakuläre Beschleunigung und Verstärkung der Erscheinungsformen dieses allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft erlebt haben.

Diese katastrophale und beschleunigte Entwicklung des Zustands der Welt ist den wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Führern der Welt natürlich nicht entgangen. Im "Global Risks Report" (GRR), der auf den Analysen einer Vielzahl von "Experten" (1200 im Jahr 2022) beruht und jedes Jahr auf dem Davoser Wirtschaftsforum (World Economic Forum – WEF), in dem diese führenden Politiker zusammenkommen, vorgestellt wird, heißt es :

"Die ersten Jahre dieses Jahrzehnts kündigten eine besonders unruhige Periode in der menschlichen Geschichte an. Die Rückkehr zu einer ‘neuen Normalität’ nach der COVID-19-Pandemie wurde schnell durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine beeinträchtigt, der eine neue Serie von Nahrungsmittel- und Energiekrisen einleitete – und damit Probleme entzündete, die Jahrzehnte des Fortschritts zu lösen versucht hatten.

Zu Beginn des Jahres 2023 sieht sich die Welt mit einer Reihe von Risiken konfrontiert, die sowohl völlig neu als auch unheimlich vertraut sind. Wir haben die Rückkehr ‘alter’ Risiken – Inflation, Lebenshaltungskostenkrisen, Handelskriege, Kapitalabflüsse aus Schwellenländern, weit verbreitete soziale Unruhen, geopolitische Auseinandersetzungen und das Schreckgespenst eines Atomkriegs – erlebt, die nur wenige Wirtschaftsführer und öffentliche Entscheidungsträger dieser Generation kannten. Diese Phänomene werden durch relativ neue Entwicklungen in der globalen Risikolandschaft verstärkt, darunter unhaltbare Schuldenstände, eine neue Ära des schwachen Wachstums, geringerer globaler Investitionen und der Deglobalisierung, ein Rückgang der menschlichen Entwicklung nach Jahrzehnten des Fortschritts, die rasche und unkontrollierte Entwicklung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch) und der zunehmende Druck durch die Auswirkungen des Klimawandels und der damit verbundenen Ambitionen in einem immer kleiner werdenden Zeitfenster für den Übergang zu einer Welt mit +1,5°C. All diese Elemente laufen zusammen, um ein einzigartiges, unsicheres und unruhiges Jahrzehnt zu gestalten." (Wichtigste Schlussfolgerungen: einige Auszüge)

In der Regel versucht die herrschende Klasse, sei es in Regierungserklärungen oder in den großen Medien, die Feststellungen über den extremen Ernst der Weltlage abzuschwächen. Wenn sie jedoch die wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Welt zusammenbringt, wo sie mit sich selbst spricht, wie beim jährlichen Forum in Davos, kommt sie nicht umhin, eine gewisse Klarheit an den Tag zu legen. Es ist übrigens bezeichnend, dass die alarmierenden Feststellungen in diesem Bericht in den großen Medien nur sehr wenig Widerhall fanden, deren grundlegende Berufung nicht darin besteht, die Bevölkerung und insbesondere die Ausgebeuteten ehrlich zu informieren, sondern als Propagandaagenturen zu fungieren, die dazu bestimmt sind, sie eine Situation akzeptieren zu lassen, die immer katastrophaler wird, und ihnen den vollständigen historischen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise zu verheimlichen.

Tatsächlich decken sich die Feststellungen, die in dem im Januar 2023 auf dem Davoser Forum vorgelegten Bericht enthalten sind, weitgehend mit dem Text, den die IKS im Oktober 2022 unter dem Titel Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf verabschiedet hat. In Wirklichkeit ist die Analyse der IKS derjenigen der klügsten "Experten" der herrschenden Klasse nicht nur um einige Monate, sondern um Jahrzehnte vorausgegangen, da die Feststellungen, die in unserem Dokument vom Oktober 2022 getroffen werden, nur eine frappierende Bestätigung der Prognosen sind, die wir bereits Ende der 1980er Jahre, insbesondere in unseren Thesen zum Zerfall, hervorgehoben haben. Dass die Kommunisten bei der Vorhersage der großen katastrophalen Trends, die die kapitalistische Welt prägen, einen gewissen, ja sicheren Vorsprung vor den bürgerlichen "Experten" haben, ist nicht überraschend: Die herrschende Klasse kann in der Regel nur vor sich selbst und vor der Klasse, die sie ausbeutet und die als einzige eine Lösung für die Widersprüche, die die Gesellschaft untergraben, bieten kann, dem Proletariat, eine grundlegende Tatsache verschleiern: die kapitalistische Produktionsweise ist ebenso wenig wie die Produktionsweisen, die ihr vorausgingen, von ewiger Dauer. Wie die Produktionsweisen der Vergangenheit ist sie dazu bestimmt, wenn sie nicht vorher die Menschheit selbst zerstört, durch eine andere, überlegene Produktionsweise ersetzt zu werden, die der Entwicklung der Produktivkräfte entspricht, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte ermöglicht hat. Eine Produktionsweise, die die Warenbeziehungen, die den Kern der historischen Krise des Kapitalismus ausmachen, abschaffen wird, in der es keinen Platz mehr für eine privilegierte Klasse gibt, welche von der Ausbeutung der Produzenten lebt. Gerade weil sie ihren eigenen Untergang nicht in Betracht ziehen kann, ist die bürgerliche Klasse in der Regel unfähig, einen klaren Blick auf die Widersprüche zu werfen, die die von ihr geführte Gesellschaft in den Untergang treiben.

Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals auf Deutsch schrieb Marx: "Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken."

Zur gleichen Zeit, als die IKS die Zerfallsthesen annahm, die den Eintritt des Kapitalismus in eine neue, letzte Phase seiner Dekadenz ankündigten, die durch eine qualitative Verschärfung der Widersprüche dieses Systems und einen allgemeinen Zerfall der Gesellschaft gekennzeichnet ist, schwärmte der "praktische Bourgeois", insbesondere in der Person von Präsident Bush senior, von der neuen glorreichen Perspektive, die der Zusammenbruch der stalinistischen Regime und des "sowjetischen" Blocks in seinen Augen einleitete, einer Ära des "Friedens" und "Wohlstands". Heute, vor der "widerspruchsvollen Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft" nicht in der Gestalt einer zyklischen Krise des 19. Jahrhunderts, sondern einer permanenten und unlösbaren Krise ihrer Wirtschaft, die zu einer zunehmenden Störung und einem Chaos in der Gesellschaft führt, ist der "praktische Bourgeois" gezwungen, sich ein wenig "Dialektik" einpauken zu lassen.

Aus diesem Grund wird sich die Aktualisierung der Zerfallsthesen weitgehend auf die Analysen und Prognosen im "Global Risks Report" von 2023 sowie auf unseren Text vom Oktober 2022 stützen, den er in vielerlei Hinsicht bestätigt. Es ist eine Bestätigung durch die klarsten Instanzen der herrschenden Klasse, in Tat und Wahrheit ein echtes Eingeständnis des historischen Bankrotts ihres Systems. Die Verwendung von Daten und Analysen, die von der feindlichen Klasse geliefert werden, ist keine "Erfindung" der IKS. Tatsächlich verfügen Revolutionäre in der Regel nicht über die Mittel, um die Daten und Statistiken zu sammeln, die der Staats- und Verwaltungsapparat der Bourgeoisie für seine eigenen Zwecke der Gesellschaftsführung erhebt. Indem er sich zum Teil – natürlich kritisch – auf diese Art von Daten stützte, gab Engels seiner Studie über Die Lage der arbeitenden Klasse in England Fleisch an den Knochen. Und Marx verwendete, insbesondere in Das Kapital, häufig die "Blue Notes" der britischen parlamentarischen Untersuchungen. Bei den Analysen und Prognosen, die von den "Experten" der Bourgeoisie erstellt werden, muss man noch kritischer sein als bei den Fakten, vor allem wenn sie einer Propaganda entsprechen, die "beweisen" soll, dass der Kapitalismus das beste oder das einzige System sei, das den Menschen Fortschritt und Wohlstand sichern könne. Wenn diese Analysen und Prognosen jedoch auf die katastrophale Sackgasse hinweisen, in der sich dieses System befindet, was natürlich nicht mit seiner Apologie übereinstimmen kann, ist es nützlich und wichtig, sich auf sie zu stützen, um unsere eigenen Analysen und Prognosen zu untermauern und zu stärken.

Teil I: Die 2020er Jahre läuten eine neue Phase des kapitalistischen Zerfalls ein

In dem im Oktober 2022 verabschiedeten Text heißt es:

"Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden zu einer der krisenhaftesten Zeiten in der Geschichte und haben bereits unbeschreibliche Katastrophen und Leid mit sich gebracht. Sie begannen mit der Covid-19-Pandemie (die immer noch andauert) und einem Krieg im Herzen Europas, in der Ukraine, der bereits seit über neun Monaten andauert und dessen Ausgang niemand vorhersehen kann. Der Kapitalismus ist in eine Phase schwerer Unruhen auf allen Ebenen eingetreten. Hinter dieser Anhäufung und Verflechtung von Katastrophen steht die drohende Vernichtung der Menschheit. (...)

Mit dem blitzartigen Ausbruch der Covid-Pandemie haben wir die Existenz von vier Merkmalen aufgezeigt, die für die Zerfallsphase typisch sind:

- Die zunehmende Schwere ihrer Auswirkungen. (...)

- Das Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls auf wirtschaftlicher Ebene (...).

- Die zunehmende Wechselwirkung ihrer Effekte, wodurch sich die Widersprüche des Kapitalismus auf einem nie zuvor erreichten Niveau verschärfen (...).

- Die zunehmende Präsenz ihrer Auswirkungen in den Kernländern (...)

Das Jahr 2022 war ein leuchtendes Beispiel für diese vier Merkmale, durch:

- den Ausbruch des Krieges in der Ukraine;

- das Auftreten nie dagewesener Flüchtlingswellen;

- die Fortsetzung der Pandemie mit Gesundheitssystemen, die am Rande des Zusammenbruchs stehen;

- einen zunehmenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren politischen Apparat, der sich in der Krise in Großbritannien spektakulär manifestiert hat;

- eine Agrarkrise, die bei einer allgemeinen Überproduktion zu einer Verknappung vieler Nahrungsmittel führt, was seit über einem Jahrhundert der Dekadenz des Kapitalismus ein relativ neues Phänomen darstellt (...).

- erschreckende Hungersnöte, von denen immer mehr Länder betroffen sind.

Nun führt die Aggregation und Interaktion zerstörerischer Phänomene zu einem "Strudel-Effekt", der jede seiner Teilwirkungen bündelt, katalysiert und vervielfacht, indem er noch verheerendere Verwüstungen verursacht (...). Dieser "Strudel-Effekt" stellt jedoch eine qualitative Veränderung dar, deren Folgen in der kommenden Zeit immer deutlicher zu Tage treten werden.

In diesem Zusammenhang muss die führende Rolle des Krieges als eine von den kapitalistischen Staaten gewollte und geplante Aktion hervorgehoben werden, die zum mächtigsten und schwerwiegendsten Faktor für Chaos und Zerstörung wurde. Tatsächlich bewirkt und beinhaltet der Krieg in der Ukraine einen Multiplikatoreffekt der Faktoren von Barbarei und Zerstörung (...).

In diesem Zusammenhang muss man die Ausweitung der Umweltkrise in ihrer ganzen Schwere verstehen, die auf ein bisher nicht gekanntes Niveau ansteigt:

- eine Hitzewelle im Sommer, die schlimmste seit 1961, mit der Aussicht, dass sich solche Hitzewellen dauerhaft etablieren werden;

- eine noch nie dagewesene Dürre, laut Experten die schlimmste seit 500 Jahren, die sogar Flüsse wie die Themse, den Rhein oder den Po, die normalerweise schnell fließen, in Mitleidenschaft zieht;

- verheerende Brände, ebenfalls die schlimmsten seit Jahrzehnten;

- unkontrollierbare Überschwemmungen wie in Pakistan, wo ein Drittel der Landesfläche betroffen war (ebenso wie in Thailand);

- ein drohender Kollaps der Eisschilde infolge des Abschmelzens von Gletschern, die eine Größe vergleichbar mit der Fläche Großbritanniens haben, mit katastrophalen Folgen."

Die von den "Experten" des WEF getroffenen Feststellungen sind nicht anders:

"Das nächste Jahrzehnt wird von ökologischen und gesellschaftlichen Krisen geprägt sein, die durch tiefer liegende geopolitische und wirtschaftliche Trends angeheizt werden. Die ‘Krise der Lebenshaltungskosten’ wird als das schwerwiegendste globale Risiko für die nächsten zwei Jahre eingestuft, mit einem kurzfristigen Höhepunkt. Der ‘Verlust der biologischen Vielfalt und der Zusammenbruch der Ökosysteme’ wird als eines der globalen Risiken angesehen, die sich im nächsten Jahrzehnt am schnellsten verschlechtern werden, und alle sechs Umweltrisiken gehören zu den zehn größten Risiken für die nächsten zehn Jahre. Neun Risiken sind in der Rangliste der zehn wichtigsten kurz- und langfristigen Risiken enthalten, darunter ‘geoökonomische Konfrontation’ und ‘Erosion des sozialen Zusammenhalts und gesellschaftliche Polarisierung’, sowie zwei Neuzugänge in der Rangliste: ‘weit verbreitete Cyberkriminalität und Cyberunsicherheit’ und ‘unfreiwillige Migration in großem Maßstab’.

Regierungen und Zentralbanken könnten in den nächsten zwei Jahren mit hartnäckigem Inflationsdruck konfrontiert sein, insbesondere aufgrund der Möglichkeit eines lang anhaltenden Krieges in der Ukraine, anhaltender Engpässe aufgrund einer anhaltenden Pandemie und eines Wirtschaftskrieges, der zu einer Entkopplung der Lieferketten führt. Auch die Risiken einer Verschlechterung der Wirtschaftsaussichten sind erheblich. Ein Ungleichgewicht zwischen Geld- und Fiskalpolitik wird die Wahrscheinlichkeit von Liquiditätsschocks erhöhen und damit einen längeren Wirtschaftsabschwung und eine weltweite Überschuldung signalisieren. Eine anhaltende angebotsinduzierte Inflation könnte zu einer Stagflation führen, deren sozioökonomische Folgen angesichts einer beispiellosen Wechselwirkung mit historisch hohen Staatsverschuldungsniveaus schwerwiegend sein könnten. Die Fragmentierung der Weltwirtschaft, geopolitische Spannungen und schwierigere Umstrukturierungen könnten in den nächsten zehn Jahren zu einer weit verbreiteten Überschuldung beitragen. (...)

Der Wirtschaftskrieg wird zur Normalität, mit zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen den Weltmächten und staatlichen Eingriffen in die Märkte in den nächsten zwei Jahren. Die Wirtschaftspolitik wird defensiv eingesetzt werden, um die Autarkie und Souveränität gegenüber rivalisierenden Mächten zu stärken, aber sie wird auch zunehmend offensiv eingesetzt werden, um den Aufstieg anderer zu begrenzen. Die intensive geoökonomische Militarisierung wird die Sicherheitsanfälligkeiten hervorheben, die sich aus der wechselseitigen Abhängigkeit von Handel, Finanzen und Technologie zwischen den global integrierten Volkswirtschaften ergeben, und damit das Risiko bergen, dass der Zyklus von Misstrauen und Entkopplung eskaliert.

Die Befragten des GRPS [Global Risks Perception Survey] erwarten, dass die zwischenstaatlichen Konfrontationen in den nächsten zehn Jahren weitgehend wirtschaftlicher Natur bleiben werden. Allerdings könnten der jüngste Anstieg der Militärausgaben und die Verbreitung neuer Technologien an eine größere Anzahl von Akteuren zu einem globalen Wettrüsten bei aufstrebenden Technologien führen. Die längerfristige globale Risikolandschaft könnte durch Multi-Domain-Konflikte und asymmetrische Kriege definiert werden, wobei der gezielte Einsatz von Waffen der neuen Technologien in einem potenziell zerstörerischeren Ausmaß als in den letzten Jahrzehnten stattfindet.

Die immer stärkere Verflechtung von Technologien mit dem kritischen Funktionieren von Gesellschaften setzt die Bevölkerung direkten inneren Bedrohungen aus, einschließlich solcher, die versuchen, das Funktionieren der Gesellschaft zu zerschlagen. Parallel zur Zunahme der Cyberkriminalität werden Versuche, wichtige technologische Ressourcen und Dienstleistungen zu stören, häufiger werden, wobei Angriffe auf Landwirtschaft und Wasser, Finanzsysteme, öffentliche Sicherheit, Transport, Energie und Kommunikationsinfrastrukturen in den Nationalstaaten, im Weltraum und unter Wasser erwartet werden.

Die Zerstörung der Natur und der Klimawandel sind intrinsisch miteinander verbunden – ein Versagen in einem Bereich wird sich kaskadenartig auf den anderen auswirken. Ohne politische Veränderungen oder bedeutende Investitionen wird die Wechselwirkung zwischen den Auswirkungen des Klimawandels, dem Verlust der biologischen Vielfalt, der Ernährungssicherheit und dem Verbrauch natürlicher Ressourcen den Zusammenbruch von Ökosystemen beschleunigen, die Nahrungsmittelversorgung und den Lebensunterhalt in klimasensiblen Volkswirtschaften gefährden, die Auswirkungen von Naturkatastrophen verstärken und die Fortschritte bei der Eindämmung des Klimawandels begrenzen.

Verschärfte Krisen weiten ihre Auswirkungen auf die Gesellschaften aus, beeinträchtigen die Lebensgrundlagen eines viel größeren Teils der Bevölkerung und destabilisieren weltweit mehr Volkswirtschaften als traditionell gefährdete Gemeinschaften und fragile Staaten. Aufbauend auf den für 2023 erwarteten größten Risiken – insbesondere der ‘Energieversorgungskrise’, der ‘steigenden Inflation’ und der ‘Nahrungsmittelversorgungskrise’ – macht sich bereits eine globale Krise der Lebenshaltungskosten bemerkbar. (...)

Die daraus resultierenden sozialen Unruhen und die politische Instabilität werden nicht auf die Schwellenländer beschränkt bleiben, da der wirtschaftliche Druck die mittleren Einkommensschichten weiter aushöhlt. Die zunehmende Frustration der Bürger über die Verluste bei der menschlichen Entwicklung und den Rückgang der sozialen Mobilität sowie die wachsende Kluft bei Werten und Gleichheit stellen eine existenzielle Herausforderung für die politischen Systeme auf der ganzen Welt dar. Die Wahl weniger zentristischer Führungspersönlichkeiten sowie die politische Polarisierung zwischen den wirtschaftlichen Supermächten in den nächsten zwei Jahren könnten zudem den Raum für kollektive Problemlösungen weiter einschränken, Allianzen zerbrechen und zu einer volatileren Dynamik führen.

Angesichts der geringeren Finanzierung des öffentlichen Sektors und konkurrierender Sicherheitsbedenken schwindet unsere Fähigkeit, den nächsten globalen Schock abzufangen. In den nächsten zehn Jahren werden weniger Länder über den nötigen Haushaltsspielraum verfügen, um in zukünftiges Wachstum, grüne Technologien, Bildung, Pflege und Gesundheitssysteme zu investieren.

Durch gleichzeitige Schocks, tief vernetzte Risiken und die Erosion der Widerstandsfähigkeit entsteht das Risiko von Polykrisen – bei denen disparate Krisen so interagieren, dass die Gesamtauswirkungen die Summe der einzelnen Teile bei weitem übersteigen. Die Erosion der geopolitischen Zusammenarbeit wird mittelfristig eine Kettenreaktion auf die globale Risikolandschaft auslösen, insbesondere indem sie zu einer potenziellen Polykrise aus interdependenten ökologischen, geopolitischen und sozioökonomischen Risiken beiträgt, die mit dem Angebot und der Nachfrage nach natürlichen Ressourcen zusammenhängen. Der Bericht beschreibt vier potenzielle Zukünfte, die sich auf die Verknappung von Nahrungsmitteln, Wasser, Metallen und Mineralien konzentrieren und die alle eine humanitäre und ökologische Krise auslösen könnten, von Wasserkriegen und Hungersnöten bis hin zur anhaltenden Übernutzung der ökologischen Ressourcen und einer Verlangsamung der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung an ihn." (Wichtigste Schlussfolgerungen: einige Auszüge)

"Die globale ‘neue Normalität’ ist eine Rückkehr zu den Grundlagen – Nahrung, Energie, Sicherheit – der Probleme, die unsere globalisierte Welt zu lösen bestimmt war. Diese Risiken werden verstärkt durch das anhaltende gesundheitliche und wirtschaftliche Risiko einer globalen Pandemie, durch einen Krieg in Europa und Sanktionen, die sich auf eine global integrierte Wirtschaft auswirken, sowie durch die Eskalation des technologischen Wettrüstens, das durch den industriellen Wettbewerb und verstärkte staatliche Interventionen unterstützt wird. Längerfristige strukturelle Veränderungen der geopolitischen Dynamik (...) fallen mit einem schnelleren Wandel der Wirtschaftslandschaft zusammen und ebnen den Weg für eine Ära geringen Wachstums, niedriger Investitionen und geringer Kooperation sowie für einen potenziellen Rückgang der menschlichen Entwicklung nach jahrzehntelangem Fortschritt." (1.1. Die aktuellen Krisen, S. 13)

"Die Kombination aus extremen Wetterereignissen und begrenzter Versorgung könnte die aktuelle Krise der Lebenshaltungskosten in ein katastrophales Szenario von Hunger und Not für Millionen von Menschen in importabhängigen Ländern verwandeln oder die Energiekrise in eine humanitäre Krise in den ärmsten Schwellenmärkten verwandeln.

Schätzungen zufolge wurden in Pakistan mehr als 800.000 Hektar Ackerland durch Überschwemmungen zerstört (...). Prognostizierte Dürren und Wasserknappheit könnten zu geringeren Ernten und Viehsterben in Ostafrika, Nordafrika und im südlichen Afrika führen und damit die Ernährungsunsicherheit verschärfen.

‘Schwere Schocks oder Preisschwankungen bei Rohstoffen’ sind in 47 Ländern, die im Rahmen der Meinungsumfrage des Forums unter Führungskräften (EOS) befragt wurden, eines der fünf größten Risiken für die nächsten zwei Jahre, während ‘schwere Krisen bei der Rohstoffversorgung’ ein eher lokal begrenztes Risiko darstellen und in 34 Ländern, darunter die Schweiz, Südkorea, Singapur, Chile und die Türkei, als Hauptsorge genannt werden. Die katastrophalen Auswirkungen von Hungersnöten und der Verlust von Menschenleben können auch weiter entfernte Folgen haben, da das Risiko allgemeiner Gewalt steigt und unfreiwillige Migrationen zunehmen" (Krise der Lebenshaltungskosten, S. 15).

"Einige Länder werden nicht in der Lage sein, künftige Schocks einzudämmen, in künftiges Wachstum und grüne Technologien zu investieren oder die künftige Widerstandsfähigkeit von Bildungs-, Gesundheits- und Umweltsystemen zu stärken, da die Auswirkungen von den Mächtigsten verschärft und von den Schwächsten unverhältnismäßig stark getragen werden." (Wirtschaftliche Verlangsamung, S. 17)

"Angesichts der Verwundbarkeiten, die durch die Pandemie und später den Krieg aufgezeigt wurden, orientiert sich die Wirtschaftspolitik, insbesondere in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften, zunehmend an geopolitischen Zielen. Die Länder versuchen, eine ‘Selbstversorgung’ aufzubauen, die durch öffentliche Hilfen unterstützt wird, und ‘Souveränität’ gegenüber rivalisierenden Mächten zu erlangen, (...).

Dies könnte zu Ergebnissen führen, die dem angestrebten Ziel zuwiderlaufen, zu einer geringeren Widerstandsfähigkeit und einem geringeren Produktivitätswachstum führen und das Ende einer Wirtschaftsära einläuten, die durch billigeres und globalisiertes Kapital, Arbeitskräfte, Rohstoffe und Güter gekennzeichnet war.

Diese Situation wird wahrscheinlich weiterhin bestehende Bündnisse schwächen, da sich die Nationen auf sich selbst zurückziehen werden" (Geoökonomische Konfrontation, S. 19).

"Heute haben die atmosphärischen Werte von Kohlendioxid, Methan und Distickstoffoxid allesamt Höchststände erreicht. Die Emissionspfade machen es sehr unwahrscheinlich, dass die globalen Ambitionen, die Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, erreicht werden.

Die jüngsten Ereignisse haben eine Diskrepanz zwischen dem, was wissenschaftlich notwendig ist, und dem, was politisch opportun ist, deutlich gemacht.

Dennoch haben geopolitische Spannungen und wirtschaftlicher Druck die Fortschritte bei der Eindämmung des Klimawandels bereits eingeschränkt – und in einigen Fällen sogar umgekehrt –, zumindest auf kurze Sicht. So hat die EU beispielsweise mindestens 50 Milliarden Euro für den Auf- und Ausbau der Infrastruktur und der Versorgung mit fossilen Brennstoffen ausgegeben, und einige Länder haben Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen.

Die bittere Realität, dass 600 Millionen Menschen in Afrika keinen Zugang zu Elektrizität haben, verdeutlicht die Unfähigkeit, den Wandel zu denen zu bringen, die ihn brauchen, und die anhaltende Attraktivität von schnellen Lösungen auf der Grundlage fossiler Brennstoffe, trotz der damit verbundenen Risiken.

Der Klimawandel wird auch zunehmend zu einem Schlüsselfaktor für Migration werden, und es gibt Hinweise darauf, dass er bereits zur Entstehung von Terrorgruppen und Konflikten in Asien, dem Nahen Osten und Afrika beigetragen hat." (Die Kluft in der Klimapolitik, S. 21).

In dieser Feststellung über den Zustand der heutigen Welt finden sich alle Elemente wieder, die in unserem Text vom Oktober 2022 zitiert wurden, und zwar oft in ausführlicherer Form. Insbesondere die vier Hauptmerkmale der gegenwärtigen Situation:

- die zunehmende Schwere der Auswirkungen des Zerfalls;

- das Hereinbrechen der Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft;

- die zunehmende Wechselwirkung seiner Effekte, wodurch sich die Widersprüche des Kapitalismus in einem bisher nicht gekannten Ausmaß verschärfen;

- die zunehmende Präsenz seiner Auswirkungen in den Kernländern;

sind im WEF-Dokument durchaus präsent, wenn auch mit etwas anderen Worten und Artikulationen, und die politischen Auswirkungen des Zerfalls auf die am weitesten entwickelten Länder werden mit etwas "zaghaften" Worten angesprochen: Man will die Regierungen und politischen Kräfte dieser Länder nicht verärgern, indem man ihre zunehmend irrationale und chaotische Politik anspricht.

Insbesondere betont der WEF-Bericht die zunehmende Interaktion der Zerfallseffekte, die wir als "Strudel-Effekt" bezeichnen. Dazu führt er den Begriff "Polykrise" ein, der bereits in den 1990er Jahren von Edgar Morin verwendet wurde, einem französischen "Philosophen", der mit Castoriadis, dem Mentor der Gruppe Socialisme ou Barbarie, befreundet war. Die Definitionen dieses Begriffs, die der WEF-Bericht übernimmt, lauten wie folgt:

"Ein Problem wird zur Krise, wenn es unsere Fähigkeit zur Bewältigung in Frage stellt und damit unsere Identität bedroht. In der Polykrise sind die Schocks disparat, aber sie interagieren so, dass das Ganze noch erdrückender ist als die Summe seiner Teile.

Eine andere Erklärung für Polykrisen wäre folgende: Wenn multiple Krisen in multiplen globalen Systemen kausal ineinandergreifen, so dass sich die Aussichten der Menschheit erheblich verschlechtern."

Diese "erhebliche Verschlechterung der Aussichten der Menschheit" findet sich im WEF-Bericht im Kapitel mit dem Titel "Global Risks 2033: Tomorrow's Catastrophes" ("Globale Risiken 2033: Die Katastrophen von morgen"), ein Titel, der bereits die Tonalität dieser Aussichten verdeutlicht. Auch einige der Untertitel sind bedeutsam: "Natürliche Ökosysteme: Der Punkt ohne Umkehr ist überschritten", "Menschliche Gesundheit: Perma-Pandemien und chronische Kapazitätsherausforderungen", "Menschliche Sicherheit: Neue Waffen, neue Konflikte".

Konkreter sind hier einige Beispiele, wie der WEF-Bericht diese Themen untergliedert:

"Die biologische Vielfalt innerhalb und zwischen den Ökosystemen geht bereits jetzt schneller zurück als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit.

Menschliche Eingriffe haben sich negativ auf ein komplexes und fein ausbalanciertes globales natürliches Ökosystem ausgewirkt und eine Kette von Reaktionen ausgelöst. In den nächsten zehn Jahren wird das Zusammenspiel von Verlust der biologischen Vielfalt, Umweltverschmutzung, Verbrauch natürlicher Ressourcen, Klimawandel und sozioökonomischen Faktoren eine gefährliche Mischung bilden. Da schätzungsweise mehr als die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung mäßig oder stark von der Natur abhängt, wird der Zusammenbruch der Ökosysteme erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen haben. Dazu gehören das vermehrte Auftreten von zoonotischen Krankheiten, geringere Ernteerträge und ein geringerer Nährwert, zunehmender Wasserstress, der potenziell gewalttätige Konflikte verschärft, der Verlust von Lebensgrundlagen, die von Nahrungsmittelsystemen und natürlichen Dienstleistungen wie der Bestäubung abhängen, sowie immer dramatischere Überschwemmungen, ein Anstieg des Meeresspiegels und Erosionen aufgrund der Schädigung natürlicher Hochwasserschutzsysteme wie Wasserwiesen und Küstenmangroven.

Naturzerstörung und Klimawandel sind intrinsisch miteinander verbunden – ein Misserfolg in der einen Sphäre wird sich kaskadenartig in der anderen auswirken, und um eine Netto-Null zu erreichen, werden Minderungsmaßnahmen für beide Hebel erforderlich sein. Wenn es uns nicht gelingt, die Erwärmung auf +1,5°C oder sogar 2°C zu begrenzen, werden die anhaltenden Auswirkungen von Naturkatastrophen sowie Temperatur- und Niederschlagsveränderungen zur Hauptursache für den Verlust der biologischen Vielfalt in Bezug auf ihre Zusammensetzung und Funktion werden.

Die anhaltende Schädigung von Kohlenstoffsenken, z. B. durch Entwaldung und auftauende Permafrostböden, und der Rückgang der Produktivität der Kohlenstoffspeicherung (Böden und Ozean) könnten diese Ökosysteme in "natürliche" Quellen von Kohlenstoff- und Methanemissionen verwandeln. Der bevorstehende Kollaps der Eiskappen Grönlands und der Westantarktis könnte zum Anstieg des Meeresspiegels und zu Überschwemmungen an den Küsten beitragen, während das "Absterben" der Korallenriffe in niedrigen Breiten, die die Kinderstube des Meereslebens sind, mit Sicherheit Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung und die marinen Ökosysteme im weiteren Sinne haben wird.

Der Druck auf die Biodiversität wird wahrscheinlich durch die anhaltende Entwaldung für landwirtschaftliche Zwecke und die damit verbundene Nachfrage nach zusätzlichem Ackerland noch verstärkt, vor allem in subtropischen und tropischen Gebieten mit dichter Biodiversität, wie Subsahara-Afrika und Südostasien.

Man muss jedoch einen existenzielleren Rückkopplungsmechanismus berücksichtigen: Die Biodiversität trägt zur Gesundheit und Widerstandsfähigkeit von Böden, Pflanzen und Tieren bei, und ihr Rückgang gefährdet die Erträge der Nahrungsmittelproduktion und ihren Nährwert. Dies könnte dann die Entwaldung anheizen, die Lebensmittelpreise erhöhen, die lokalen Lebensgrundlagen gefährden und zu ernährungsbedingten Krankheiten und Todesfällen beitragen. Es kann auch zu unfreiwilliger Migration in großem Maßstab führen.

Es ist klar, dass der Umfang und das Tempo, die für den Übergang zu einer grünen Wirtschaft erforderlich sind, neue Technologien erfordern. Einige dieser Technologien dürften jedoch neue Auswirkungen auf natürliche Ökosysteme haben, und die Möglichkeiten, die Ergebnisse ‘in der Praxis zu testen’, sind begrenzt" (Natürliche Ökosysteme: Der Punkt ohne Umkehr ist überschritten, S. 31).

"Die globale öffentliche Gesundheit steht unter wachsendem Druck, und die Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt laufen Gefahr, nicht mehr angemessen zu funktionieren.

Angesichts der aktuellen Krisen kann die psychische Gesundheit auch durch zunehmende Stressfaktoren wie Gewalt, Armut und Einsamkeit verschärft werden.

Die Gesundheitssysteme sehen sich mit erschöpften Arbeitenden und anhaltenden Engpässen konfrontiert, und das zu einer Zeit, in der die Haushaltskonsolidierung die Aufmerksamkeit und die Ressourcen auf andere Stellen abzulenken droht. Im nächsten Jahrzehnt könnten häufigere und ausgedehntere Epidemien von Infektionskrankheiten im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten erschöpfte Gesundheitssysteme weltweit an den Rand des Zusammenbruchs bringen. (...)

Der Klimawandel dürfte auch die Unterernährung verschärfen, da die Ernährungsunsicherheit zunimmt. Der Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre kann zu Nährstoffmangel bei Pflanzen führen und sogar die Aufnahme von Schwermineralien beschleunigen, die mit Krebs, Diabetes, Herzerkrankungen und Wachstumsstörungen in Verbindung gebracht wurden." (Menschliche Gesundheit: Perma-Pandemien und chronische Kapazitätsherausforderungen, S. 35)

"Eine Umkehr des Trends zur Entmilitarisierung wird das Risiko von Konflikten erhöhen, und zwar in einem potenziell zerstörerischeren Ausmaß. Das wachsende Misstrauen und der Argwohn zwischen globalen und regionalen Mächten haben bereits zu einer Neufestlegung der Prioritäten bei den Militärausgaben und zu einer Stagnation der Nichtverbreitungsmechanismen geführt. Die Verbreitung wirtschaftlicher, technologischer und damit auch militärischer Macht auf eine Vielzahl von Ländern und Akteuren ist die Ursache für die jüngste Iteration eines globalen Wettrüstens.

Die Verbreitung von zerstörerischeren Militärwaffen und neuer Technologien kann neue Formen der asymmetrischen Kriegsführung ermöglichen, die es kleinen Mächten und Einzelpersonen erlauben, auf nationaler und globaler Ebene größere Wirkung zu erzielen" (Menschliche Sicherheit: Neue Waffen, neue Konflikte, S. 38).

"Die Gesamtheit der aufkommenden Bedenken hinsichtlich des Angebots und der Nachfrage nach natürlichen Ressourcen wird bereits zu einem zunehmend besorgniserregenden Thema. Die Befragten der GRPS-Umfrage [Global Risks Perception Survey] haben starke Beziehungen und wechselseitige Verbindungen zwischen den ‘Krisen um natürliche Ressourcen’ und den anderen in den vorangegangenen Kapiteln identifizierten Risiken festgestellt.

Der Bericht beschreibt vier Zukunftsszenarien, die sich auf die Verknappung von Nahrungsmitteln, Wasser, Metallen und Mineralien konzentrieren und die alle eine humanitäre und ökologische Krise auslösen könnten – von Wasserkriegen und Hungersnöten bis hin zur anhaltenden Übernutzung ökologischer Ressourcen und der Verlangsamung von Klimaschutz und -anpassung." (Rivalitäten um Ressourcen: Vier Zukunftsszenarien, S. 57)

Die Schlussfolgerung des Berichts gibt uns ein zusammenfassendes Bild davon, wie die Welt im Jahr 2030 aussehen wird:

"Globale Armut, klimasensitive Existenzkrisen, Unterernährung und ernährungsbedingte Krankheiten, staatliche Instabilität und unfreiwillige Migration haben alle zugenommen, wodurch Instabilität und humanitäre Krisen verlängert und ausgeweitet werden. (...)

Die Unsicherheit in Bezug auf Ernährung, Energie und Wasser wird zu einem Faktor, der zu sozialer Polarisierung, zivilen Unruhen und politischer Instabilität führt.

Übernutzung und Verschmutzung – die Tragödie der globalen Gemeingüter – haben sich ausgebreitet. Hungersnöte sind in einem Ausmaß zurückgekehrt, wie es sie im letzten Jahrhundert nicht gegeben hat. Das Ausmaß der humanitären und ökologischen Krisen verdeutlicht die Lähmung und Ineffizienz der wichtigsten multilateralen Mechanismen angesichts der Krisen, mit denen die Weltordnung konfrontiert ist, die sich in eine Spirale von Polykrisen verwandeln, die sich fortsetzen und verschärfen".

Der Bericht versucht an einigen Stellen, seine Leser nicht zu sehr verzweifeln zu lassen, indem er z. B. sagt:

"Einige der im diesjährigen Bericht beschriebenen Risiken stehen kurz vor einem Wendepunkt. Es ist an der Zeit, kollektiv, entschlossen und mit einer langfristigen Perspektive zu handeln, um den Weg zu einer positiveren, integrativeren und stabileren Welt zu ebnen." Insgesamt zeigt er jedoch, dass die Mittel "für kollektives, entschlossenes Handeln" im gegenwärtigen System nicht vorhanden sind.

In dem Text von 1990 haben wir die Entwicklung unserer Analyse auf die Feststellung gestützt, dass auf globaler Ebene eine ganze Reihe von tödlichen oder chaotischen Erscheinungsformen des sozialen Lebens aufgetreten sind oder sich verschlimmert haben. Wir können sie hier noch einmal aufrufen, um festzustellen, wie sehr die gegenwärtige Situation, wie sie oben dargestellt wurde, diese Erscheinungen verschärft und verstärkt hat:

- "die Zunahme von Hungersnöten in den Ländern der 'Dritten Welt'";

- "die Umwandlung der 'Dritten Welt' in ein gewaltiges Slum" und "die Ausbreitung desselben Phänomens im Herzen der großen Städte der 'fortgeschrittenen' Länder";

- "die 'zufälligen' Katastrophen" und "die immer zerstörerischeren Folgen von ‘Naturkatastrophen’ auf menschlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene";

- "die Umweltverschmutzung (tote Flüsse, Meere als Kloaken, verseuchte Luft in den Städten", radioaktive Verseuchung, "Treibhauseffekt";

- die Ausbreitung von "Epidemien";

- "die unglaubliche Korruption, die im politischen Apparat [der herrschenden Klasse] wächst und gedeiht".

Das Phänomen der Korruption wird im WEF-Bericht nicht behandelt (man soll die Korrupten nicht verärgern!). Trotz aller "tugendhaften" Programme gedeiht diese Geißel nur, natürlich besonders in den Ländern der Dritten Welt: Der Sieg der Taliban in Afghanistan und das Vordringen dschihadistischer Gruppen in der Sahelzone verdanken beispielsweise viel der ungezügelten Korruption der Regime, die an ihrer Spitze standen oder stehen. In den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, allen voran Russland und die Ukraine, regieren Mafiastrukturen. Doch dieses Phänomen macht auch vor den am weitesten entwickelten Ländern nicht halt, mit all den Machenschaften (die nur die Spitze des Eisbergs sind), die durch die "Panama Papers" und andere Instanzen aufgedeckt wurden. Ebenso fließen die "Petrodollars" in Strömen in Richtung der fortgeschrittenen Länder, insbesondere der europäischen, um mit der Gefälligkeit von "Entscheidungsträgern dieser Länder" absurde und schädliche Entscheidungen zu erkaufen, wie die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft an Katar oder (unglaublich, aber wahr) die Vergabe der Asiatischen Winterspiele an Saudi-Arabien! Ein Höhepunkt wurde jedoch erreicht, als die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, einer Institution, die unter anderem die Korruption bekämpfen sollte, mit Koffern voller Banknoten aus Katar erwischt wurde.

Schließlich ist klar, dass die schreckliche Zahl der Todesopfer bei den Erdbeben in der Türkei und in Syrien Anfang Februar hauptsächlich auf die Korruption zurückzuführen ist, die es den Bauunternehmern ermöglichte, sich über die offiziellen Erdbebenschutzvorschriften hinwegzusetzen, um ihre Profite zu steigern.

Die "allgemeine Tendenz der Bourgeoisie, die Kontrolle über die Leitung ihrer Politik zu verlieren":

Wie wir gesehen haben, wird diese Frage im WEF-Bericht sehr vorsichtig behandelt, insbesondere wenn er von einer "existenziellen Herausforderung für die politischen Systeme der Welt" und der "Wahl von weniger zentristischen Führern" spricht.

Schließlich werden 1990 identifizierte Erscheinungsformen des Zerfalls weder im WEF-Bericht (aus oft "diplomatischen" Gründen) noch in unserem Text vom Oktober 2022 direkt erwähnt, weil sie im Vergleich zum Kerngedanken dieses Textes zweitrangig waren: dem beträchtlichen Schritt, den der Zerfall mit dem Eintritt in die 2020er Jahre gemacht hat.

Der "ununterbrochene Anstieg der Kriminalität, der Unsicherheit, der Gewalt in den Städten, von denen in wachsendem Maße die Kinder betroffen sind":

Hierfür gibt es zwei Beispiele (unter vielen anderen): die anhaltenden massenhaften Tötungen in den USA und die jüngsten Morde an mehreren Teenagern durch andere Teenager in Frankreich.

Die "Ausbreitung des Nihilismus, [des] 'no future', des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit":

Die Zunahme von rassistischem Hass (oft im Namen der Religion), der den Nährboden bildet, auf dem rechtsextreme Populisten gedeihen (Nigel Farrage in Großbritannien, Trump und seine "Fans" in den USA, Le Pen in Frankreich, Meloni in Italien usw.).

Die "Flutwelle der Drogen, die besonders die Jugend erfassen":

Kein Rückgang dieser Geißel, veranschaulicht durch die Macht der Drogenbanden wie in Mexiko.

Die "Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern":

Es gibt heute zahlreiche Beispiele für die Verschärfung dieses Phänomens durch den Aufstieg:

- des Salafismus, der obskursten Version des Islams;

- des rechtsextremen christlichen Fanatismus, der durch die wachsende Bedeutung der Evangelikalen wie in den USA oder Brasilien veranschaulicht wird;

- eines kriegerischen und fremdenfeindlichen Hinduismus in Indien (dem bevölkerungsreichsten Land der Welt);

- eines rechtsextremen "Kampfjudentums" in Israel.

Natürlich vermeidet es der WEF-Bericht sorgfältig, diese Phänomene zu erwähnen: Man muss höflich sein gegenüber den Teilnehmern des Davoser Forums, die Regierungen vertreten, für die Religion und religiöser Fanatismus ein wichtiges politisches Instrument ihrer Macht darstellen.

Die "Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven Denkens, auch in Teilen einiger 'wissenschaftlicher' Milieus":

Jüngste Entwicklung von Verschwörungstheorien, insbesondere zum Zeitpunkt der Covid-Pandemie, die oft mit rechtsextremer Ideologie in Verbindung stehen. Mit einem Gegenstück auf der anderen Seite des politischen Spektrums: dem wachsenden Erfolg des "Wokismus", einer aus den amerikanischen Universitäten stammenden Strömung, deren "Radikalität" darin besteht, sich in kleinen "militanten" Kapellen um völlig bürgerliche Themen zu gruppieren, die vorgeben, "das System zu bekämpfen".

Das "'Jeder für sich', die Atomisierung des Einzelnen":

Ein dramatisches Beispiel ist die Isolation älterer Menschen während der Pandemie vor dem Einsatz von Impfstoffen, insbesondere in Altenheimen. Und auch die Not der Familien der Verstorbenen.

Alle Passagen in Anführungszeichen sind den Thesen von 1990 entnommen. Sie geben die Merkmale wieder, die zu diesem Zeitpunkt bereits in der Welt vorhanden waren und die wir als Grundlage für unsere Analyse heranzogen. Diese gleichzeitige Häufung all dieser katastrophalen Erscheinungen, ihre Quantität, deuteten darauf hin, dass eine qualitativ neue Periode in der Geschichte des kapitalistischen Verfalls begann. In den Thesen war die Wechselwirkung zwischen einer Reihe dieser Manifestationen bereits vorhanden. Damals hatten wir jedoch vor allem den gemeinsamen Ursprung dieser Erscheinungsformen hervorgehoben, die sich in gewisser Weise parallel zu entwickeln schienen, ohne miteinander in Wechselwirkung zu treten. Insbesondere hatten wir festgestellt, dass die Wirtschaftskrise des Kapitalismus zwar grundsätzlich die Ursache für das Phänomen des Zerfalls der Gesellschaft war, dass sie aber von den verschiedenen Erscheinungsformen dieses Zerfalls nicht wirklich betroffen war.

Am 22. Kongress wiesen wir nicht nur auf zwei neue, miteinander verbundene Erscheinungsformen des Zerfalls hin – die Masseneinwanderung und den Aufstieg des Populismus –, sondern auch darauf, dass die Wirtschaft allmählich vom Zerfall betroffen ist (insbesondere durch den Aufstieg des Populismus), während sie zuvor noch relativ unberührt geblieben war. Heute erlebt diese Wechselwirkung zwischen grundlegenden Aspekten der Weltlage und von entscheidender historischer Bedeutung einen dramatischen und dramatischen Aufschwung. Unser Text vom Oktober 2022 und der WEF-Bericht machen deutlich, wie sehr sich diese verschiedenen Erscheinungsformen nun gegenseitig bedingen.

So kommt es mit dem Eintritt in die 2020er Jahre und insbesondere 2022 zu einer Beschleunigung der Geschichte, zu einer weiteren dramatischen Verschärfung des Zerfalls, der die menschliche Gesellschaft, ja sogar die menschliche Spezies – und das wird von einer wachsenden Zahl von Menschen wahrgenommen – in die Vernichtung treibt.

Diese Verschärfung der verschiedenen Konvulsionen auf dem Planeten, ihre zunehmende Wechselwirkung, ist eine Bestätigung nicht nur unserer Analyse, sondern auch der marxistischen Methode, auf der sie beruht – einer Methode, die andere Gruppen im Proletarischen Politischen Milieu bei der Ablehnung unserer Analyse des Zerfalls gerne "vergessen".

Teil II: Die marxistische Methode als unverzichtbares Werkzeug zum Verständnis der heutigen Welt

Dieser Teil des Berichts, den wir nachstehend veröffentlichen, wurde um eine Reihe von Entwicklungen erweitert, die Teil der Methode des Marxismus zur Erfassung der Realität sind. Sie waren in der dem Kongress vorgelegten Fassung nicht explizit enthalten, untermauern diese aber. Der Zweck einer solchen Ergänzung besteht darin, die öffentliche Debatte zur Verteidigung der marxistischen Auffassung des Materialismus gegen die vulgäre Auffassung des Materialismus, die von den meisten Teilen des Proletarischen Politischen Milieus (PPM), insbesondere den „Damenisten“ und „Bordigisten“, vertreten wird, anzuregen.

Die Geschichte ist die Geschichte des Klassenkampfes

Insgesamt haben die Gruppen des PPM sehr wenig von dem verstanden, was wir mit unserer Analyse über den Zerfall meinen. Wer sich die Mühe gemacht hat, bei der Widerlegung dieser Analyse am weitesten zu gehen, ist die „bordigistische“ Gruppe Partito Comunista Internazionale - Il Comunista, die in Frankreich Le Prolétaire herausgibt. Sie widmete unserer Analyse des Aufstiegs des Populismus in verschiedenen Ländern und seiner Verbindung mit der Analyse über den Zerfall (die er als "berühmt und wolkig" („fameuse et fumeuse“) bezeichnet) zwei Artikel, aus denen hier einige Auszüge zitiert werden:

"Révolution Internationale erklärt uns die Wurzeln dieses sogenannten ‚Zerfalls‘: ‚“die gegenwärtige Unfähigkeit der beiden grundlegenden und antagonistischen Klassen, der Bourgeoisie und des Proletariats, ihre eigene Perspektive (Weltkrieg oder Revolution) in den Vordergrund zu stellen, hat zu einer Situation der ‚momentanen Blockade‘ und des Verrottens der Gesellschaft stehenden Fußes geführt“. Die Proletarier, die tagtäglich mit ansehen müssen, wie sich ihre Ausbeutungs- und Lebensbedingungen verschlechtern, werden sich freuen zu erfahren, dass ihre Klasse in der Lage ist, die Bourgeoisie zu blockieren und sie daran zu hindern, ihre ‚Perspektiven‘ voranzutreiben ...“ (Le Prolétaire 523).

"Wir bestreiten also, dass die Bourgeoisie „die Kontrolle über ihr System“ politisch verloren habe und dass die von den Regierungen Großbritanniens oder der Vereinigten Staaten verfolgte Politik auf eine mysteriöse Krankheit namens ‚Populismus‘ zurückzuführen sei, die durch „das Abgleiten der Gesellschaft in die Barbarei“ verursacht werde, (…) Um es ganz allgemein zu sagen: Diese Wendungen (zu denen man auch die Fortschritte der extremen Rechten in Schweden oder Deutschland mit Unterstützung eines Teils des bürgerlichen politischen Personals zählen könnte) haben die Funktion, ein Bedürfnis der bürgerlichen Herrschaft zu befriedigen, sei es innen- oder außenpolitisch, in einer Situation, in der sich die wirtschaftlichen und politischen Risiken auf internationaler Ebene anhäufen – und nicht etwas, das ‚“das politische Spiel stört mit der Folge eines zunehmenden Kontrollverlusts des bürgerlichen politischen Apparats auf der Ebene der Wahlen" (Le Prolétaire 530).

Was die Vorstellung betrifft, dass der Populismus einer echten "realistischen" Politik der Bourgeoisie entspreche, die von dieser kontrolliert werde, sollten die Ereignisse der letzten Jahre in Großbritannien Le Prolétaire zu denken geben.

Wie man sieht, macht sich diese Gruppe die Mühe, zum Kern unserer Analyse vorzudringen: zur Pattsituation zwischen den Klassen, die infolge der historischen Wiedererstarkung des Weltproletariats 1968 entstanden war (die Le Prolétaire wie das gesamte PPM verkannte). Tatsächlich steckt hinter dieser Verkennung das Unverständnis und die Ablehnung des Begriffs des Historischen Kurses, der auf eine Meinungsverschiedenheit verweist, die wir mit den Gruppen haben, die aus dem Partito von 1945 hervorgingen.

Die Existenz der Zerfallsperiode zu bestreiten, wie es die „Bordigisten tun, bedeutet die Leugnung der grundlegenden historischen Rolle, die der Klassenkampf bei der Entwicklung der Weltsituation gespielt hat. Mit anderen Worten: eine erhebliche Abkehr von der marxistischen Methode. Den entscheidenden Faktor des Klassenkampfes nur in den außergewöhnlichen Momenten anzuerkennen, in denen das Proletariat offen auf der Weltbühne auftritt, d.h. wenn die Fähigkeiten der Arbeiterklasse für jede und jeden offensichtlich sind, ist ein Hinweis auf den Niedergang der Epigonen der Italienischen Kommunistischen Linken.

Dass die Bourgeoisie zu allen Zeiten, ob in Zeiten der Niederlage oder des Rückzugs oder in Zeiten der Revolution, immer gelernt hat, auf die Dispositionen der Arbeiterklasse Rücksicht zu nehmen, war dem Marxismus schon nach 1848 bekannt, nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands des französischen Proletariats im Juni jenes Jahres. Marx' Achtzehnter Brumaire des Louis Bonaparte, den Engels stets als Paradebeispiel für die Anwendung der Methode des historischen Materialismus auf Weltereignisse darstellte, zeigt, dass die Bourgeoisie nach den Ereignissen von 1848 gezwungen war, die Arbeiterklasse, auch wenn sie besiegt war, dennoch als ihren historischen Gegner anzuerkennen. Diese Anerkennung war ein wichtiger Faktor bei der Ausrichtung der herrschenden Klasse hinter dem Staatsstreich von Louis Bonaparte 1852 und der Unterdrückung der republikanischen Fraktion der Bourgeoisie.[1]

Als weitere Nachfolgerin des Partito von 1945 hat die Internationalistische Kommunistische Tendenz (IKT, ehemals Internationales Büro für die Revolutionäre Partei) ebenfalls das ABC des historischen Materialismus aufgegeben, wonach "die Geschichte die Geschichte des Klassenkampfes ist", und sie stellt stolz ihre Ignoranz gegenüber der gegenwärtigen Periode des Zerfalls des Weltkapitalismus und seiner zugrunde liegenden Ursachen, die im Zustand der Klassenantagonismen liegen, zur Schau.

Die IKT versucht auch, unsere Analyse als nicht marxistisch und idealistisch darzustellen:

"Nach dem Zusammenbruch der UdSSR erklärte die IKS dann auf einmal, der Zusammenbruch der UdSSR habe eine neue Situation hervorgebracht, in der der Kapitalismus eine neue Stufe, die sie “Zerfall“ nennt, erreicht hat. In ihrem Unverständnis für die Funktionsweise des Kapitalismus ist für die IKS so ziemlich jedes Ungemach – vom religiösen Fundamentalismus bis hin zu den zahlreichen Kriegen, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ausgebrochen sind, lediglich Ausdruck von Chaos und Zerfall. Wir denken, dies liegt nahe dran, vollständig den Boden des Marxismus zu verlassen, da diese Kriege ebenso wie die früheren Kriege der dekadenten Phase des Kapitalismus Resultat eben dieser imperialistischen Ordnung sind. (...) Eine Überproduktion von Kapital und Waren, die zyklisch durch den tendenziellen Fall der Profitrate hervorgerufen wird, führt zur Wirtschaftskrise und zu Widersprüchen, die wiederum den imperialistischen Krieg erzeugen. Sobald dann (durch den Krieg) ausreichend Kapital abgewertet und genügend Produktionsmittel zerstört wurden, kann ein neuer Produktionszyklus beginnen. Wir befinden uns in der Endphase eine solche Krise seit 1973 und ein neuer Akkumulationszyklus hat noch nicht begonnen" (Marxismus oder Idealismus - Unsere Differenzen mit der IKS).

Es ist fraglich, ob sich die Genossen der IKT (die glauben, dass wir nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 plötzlich unsere Analyse über den Zerfall aus dem Hut gezaubert hätten) die Mühe gemacht haben, unseren Grundlagentext von 1990 zu lesen. In seiner Einleitung sprachen wir Klartext: "Schon vor den Ereignissen in Osteuropa hat die IKS auf dieses historische Phänomen aufmerksam gemacht (siehe INTERNATIONALE REVUE, Nr. 11)." Es ist auch eine bedauerliche Oberflächlichkeit, uns die Idee zu unterstellen, dass "fast alles Schlechte (...) nur ein Ausdruck von Chaos und Zerfall" sei. Und sie hauen uns einen Grundgedanken um die Ohren, an den wir ihrer Meinung nach nicht gedacht haben: "Diese Kriege sind ebenso wie die früheren Kriege in der dekadenten Phase des Kapitalismus das Ergebnis dieser imperialistischen Ordnung selbst". Was für eine Erkenntnis! Wir haben nie etwas anderes gesagt, aber die Frage, die gestellt wird und die sie sich nicht stellen, ist, in welchen allgemeinen historischen Kontext sich die imperialistische Ordnung heute einfügt. Für die Militanten der IKT reicht es aus, dass genügend konstantes Kapital vernichtet wird, damit ein neuer Akkumulationszyklus beginnen kann. Aus dieser Sicht sind die Zerstörungen, die heute in der Ukraine stattfinden, eine Wohltat für die Gesundheit der Weltwirtschaft. Wir werden diese Botschaft an die Wirtschaftsführer der Bourgeoisie weitergeben müssen, die auf dem jüngsten Forum in Davos, wie wir gesehen haben, über die Perspektive der kapitalistischen Welt und insbesondere über die negativen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Weltwirtschaft alarmiert sind. Tatsächlich täten diejenigen, die uns einen Bruch mit dem marxistischen Ansatz bescheinigen, gut daran, die grundlegenden Texte von Marx und Engels erneut zu lesen (oder überhaupt zu lesen) und zu versuchen, die von ihnen angewandte Methode zu verstehen. Wenn die Tatsachen selbst, die Entwicklung der Weltlage, Tag für Tag die Gültigkeit unserer Analyse bestätigen, dann zum großen Teil deshalb, weil sie sich fest auf die dialektische Methode des Marxismus stützt (auch wenn es in den Thesen von 1990 keinen ausdrücklichen Verweis auf diese Methode und keine Zitate von Marx oder Engels gibt).

In ihrer Ablehnung der Analyse des Zerfalls des Weltkapitalismus zeichnet sich die IKT dadurch aus und bringt sich in Verlegenheit, dass sie ihre polemische, wenn auch stumpfe Axt auch gegen einen anderen Pfeiler der Marxschen Methode des historischen Materialismus richtet, der in Marx' Vorwort Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 zusammengefasst ist (und im ersten Punkt der Plattform der IKT wieder aufgegriffen wird). Die Produktionsverhältnisse in jeder Gesellschaftsformation der menschlichen Geschichte – Verhältnisse, die die Interessen und Handlungen der aus ihnen hervorgehenden entgegengesetzten Klassen bestimmen – verwandeln sich immer aus Faktoren der Entwicklung der Produktivkräfte in einer aufsteigenden Phase in negative Hemmnisse derselben Kräfte in einer anderen Phase, wodurch die Notwendigkeit einer sozialen Revolution entsteht. Aber die Periode des Zerfalls, der Höhepunkt eines Jahrhunderts der Dekadenz des Kapitalismus als Produktionsweise, existiert für die IKT schlichtweg nicht.

Obwohl die IKT den Ausdruck "Dekadenzphase des Kapitalismus" verwendet, hat sie nicht verstanden, was diese Phase für die Entwicklung der Wirtschaftskrise des Kapitalismus oder der daraus resultierenden imperialistischen Kriege bedeutet.

In der Zeit des Aufstiegs des Kapitalismus waren die Produktionszyklen – gemeinhin als Booms und Zusammenbrüche bezeichnet – der Herzschlag eines sich allmählich ausdehnenden Systems. Die begrenzten Kriege dieser Zeit konnten entweder diese Progression durch nationale Konsolidierung beschleunigen – wie es der französisch-preußische Krieg von 1871 für Deutschland tat – oder durch koloniale Eroberung neue Märkte gewinnen. Die Verwüstungen der beiden Weltkriege, die imperialistischen Zerstörungen der dekadenten Periode und ihre Folgen drücken im Kontrast dazu den Ruin des kapitalistischen Systems und seine Ausweglosigkeit als Produktionsweise aus.

Für die IKT jedoch ist die gesunde Dynamik der kapitalistischen Akkumulation des 19. Jahrhunderts ewig: Für diese Organisation haben die Produktionszyklen nur an Größe zugenommen. Und das führt sie zu der Absurdität, dass ein neuer kapitalistischer Produktionszyklus in der Asche eines dritten Weltkriegs gedüngt werden könne.[2] Selbst die Bourgeoisie ist nicht so dumm optimistisch, was die Aussichten ihres Systems angeht, und hat ein besseres Verständnis für das Zeitalter der Katastrophen, mit dem sie konfrontiert ist.

Die IKT mag "ökonomisch materialistisch" sein, aber nicht im marxistischen Sinne der Analyse der Entwicklung der Produktionsverhältnisse unter grundlegend veränderten historischen Bedingungen.

In drei grundlegenden Werken der Arbeiterbewegung, Marx' Das Kapital, Rosa Luxemburgs Die Akkumulation des Kapitals und Lenins Staat und Revolution, findet man eine historische Herangehensweise an die untersuchten Fragen. Marx widmet viele Seiten der Erklärung, wie sich die kapitalistische Produktionsweise, die die Gesellschaft seiner Zeit bereits voll beherrscht, im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Rosa Luxemburg untersucht, wie die Frage der Akkumulation von verschiedenen älteren Autoren gestellt wurde, und Lenin tut das Gleiche in Bezug auf die Frage des Staates. Bei diesem historischen Ansatz geht es darum, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Realitäten, die man untersucht, keine statischen, unantastbaren Dinge sind, die zu allen Zeiten existiert haben, sondern Prozessen entsprechen, die sich ständig verändern und Elemente der Kontinuität, aber auch und vor allem der Transformation und sogar des Bruchs aufweisen. Die Thesen von 1990 versuchen, sich von diesem Ansatz inspirieren zu lassen, indem sie die aktuelle historische Situation in die allgemeine Geschichte der Gesellschaft, die Geschichte des Kapitalismus und insbesondere die Geschichte des Niedergangs dieses Systems einordnen. Konkret stellen sie die Ähnlichkeiten zwischen der Dekadenz vorkapitalistischer Gesellschaften und derjenigen der kapitalistischen Gesellschaft fest, aber auch und vor allem die Unterschiede zwischen ihnen – eine Frage, die für das Eintreten der Zerfallsphase innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist: "(...) im Gegensatz zu den früheren Gesellschaften, als die neuen Produktionsverhältnisse, die den alten, überholten Produktionsverhältnissen folgen sollten, innerhalb der alten Gesellschaft heranreiften – was die Auswirkungen und das Ausmaß ihrer Dekadenz in gewisser Weise einschränkte –, [kann] die kommunistische Gesellschaft, die allein dem Kapitalismus folgen kann, sich nicht innerhalb desselben entwickeln (...); es gibt keine Möglichkeit irgendeiner Regeneration der Gesellschaft, wenn es zuvor nicht einen gewaltsamen Sturz der bürgerlichen Klasse und die Auslöschung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gegeben hat" (These 1).

Im Gegensatz dazu kann der ahistorische Materialismus der IKT alle Ereignisse, alle Kriege, in allen Epochen erklären, indem er beschwörend dieselbe Formel anwendet: "Akkumulationszyklen". Dieser orakelhafte Materialismus erklärt, weil er alles erklärt, nichts, und deshalb kann er die Gefahr des Idealismus nicht austreiben. Im Gegenteil, die vom Vulgärmaterialismus geschaffenen Lücken müssen mit idealistischem Zement gefüllt werden. Wenn die tatsächlichen Bedingungen des revolutionären Kampfes des Proletariats nicht verstanden oder erklärt werden können, ist ein idealistischer Deus ex machina notwendig, um das Problem zu lösen: "die revolutionäre Partei". Dabei handelt es sich jedoch nicht um die kommunistische Partei, die unter bestimmten historischen Bedingungen entsteht und aufgebaut wird, sondern um eine fast mythische Partei, die zu jeder Zeit mit opportunistischer heißer Luft aufgeblasen werden kann.

Die dialektische Komponente des historischen Materialismus

Die Epigonen der Italienischen Linken[3] mussten also, als sie die Existenz einer Periode des Zerfalls des Weltkapitalismus beschrieben, versuchen, zwei wichtige Pfeiler der marxistischen Methode des historischen Materialismus zu beseitigen. Erstens die Tatsache, dass die Geschichte des Kapitalismus, wie jede frühere Geschichte, die Geschichte des Klassenkampfes ist, und zweitens die Tatsache, dass sich die entscheidende Rolle der ökonomischen Gesetze mit der historischen Entwicklung einer Produktionsweise verändert.

Es gibt eine dritte vergessene Forderung, die in den beiden anderen Aspekten der marxistischen Methode implizit enthalten ist: die Anerkennung der dialektischen Entwicklung aller Phänomene, einschließlich der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften, gemäß der Einheit der Gegensätze, die Lenin in seiner Arbeit zu diesem Thema während des Ersten Weltkriegs als das Wesen der Dialektik beschreibt. Während die Epigonen die Entwicklung nur in Begriffen der Wiederholung und der Zu- oder Abnahme sehen, versteht der Marxismus, dass die historische Notwendigkeit – der materialistische Determinismus – sich widersprüchlich und wechselwirkend ausdrückt, so dass Ursache und Wirkung ihren Platz wechseln können und die Notwendigkeit sich durch einen verschlungenen Pfad offenbart.

Für den Marxismus entsteht der Überbau der Gesellschaftsformationen, d. h. ihre politische, rechtliche und ideologische Organisation, auf der Grundlage der wirtschaftlichen Infrastruktur und wird von dieser bestimmt. Das haben auch die Epigonen so verstanden. Dass dieser Überbau jedoch sowohl als Ursache – wenn nicht sogar als Prinzip – als auch als Wirkung fungieren kann, entgeht ihnen. Engels musste gegen Ende seines Lebens in einer Reihe von Briefen, die er in den 1890er Jahren gegen den Vulgärmaterialismus der damaligen Epigonen richtete, genau diesen Punkt betonen. Seine Korrespondenz ist eine absolut wichtige Lektüre für diejenigen, die heute leugnen, dass der Zerfall des kapitalistischen Überbaus eine katastrophale Wirkung auf die wirtschaftlichen Grundlagen des Systems haben könnte.

"Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, dass die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit." (Engels an Borgius, 25. Januar 1894, Hervorhebungen im Original)

In der Endphase des kapitalistischen Niedergangs, seiner Zerfallsperiode, wird die Rückwirkung des zerfallenden Überbaus auf die wirtschaftliche Infrastruktur immer stärker, wie die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-Pandemie, des Klimawandels und des imperialistischen Krieges in Europa – außer für die blinden Jünger von Bordiga und Damen – eindrücklich bewiesen haben.[4]

Marx hatte nicht die Möglichkeit, seine Methode, die er insbesondere in Das Kapital anwendete, zu erläutern, wie er es als Vorhaben formuliert hatte. Er erwähnte diese Methode nur sehr kurz im Nachwort der zweiten deutschen Ausgabe seines Buches. Es ist unsere Aufgabe, insbesondere angesichts der oft dummen Anschuldigungen des PPM (und noch mehr der Trittbrettfahrer), unsere Analyse sei "nicht marxistisch", sie sei "idealistisch", die Treue des Ansatzes der Thesen von 1990 gegenüber der dialektischen Methode des Marxismus hervorzuheben, aus denen in diesem Zusammenhang einige weitere Elemente in Erinnerung zu rufen sind:

Die Umwandlung von Quantität in Qualität

Dieser Gedanke taucht im Text von 1990 immer wieder auf. Es mag auch in der früheren Dekadenz des Kapitalismus Zerfallserscheinungen gegeben haben, aber heute beweist die Häufung dieser Erscheinungen eine Transformations-Bruchstelle im Leben der Gesellschaft und signalisiert den Eintritt in eine neue Epoche der kapitalistischen Dekadenz, in der der Zerfall zum bestimmenden Element wird. Diese Komponente der marxistischen Dialektik beschränkt sich nicht auf soziale Tatsachen. Wie Engels insbesondere im Anti-Dühring und Die Dialektik der Natur betont, ist dies ein Phänomen, das in allen Bereichen zu finden ist und das übrigens auch von anderen Denkern erfasst wurde. So zitiert Engels im Anti-Dühring einen Satz von Napoleon Bonaparte, der heißt: "Zwei Mameluken waren drei Franzosen unbedingt überlegen; (...) 1000 Franzosen warfen jedesmal 1500 Mameluken", was auf die Disziplin zurückzuführen ist, die wirksam wird, wenn sie eine große Anzahl von Kämpfern betrifft. Engels betont auch sehr stark, dass dieses Gesetz im Bereich der Wissenschaften voll und ganz gilt. Was die gegenwärtige historische Situation und die Zunahme einer ganzen Reihe von katastrophalen Tatsachen betrifft, so bedeutet es, der marxistischen Dialektik den Rücken zu kehren (was seitens der bürgerlichen Ideologie und der Mehrheit der akademischen "Spezialisten" normal ist), wenn man sich nicht auf dieses Gesetz der Umwandlung von Quantität in Qualität stützt, was jedoch für das gesamte PPM gilt, das versucht, eine spezifische und isolierte Ursache auf jede der katastrophalen Manifestationen der gegenwärtigen Geschichte anzuwenden.

Das Ganze ist mehr als die bloße Summe seiner Teile

Die verschiedenen Komponenten des gesellschaftlichen Lebens haben zwar jeweils ihre Eigenart und können unter bestimmten Umständen sogar eine relative Autonomie erlangen, aber sie bestimmen sich gegenseitig innerhalb einer Totalität, die "in letzter Instanz" (aber nur in letzter Instanz, wie Engels in seinem berühmten Brief an J. Bloch vom 21. September 1890 sagt) von der Produktionsweise und den Produktionsverhältnissen und ihrer Entwicklung regiert wird. Dies ist eine der Haupterscheinungen der gegenwärtigen Lage. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls, die anfangs vielleicht unabhängig voneinander erschienen, deren Häufung aber bereits darauf hindeutete, dass wir in eine neue Epoche des kapitalistischen Verfalls eingetreten waren, wirken nun in einer Art "Kettenreaktion" oder eines "Strudels" zunehmend aufeinander zurück, der der Geschichte die Beschleunigung aufprägt, von der wir Zeugen sind (einschließlich der "Experten" in Davos).

Die entscheidende Rolle der Zukunft

Schließlich steht die Entlehnung des historischen Ansatzes aus der marxistischen Dialektik, dieses wesentlichen Aspekts der Bewegung, der Transformation, im Mittelpunkt des Kerngedankens unserer Analyse über den Zerfall: "Tatsächlich kann sich keine Produktionsweise entwickeln, sich lebensfähig halten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der von ihr dominierten Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive anzubieten. Und dies trifft besonders auf den Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte zu" (These 5). Und gerade heute kann einstweilen keine der beiden grundlegenden Klassen, weder die Bourgeoisie noch das Proletariat, der Gesellschaft eine solche Perspektive bieten.

Für diejenigen, die uns als "Idealisten" bezeichnen, ist es ein Skandal zu behaupten, dass ein ideologischer Faktor, das Fehlen eines Projekts in der Gesellschaft, das Leben der Gesellschaft maßgeblich beeinflussen kann. In Wirklichkeit beweisen sie damit, dass der Materialismus, auf den sie sich berufen, nichts anderes als ein Vulgärmaterialismus ist, der bereits seinerzeit von Marx kritisiert wurde, insbesondere in den Thesen über Feuerbach. In ihrer Sicht entwickeln sich die Produktivkräfte autonom. Und die Entwicklung der Produktivkräfte allein diktiert die Veränderungen in den Produktionsverhältnissen und den Beziehungen zwischen den Klassen.

Ihnen zufolge bleiben Institutionen und Ideologien, also der Überbau, so lange bestehen, wie sie die bestehenden Produktionsverhältnisse legitimieren, bewahren. Und daher werden Elemente wie Ideen, menschliche Moral oder auch politische Eingriffe in den historischen Prozess ausgeschlossen.

Der historische Materialismus enthält neben den wirtschaftlichen Faktoren auch andere Faktoren wie den Reichtum der Natur und Kontextfaktoren. Die Produktivkräfte enthalten viel mehr als nur Maschinen oder Technologie. Sie enthalten Wissen, Know-how und Erfahrung. Eigentlich alles, was den Arbeitsprozess ermöglicht oder ihn behindert. Die Form der Zusammenarbeit, des Zusammenschlusses sind selbst Produktivkräfte und ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Transformation und Entwicklung.

Diejenigen, die man als "Anti-Dialektiker"[5] bezeichnen könnte, leugnen die Unterscheidung zwischen den objektiven und den subjektiven Bedingungen des revolutionären Kampfes. Sie leiten die Fähigkeit der Klasse von der bloßen Verteidigung ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen ab. Sie gehen davon aus, dass die Klasseninteressen des Proletariats auch seine Fähigkeit schaffen werden, diese Interessen zu verwirklichen und zu verteidigen. Sie leugnen die Kräfte, die am Werk sind, um die Arbeiterklasse systematisch zu desorganisieren, ihre Fähigkeiten zu vernichten, sie zu spalten und den Klassencharakter ihres Kampfes zu vernebeln.

Wie Lenin bemerkte, müssen wir konkrete Analysen der konkreten Situation erarbeiten. Und in der am weitesten entwickelten kapitalistischen Gesellschaft wird der Ideologie eine sehr wichtige Rolle zugewiesen, einem Apparat, der die bürgerlichen Interessen verteidigen, rechtfertigen und dem kapitalistischen System Stabilität verleihen soll. Deshalb betonte Marx, dass für die kommunistische Revolution sowohl ihre objektiven als auch ihre subjektiven Bedingungen erfüllt sein müssen. Die erste Bedingung ist die Fähigkeit der Wirtschaft, in ausreichendem Überfluss für die Weltbevölkerung zu produzieren. Die zweite Bedingung ist ein ausreichendes Niveau der Entwicklung des Klassenbewusstseins. Das bringt uns zurück zu unserer Analyse über die Frage des "schwächsten Glieds" und der notwendigen historischen Erfahrung, die sich im Bewusstsein ausdrückt.

Die „Deterministen" isolieren die Entwicklung der Produktivkräfte von ihrem sozialen Kontext. Sie neigen dazu, JEDE Bedeutung des ideologischen Überbaus zu leugnen, auch wenn sie es abstreiten. Arbeitskämpfe neigen dazu, als eine reine Frage von Reflexen zu erscheinen. Dies ist eine grundlegend fatalistische Sichtweise, die in Bordigas Idee, dass "die Revolution so sicher ist, als ob sie bereits stattgefunden hätte", gut zum Ausdruck kommt. Eine solche Sichtweise führt zu einer passiven Unterwerfung, einer Unterwerfung, die auf die automatischen Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung wartet. Letztlich lässt sie keinen Raum für den Klassenkampf als Grundvoraussetzung für jede Veränderung und steht damit im Widerspruch zum ersten Satz des Kommunistischen Manifests: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen."

Die dritte These über Feuerbach gibt uns einen guten Einblick in den historischen Materialismus und lehnt jeden strengen Determinismus ab:

"Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte veränderter Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine Teil über der Gesellschaft erhaben ist (Z. B. bei Robert Owen). Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden."

Die Bedeutung der Zukunft für das Leben menschlicher Gesellschaften

Unsere Kritiker werden darin wahrscheinlich eine idealistische Vision sehen, aber wir halten daran fest, dass die marxistische Dialektik der Zukunft einen grundlegenden Platz in der Entwicklung und Bewegung der Gesellschaft zuweist. Von den drei Momenten eines historischen Prozesses – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ist letztere der grundlegende Faktor in seiner Dynamik.

Die Rolle der Zukunft ist in der Geschichte der Menschheit von grundlegender Bedeutung. Die ersten Menschen, die sich von Afrika aus aufmachten, die Welt zu erobern, und die Aborigines, die sich von Australien aus aufmachten, den Pazifik zu erobern, suchten für die Zukunft nach neuen Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Sorge um die Zukunft treibt sowohl den Wunsch nach Fortpflanzung als auch die meisten Religionen an. Und da unsere Kritiker "richtig wirtschaftliche" Beispiele brauchen, können wir zwei Beispiele aus der Funktionsweise des Kapitalismus anführen. Wenn ein Kapitalist investiert, dann nicht mit Blick auf die Vergangenheit, sondern um einen zukünftigen Gewinn zu erzielen. Ebenso ist der Kredit, der eine so grundlegende Rolle in den Mechanismen des Kapitalismus spielt, nichts anderes als ein Wechsel auf die Zukunft.

Die Rolle der Zukunft ist in den Texten von Marx und allgemein des Marxismus allgegenwärtig. Diese Rolle wird in der bekannten Passage aus dem Kapital gut deutlich:

"Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss."

Offensichtlich ist diese wesentliche Rolle der Zukunft in der Gesellschaft noch grundlegender für die Arbeiterbewegung, deren Kämpfe in der Gegenwart nur aus der Perspektive der kommunistischen Revolution in der Zukunft einen wirklichen Sinn erhalten.

"Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts [die proletarische Revolution] kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft." (Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte)

"Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (Marx, Lohn, Preis und Profit)

"’Das Endziel, was es immer sei, ist mir Nichts, die Bewegung alles.’ [sagt Bernstein. Es ist]  (...) aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment (...), das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, (...)". (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?)

"Was tun?", "Womit beginnen?" (Lenin).

Und gerade weil der heutigen Gesellschaft dieses grundlegende Element, die Zukunft, die Perspektive fehlt (was immer mehr Menschen, insbesondere die Jugend, zu spüren bekommen), eine Perspektive, die nur das Proletariat bieten kann, versinkt sie in Verzweiflung und verrottet stehenden Fußes.

Teil III: Die Perspektive für das Proletariat

Der Bericht des WEF 2023 warnt sehr überzeugend vor dem extremen Ernst der gegenwärtigen Lage der Welt, die in den 2030er Jahren noch viel schlimmer sein wird, "wenn es keine politischen Veränderungen oder bedeutenden Investitionen gibt". Gleichzeitig "zeigt er die Lähmung und Ineffizienz der wichtigsten multilateralen Mechanismen angesichts der Krisen auf, mit denen die Weltordnung konfrontiert ist", und weist auf die "Diskrepanz zwischen dem, was wissenschaftlich notwendig, und dem, was politisch opportun ist", hin. Mit anderen Worten: Die Lage ist hoffnungslos und die gegenwärtige Gesellschaft ist definitiv nicht in der Lage, den Kurs ihrer Zerstörung umzukehren, was den Titel unseres Textes vom Oktober 2022 bestätigt: "Die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls wirft offen die Frage der Vernichtung der Menschheit auf".

Gleichzeitig wird in diesem Bericht mehrfach die Aussicht auf "weitverbreitete soziale Unruhen" erwähnt, die "nicht auf die Schwellenländer beschränkt sein werden" (was bedeutet, dass sie auch die weiter entwickelten Länder betreffen werden) und "eine existenzielle Herausforderung für die politischen Systeme der ganzen Welt darstellen". Nichts weniger als das! Für das WEF und die Bourgeoisie im Allgemeinen werden diese sozialen Unruhen in die negative Kategorie der "Risiken" und Bedrohungen für die "Weltordnung" eingeordnet. Doch die WEF-Prognosen gießen zaghaft und unbeabsichtigt Wasser auf die Mühlen unserer eigenen Analyse, indem sie darauf hinweisen, dass das Proletariat weiterhin eine Bedrohung für die bürgerliche Ordnung darstellt. Wie die gesamte Bourgeoisie unterscheidet auch das WEF nicht zwischen den verschiedenen sozialen Unruhen: All dies führe zu "Unordnung" und "Chaos". Und es stimmt, dass einige Bewegungen in diese Kategorie fallen, wie es zum Beispiel beim "Arabischen Frühling" der Fall war. Aber in Wirklichkeit fürchtet die Bourgeoisie am meisten, ohne dass sie es offen ausspricht oder sich dessen voll bewusst ist, dass es unter diesen "sozialen Unruhen" einige gibt, die den Sturz ihrer Macht über die Gesellschaft und das kapitalistische System ankündigen: die Kämpfe des Proletariats.

So illustriert das WEF auch unter diesem Aspekt unsere Thesen von 1990 und unseren Text vom Oktober 2022. Dieser greift die Idee auf, dass das Proletariat trotz aller Schwierigkeiten, auf die es gestoßen ist, das Spiel nicht verloren hat, dass "die historischen Möglichkeiten völlig offen bleiben (These 17)“. Und er erinnert daran: "Trotz des Schlags, der der Bewußtwerdung des Proletariats durch den Zusammenbruch des Ostblocks verabreicht wurde, hat das Proletariat auf seinem Klassenterrain keine große Niederlage erlitten. In diesem Sinne bleibt sein Kampfgeist praktisch intakt. Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. Denn auch wenn das Proletariat kein Terrain findet, um die Teilkämpfe gegen die Auswirkungen des Zerfalls zu vereinen, bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Klassenstärke und Einheit" (ebd.).

Zudem ist "die Wirtschaftskrise im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, ein Phänomen (...), das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der  die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern" (ebd.).

Und tatsächlich können wir heute feststellen, dass die Arbeiterklasse trotz der Last des Zerfalls (insbesondere des Zusammenbruchs des Stalinismus) und der langen Erstarrung, die sie befallen hat, immer noch auf der Bühne der Geschichte präsent ist und die Fähigkeit hat, ihren Kampf wieder aufzunehmen, wie insbesondere die Kämpfe in Großbritannien und Frankreich zeigen (die beiden Proletariate, die 1864 die Gründung der IAA initiierten: ein Wink der Geschichte!).

In diesem Sinne wirken zwar die verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls negativ auf den Kampf des Proletariats und sein Bewusstsein (Gewicht des Populismus, des Interklassismus, der demokratischen Illusionen), aber wir haben heute eine neue Bestätigung dafür, dass nur die direkt wirtschaftlichen Angriffe es dem Proletariat ermöglichen, sich auf seinem Klassenterrain zu mobilisieren, und dass diese Angriffe, die sich derzeit entladen und sich noch verschärfen werden, die Bedingungen für eine bedeutende Entwicklung der Arbeiterkämpfe auf internationaler Ebene schaffen. So müssen wir unterstreichen, was in dem Text vom Oktober 2022 geschrieben steht:

-  "Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden in diesem Zusammenhang also eine enorme Bedeutung für die historische Entwicklung haben. Sie werden mit noch größerer Deutlichkeit als in der Vergangenheit die im kapitalistischen Zerfall enthaltene Perspektive der Vernichtung der Menschheit aufzeigen. Am anderen Pol wird das Proletariat beginnen, erste Schritte zu unternehmen, wie sie in der Kampfbereitschaft der Streiks in Großbritannien zum Ausdruck kommen, um seine Lebensbedingungen gegen die zunehmenden Angriffe der jeweiligen Bourgeoisie und die Schläge der Weltwirtschaftskrise mit all ihren Auswirkungen zu verteidigen. Diese ersten Schritte werden oft zögerlich und voller Schwächen sein, aber sie sind unerlässlich, damit die Arbeiterklasse in der Lage ist, ihre historische Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer kommunistischen Perspektive zu bekräftigen. So werden sich die beiden Pole der Perspektive im Großen und Ganzen in der Alternative: Zerstörung der Menschheit oder kommunistische Revolution gegenüberstehen, auch wenn die letztere Alternative noch in weiter Ferne liegt und mit enormen Hindernissen konfrontiert ist."

In der Tat ist der Weg, den das Proletariat gehen muss, extrem lang und schwierig. Einerseits muss es sich vor allen Fallen hüten, die die Bourgeoisie ihm in den Weg stellt, und das in einer ideologischen Atmosphäre, die durch den Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft vergiftet ist, der den Kampf und das Bewusstsein des Proletariats ständig behindert:

- „Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem ‘Jeder für sich’, dem ‘Frechheit zahlt sich aus’ zusammen.

- Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.

- Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhandnimmt.

- Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren." (These 13)

Die Thesen von 1990 betonen diese Schwierigkeiten. Sie betonen insbesondere, dass es "fundamental [ist] zu verstehen, daß je länger die Arbeiterklasse zögert, den Kapitalismus zu stürzen, desto größer die Gefahren und schädlichen Auswirkungen des Zerfalls werden" (These 15).

"In der Tat muß man verdeutlichen, daß heute die Zeit im Gegensatz zu den siebziger Jahren nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse arbeitet. Solange die Gefahr der Zerstörung der Gesellschaft nur durch den imperialistischen Krieg ausging, reichte die bloße Tatsache, daß die Kämpfe des Proletariats in der Lage waren, sich als entscheidende Barriere gegen eine solche "Lösung" zu behaupten, aus, um den Weg zu dieser Zerstörung zu versperren. Doch im Gegensatz zum imperialistischen Krieg, der für seine Entfesselung das Bekenntnis der Arbeiterklasse zu den Idealen der Bourgeoisie erfordert, benötigt der Zerfall keineswegs die Mobilisierung der Arbeiterklasse, um die Menschheit zu zerstören. So wie sie nicht dem wirtschaftlichen Zusammenbruch trotzen können, so sind die Kämpfe des Proletariats in diesem System auch nicht in der Lage, den Zerfall zu bremsen. Daher ist, selbst wenn die Gefahr, die der Zerfall für das Leben der Gesellschaft darstellt, viel langfristiger erscheint als jene, die von einem Weltkrieg ausgeht (falls die Bedingungen dafür existieren, was heute nicht der Fall ist), diese Gefahr umso heimtückischer. Um der Bedrohung ein Ende zu machen, die der Zerfall darstellt, reicht der Widerstand der Arbeiter gegen die Folgen der Krise nicht mehr aus: allein die kommunistische Revolution kann solch einer Gefahr beikommen." (These 16)

Die brutale Beschleunigung des Zerfalls, die wir heute erleben und die selbst in den Augen der klarsten Teile der Bourgeoisie die Aussicht auf die Vernichtung der Menschheit immer bedrohlicher werden lässt, stellt durchaus eine Bestätigung dieser Analyse dar. Und da nur die kommunistische Revolution der zerstörerischen Dynamik des Zerfalls und ihren zunehmend schädlichen Auswirkungen ein Ende setzen kann, mag dies eine Vorstellung davon vermitteln, wie schwierig der Weg zum Sturz des Kapitalismus ist. Ein Weg, auf dem die Aufgaben, die das Proletariat zu bewältigen hat, gewaltig sind. Insbesondere muss es sich seine Klassenidentität, die durch die Konterrevolution und die verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls, insbesondere den Zusammenbruch der sogenannten "sozialistischen" Regime, stark beeinträchtigt wurde, wieder vollständig aneignen. Es wird sich auch, und das ist ebenfalls grundlegend, ihre früheren Erfahrungen wieder aneignen müssen, was eine gewaltige Aufgabe ist, da diese Erfahrungen die ProletarierInnen so sehr vergessen haben. Hier liegt eine grundlegende Verantwortung der kommunistischen Avantgarde: einen entscheidenden Beitrag zu dieser Wiederaneignung der Lehren aus mehr als anderthalb Jahrhunderten proletarischen Kampfes durch die gesamte Klasse zu leisten.

Die Schwierigkeiten, mit denen das Proletariat konfrontiert sein wird, werden nicht mit dem Sturz des kapitalistischen Staates in allen Ländern verschwinden. In der Tradition von Marx haben wir oft die immense Aufgabe betont, die die Arbeiterklasse in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus erwartet – eine Aufgabe, die mit allen Revolutionen der Vergangenheit nicht zu vergleichen ist, da es darum geht, von der "Herrschaft der Notwendigkeit zur Herrschaft der Freiheit" überzugehen. Und es ist klar, dass die Aufgabe umso gewaltiger wird, je länger die Revolution auf sich warten lässt: Tag für Tag zerstört der Kapitalismus den Planeten mehr und mehr und damit auch die materiellen Voraussetzungen für den Kommunismus. Außerdem wird die Machtergreifung des Proletariats auf einen schrecklichen Bürgerkrieg folgen, der die Verwüstungen aller Art, die die kapitalistische Produktionsweise schon vor der revolutionären Periode angerichtet hat, noch verstärkt. In diesem Sinne wird die Aufgabe des Wiederaufbaus der Gesellschaft, die das Proletariat zu bewältigen hat, unvergleichlich gigantischer sein als die, die es hätte bewältigen müssen, wenn es während der revolutionären Welle der ersten Nachkriegszeit die Macht ergriffen hätte. Auch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs waren zwar enorm, aber sie betrafen nur die von den Schlachten betroffenen Länder, was einen Wiederaufbau der Weltwirtschaft ermöglichte, zumal die größte Industriemacht, die USA, von diesen Zerstörungen verschont geblieben war. Heute ist jedoch der gesamte Planet von den zunehmenden Zerstörungen aller Art betroffen, die durch den sterbenden Kapitalismus verursacht werden. Daher muss klar sein, dass die weltweite Machtergreifung der Arbeiterklasse an sich noch keine Garantie dafür ist, dass sie ihre historische Aufgabe, die Errichtung des Kommunismus, erfüllen kann. Der Kapitalismus hat durch die enorme Entwicklung der Produktivkräfte die materiellen Voraussetzungen für den Kommunismus geschaffen, aber die Dekadenz dieses Systems und sein Zerfall könnten diese Voraussetzungen untergraben und dem Proletariat einen völlig unwiederbringlich verwüsteten Planeten hinterlassen.

Es ist daher die Verantwortung der Revolutionäre, auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, denen das Proletariat auf dem Weg zum Kommunismus begegnen wird. Ihre Aufgabe ist es nicht, Trost zu spenden, um die Arbeiterklasse nicht verzweifeln zu lassen. Nur die Wahrheit ist revolutionär, wie Marx sagte, so schrecklich sie auch sein mag.

Wenn es dem Proletariat gelingt, die Macht zu ergreifen, wird es jedoch eine Reihe von Trümpfen in der Hand haben, um die Aufgabe des Wiederaufbaus der Gesellschaft zu bewältigen.

Zum einen kann es die gewaltigen Fortschritte nutzen, die Wissenschaft und Technik im 20. und in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts gemacht haben. Der WEF-Bericht erwähnt diese Fortschritte mit dem Hinweis, dass es sich um "Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (zivil und militärisch)" handelt. Das ist ein großer Fortschritt, denn es ist klar, dass das Militär heute den Löwenanteil (neben vielen anderen unproduktiven Ausgaben) an den Vorteilen des technologischen Fortschritts hat.

Insgesamt muss die proletarische Machtergreifung zu einer beispiellosen Befreiung der von den Gesetzen des Kapitalismus gefangenen Produktivkräfte führen. Nicht nur die enorme Last der militärischen und unproduktiven Ausgaben wird beseitigt werden, sondern auch die monströse Verschwendung, die durch die Konkurrenz zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen und nationalen Sektoren der bürgerlichen Gesellschaft und die phänomenale Unterauslastung der Produktivkräfte (geplante Obsoleszenz, Massenarbeitslosigkeit, fehlende oder mangelhafte Bildungssysteme usw.) entsteht.

Der größte Trumpf des Proletariats in dieser Übergangs- und Wiederaufbauphase wird jedoch nicht technologischer oder rein wirtschaftlicher Natur sein. Er wird grundsätzlich politischer Art sein. Wenn es dem Proletariat gelingt, die Macht zu übernehmen, bedeutet das, dass es in der Zeit der Konfrontation mit dem kapitalistischen Staat, im Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie, ein sehr hohes Maß an Bewusstsein, Organisation und Solidarität erreicht hat. Und das sind Errungenschaften, die wertvoll sein werden, wenn es sich den immensen Herausforderungen stellt, die auf es zukommen. Vor allem aber wird sich das Proletariat auf die Zukunft stützen können, dieses grundlegende Element im Leben der Gesellschaft, jene Zukunft, deren Fehlen in der heutigen Gesellschaft der Kern ihrer Verrottung auf den Füßen ist.

In ihrem im Oktober veröffentlichten Bericht über die menschliche Entwicklung 2021-22 (2021/2022 Human Development Report) mit dem Titel "Unsichere Zeiten, instabile Leben" sagt uns die UN: "Neue Sphären von Unsicherheiten interagieren, um neue Arten von Unsicherheiten – einen neuen Komplex von Unsicherheiten – zu schaffen, die es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Zusätzlich zu den alltäglichen Unsicherheiten, mit denen die Menschen seit Urzeiten konfrontiert sind, navigieren wir nun in unbekannten Gewässern, gefangen in drei volatilen, sich kreuzenden Strömungen:

- Der gefährliche globale Wandel des Anthropozäns.

- Die Fortsetzung weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen nach dem Vorbild der industriellen Revolution.

- Die Unwägbarkeiten und das Schwanken der polarisierten Gesellschaften. (...)

Die globalen Krisen haben sich gehäuft: die globale Finanzkrise, die andauernde globale Klimakrise und die Covid-19-Pandemie, eine drohende globale Nahrungsmittelkrise. Wir haben das hartnäckige Gefühl, dass uns die Kontrolle über unser Leben entgleitet, dass die Normen und Institutionen, auf die wir uns früher zur Sicherung von Stabilität und Wohlstand verlassen haben, dem heutigen Unsicherheitskomplex nicht gewachsen sind".

Wie man sieht, geht dieser UN-Bericht in die gleiche Richtung wie der WEF-Bericht. Er geht in gewisser Weise sogar noch weiter, da er davon ausgeht, dass die Erde aufgrund des menschlichen Handelns in eine neue geologische Periode eingetreten ist, die im 17. Jahrhundert beginnt und die er Anthropozän nennt und die wir Kapitalismus nennen. Vor allem aber betont er die tiefe Verzweiflung, das "No future", das die Gesellschaft zunehmend durchdringt (und das er als "Unsicherheitskomplex" bezeichnet).

Gerade die Tatsache, dass die proletarische Revolution der menschlichen Gesellschaft eine verlorene Zukunft zurückgibt, wird ein mächtiger Faktor für die Fähigkeit der Arbeiterklasse sein, das "gelobte Land" des Kommunismus endlich zu erreichen, nachdem sie nicht nur 40 Jahre, sondern weit über ein Jahrhundert "durch die Wüste" gegangen ist.

 

[1] «Es lehrte sie der Instinkt, dass die Republik zwar ihre politische Herrschaft vollendet, aber zugleich deren gesellschaftliche Grundlage unterwühlt, indem sie nun ohne Vermittlung, ohne den Versteck der Krone, ohne das nationale Interesse durch ihre untergeordneten Kämpfe untereinander und mit dem Königtum ableiten zu können, den unterjochten Klassen gegenüberstehn und mit ihnen ringen müssen. Es war Gefühl der Schwäche, das sie vor den reinen Bedingungen ihrer eignen Klassenherrschaft zurückbeben und sich nach den unvollständigern, unentwickelteren und eben darum gefahrloseren Formen derselben zurücksehnen ließ.» Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, III. Teil (MEW 8 S. 140)

[2] Diese grundlegende qualitative (und nicht nur quantitative) Veränderung im Leben des Kapitalismus wird im Manifest der Kommunistischen Internationale (März 1919) klar herausgestellt: "Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen. (...) Die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens, gegen welche der kapitalistische Liberalismus sich so sträubte, ist zur Tatsache geworden. Nicht nur zum freien Wettbewerb, sondern auch zur Herrschaft der Trusts, Syndikate und anderer wirtschaftlicher Ungetüme gibt es keine Rückkehr." Aber offensichtlich kennen die IKT-Genossen dieses Dokument nicht; es sei denn, sie sind mit dieser grundlegenden Position der KI nicht einverstanden, was sie klar sagen sollten.

[3] Wir geben uns selbst die Erlaubnis zu dieser Bezeichnung, denn die Nachfahren des Partito von 1945 haben der revolutionären theoretischen Arbeit von Bilan, der Italienischen Linken im Exil in den 1930er Jahren, den Rücken gekehrt.

[4] Ein anderer Brief von Engels über die marxistische Methode scheint für diese Jünger genau richtig zu sein: "Was den Herren allen fehlt, ist Dialektik. Sie sehn stets nur hier Ursache, dort Wirkung. Dass dies eine hohle Abstraktion ist, dass in der wirklichen Welt solche metaphysische polare Gegensätze nur in Krisen existieren, dass der ganze große Verlauf aber in der Form der Wechselwirkung – wenn auch sehr ungleicher Kräfte, wovon die ökonomische Bewegung weitaus die stärkste, ursprünglichste, entscheidendste Kraft – vor sich geht, dass hier nichts absolut und alles relativ ist, das sehn sie nun einmal nicht, für sie hat Hegel nicht existiert." (Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890)

[5] Man muss die marxistische, objektive Dialektik von der leeren, subjektiven Dialektik der verschiedenen Strömungen des Anarchismus und des Modernismus unterscheiden, die verwirrt auf dem Niveau stehen bleiben, überall Widersprüche zu finden. Sie mögen einige der Phänomene des Zerfalls anerkennen, aber sie weigern sich bezeichnenderweise, die letzte Ursache und die Logik der Zerfallsperiode im wirtschaftlichen Bankrott des kapitalistischen Systems zu sehen. Für sie ist die objektive historische Dialektik ein Anathema, denn sie würde sie ihres Hauptanliegens berauben, nämlich der dogmatischen Bewahrung ihrer individuellen Meinungsfreiheit. Wenn der Wirtschaftsfaktor als einer von mehreren gleich wichtigen Faktoren behandelt wird, bleibt ihre Dialektik subjektiv, ahistorisch und – wie bei den Epigonen der Italienischen Linken – unfähig, den Verlauf der Ereignisse zu erfassen.

Rubric: 

25. IKS-Kongress