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Weltrevolution Nr. 138

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5 Jahre nach 9/11: Jonathan S. Foers Verteidigung der Menschlichkeit

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Heute vor fünf Jahren erlebte die Welt eine grausame Zeitenwende, die zugleich Wandel wie Kontinuität bedeutete: die Anschläge auf das World Trade Center in der Weltmetropole New York. Die Anschläge, bei denen Tausende unschuldige Menschen ihr Leben ließen, bedeuteten eine neue Stufe im kriegslüsternen Kapitalismus. Nachdem 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine neue Ära des Friedens von den Staatschefs verkündet wurde, hat man im Westen das alte Feindbild des angeblich "kommunistischen" Ostens aufgeben müssen. Seit dem 11. September 2001 aber haben die Herrschenden wieder ein neues Feindbild geschaffen, welches der kriegerischen Wirklichkeit seit 1989 zu entsprechen scheint: Der Krieg gegen den Terror. "Krieg gegen den Terror" ist ein äußerst dehnbarer Begriff und potenziell auf jeden imperialistischen Gegner anwendbar. Diese Ideologie entspricht dem Umstand, dass heute jeder gegen jeden kämpft - ganz gleich, ob wir hier von großen oder kleinen Imperialisten sprechen.

 

Ist solch ein terroristischer Gewaltakt wie der 11. September legitim? Ist der Krieg gegen den Terror gerechtfertigt? Gibt es so etwas wie einen gerechten Krieg?  Seit Menschengedenken sucht die Menschheit nach Antworten. Besonders für die arbeitende Bevölkerung ist dieses Ringen um ein Verständnis elementar, um bewusst die Zukunft gestalten und verändern zu können. Auch die Kunst kann uns bei dieser Suche nach Antworten helfen. Die Anschläge des 11. September erschütterten auch den jungen New Yorker Autor Jonathan Safran Foer. Sein Roman "Extrem laut und unglaublich nah" ("Extremely Loud & Incredibly Close") verarbeitet das Unbegreifbare künstlerisch - und  noch viel mehr.

 

Der Roman führt uns in die Welt des Oskar Schells, einem 9-jährigen New Yorker Jungen. Der 11. September ist für ihn "der schlimmste Tag" in seinem noch jungen Leben, der Tag nämlich, an dem sein Vater im World Trade Center starb. Zunächst ist er wie erstarrt und auf Grund dieser traumatischen Erfahrung unfähig, mit den Lebenden über seine Gefühle zu kommunizieren. Sein Blick richtet sich auf das Reich der Toten, in dem sich sein Vater nun befindet. Doch mit der Entdeckung eines Schlüssels und des Namens "Black" in einer Vase seines Vaters beginnt für ihn eine achtmonatige Odyssee durch New York, um das Rätsel dieses Schlüssels zu lösen. Der Schlüssel wird zur Metapher für seine kontinuierliche Auseinandersetzung mit seinem Kriegstrauma, für seine Suche nach dem Licht, d.h. nach dem Weg zurück ins Leben. Die Suche durch New York führt ihn zu vielen Menschen, und er erkennt, dass es ungeheuer viele einsame Menschen gibt. In ihm reift ein Gefühl der Verantwortung und Verbundenheit zu ihnen. Die Gespräche mit diesen vertrauten Unbekannten bilden eine Brücke zurück ins Leben, ein Mittel, das schließlich nicht nur Oskar hilft, mit dem furchtbaren Verlust fertig zu werden und enger mit seiner lebenden Mutter zusammenzuwachsen.

 

Der Roman hat viele parallele Ebenen, die keinesfalls zufällig gewählt sind. Es geht nicht nur um den kriegerischen Angriff am 11. September, sondern auch um die Nacht der Bombardierung Dresdens am Ende der II. Weltkriegs. Oskars Großeltern sind Kriegsopfer aus Dresden, die 1945 als Jugendliche alles verlieren: die Liebe, die Familie, das Zuhause. Schließlich verlieren beide im Grunde auch ihren Lebensmut, denn sie sind Teil dieser verlorenen Kriegsgeneration. Es gelingt ihnen bis zuletzt nicht, ihre traumatischen Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Während die Großmutter immer wieder meint, blind zu sein, wird der Großvater stumm. Sie lassen die Asche der furchtbaren Vergangenheit auf ihren Schultern türmen und finden nicht den Weg zurück in ein Leben, das eine Zukunft bietet. Interessanterweise wählt der jüdische Autor Foer hier die Deutschen Schells als Kriegsopfer (der in Dresden ansässige Vater der Großmutter versteckt zudem einen Juden).  Bereits dadurch wird eine extrem wichtige Botschaft vermittelt. Die Erzählung macht deutlich, dass alle Kriege furchtbar und nicht zu rechtfertigen sind, die Bevölkerung stets der Hauptleidtragende ist. Wie der Großvater sagt: "Das Ende des Leids rechtfertigt in keiner Weise das Leid." Indem der Roman sich bedingungslos auf die Seite der Opfer des imperialistischen Krieges stellt, hinterfragt er unübersehbar das Märchen vom gerechten, menschenfreundlichen Krieg, welche immerzu von den kapitalistischen Mächten bemüht wird. Insbesondere die Rechtfertigung des Zweiten Weltkriegs von Seiten der antifaschistischen Alliierten wird in Frage gestellt. In einem Fernsehinterview beschrieb Foer seine Empörung über die Rechtfertigung des Massakers an Tausenden unschuldigen Zivilisten im World Trade Centre durch den islamischen Terrorismus mit dem Hinweis auf die Verbrechen des amerikanischen Staates. Als er vertieft über dieses Problem nachdachte, ging ihm dann plötzlich auf, dass auf genau die gleiche unmenschliche Logik von Seiten des US-Staates zurückgegriffen wird, um das Abschlachten der Zivilbevölkerung etwa in Dresden oder Hiroshima zu rechtfertigen. Indem Foer, der kein Politiker ist, für die Sache der Menschlichkeit Partei ergreift, gerät der Künstler in Widerspruch zur Logik des Kapitalismus und seiner Ideologie des Antifaschismus. Die renommierte New Yorker Review of Books warf in ihrer Besprechung dem Autor vor, die Opfer der Faschisten und die Opfer der Demokratie im 2. Weltkrieg auf eine Stufe zu stellen. Als ob die bedingungslose Solidarität mit den Opfern, und nicht die von allen kapitalistischen Mächten verübten Massaker das eigentliche Verbrechen wäre!   In dem Roman geht es nicht um Schuld oder Nicht-Schuld. Er ist vielmehr ein Plädoyer für die Menschlichkeit, die von jedem imperialistischen Krieg mit Füßen getreten wird. Oskar, noch immer auf der Suche nach einer Erklärung für das Unfassbare, spielt den betroffenen MitschülerInnen und dem überforderten Lehrer in der Schule das Interview eines Überlebenden des US-Atombombenabwurfs über Hiroshima vor. Dieser berichtete, wie seine Tochter mit den Worten in seinen Armen starb: "Ich will nicht sterben." Der Vater der Sterbenden weiter: "So ist der Tod. Es macht keinen Unterschied, welche Uniformen die Soldaten anhaben. Es macht keinen Unterschied, wie gut die Waffen sind. Ich dachte, wenn alle sehen könnten, was ich gesehen habe, dann würden wir nie wieder Krieg haben."

 

Obgleich der Roman zu Recht viele historische Parallelen zieht, gibt es dennoch einen entscheidenden Unterschied zwischen den betroffenen Generationen. Während die Generation der Großeltern spürt, dass sie eine verlorene Generation ist, gehört der kleine Oskar einer neuen, ungeschlagenen Generation an. Die Großeltern, die in einer Zeit groß geworden sind, in der eine proletarische Revolution brutal niedergeschlagen wurde - wie in Deutschland - und damit der Weg zum Weltkrieg und zum Faschismus geebnet wurde, konnten sich nicht von den Traumata der Vergangenheit lösen. Dagegen ist die junge Generation von heute - erstens - ungeschlagen und - zweitens -  willens, von der älteren Generation zu lernen. Bezeichnenderweise gelingt es Oskar nicht zuletzt mit Hilfe seiner Großeltern und eines alten Nachbarn, seine Trauer zu überwinden. Es gelingt ihm, seine Rolle als Sohn einzunehmen und das Positive, was sein Vater ihm vorgelebt hat, fortzuführen. Oskar ist in der Lage, auf die älteren Generationen zuzugehen und mit ihren über das Innerste seiner Gefühlswelt und über seine Ängste zu sprechen. Hier finden wir auf literarischer Ebene eine Fähigkeit verarbeitet, die wir auf gesellschaftlicher Ebene gerade erst in diesem Jahr auf wunderbare Weise in den Protesten der SchülerInnen und StudentInnen in Frankreich verwirklicht gesehen haben: die Einsicht und die Fähigkeit, von den Erfahrungen der Älteren zu lernen (anders als noch die 68er Generation).

 

So löst Oskar schließlich das Rätsel des Schlüssels. Zwar hatte der Schlüssel nichts mit seinem Vater direkt zu tun, aber auf der Suche nach dem Schloss, das zu diesem Schlüssel passt, offenbarte sich ihm, dass man nur gemeinsam, generationsübergreifend die Kraft und die Freude des oft schweren Lebens entwickeln kann. Wir finden: Nur mit dem Willen zum Leben, mit der Solidarität und Menschlichkeit kann die arbeitende Bevölkerung eine kommunistische Perspektive für die Menschheit ohne solch schreckliche Kriegsakte wie den 11. September 2001 oder die Bombardierung Dresdens entwickeln! Foers "Extremely Loud & Incredibly Close" ist ein Plädoyer für die Menschlichkeit und gegen den imperialistischen Krieg. Die von Foer hochgehaltene Menschlichkeit kann in Wirklichkeit nur gegen die Logik des Kapitalismus und damit nur durch das revolutionäre Proletariat verteidigt werden. 11.9.2006     Lizzy

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die Arbeiterklasse Deutschlands: Zwischen Prekarisierung und Desillusionierung

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Nach dem Begeisterungstaumel während der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer dieses Jahres ist überall im Lande wieder breite Ernüchterung eingetreten. Die von der deutschen Bourgeoisie angestrebte nationale Aufbruchstimmung, als deren Auftakt das Spektakel der Fußballweltmeisterschaft dienen sollte, hat sich in nichts aufgelöst. Auch der Klassenkampf schwelt weiter - wie die Proteste des Krankenpflegepersonals der Berliner Charité sowie der Allianz-Beschäftigten an mehreren Standorten oder auch die Warnstreiks der Stahlkocher zeigen.  Es gibt verschiedene indirekte Hinweise darauf, dass der Prozess der Desillusionierung in der Arbeiterklasse weiter voranschreitet.

Die deutsche Bourgeoisie: Der Wolf hat Kreide gefressen

Im Verlauf der letzten zwölf Monate hat es eine wichtige Änderung in der Ausrichtung der Propaganda der herrschenden Klasse gegenüber der Bevölkerung in Deutschland gegeben. Noch vor den Bundestagsneuwahlen Ende letzten Jahres lautete der jahrelange Grundtenor der öffentlichen Meinung, dass Deutschland ein krankes Land sei, das dringend einschneidende Reformen benötige. Scharf wurden jene angeprangert, die sich aus "egoistischem Besitzstandsdenken" den "Reformen" widersetzten. Dem deutschen Wohlfahrtsstaat stehe eine brutale Rosskur bevor, wurden die bürgerlichen Meinungsmacher nicht müde zu wiederholen, wenn Deutschland nicht ins Hintertreffen geraten wolle. Kern dieser "Blut, Schweiß und Tränen"-Kampagne war die Botschaft an die Arbeiterklasse, dass jeder Opfer bringen müsse, um die Karre gemeinsam wieder aus dem Dreck zu ziehen.

Doch spätestens mit den letzten Bundestagswahlen und der Inthronisierung der Großen Koalition haben diese Stimmen deutlich an Gewicht verloren. Nach den Kassandrarufen und der Schwarzmalerei der letzten Jahre ist nun plötzlich Optimismus - oder sollen wir sagen: eine Art heiterer Nationalismus? - angesagt. Schon früh in diesem Jahr setzte die Bundesregierung eine millionenschwere Kampagne mit dem Motto: "Du bist Deutschland" in Gang, um ein neues, ein positives "Wir-Gefühl" zu suggerieren. Ihren Höhepunkt fand diese Kampagne während der Fußball-WM, als ganz Deutschland in einem Fahnenmeer von Schwarz-Rot-Gold versank und Millionen von Einheimischen zusammen mit den ausländischen Fans friedlich feierten. Kaum  lief die erste Kampagne aus, folgte ihr schon die nächste auf den Fuß. Mit ihrem Motto: "Deutschland - Land der Ideen" steht auch diese in auffälligem Kontrast zur Propaganda der letzten Jahre, die kein gutes Haar am "Standort Deutschland" ließ.

Doch die maßgeblichen Kreise der deutschen Bourgeoisie sind heute nicht nur auf kultureller Ebene darum bemüht, eitel Sonnenschein zu verbreiten. So verbreiteten die Medien in letzter Zeit zunehmend auch gute Nachrichten aus der Wirtschaft: In puncto Konjunktur und Arbeitslosigkeit sei eine "Trendwende" erreicht, die aktuelle Konjunktur sei "selbsttragend", und sogar die Arbeitsagenturen vermeldeten einen Gewinn. Statt diese angebliche Trendwende mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr für die diesjährige Konjunkturentwicklung zu relativieren, vermeinen die Ton angebenden Kräfte der Bourgeoisie einen Silberstreif am Horizont, eine Wende zur Besserung zu sehen.

Stellt sich die Frage, wie dieser geradezu zwanghafte Optimismus, der heute die "öffentliche Meinung" beherrscht, zu erklären ist. Ist alles doch nur halb so schlimm? Gibt es doch eine Zukunft im Kapitalismus ohne weitere Einschränkungen, ohne wachsende Armut und Massenarbeitslosigkeit?

Die Arbeiterklasse Deutschlands: Zwischen Prekarisierung und Desillusionierung

Auslöser dieser Kehrtwende in der bürgerlichen Propaganda ist sicherlich das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen gewesen. Spätestens das Fiasko Merkels, die einen neoliberalen "Wahlkampf der Wahrheit" angeführt und mit Pauken und Trompeten durchgefallen war, zeigte der Bourgeoisie deutlich, dass ihre bisherige Reformkampagne an ihre Grenzen gestoßen war.

Kein Wunder, denn wo ist das "Jobwunder" geblieben, das bei Einführung von Hartz IV versprochen wurde? "Fordern und Fördern" hieß das zynische Motto damals - geblieben davon ist nur das "Fordern": eine unerhörte Prekarisierung eines immer größer werdenden Teils der Arbeiterklasse. Seither hat die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs dramatisch abgenommen, während die sog. prekären Jobs sprunghaft angestiegen sind - Jobs ohne jeglichen Kündigungsschutz oder irgendwelchen Zuschlägen, mit einer Bezahlung unterhalb des Existenzminimums. Dabei sind es nicht mehr nur ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen in Industrie und Handel, die unter diesen Bedingungen ihre Arbeitskraft verhökern müssen, sondern auch junge, hoch qualifizierte Menschen. Schon geht das Wort von der "Generation P" um, einer Generation von akademisch ausgebildeten Arbeiter/Innen, die sich von einem Praktikum zu nächsten hangeln - ohne Aussicht auf eine Festanstellung oder einen lebenserhaltenden Lohn.

Gerade jenen, von der Prekarisierung erfassten Teilen der Arbeiterklasse mussten die Wehklagen über den "Standort Deutschland", über dessen zu hohe Löhne und zu teure Sozialleistungen wie blanker Hohn vorkommen. Stellvertretend für die gesamte Klasse mussten sie die bittere Erfahrung machen, dass trotz Hartz IV und all der anderen Kürzungen eine Wende zur Besserung, wie sie ihnen von den "Reformern" versprochen wurde, überhaupt nicht absehbar ist. Unter diesen Umständen konnte es nicht überraschen, dass die Desillusionierung in der Klasse in der Zwischenzeit zügig voran schritt. Die Angriffe von Staat und Kapital in den letzten Jahren haben das Vertrauen großer Teile der Arbeiterklasse auf eine Perspektive innerhalb des Kapitalismus bis ins Mark erschüttert.

So machte denn das Ergebnis der Bundestagswahlen vor einem Jahr den bürgerlichen Ideologen und Meinungsmachern mit einem Schlag klar, dass die Bevölkerung "reformmüde" sei, dass es "keine Mehrheiten für Reformen" gebe, kurzum: dass ihre neoliberale Negativkampagne zunehmend auf taube Ohren stieß. Es sind diese Umstände gewesen, die dazu führten, dass die Meinungsmacher der herrschenden Klasse ihre Tonlage änderten - und nicht etwa eine reelle und dauerhafte Besserung unserer Lage, wie sie uns vorgegaukelt werden soll. Denn auch wenn die Bourgeoisie ihre Sprache geändert hat und von der "sozialen Gerechtigkeit" statt vom Tal der Tränen redet, das sie uns noch vor Jahresfrist prophezeit hatte, so hat sie nicht innegehalten bei ihren Angriffen gegen die Arbeiterklasse.

Die politische Klasse der Bourgeoisie: Die Linke in den Startlöchern

Man kann getrost davon ausgehen, dass die bürgerlichen Drahtzieher realistisch genug sind, um zu wissen, dass auch eine sozial gefärbte Propaganda die Arbeiterklasse auf Dauer nicht besänftigen kann. Die Herrschenden rechnen durchaus mit der Zunahme von sozialen Konflikten in naher Zukunft. Für diese Fälle haben sie bereits ihre Bataillone in Stellung gebracht. So ist im Rahmen der Bekämpfung des islamischen Terrorismus der Repressions- und Überwachungsapparat sowohl logistisch als auch rechtlich erheblich gestärkt worden. Doch vor allem rückt jener Teil der politischen Klasse der Bourgeoisie allmählich wieder in den Vordergrund, der sich am besten auf die Sabotierung solcher Kämpfe versteht - die Sozialdemokratie mitsamt ihren Gewerkschaften und linksextremistischen Anhängseln.

Wir konnten bereits bei der Bildung der Großen Koalition vor einem Jahr eine Aufwertung der SPD erleben; trotz ihrer Wahlniederlage war sie von Anbeginn nicht Juniorpartner der stärkeren CDU/CSU, sondern besetzte im Gegenteil die Schlüsselressorts dieser Koalition - das Auswärtige Amt, das Finanz- und das Sozialministerium.  Seither waren wir Zeuge einer langsamen, aber stetigen Stärkung der SPD zu Lasten ihres Koalitionspartners, eine Stärkung, zu der nicht zuletzt die günstige Darstellung der SPD-Minister Müntefering, Steinbrück & Co. durch die Medien beitrug. Auch in den Gewerkschaften scheint es eine Art Linksrutsch zu geben. Nachdem die Gewerkschaftsbasis schon von Anfang an mit der im vergangenen Herbst gegründeten Linkspartei/PDS geliebäugelt hat und durch den Eintritt etlicher Gewerkschaftsaktivisten in die neue Linkspartei auch personell mit ihr verbunden war, haben nun auch die Gewerkschaftsspitzen von IG Metall und Ver.di der Linkspartei ein offizielles Gesprächsangebot gemacht.

All dies - die weichgespülte Propaganda der Herrschenden, der wir derzeit ausgesetzt sind, die stärkere Profilierung der SPD in der Koalition bzw. der Kräfte links von ihr in den Gewerkschaften - ist Ausdruck der Bemühungen der Bourgeoisie, den Prozess der Desillusionierung innerhalb der Arbeiterklasse aufzuhalten. Denn nichts müssen die Herrschenden derzeit mehr fürchten als den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit und Legitimität in der Arbeiterklasse. Ein Prozess, der mit raschen Schritten voranschreitet.

Denn auch die Auguren der Bourgeoisie, die sog. Meinungsforschungsinstitute, wollen inzwischen festgestellt haben, dass ein wachsender Anteil insbesondere unter den jüngeren Arbeitern die Demokratie nicht mehr für die beste aller Gesellschaftsformen hält, ja dass laut Meinungsumfragen immer mehr junge Arbeiter insbesondere in Westdeutschland die Auffassung haben, dass der Kommunismus, wie Marx ihn vertreten hat, für eine mögliche Perspektive halten - dem erschreckenden Beispiel des ehemaligen Ostblocks zum Trotz. Und wem das nicht reicht, der sei auf das Ergebnis der Landtags- bzw. Senatswahlen von Mecklenburg-Vorpommern und Berlin hingewiesen. Es bestätigt den schon während der letzten Bundestagswahlen deutlich gewordenen Trend zur Erosion der sog. Volksparteien. Darüber hinaus zeigt auch die geringe Wahlbeteiligung, die mit diesen Wahlen einen historischen Tiefstand erreicht, wie weit die Desillusionierung über den parlamentarischen Zirkus um sich gegriffen hat.

Nur vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Streit in den Großen Koalition um die sog. Gesundheitsreform verstehen. Die heftige Auseinandersetzung in der Koalition um die Frage, ob die Zusatzbeiträge für den sog. Gesundheitsfonds auf einen oder zwei bzw. drei Prozent begrenzt werden sollen, ist in gewisser Hinsicht ein  Placebo. Es soll der Arbeiterklasse den Eindruck vermitteln, dass ihre Interessen gut aufgehoben sind im Parlament, selbst um den Preis der Reformfähigkeit der Großen Koalition, die die Kommentatoren der bürgerlichen Presse wortreich beklagen. Der Streit um die sog. Gesundheitsreform zeigt gleichzeitig aber auch deutlich die Grenzen dieser Koalition auf. Sie hat immer mehr Schwierigkeiten, den Balanceakt zwischen der Fortsetzung der Reformpolitik und dem Erhalt der Glaubwürdigkeit der großen Parteien SPD und CDU im Besonderen und des Parlamentarismus im Allgemeinen zu bewältigen.    26.09.06

Die Arbeiterklasse ist eine Klasse von Migranten

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Nahezu jeden Tag Bilder von gestrandeten, gesunkenen oder aufgebrachten Schiffen, die unzählige Flüchtlinge von Afrika zu einem Außenposten Europas bringen sollen. Die Bilder von den Kanarischen Inseln oder aus dem Mittelmeer gehören längst zum Alltag, wo jedes mal  erschöpfte, ausgehungerte, dem Tod durch Ertrinken oder Verdursten Entronnene, von der Polizei aufgegriffen und meist sofort in streng bewachte Lager eingesperrt werden, bevor sie dann gewaltsam abgeschoben werden. Immer mehr Menschen versuchen vor ihrem Elend zu flüchten. Welch ein Kontrast der Perspektiven des Kapitalismus. Während in der Anfangsphase des Kapitalismus die Kapitalisten nach Afrika einfielen, um dort Millionen Arbeitskräfte als Sklaven nach Amerika zu verschleppen, werden heute an den Küsten Westafrikas und Nordafrikas mit Hilfe der europäischen Regierungen militärische Sperrzonen errichtet. Wenn nicht direkt ein Stacheldraht an der Küste gezogen werden kann, der die Menschen an der Flucht hindern soll, so lauern EU-Patrouillenboote und afrikanische Küstenwache vor der Küste Afrikas, um die verzweifelten Flüchtlinge von ihrer Flucht nach Europa abzuhalten. Die gleiche ‚Befestungspolitik' betreibt auch die US-Regierung an ihrer mexikanischen Grenze. Der Kapitalismus kann heute weder den Elenden in der Peripherie  noch den Arbeitern in den Industriestaaten etwas anbieten - außer noch mehr Ausbeutung und Repression. Die Arbeiterklasse darf sich nicht spalten lassen in Migranten und angeblich "einheimische" Arbeitskräfte.  

Die massive Flucht Hunderttausender Menschen, die vor dem Hunger und der Armut fliehen, ist kein neues Phänomen. Auch ist es keine auf die unterentwickelten Länder beschränkte Geißel. Die Auswanderung gehört zum kapitalistischen System und lässt sich bis zu den Ursprüngen dieser Produktionsweise zurückführen, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen fußt.

Der Kapitalismus hat sich dank der Immigration entfaltet

Schon zu Beginn des Kapitalismus hat sich die neue produzierende Klasse, das Proletariat, sofort als eine Klasse von Migranten gebildet. Dank der Migration konnte die Bourgeoisie ihr Ausbeutungssystem entwickeln, indem sie die überholt gewordenen feudalen Produktionsverhältnisse zerstörte. So fand vom ausgehenden 15. Jahrhundert an, insbesondere in Großbritannien, die primitive Kapitalakkumulation durch die Enteignung der Bauern statt, die brutal vom Land vertrieben und mit Gewalt zur Arbeit in den ersten Manufakturen gezwungen wurden. Nachdem sie von ihrem Grundbesitz durch den aufkommenden Kapitalismus enteignet und mit Gewalt vom Land in die Stadt getrieben worden waren, um dort den Kapitalisten ihre Arbeitskraft zu verkaufen, stellten die Bauern und kleinen Handwerker durch ihre Proletarisierung schon damals die ersten Migranten dar. Diese massive, durch die ungestüme Entwicklung des Kapitalismus hervorgerufene Landflucht, wurde in ganz Europa von einer Reihe von Repressionsmaßnahmen eines nie gekannten Ausmaßes begleitet, die sich gegen all diejenigen richteten, die der aufstrebende Kapitalismus bewusst in den Hunger trieb, sie mit dem Ziel verarmte, sie  damit zur Lohnsklaverei zu zwingen. So beschrieb Marx den Terror, den der Kapitalismus gegen all die Flüchtenden ausübte, die, nachdem sie zu umher irrenden Vagabunden geworden waren, mit dem Brandeisen gebrandmarkt, verstümmelt, in  Arbeitslager gesteckt oder ganz aufgehängt wurden wegen ihres Widerstandes gegen die Regeln der kapitalistischen Diktatur: "Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. Andrerseits konnten die plötzlich aus ihrer gewohnten Lebensbahn Herausgeschleuderten sich nicht ebenso plötzlich in die Disziplin des neuen Zustandes finden. Sie verwandelten sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Teil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände. Ende des 15. und während des ganzen 16. Jahrhunderts daher in ganz Westeuropa eine Blutgesetzgebung wider Vagabundage. Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse wurden zunächst gezüchtigt für die ihnen angetane Verwandlung in Vagabunden und Paupers. Die Gesetzgebung behandelte sie als »freiwillige« Verbrecher und unterstellte, daß es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten."

(Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 761 ff., 3. Blutgesetzgebung gegen die Expropriierten seit Ende des 15. Jahrhunderts, Gesetze zur Herabdrückung des Arbeitslohns)

Dank dieser brutalen Ausbeutung der Bauern und ihrer Umwandlung in Lohnsklaven konnte der Kapitalismus eine erste Quelle für seine Arbeitskräfte erschließen. Während seiner ganzen Aufstiegsphase und bis zu seinem Höhepunkt Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das System fortdauernd dank großer Immigrationsströme der Arbeitskräfte. Im ältesten kapitalistischen Land, in Großbritannien, konnte die neue herrschende Klasse ihren Aufstieg dank einer schrecklichen Ausbeutung der Massen von Hungrigen fortsetzen, die vom Lande in die Städte strömten; insbesondere war dies am Beispiel Irlands ersichtlich. "Die rasche Ausdehnung der englischen Industrie hätte nicht stattfinden können, wenn England nicht an der zahlreichen und armen Bevölkerung von Irland eine Reserve gehabt hätte, über die es verfügen konnte." (F. Engels, Die Lage der  arbeitenden Klasse in England, MEW Bd. 2, S. 320) Diese "Reservearmee", die durch die irische Immigration gebildet wurde, ermöglichte es dem britischen Kapital, innerhalb der Arbeiterklasse Konkurrenten einzuführen, womit es die Löhne senken und die ohnehin schon unerträglichen Ausbeutungsbedingungen der Arbeiter noch mehr verschlechtern konnte.

Bei der Entwicklung eines jeden nationalen Kapitals war das Phänomen der Migration von Anfang an ein wesentlicher Bestandteil der Existenzbedingungen der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse ist von ihrem Wesen her eine Klasse von Migranten, von Flüchtlingen, die aus der blutigen Zerstörung der feudalen Produktionsverhältnisse hervorgehen.

Diese Migration weitete sich über die nationalen Grenzen hinaus aus, als Mitte des 18. Jahrhunderts der Kapitalismus in den großen Arbeiterkonzentrationen Westeuropas anfing, auf das Problem der Überproduktion von Waren zu stoßen. Wie Marx 1857 aufzeigte, entstand mit der Entwicklung der Mehrarbeit, die die Grundlage der kapitalistischen Ausbeutung darstellt, auch die Überbevölkerung.

Die zyklischen Überproduktionskrisen, die das kapitalistische Europa von der Mitte des 19. Jahrhunderts an heimsuchten, zwangen Millionen  Proletarier vor Arbeitslosigkeit und Hunger zu flüchten, indem sie in "die neue Welt" auswanderten. Zwischen 1848 und 1914 sind ca. 50 Millionen europäische Arbeiter aus dem alten Kontinent ausgewandert, um ihre Arbeitskraft in diesen Teilen der Welt, insbesondere in Amerika, zu verkaufen.

Genau so wie im England des 16. Jahrhunderts die Entwicklung des Kapitalismus durch die Binnenimmigration ermöglicht wurde, entfaltete sich die erste kapitalistische Weltmacht, die USA, dank des Zustroms  von Dutzenden Millionen Einwanderen aus Europa (insbesondere aus Irland, Großbritannien, Deutschland, den Ländern Nordeuropas).

Bis ca. 1890 konnte sich das US-amerikanische Kapital dank einer furchtbaren Ausbeutung der Einwanderer und durch die Rationalisierung in den Fabriken schrittweise auf dem Weltmarkt etablieren. Nach 1890 wurden das Land und die Arbeit immer knapper, und die neuen Einwanderer aus dem Mittelmeergebiet und aus Osteuropa, die beruflich nicht qualifiziert waren, fanden sich in den Ghettos der Großstädte wieder und waren gezwungen, immer geringere Löhne zum Überleben zu akzeptieren.

Nachdem der Kapitalismus seinen Höhepunkt erreicht hatte, war der Mythos  Amerikas, das alle Menschen aufnahm, überlebt. Sobald das US-Kapital nicht mehr massiv Arbeitskräfte für die Entfaltung seiner Industrie importieren musste, fing die US-Bourgeoisie an, diskriminierende Maßnahmen zu ergreifen, die dazu dienten, sich die Einwanderer auszuwählen. Nach der großen Einwanderungswelle von italienischen und osteuropäischen Arbeitern, die am Ende des 19. Jahrhunderts in die USA geströmt waren, fing die US-Bourgeoisie 1898 an, ihre Grenzen dicht zu machen, insbesondere gegenüber den asiatischen Immigranten. Deshalb nahm man nicht mehr einfach jeden beliebigen mittellosen Einwanderer auf. Neue Bewerber für die Einwanderung sollten auch für das Kapital fruchtbringend sein; all diejenigen, die nicht gewollt waren, wurden zurückgewiesen und dazu gezwungen, "nach Hause" zurückzukehren. (…)

Die Immigration im Zeitraum der Dekadenz des Kapitalismus

Während des 20. Jahrhunderts wurde die Verlangsamung der Einwanderungsströme zu einem immer offensichtlicheren Zeichen des Niedergangs des Systems, der durch den Ausbruch des 1. Weltkriegs gekennzeichnet war. Mit dem ersten imperialistischen Weltkrieg 1914-18 wurden die massiven Auswanderungswellen, die den Aufstieg des Kapitalismus begleitet und ihn möglich gemacht hatten, rückläufig.

Dieser Rückgang der Auswanderung ist nicht auf eine Fähigkeit des Kapitalismus zurückzuführen, den Arbeitern eine gewisse Stabilität in Europa anzubieten, sondern er ist viel mehr ein Ausdruck der wachsenden Verlangsamung der Entwicklung der Produktivkräfte. In den Vorkriegsjahren und während des 1. Weltkriegs selbst konnte das Kapital den Arbeitern eine Reihe von Opfern auferlegen, die für die Kriegswirtschaft eines jeden kriegsbeteiligten Landes erforderlich waren. Nach dem Krieg konnte die Bourgeoisie der westeuropäischen Staaten (insbesondere die Deutschlands) dank der furchtbaren Ausbeutung eines ausgebluteten und durch die Niederlage in der revolutionären Welle von 1917-23 besiegten Proletariats ihre Volkswirtschaft wieder aufbauen, ohne massiv auf den Zustrom von Einwanderern zurückzugreifen.

Und als die generalisierte Überproduktionskrise in den 1930er Jahren brutal in den Industriestaaten, von Europa bis zu den USA, explosionsartig ausbrach, und ein neuer Weltkrieg sich abzeichnete, war es möglich, mittels massiver Aufrüstung und damit verbundener Waffenproduktion die Explosion massiver Arbeitslosigkeit in allen Ländern einzudämmen.

Mit dem Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere nach den 1950er Jahren, entstand eine neue Einwanderungswelle, hauptsächlich in Westeuropa, die noch durch die Entkolonialisierung verstärkt wurde.

Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Schweiz, die Benelux-Staaten öffneten die Grenzen für die Arbeiter aus den am meisten unterentwickelten Staaten. Spanier, Portugiesen, Türken, Jugoslawen, Maghrebinier - wurden für diese Staaten billige Arbeitskräfte, die in den Dienst des Wiederaufbaus gestellt wurden. Gleichzeitig konnte so der Aderlass ausgeglichen werden, den der 2. Weltkrieg in den Reihen des Proletariats der kriegführenden Länder hervorgerufen hatte. Millionen  Einwanderer wurden von den großen Demokratien Westeuropas angeworben, um sie extrem auszubeuten und sie für miserable Löhne die schmutzigsten und schwierigsten Arbeiten verrichten zu lassen.

Diese Immigrationswelle, die in den 1950er Jahren erneut im Zentrum des Kapitalismus anstieg, erreichte jedoch nie die Ausmaße der Welle, die ein Jahrhundert zuvor die USA erfasste. Während nämlich im 19. Jahrhundert die Auswanderer mit ihrer Familie ihr Ursprungsland mit  der Hoffnung verließen, im Zuge der Ausdehnung des Kapitalismus in der neuen Welt einen Zufluchtsort und eine gewisse Stabilität zu finden, war die Öffnung der Grenzen Westeuropas für ausländische Arbeiter nach dem 2. Weltkrieg immer nur eine vorübergehende Überlebensmöglichkeit für Millionen von Arbeiter aus den unterentwickelten Ländern. Die meisten von ihnen (vor allem die Arbeiter aus dem Maghreb oder die asiatischen Ursprungs, die nach der Entkolonisierung nach Frankreich und England zogen) waren gezwungen gewesen, ihre Familien zu verlassen, um eine schlecht bezahlte und schwere Arbeit in dem "Aufnahmeland" anzunehmen. Ohne irgendeine Zukunftsperspektive und einzig mit dem Ziel, ihre Frauen und Kinder "zu Hause" ernähren zu können, waren sie gezwungen, die furchtbarsten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Ohne Wohnungen, wie Vieh in den Ghettos eingepfercht, ohne  Strom und Wasser, oder wo sie der Geldsucht der "Schlafplatzverkäufer" und den Kontrollen und Schikanen der Polizei ausgesetzt waren (….), erinnern die Lebensbedingungen dieser Billigsarbeitskräfte, die der westliche Kapitalismus aus den unterentwickelten Ländern für die Bedürfnisse seines Wiederaufbaus nach dem Krieg importierte, an die schreckliche Barbarei der primitiven Akkumulation.

Denn das Elend der Immigranten kristallisiert das Elend des Proletariats als Klasse, die nichts anderes besitzt als ihre Arbeitskraft. Die unmenschlichen Bedingungen der Immigranten legen offen,  dass ihre Arbeitskraft nur eine einfache Ware ist, die die bürgerlichen Sklavenhändler immer zum niedrigsten Preis gekauft haben.

Sobald der Wiederaufbau nach dem Ende des 2. Weltkrieg Ende der 1960er Jahre beendet war, wurde von den ‚Aufnahmeländern' Westeuropas die Botschaft vermittelt, "das Boot ist voll". Schnell wurden die Grenzen verriegelt. Von 1963 an wurden Einschränkungen für die Schweiz, später in Großbritannien, Deutschland, Frankreich getroffen, die in Anbetracht des Wiederauftauchens der Weltwirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit Anfang der 1970er Jahre beschlossen, die Immigration ganz zu blockieren.

Aber man beließ es nicht bei diesen Maßnahmen. Je mehr der Kapitalismus in die Krise rutschte, desto mehr sollte das Proletariat darunter leiden. Während durch die ersten Entlassungswellen Zehntausende Arbeiter auf die Straße geworfen wurden, wurden die ersten Immigranten ausgewiesen und außerhalb der Grenzen Europas vertrieben. Weil sich die "weichen Methoden" und die "Rückkehrhilfen" als unzureichend erwiesen, wurden später unter dem Vorwand der "Jagd auf Illegale" Tausende Immigranten nach Hause verfrachtet - entweder in Charterflugzeugen oder ganz einfach gewaltsam an die Grenzen befördert. Als ideologische Begleitung entfaltete die herrschende Klasse eine zynische immigrantenfeindliche Propaganda, um die Arbeiterklasse zu spalten.

Gegen die generalisierte Misere im Kapitalismus - Klassensolidarität des Weltproletariats

Die Kampagnen gegen die Einwanderer, die heute überall zu sehen sind, zielen nicht nur darauf ab, die Arbeiterklasse in "einheimische" und "zugewanderte" Beschäftigte zu spalten. Sie stellen einen direkten Angriff gegen das Klassenbewusstsein des Proletariats dar. Mit Hilfe ihrer ekelhaften Propaganda versucht die herrschende Klasse vor allem einen ideologischen Schleier zu errichten, der verhindern soll, dass durch die wachsende Misere des Proletariats der historische, unwiderrufliche Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise offensichtlich wird. Heute versucht die herrschende Klasse zu verheimlichen, dass sie unfähig ist, der Arbeiterklasse auch nur die geringste Perspektive anzubieten. (…)  Denn kein Zuwanderungsgesetz kann die unüberwindbare Krise des Systems aus der Welt schaffen. Es wird weiterhin Massenentlassungen geben, die alle Arbeiter treffen, egal woher sie kommen. Nicht die Immigration ist schuld für die Krise und Arbeitslosigkeit. Die Krise und Arbeitslosigkeit, die die Folge des unaufhaltsamen Zusammenbruchs der Weltwirtschaft sind, und die die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse immer mehr verschlechtern, lassen die Arbeiterklasse immer mehr zu einer Klasse von ausgeschlossenen, arbeits- und wohnungslosen Migranten werden.

Der Kapitalismus kann heute immer weniger seinen Bankrott verheimlichen. Der Kapitalismus ist zu einer Geißel für die Menschheit geworden. Die Arbeiterklasse kann ihre Interessen nur verteidigen, indem sie überall ihre internationale Klassensolidarität entfaltet und sich nicht zwischen Immigranten und Einheimischen spalten lässt. (leicht gekürzter Artikel aus unserer Zeitung in Frankreich, Révolution Internationale Nr. 206).

Internationalisten in der Türkei gegen den Libanonkrieg

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Wir veröffentlichen nachfolgend ein Flugblatt der Gruppe Enternasyonalist Kommunist Sol (Internationale Linkskommunisten) aus der Türkei, das von der Gruppe in Reaktion auf den Krieg im Libanon verfasst wurde. Das Auftreten einer internationalistischen Stimme in der Türkei ist besonders bedeutsam, angesichts der Stärke des Nationalismus in diesem Land (mit dem besonders die so genannte Linke hausieren geht) und der Tatsache, dass die Türkei tief in den interimperialistischen Rivalitäten verstrickt ist, welche eine derartige Verwüstung in dieser Region angerichtet haben. Der türkische Staat ist im Begriff, eine neue Offensive gegen die nationalistische kurdische PKK zu eröffnen - eine Militärkampagne, die ideologisch natürlich mit der jüngsten Welle von terroristischen Angriffen in einer Reihe von türkischen Städten, die den nationalistischen kurdischen Fraktionen zugeschrieben wurden, gerechtfertigt wird. Die kurdische Frage ist direkt mit der Lage im Irak, Iran und in Syrien verknüpft, und die Türkei ist eine der wenigen Staaten in der Region, die enge Beziehungen zu Israel unterhalten. Der Libanonkrieg befindet sich also "nahe" an der Arbeiterklasse in der Türkei, und gleichzeitig kann die türkische Arbeiterklasse, die eine lange Tradition des militanten Kampfes besitzt, eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer proletarischen Alternative zum imperialistischen überall in der Region spielen.

Flugblatt von EKS

Über die Lage im Libanon und in Palästina

Am 12. Juli, unmittelbar nach dem Kidnapping israelischer Soldaten durch die Hisbollah, versprach der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert dem Libanon eine "sehr schmerzhafte und weitreichende Antwort". In den Morgenstunden des 13. Juli begann der Staat Israel eine Invasion und stieß seine Arbeiterklasse in einen weiteren nationalistischen und imperialistischen Krieg. Der israelische Staat begann diese Invasion aus eigenem Interesse und ohne sich um das Blut zu sorgen, das dadurch fließen würde. In fünfzehn Tagen verloren ungefähr fünfhundert libanesische Zivilisten ihr Leben. Nicht einmal die gegenwärtige Feuerpause garantiert, dass die Massaker nicht wieder von vorn beginnen, wie der israelische Staat deutlich machte, als er androhte, dass er alles zerstören werde, was seine eigenen Interessen bedroht, und dies nicht nur im letzten Konflikt, sondern auch in der anhaltenden Folterung der Palästinenser.

Doch sollte nicht übersehen werden, dass Israel nicht die einzige verantwortliche Partei in diesem Konflikt ist. Weder die Hisbollah, die mit dem Kampf, den sie sich mit den Israelis liefert, mit einer Gewaltsamkeit, die letzterer ebenbürtig ist, noch die PLO oder die Hamas, die seit Jahren einen nationalistischen Krieg führen, können als "sauber" betrachtet werden. Die Hisbollah, die der Vorwand war, den Israel vor Beginn des Konflikts der Welt präsentierte, tötete israelische Zivilisten mit Raketen, die von Syrien und vom Iran während des gesamten Krieges geliefert wurden. Die Hisbollah ist eine antisemitische und religiös-fundamentalistische Organisation. Schlimmer noch: im Gegensatz zu dem, was manche denken, kämpfte die Hisbollah nicht, um die Libanesen zu beschützen; stattdessen zwang die Hisbollah die libanesische Arbeiterklasse dazu, sich der nationalistischen Front aus eigenem Interesse anzuschließen, und sie kämpfte lediglich um die Gebiete, die sie kontrollierte, und um ihre Autorität, die sie besaß. Die PLO, die die palästinensische Arbeiterklasse aus dem Klassenkampf in die Klauen ihrer eigenen Bourgeoisie drängte, und die Hamas, die eine Organisation ist, die reaktionär, gewalttätig, antisemitisch und religiös-fundamentalistisch wie die Hisbollah ist, handeln ebenfalls nur aus eigenem Interesse.

An diesem Punkt ist es notwendig, kurz den Imperialismus zu beschreiben. Im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen denken, ist der Imperialismus nicht eine Politik starker Nationalstaaten, um die Ressourcen schwacher Nationen zu übernehmen. Er ist vielmehr die Politik eines Nationalstaates - oder einer Organisation, die wie ein Nationalstaat funktioniert-, der bestimmte Territorien, Ressourcen in diesen Territorien kontrolliert und seine Autorität über die Bevölkerung in jenen Territorien ausübt. Um es einfach zu formulieren: der Imperialismus ist die natürliche Politik eines jeden Nationalstaates und einer jeden Organisation, die wie ein Nationalstaat funktioniert. Wie wir im letzten Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah gesehen haben, haben Nationalstaaten -  oder Organisationen, die wie Nationalstaaten funktionieren - in bestimmten Situationen einander widersprechende Interessen, und ihr Zusammenprall erreicht schließlich die Ebene eines imperialistischen Krieges.

Bei einer Situation wie dieser erweist sich das, was die Linksextremisten in der Türkei und in der Welt sagen, noch lächerlicher und zusammenhangloser. Sowohl in der Türkei als auch in der übrigen Welt gewährte eine große Mehrheit der Linksextremisten der PLO und der Hamas völlige Unterstützung. Im letzten Konflikt sagten sie einstimmig: "Wir alle sind Hisbollah". Der Logik "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" folgend, umarmten sie innig diese gewalttätige Organisation, die ihre Arbeiterklasse in einen katastrophalen nationalistischen Krieg stieß. Die Unterstützung, die die Linksextremisten dem Nationalismus gewährten, zeigt uns, warum Linksextremisten nicht viel anderes sagen als Parteien wie die MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung - die faschistischen Grauen Wölfe), und dies nicht nur über Hisbollah, PLO und Hamas, sondern auch über viele andere Themen. Besonders in der Türkei haben die Linksextremisten überhaupt keine Ahnung von dem, worüber sie sprechen.

Sowohl der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel als auch der Krieg in Palästina ist ein interimperialistischer Konflikt, und alle Seiten benutzen den Nationalismus, um die Arbeiter ihrer Territorien auf ihre Seite zu ziehen. Je mehr die Arbeiter vom Nationalismus aufgesaugt werden, desto mehr werden sie die Fähigkeit verlieren, als Klasse zu handeln. Daher dürfen Israel, die Hisbollah, die PLO oder die Hamas unter keinen Umständen unterstützt werden. Was in diesem Konflikt unterstützt werden muss, ist der Überlebenskampf der Arbeiter, nicht nationalistische Organisationen oder Staaten, die sie nur töten. Noch wichtiger: was in der Türkei getan werden muss, ist, für Klassenbewusstsein und Klassenkampf, die sich hier entwickeln werden, zu arbeiten. Der Imperialismus und der Kapitalismus verbinden alle Länder; daher ist die nationale Unabhängigkeit unmöglich. Allein der Arbeiterkampf für die eigenen Bedürfnisse kann eine Antwort liefern.

Für den Internationalismus und den Arbeiterkampf!

Enternasyonalist Kommunist Sol

Kollaps des Gesundheitswesens

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Der Kapitalismus ist zu einer Fessel der Medizin geworden

Das Gesundheitswesen stehe vor einem Kollaps. Die medizinischen Leistungen seien unbezahlbar teuer geworden, Abstriche bei der medizinischen Versorgung seien unvermeidbar – so die Stimmen aus dem bürgerlichen Lager. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Kollaps des Gesundheitswesens die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Erkenntnisse der Medizin der Menschheit zur Verfügung zu stellen.

Der Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase - ein Motor medizinischen Fortschritts 

Dabei hatte der Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase große Errungenschaften aufzuweisen. Im Rahmen der industriellen Revolution wurden nicht nur neue Maschinen und Fertigungstechniken entwickelt. Der Fortschritt in den Naturwissenschaften verhalf auch der  Medizin zu gewaltigen Durchbrüchen, denn hauptsächlich dank besserer Hygiene und umfassender Seuchenbekämpfung konnte  die Lebenserwartung erhöht und die Kindersterblichkeit gesenkt werden. Starben um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert ca. zwei Drittel der Menschen vor dem 60. Lebensjahr, sind es 100 Jahre später nur ein Zehntel.

Während die Menschen bis zu jener Zeit vielen Krankheiten hilflos gegenüberstanden, bestanden nun bessere Heilungsaussichten dank wissenschaftlich  fundierter Behandlungsmethoden. „Die Einrichtung von Wasserwerken, Abwassersystemen und städtischen Schlachthöfen hob die öffentliche Hygiene, und auch die Wohnbedingungen verbesserten sich langsam. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führten wissenschaftliche Fortschritte, wie die entstehende Bakteriologie, zu erheblichen Verbesserungen der medizinischen Versorgung. Asepsis und Antisepsis, die Pasteurisierung von Lebensmitteln wie auch die Entwicklung von Impfstoffen konnte nun einen Großteil früherer Todesursachen ausschließen. Die Menschen lebten länger und starben schließlich an anderen Krankheiten: In der Industriegesellschaft [des 20. Jahrhunderts] wurden degenerative Krankheiten wie Kreislauferkrankungen und Krebs zu Haupttodesursachen.“ (https://www.berlin-institut.org/pdfs/Kroehnert_Sterblichkeit.pdf [4])

Nachdem sich die gesundheitliche Lage der Arbeiterklasse in der Anfangsphase des aufsteigenden Kapitalismus aufgrund eines enormen Verschleißes der Arbeitskraft und krankmachender Wohnbedingungen in den Städten rapide verschlechtert hatte, verbesserte sich der Gesundheitsstand im ausgehenden 19. Jahrhundert langsam. In dieser Phase konnte die Arbeiterklasse dem Kapital viele Reformen abringen. Neben der Verkürzung der Arbeitszeit, der offiziellen Abschaffung von Kinderarbeit, der Reduzierung von Nachtarbeit für Frauen, neben Lohnsteigerungen usw. wurde in Deutschland ab den 1880er Jahren eine Sozialgesetzgebung eingeführt (1883: Krankenversicherung, 1884: Unfallversicherung), die nunmehr eine stetig steigende Zahl von Arbeitern in den Genuss einer Krankenversicherung kommen ließ.(2) „Die Ärzteschaft musste sich von nun an Kassenpatienten stellen, die bald zur Haupteinnahmequelle wurden und gegenüber dem bisherigen Armenkrankenwesen das Recht der freien Arztwahl besaßen. Die neue Medizinergeneration wurde anhand naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und exakter Beweise bei ausreichender praktischer Übung für die medizinische Praxis ausgebildet. Sie blickte mitleidig auf die älteren Ärzte herab, deren wichtigstes Handwerkszeug vom Studium her die Beobachtung, der gute Zuspruch und Aderlaß und  Brechmittel waren. Der Anteil der Ärzte, die direkt von der Behandlung der Arbeiter abhängig waren, nahm zu. 1908 widmeten 90 Prozent aller niedergelassenen Ärzte 75 Prozent ihrer Tätigkeit der sogenannten Arbeiterversicherung.“  (https://www.luise-berlin.de/Bms/bmstxt99/9910prod.htm [5])

Die unüberwindbare Kluft in der medizinischen Versorgung

Aber diese medizinischen Erkenntnisse und mit ihnen die entsprechenden Gesundheitssysteme wurden nicht auf den ganzen Erdball ausgeweitet. Statt dessen entstand schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine gewaltige Kluft zwischen den Industrieländern (auch wenn mit jeweils großen Unterschieden innerhalb derselben) und den sog. Entwicklungsländern. Denn während die Arbeiter in einigen wenigen Industriestaaten in den Genuss dieser medizinischen Erkenntnisse kommen konnten, blieb der großen Mehrheit der Arbeiter und Bauern in den sog. Entwicklungsländern der Zugang hierzu weitestgehend versperrt. Und das seit mehr als einem Jahrhundert. Wir können hier aus Platzgründen nicht weiter im Detail auf die Gründe der unterschiedlichen Lage der Arbeiter und der jeweiligen Sozialversicherungssysteme auf den verschiedenen Kontinenten eingehen (an dieser Stelle sei nur genannt, dass für die  Kapitalisten für solche Reformen kein Spielraum mehr vorhanden war und die Arbeiterklasse keinen ausreichenden Druck in diesen Staaten hatte aufbauen können, um solche Verbesserungen durchzusetzen). Die meisten ehemaligen Kolonien, die die Kolonialmächte im 19. Jahrhundert erbeutet hatten, wurden damals zu ökonomischen Krüppeln geschlagen. Für die Arbeiterklasse dieser Länder war es seitdem unmöglich, solche substanziellen Verbesserungen zu erzielen, wie sie die Arbeiter in den Industriestaaten zeitweilig hatten erreichen können. Seitdem besteht diese enorme Kluft bei der medizinischen Versorgung und den Erkrankungen in der Bevölkerung zwischen den Industrieländern Europas und den sog. Entwicklungsländern. „Dies führt, insbesondere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, zu einer sehr unterschiedlichen Struktur der Todesursachen. Infektiöse und parasitäre Erkrankungen machten 1997 in den Entwicklungsländern 43 Prozent aller Todesfälle aus, in den Industrieländern dagegen nur etwa 1 Prozent. Demgegenüber waren in den Industrieländern 46 Prozent aller Sterbefälle durch Krankheiten des Kreislaufsystems verursacht, in den Entwicklungsländern lediglich 24 Prozent.“  (Kröhnert)

Die Wirklichkeit in den Staaten der sog. 3. Welt ist bekannt. Die großen Durchbrüche bei der Entwicklung einer ausreichenden Hygiene, der Aufbau sanitärer Einrichtungen, einer Kanalisation, die Ende des 19. Jahrhunderts in den Industriezentren die Erhöhung der Lebenserwartung ermöglichten, blieben den meisten Menschen in den peripheren Ländern vorenthalten.

Zu Beginn dieses Jahrtausends hatten von 6 Milliarden Menschen immer noch ca. 3.3. Mrd. Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, für 2.5 Mrd. Menschen (mehr als ein Drittel) steht keinerlei sanitäre Grundversorgung zur Verfügung (in den „Entwicklungsländern“ werden etwa 90% aller Abwässer ungeklärt in Flüsse und Seen geleitet, jedes Jahr erkranken 250 Millionen Menschen durch verseuchtes Wasser, 5-10 Millionen Fälle  führen davon zum Tode (Zahlen WWF). Die WHO schätzt, dass rund 80% der Krankheitsfälle in Entwicklungsländern in direktem Zusammenhang mit unzureichender Wasserversorgung stehen. Jährlich sterben ca. 4 Mio. Kinder an den Folgen von Durchfallerkrankungen. Und gerade in dem neuen Shooting-star kapitalistischen Wachstums, China, herrschen katastrophale Zustände. Ca. die Hälfte der Bevölkerung, nahezu 600 Mio. Menschen, müssen stark verunreinigtes Wasser trinken. Zwei Drittel der 338 größten Städte werden als verschmutzt eingestuft. Erkrankungen der Atemwege und des Herzens gehören zu den Haupttodesursachen in China.  Die phänomenalen Wachstumszahlen lassen zwar die Kassen der Unternehmer klingeln, aber für viele Menschen bedeuten sie den Tod auf Raten. In Peking sind 70-80% aller Krebsfälle auf Umweltverschmutzung zurückzuführen.

Der Kapitalismus – Nährboden für neue, tödliche Krankheiten 

Während in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts dank einer verbesserten Hygiene die krankmachenden und todbringenden Faktoren der feudalen und frühkapitalistischen Produktionsbedingungen eingedämmt oder überwunden werden konnten und somit eine höhere Lebenserwartung möglich wurde, hat der Kapitalismus aufgrund seiner ihm arteigenen zerstörerischen Produktionsweise selbst mehr krankmachende Faktoren hervorgebracht. Der Grund dafür ist: Der Kapitalismus selbst betreibt hemmungslosen Raubbau an der Gesundheit des Menschen. Er kann nicht anders als die Arbeitskraft seiner Beschäftigten verschleißen. Wer Jahrzehnte seinen Körper unter kapitalistischen Produktionsbedingungen geschunden hat, wer sich z.B. in Montagewerken über Jahre den mörderischen Bandgeschwindigkeiten unterwerfen musste, wer durch Schichtarbeit seinen Schlafrhythmus ruinierte, wird unvermeidlich an den üblichen arbeitsbedingten Krankheiten leiden. 

Von den ca. 225 Mrd. Euro, die 2002 in Deutschland durch Krankheitskosten entstanden, wurden allein für  Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems 35,4 Milliarden Euro, für Krankheiten des Verdauungssystems rund 31 Milliarden Euro, für Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems ca. 25 Milliarden Euro und für psychische Erkrankungen knapp 22 Milliarden Euro verwendet. Die häufigste Todesursache in Deutschland waren im Jahr 2004 Krankheiten des Kreislaufsystems: 47%, Krebs: 25%, Krankheiten der Atmungsorgane und Verdauungsorgane: zusammen 11%. Selbst die Gesundheitspolitiker der Bourgeoisie räumen ein, dass man die Hälfte der Ausgaben im Gesundheitswesen einsparen könnte, wenn es möglich wäre, innerhalb dieses Systems Vorbeugung zu betreiben, anstatt Krankheiten erst zu behandeln, wenn sie aufgetreten sind. Dies trifft insbesondere auf die sog. Zivilisationskrankheiten wie die Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder beispielsweise Diabetes (Zuckerkrankheit). Denn die Zivilisation, die zu diesen Erkrankungen mittels Bewegungsmangel, falscher Ernährung usw. führt, ist eine kapitalistische, deren Wurzeln viel zu tief liegen, als dass sie durch eine Gesundheitsreform ausgemerzt werden könnten - indem er die Verstädterung auf die Spitze treibt. „Gleich die erste große Arbeitsteilung, die Scheidung von Stadt und Land, verurteilte die Landbevölkerung zu jahrtausendelanger Verdummung und die Städter zur Knechtung eines jeden unter sein Einzelhandwerk. Sie vernichtete die Grundlage der geistigen Entwicklung der einen und der körperlichen der anderen“ (Friedrich Engels, Anti-Dührung, MEW 20, S. 271, Sozialismus, III. Produktion).

Hinzu kommen die nur schwer messbaren, aber immer stärker ins Gewicht fallenden Faktoren der Umweltverschmutzung und die Folgen eines gnadenlosen Konkurrenzkampfes, der zum Einsatz von Chemiekeulen treibt.  Lebensmittel werden   immer mehr mit Chemie versetzt sind, was  eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von bestimmten Krankheiten spielt (Krebs, Allergien usw.). Diese Faktoren kann der Kapitalismus nicht in den Griff kriegen, weil er der eigentliche Nährboden für diese Erkrankungen ist.

Nachdem der Kapitalismus während seiner aufsteigenden Phase in den Industriezentren die Plagen des Feudalismus (mangelnde Hygiene, Seuchengefahr usw.) vertreiben bzw. stark eindämmen konnte, ist er nicht nur unfähig, diese längst behandelbaren Geißeln auszurotten. Seine Funktionsweise, seine ökonomischen Gesetze tragen zur Ausbreitung und Verschlimmerung bestimmter Krankheiten bei, die im System der Profitwirtschaft selbst verwurzelt sind.

Kein Wunder, dass im Kapitalismus die Gesundheitskosten explodieren.

Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen – eine Folge des ‚Krankmachers‘ Kapitalismus

10% der Beschäftigten arbeiten in den USA im Gesundheitswesen, 15% des BIP wird für Medizin ausgegeben,  pro Kopf macht  dies in den USA 5635 $ aus, in Deutschland werden nur leicht geringere Werte registriert. Auch hier arbeitet fast jeder 9. Beschäftigte (4.2 Mio.) im Gesundheitswesen. 

Es wird behauptet, dass die erhöhte Lebenserwartung der Hauptkostenfaktor sei (die Menschen ab 65 Jahren - derzeit ca. 17% der Bevölkerung - verursachten knapp 43% der Gesamtausgaben). Es ist schwierig zu beurteilen, in welchem Maße ein alternder Körper notwendigerweise erkrankt und medizinischer Behandlung bedarf. Aber es besteht kein Zweifel, dass ein großer Teil der Alten an Krankheiten leidet, die auf ihre früheren Lebensumstände zurückzuführen sind. Zudem ist es aus kapitalistischer Logik verschwendetes Geld, einen Menschen, der nicht mehr arbeitsfähig ist, durchzufüttern und zu behandeln. Deshalb steckt hinter dem Fingerzeig auf die Alten der Versuch, einen Sündenbock für das Dilemma zu finden. Und das  Wehklagen über die hohen Kosten soll von einem anderen, Kapitalismus  bedingten Umstand ablenken. Während es für eine Gesellschaft viel billiger und vernünftiger wäre, durch Prävention dem Ausbruch und der Verbreitung von Krankheiten vorzubeugen, ist die Gesundheitsversorgung selbst ein riesiger Markt. Die Medizin verdient meist erst „richtig“ (d.h. die meisten Gelder fließen), wenn eine Krankheit diagnostiziert und behandelt werden muss. Die pharmazeutische Industrie macht erst dann ihren Reibach, wenn sie Medikamente verkaufen kann. In Deutschland allein für über 60 Mrd. Euro. 

Während die Explosion der Kosten im Gesundheitswesen angeprangert wird, verheimlicht man, dass im Kapitalismus die Medizin selbst zu einem Markt geworden ist, auf dem die Anbieter verdienen wollen. Weil die Gesundheitsversorgung den  Marktgesetzen unterworfen ist, sind die Mediziner zum „wirtschaftlichen“ Handeln gezwungen. Heißt, sämtliche medizinische Leistungen werden bewertet, verrechnet, gebucht, in Zahlung gestellt. Der Patient ist nicht mehr hauptsächlich Patient, sondern längst zum Kunden geworden. Medizinische Behandlung ist eine zu vergütende Dienstleistung. Der Kapitalismus dringt in alle gesellschaftlichen Beziehungen ein und lässt alles zur Ware werden. 

Die Marktwirtschaft stranguliert die Medizin

Zum ersten Mal steht die Menschheit vor einer irrsinnigen Situation:

Auf der einen Seite hat die moderne Medizin die Grundlagen für eine höhere Lebenserwartung und eine bessere Gesundheit und Krankenversorgung geliefert (Errungenschaften, von denen Milliarden Menschen in den unterentwickelten Staaten seit jeher weitestgehend ausgeschlossen waren), auf der anderen Seite treiben die Existenzbedingungen des Kapitalismus nun die Gesundheitsversorgung in einen finanziellen Kollaps.

Das hat zur Folge, dass unter dem Regime des Kapitals zum ersten Mal in der Geschichte die Menschen sich nicht mehr behandeln lassen können, nicht weil es keine medizinischen Erkenntnisse oder kein medizinisches Personal  gäbe, sondern weil die finanziellen Mittel dafür nicht zur Verfügung gestellt werden.

Genauso wie der Hunger nicht ein Problem des Mangels an Lebensmitteln ist (der Markt erstickt doch in Wirklichkeit an Überproduktion.), sondern durch mangelnde Kaufkraft hervorgerufen wird, wird unzähligen Menschen eine ausreichende medizinische Versorgung vorenthalten bleiben, weil die Gesetze der Marktwirtschaft es nicht erlauben, ihnen das Wissen und die Mittel der Medizin zukommen zu lassen.

Wir stehen also vor der Perspektive, dass viele Menschen erkranken, leiden und sterben werden, obwohl das Wissen und die  Mittel zur Behandlung vorhanden sind.

Der Widerspruch zwischen dem medizinisch Möglichen und dem marktwirtschaftlich Bezahlbaren wird immer eklatanter. Zum Beispiel sind Dialysebehandlungen medizinisch möglich, aber finanziell für bestimmte Patienten (auch in den Industriestaaten wie etwa in Großbritannien) nicht mehr „verkraftbar“.

Hinter dem Kollaps des Gesundheitswesens: Zwei ethische Welten prallen aufeinander

Sollen die Patienten und das sie behandelnde und pflegende Personal bereit sein, unsägliche Leiden auf sich, in letzter Instanz den Verlust von Menschenleben hinzunehmen, weil ihnen wegen der Gesetze des Marktes die Behandlung vorenthalten wird? Soll man das Wissen und die Möglichkeiten, die die Medizin heute bietet, den Profitinteressen des Kapitals unterordnen?

Genau so wie jeder Beschäftigte  arbeitslos werden kann, kann jeder krank werden. Somit ist durch diese Entwicklung jeder Lohnabhängige betroffen. Deshalb birgt die Fesselung und Unterwerfung der Medizin unter die brutalen Marktgesetze eine besondere Brisanz in sich. Wenn man keine ausreichende medizinische Versorgung erhalten wird, weil die Gesetze des Marktes dies nicht zulassen, wird dies in der arbeitenden Bevölkerung für große Empörung sorgen, die letztendlich das Bewusstsein über die Ausweglosigkeit dieser Gesellschaft vorantreiben wird.

Die Beschäftigten des Gesundheitswesen werden durch diese Entwicklung nicht nur mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes und noch unerträglichen Arbeitsbedingungen konfrontiert werden, die sie über kurz oder lang in einen Abwehrkampf treiben. Sondern sie werden sich wie viele andere Berufe, in denen man Menschen betreut, in einem Gewissenskonflikt befinden - entweder gegen ihren Willen zum Ausführenden der Gesetze des Kapitals zu werden, die Gesundheit der Menschen dem Profit zu opfern, oder die Mechanismen dieses Systems infrage zu stellen. Somit legt der wachsende Bankrott des Kapitalismus  einen fundamentalen, unüberwindbaren Gegensatz zwischen zwei ethischen "Welten" offen: auf der einen Seite die nackten Profitinteressen des Kapitals, für die die Menschen, ja die Menschheit geopfert werden sollen, auf der anderen Seite der Kampf der Arbeiterklasse für eine Gesellschaft, in der nicht für den Profit, sondern für die Bedürfnisse der Menschen produziert wird. Deshalb wird erst eine Gesellschaft, die nicht für Profit, sondern die Bedürfnisse der Menschen produziert, eine wahre Entfesselung des menschlichen Wissens und der menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten bieten.           Dv. 9/06

Fußnote 1

Gewiss sollten diese Versicherungen aus der Sicht der Herrschenden dazu beitragen, einer Radikalisierung der Arbeiter vorzubeugen und bei vielen Beschäftigten ließen diese Verbesserungen auch die Illusion über eine „auskömmliche Lage“ im Kapitalismus aufkommen.

Fußnote 2

Anfang 1896 war die Nachricht von den geheimnisvollen X-Strahlen, mit denen man nach Röntgen (1845–1923) den Menschen durchleuchten konnte, eine Sensation. 1884 schon hatte Robert Koch (1843–1910) den Erreger der Tuberkulose gefunden, ein Therapeutikum stand auch mit dem Tuberkulin noch nicht zur Verfügung. Inzwischen hatte die Bakteriologie als neue medizinische Disziplin festen Fuß gefaßt. 1884 wurde der Erreger der Cholera gefunden, und Behring (1854–1917) schuf die Grundlagen für eine erfolgreiche Serumtherapie, aus der die wirkungsvolle Impfprophylaxe gegen Diphtherie und Tetanus hervorging.      Dennoch blieben die Infektionskrankheiten für die Menschen äußerst gefährlich. Das traf vor allem für die Krankenhäuser zu, in denen Wundinfektionen wie Hospitalbrand und Eitervergiftung zum Alltag gehörten und viele Menschen nach erfolgreicher Operation in den Tod rissen. Noch war in bester Erinnerung, wie hygienische Nachlässigkeiten der Ärzte und des Pflegepersonals zu einer hohen Rate von Kindbettfieber und Müttersterblichkeit führten, ehe Semmelweis (1818–1865) mit Reinlichkeit und Desinfektion Veränderungen einleitete. Der Chirurg Ernst von Bergmann (1836–1907) führte an der Charité einen verbissenen, fast militärischen Kampf, um seine Ärzte und Schwestern   von der Asepsis zu überzeugen und sie zur peinlich genauen Anwendung im Klinikalltag zu zwingen. Fotografien von Operationen um 1900 an der Charité zeigen, daß Akteure wie ärztliche Beobachter noch immer die Benutzung von Mund- und Haarschutz sowie Gummihandschuhen vernachlässigten. Erst Anfang der 90er Jahre entwickelte Curt Schimmelbusch (1860–1895) als Assistent von Bergmann eine Methode zur Sterilisation der Operationsinstrumente (»Schimmelbuschtrommel«). https://www.berlin-institut.org/pdfs/Kroehnert_Sterblichkeit.pdf [4]

Kongo-, Libanoneinsatz der Bundeswehr

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Kriegerischer Aufmarsch des deutschen Imperialismus

m Libanon und im Norden Israels schweigen momentan die Waffen. Eine Waffenruhe ist eingetreten, die von allen Seiten eifrig benutzt wird, um den nächsten, von allen Seiten für unvermeidbar gehaltenen Waffengang emsig vorzubereiten. Damit aber der Waffenstillstand selbst und damit die Vorbereitungen auf künftige militärische Auseinandersetzungen halbwegs ordentlich vonstatten gehen können, muss die Waffenruhe momentan durch von Außen kommende Drittmächte implementiert werden. Und damit ist die Stunde der Europäer angebrochen. Denn die einzig übrig gebliebene Weltmacht, die USA, als der mächtigste Verbündete Israels, kann unmöglich eine solche Aufgabe übernehmen. Der Waffenstillstand kann nur begleitet werden durch Mächte, die zwar keineswegs neutral sind, aber zu allen unmittelbar beteiligten Kriegsparteien halbwegs brauchbare Beziehungen unterhalten. Würden die Streitkräfte der USA sich zwischen die Fronten stellen, würden sie sofort zur Hauptzielscheibe der pro-syrisch, pro-iranischen Kräfte im Libanon werden. Außerdem sind die US-Streitkräfte zu sehr im Irak gebunden, als dass sie derzeit zusätzlich Soldaten im östlichen Mittelmeer abstellen könnten.

Somit jubeln die Europäer schelmisch über die jetzt sich ergebende Gelegenheit, in einer der strategisch wichtigsten Zonen der Welt militärisch aufmarschieren zu dürfen. Und unmittelbar und vor allem auf politischer Ebene profitiert niemand mehr von dieser Konstellation als der deutsche Imperialismus. Denn er greift die Gelegenheit beim Schopf, um eines der letzten, ihm durch den 2. Weltkrieg auferlegten politisch, militärischen Tabus zu durchbrechen, indem er kriegerisch Präsenz zeigt in unmittelbarer Nähe des Staates Israels, der 1948 gegründet wurde im unmittelbaren Anschluss an den von der deutschen Bourgeoisie organisierten Massenmord an den Juden in Europa. Dabei ist die deutsche Bourgeoisie wieder einmal besonders geschickt vorgegangen. Einerseits hat sie - wie bereits zur Zeit des Kosovo-Krieges - mit geschicktem Umkehrschluss unter Hinweis auf die deutschen Verbrechen im 2. Weltkrieg geradezu ihr jetziges Eingreifen gerechtfertigt. Es sei die historisch moralische Pflicht des deutschen Staates, das Existenzrecht Israels zu verteidigen, so Bundeskanzlerin Merkel. Andererseits hat man aber auch unter Hinweis auf eben diese Vergangenheit es verhindern können, dass die Bundeswehr auf dem Festland im Libanon stationiert wird, wo sie leicht zur Zielscheibe sowohl der Hisbollah als auch der israelischen Armee werden könnte. Statt dessen wird Berlin durch seine Marine vor der Küste vertreten. Die Bundeswehr übernimmt damit eine Rolle, die militärisch sekundär ist, aber der deutschen Regierung damit ein wichtiges politisches Mitspracherecht bei dem diplomatischen Schacher vor Ort einräumt.

Dies folgt unmittelbar auf den Bundeswehreinsatz im Kongo, wo erstmals seit dem 2. Weltkrieg wieder die deutsche Bourgeoisie in Afrika eine führende militärische Rolle übernimmt.

Die Zeit der Waffenruhe im Nahen Osten wird nicht von Dauer sein. Die Ambitionen des deutschen Imperialismus in dieser Weltgegend sind langfristig angelegt. Die deutsche Bourgeoisie beabsichtigt, auch dann um Einfluss in dieser Region zu ringen, wenn erneut blutig um Macht und Einfluss in Nahost gerungen wird. Das Ergebnis wird sein: ein absehbar hoher Blutzoll auch der deutschen Soldat/innen, während Deutschland selbst immer mehr zu einer Zielscheibe des Terrorismus wird. Und das deutsche Militär vor Ort wird keinen Frieden, sondern nur noch mehr Tod und Verderben bringen. All das wird den Druck noch mehr erhöhen, den Wehretat auf Kosten der Arbeiterklasse anzuheben. Zugleich fürchten führende Vertreter der deutschen Bourgeoisie selbst, in eine ähnliche Lage zu geraten wie der große US-Rivale, nämlich sich weltweit militärisch immer mehr zu übernehmen, so dass es rasch an seine Grenzen gerät und immer mehr Schaden nimmt. Für die Arbeiterklasse in Deutschland und der ganzen Welt kann es daraus nur eine Schlussfolgerung geben: Verstärkung des eigenen Klassenkampfes. Keine Opfer auf dem Altar des blutrünstigen Imperialismus.    26.09.06

Krieg im Nahen Osten: Welche Alternative gegenüber der kapitalistischen Barbarei?

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Der strategisch zentral gelegene Nahe Osten steht seit langem im Mittelpunkt der Rivalitäten unter den Großmächten. Im I. Weltkrieg waren Großbritannien und Frankreich die treibende Kraft bei der Verdrängung des auseinanderbrechenden Osmanischen Reiches gewesen, welches von Deutschland unterstützt worden war. Im II. Weltkrieg prallten Deutschland und seine örtlichen Verbündeten erneut mit Großbritannien und seinen Verbündeten aufeinander.  Nach dem II. Weltkrieg wurden Großbritannien und Frankreich schrittweise von den USA verdrängt, die sich bald darauf dem russischen Rivalen gegenüber sahen. Beide Seiten benutzten dabei den "arabisch-israelischen" Konflikt als ein Mittel, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Auch der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 brachte der Region keinen Frieden. Im Gegenteil, die Bestrebungen der USA, ihre Kontrolle in Nahost und am Persischen Golf zu verstärken, hat ein wachsendes Chaos verursacht, welches Länder wie Irak, Afghanistan, Israel/Palästina und den Libanon erfasst hat. Der Nahe Osten ist zum Hauptschauplatz des Krieges "Jeder gegen jeden" geworden, der nun die internationalen Beziehungen beherrscht. Was das für die Bevölkerung vor Ort bedeutet, wird jeden Tag deutlicher: zahllose Massaker an Zivilisten, Zerstörung der Infrastruktur, Auseinanderfallen ganzer Länder in blutigen sektiererischen und nationalistischen Konflikten. Die Agonie des Nahen Osten spiegelt die Agonie des Weltkapitalismus wider, die solange fortbestehen wird, wie es keine proletarische Revolution gibt.

Nun kommt also eine weitere barbarische Auflistung hinzu: 7000 Luftangriffe auf libanesischem Gebiet, mehr als 1200 Tote im Libanon und in Israel (darunter mehr als 300 Kinder unter 12 Jahren), nahezu 5000 Verletzte, eine Million Zivilisten auf der Flucht aus dem Kriegsgebiet, wobei viele zu arm oder zu schwach waren, um zu flüchten, und jeden Tag diesen Bombenterror über sich ergehen lassen mussten. Ganze Stadtviertel und Dörfer wurden in Schutt und Asche gelegt, Krankenhäuser sind bis unters Dach belegt. Ohne die militärischen Kosten mit einzubeziehen, wird der wirtschaftliche Schaden schon jetzt auf sechs Milliarden Euro geschätzt.

Die Hauptbeteiligten kalkulieren auf anderer Grundlage. Für Israel bedeutet der Krieg einen großen Rückschlag, weil der Mythos der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee zerbrochen ist. Der Krieg bedeutet auch eine weitere Stufe bei der Schwächung der globalen Führungsrolle der USA. Andererseits wurde die Hisbollah, die Auftrieb in der Region erhalten hat, durch den Konflikt gestärkt.

Doch gleichgültig, wer kurzfristig aus diesem Konflikt Nutzen zieht - der Krieg hat eine weitere Woge des Chaos und Blutvergießens in der Region ausgelöst. Dabei haben alle imperialistischen Mächte, ob klein oder groß, ihren verbrecherischen Anteil.

Sie sind alle Kriegstreiber!

Die Ausweglosigkeit der Lage im Nahen Osten wurde schon durch die Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die "Terroristen" der Hamas in den palästinensischen Gebieten illustriert, was wiederum eine Reaktion auf die Unnachgiebigkeit der israelischen Regierung war, die zu einer Radikalisierung eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung führte. Schließlich wurde die Sackgasse noch deutlicher durch den Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen der Hamas und der Fatah. Israels Rückzug aus dem Gaza-Streifen war kein Schritt zum Frieden, sondern ein Mittel zur Verstärkung der Kontrolle über das Gebiet der noch lebenswichtigeren Westbank.

Israels "Lösung" für diese Ausweglosigkeit bestand darin, gegen den wachsenden Einfluss der Hisbollah, die vom Iran finanziert und bewaffnet wird, im südlichen Libanon zu handeln. Der Vorwand für die Auslösung des Krieges war die Befreiung zweier von der Hisbollah entführter israelische Soldaten. Mehr als zwei Monate später befinden sich beide immer noch in den Händen der Entführer, und die UN (die jetzt Unterstützung durch Jesse Jacksons "unabhängige" Mission  erhält) hat gerade erst Verhandlungen mit dem Ziel ihrer Freilassung begonnen. Der andere erklärte Grund für die Offensive war die Neutralisierung und Entwaffnung der Hisbollah, deren Eindringen nach Israel zu einer wachsenden Bedrohung für dessen Sicherheit wurde.

Wie auch immer - es bedeutete sozusagen, eine Fliege mit der Keule zu töten. Keines der Ziele wurde erreicht. Doch der israelische Staat hat seine Wut dafür an der libanesischen Zivilbevölkerung ausgelassen. Die Menschen in den Städten und Dörfern des Südlibanon wurden Zeugen, wie ihre Häuser zerstört wurden, und mussten wochenlang nahezu ohne Wasser und Lebensmittel ausharren. 90 Brücken, zahlreiche Straßen und drei Elektrizitätswerke wurden zerstört. Die israelische Regierung und die Armee behaupteten stets, dass sie versuchten, "das Leben der Zivilbevölkerung zu schonen" und dass Massaker wie in Qana "bedauernswerte Unfälle" seien, wie damals die berüchtigten "Kollateralschäden" im Golfkrieg und auf dem Balkan. Tatsächlich waren 90 Prozent der Toten Zivilisten.

Dieser Krieg hätte nicht unternommen werden können, wenn die USA nicht grünes Licht gegeben hätten. Nachdem sie bereits bis zum Hals im Treibsand des Irak und Afghanistans begraben wurden und ihre "Roadmap" zum Frieden sich in Rauch aufgelöst hat, erleiden die USA bei ihrer Strategie, Europa zum umzingeln, wozu ihre Kontrolle über den Nahen Osten der Schlüssel ist, auch weiterhin Rückschlag um Rückschlag. Insbesondere im Irak müssen die USA nach drei Jahren militärischer Besatzung machtlos zuschauen, wie das Land in einen fürchterlichen "Bürgerkrieg" abgleitet. Der alltägliche Konflikt zwischen den rivalisierenden Fraktionen fordert täglich 80 bis 100 Tote in der Zivilbevölkerung. All dies ist Ausdruck der historischen Schwächung der US-Vormachtstellung über die Region und Teil der wachsenden Untergrabung ihrer weltweiten Vormachtstellung. Umgekehrt verschafft dies anderen Mächten die Gelegenheit, ihre imperialistischen Ambitionen schrittweise zu erhöhen, wobei der Iran an führender Stelle steht. Das Vorgehen Israels sollte somit als Warnung gegenüber Staaten wie den Iran und Syrien dienen und demonstrierte eine perfekte Übereinstimmung in dieser Sache zwischen dem Weißen Haus und der israelischen Bourgeoisie. Wochenlang bemühten sich die USA in der UN darum, jegliche Aussicht auf einen Waffenstillstand zu sabotieren, um der israelischen Armee zu ermöglichen, ihren Job gegen die Hisbollah zu vollenden.

Obgleich es nie darum ging, dass sich Israel langfristig im Libanon festsetzt, gibt es starke Ähnlichkeiten in den Methoden Israels und der USA und den daraus entstehenden Problemen. Beide sind gezwungen, sich in militärische Abenteuer zu stürzen, beide stecken nun bis zum Hals in großen Schwierigkeiten. In Israel wie in den USA erklären Politiker und Generäle die Regierung für schuldig, einen Krieg ohne ausreichende Vorbereitung geführt zu haben. Und wie die USA macht auch Israel die Erfahrung, dass man eine Guerillagruppe, die sich in der Bevölkerung versteckt, nicht so bekämpfen kann wie eine "normale" staatliche Armee. Wie Hamas war die Hisbollah anfangs nur eine islamische Miliz. Sie entstand 1982 während der israelischen Offensive im Südlibanon. Wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Schiiten erhielt sie großzügige Unterstützung von den iranischen Mullahs. Auch Syrien förderte die Hisbollah und machte sie zu einem Verbündeten im Libanon, insbesondere nachdem Damaskus 2005 zum Rückzug seiner Truppen aus dem Land gezwungen wurde. Die Hisbollah konnte auch viele neue Kräfte gewinnen, indem sie die Bevölkerung mit medizinischen, sozialen und bildungspolitischen Hilfen versorgte, welche ebenfalls mit Geldern aus dem Iran finanziert wurden. Heute erhält sie weiter Zulauf, weil sie Entschädigungszahlungen an Bewohner jener Häusern leistet, die durch israelische Bomben beschädigt oder zerstört wurden. Viele ihrer Rekruten sind Straßenkinder zwischen 10 und 15 Jahren.

Im Moment bilden Syrien und der Iran einen homogenen Block hinter der Hamas und Hisbollah. Insbesondere der Iran erhebt Ansprüche auf eine imperialistische Führungsrolle in der Region. Der Besitz von Atomwaffen würde ihm sicherlich diesen Status verleihen. Dies ist der Hintergrund seiner zunehmend kriegerischen und arroganten Erklärungen, insbesondere seiner Absicht, "Israel von der Landkarte zu tilgen".

Der Zynismus aller Großmächte

Der Gipfel des Zynismus und der Heuchelei wurde von der UN erreicht, die in dem einen Monat dauernden Krieg ihren "Wunsch nach Frieden", aber auch ihre "Hilflosigkeit" bekundete. Dies ist eine abscheuliche Lüge. Die "friedensliebende" UN ist nichts als ein von Krokodilen bevölkerter Sumpf. Die fünf UN-Sicherheitsratsmitglieder sind die größten Räuber auf der Welt. Die Führungsrolle der USA fußt auf ihrer gewaltigen Militärmaschinerie; nachdem Bush Sen. eine neuen Ära des Friedens und Wohlstands angekündigt hatte, folgte ein Krieg nach dem anderen (der Golfkrieg 1991, die Balkankriege, die Besetzung Afghanistans und des Iraks…). Großbritannien hat aus eigenen imperialistischen Gründen in den meisten Fällen als Komplize der USA gehandelt. Es versucht so, seinen verloren gegangenen Einfluss, den es in der Region bis unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg besaß, wieder herzustellen.

Russland, das für die schrecklichsten Gräueltaten in seinen beiden Tschetschenienkriegen verantwortlich ist, versucht sich damit zu revanchieren, indem es sich holt, was es durch die Implosion der UdSSR einst verloren hatte. Die Schwächung der USA weckt alte imperialistische Gelüste. Deshalb spielt Russland die Karte der Unterstützung des Irans und - etwas diskreter - der Hisbollah.

China, das von seinem wachsenden ökonomischen Einfluss profitiert, träumt davon, neue Einflusszonen außerhalb Südostasiens zu erlangen, und macht gegenwärtig dem Iran schöne Augen. Neben Russland hat China eine Reihe von UN-Resolutionen, die von seinen Rivalen eingebracht wurden, sabotiert.

Und was Frankreich angeht, so hat es genauso viel Blut an den Händen. Es beteiligte sich tatkräftig am Golfkrieg von 1991, unterstützte in den Balkankriegen die serbische Seite und trug aufgrund seiner Rolle in der UN eine Hauptverantwortung für das Massaker von Srebrenica 1993. Auch bei der Jagd auf die Taliban in Afghanistan beteiligt es sich (der Tod von zwei Soldaten einer Spezialeinheit hat ein Licht auf Aktivitäten geworfen, die bislang geheim gehalten wurden). (1) Aber vor allem in Afrika hat der französische Imperialismus sein wahres Gesicht gezeigt. Frankreich löste den Völkermord in Ruanda aus, als es die Hutu-Milizen, welche von Frankreich ausgebildet und ausgerüstet wurden, zur Liquidierung der Tutsis ermunterten.

Die französische Bourgeoisie hat nie aufgehört, von jener Zeit zu träumen, als sie die Einflusssphären im Nahen Osten mit Großbritannien geteilt hatte. Nachdem ihre Allianz mit Saddam Hussein nach dem ersten Golfkrieg untergraben war und ihr Schützlings Massud in Afghanistan ermordet wurde, richteten sich alle Hoffnungen Frankreichs auf den Libanon. Frankreich war während des Krieges 1982-83 brutal aus dieser Region vertrieben worden - zunächst durch die syrische Offensive gegen die libanesisch-christliche Regierung, schließlich durch die israelische Intervention, die von dem Schlächter Sharon angeführt und aus der Ferne von den USA gesteuert wurde. Diese Offensive des westlichen Blockes zwang damals Syrien, den russischen Block zu verlassen. Frankreich hat Syrien nicht verziehen, dass es den früheren libanesischen Premierminister Rafiq Hariri im Februar 2005 ermordete. Hariri war ein guter Freund Chiracs und Frankreichs gewesen. Daher beschloss Frankreich, trotz seines Wunsches, mittels einer versöhnlicheren Haltung im Iran Fuß zu fassen, sich dem auf der UN-Resolution 1201 gestützten Vorgehen der USA gegenüber Libanon anzuschließen, und half mit, Pläne für den Einsatz der UN-Streitkräfte auszuhecken. Trotz der zögerlichen Haltung der französischen Militärführung, die gegen eine "Überdehnung" der französischen Überseekräfte protestierte (nahezu 15.000 Soldaten sind an verschiedenen Fronten im Einsatz: Elfenbeinküste, Tschad, Kongo, Djibuti, Darfur, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan), hat die französische Regierung den Rubikon überschritten. Sie stimmte einer Erhöhung der Truppenstärke der UNIFEL von 400 auf 2000 Soldaten zu, wobei Frankreich gewisse Vorteile gewährt wurden, insbesondere die Zusage, dass es die Führung der 15.000 Mann starken Truppe bis Februar 2007 übernehmen kann, und - wenn nötig - das Recht auf Gewaltanwendung. Die herrschende Klasse Frankreichs zaudert noch, in Nahost vom diplomatischen zum militärischen Terrain überzuwechseln. Die bittere Erinnerung an den Angriff schiitischer Terroristen auf das Drakkar-Gebäude, in dem das französische Kontingent im Oktober 1983 in Beirut untergebracht war, ist noch immer wach. 58 Fallschirmjäger verloren damals ihr Leben, anschließend verließ Frankreich den Libanon. Und heute steht es vor einer sehr schwierigen Aufgabe. Die Aufgabe der UNIFEL ist es, eine sehr schwache libanesische Armee (sie verfügt nur über 15.000 Soldaten und ist kaum neu gebildet worden) bei den Bemühungen, die Hisbollah zu entwaffnen, zu unterstützen. Die Aufgabe ist um so schwieriger, da der  libanesischen Regierung zwei Hisbollah-Minister angehören. Das Prestige der Hisbollah ist durch ihren Widerstand gegen die israelische Armee enorm gewachsen; sie besitzt weiterhin die Fähigkeit, Raketen auf den nördlichen Teil Israels abzufeuern. Darüber hinaus haben ihre Kräfte die libanesische Armee weitgehend unterwandert.

Auch andere Regierungen versuchen, aus der Situation möglichst großen Nutzen zu schlagen. Italien wird nach der Zusage, das größte Kontingent zu stellen, die UNIFEL-Führung ab Februar 2007 übernehmen. Nur wenige Monate, nachdem sich die italienischen Truppen aus dem Irak zurückgezogen haben, schickt Prodi italienische Truppen in den Libanon, womit er aufzeigt, dass Italien immer noch Ambitionen hat, mit in der imperialistischen Spitzenrunde zu sitzen.

Das offensichtliche Versagen Israels und der USA in diesem Krieg stellt eine weitere große Schwächung der US-Vorherrschaft dar. Aber dadurch werden die militärischen Spannungen nicht abnehmen. Im Gegenteil, der Appetit der anderen Mächte wird dadurch nur noch mehr wachsen. Die einzige Perspektive ist die eines zunehmenden Chaos und noch größerer Instabilität.

Der Nahe Osten ist ein gebündelter Ausdruck der Irrationalität in einer Zeit, in der jeder Imperialismus von einem immer zerstörerischeren Konflikt zum nächsten getrieben wird. Syrien und Iran stehen mittlerweile am Rande eines Krieges. Und die Lage drängt die USA und Israel zu einer noch fürchterlicheren Antwort. Der israelische Verteidigungsminister hat erklärt, dass der Waffenstillstand nur eine Pause darstellt, um den nächsten Angriff vorzubereiten, der auf die endgültige Liquidierung der Hisbollah abzielen wird.

Die Ausweitung der Kampfzonen über den Planeten zeigt, dass der Kapitalismus unweigerlich in die Barbarei abgleitet. Krieg und Barbarei sind zur Überlebensform des Kapitalismus geworden.

Wie können wir uns dem Abgleiten in die militärische Barbarei entgegenstellen?

Der Klassenkampf ist in der Region nicht verschwunden. Letztes Jahr gab es große Demonstrationen in Tel Aviv und Haifa gegen die Preissteigerungen und die Regierungspolitik der erhöhten Militärausgaben zu Lasten der Sozialausgaben. Das Scheitern des Krieges wird wahrscheinlich weitere Ausdrücke der sozialen Unzufriedenheit hervorrufen.

In den Palästinensergebieten "fordern palästinensische Bedienste des öffentlichen Dienstes die Zahlung ausstehender Gehälter von der Hamas-Regierung. Gestern protestierten 3.000 Beschäftigte in Ramallah, während in Gaza-Stadt mehr als 300 Arbeitslose für Jobs auf die Straße gingen; Sozialhilfeempfänger lieferten sich Schlachten mit der Bürgerkriegspolizei und versuchten, das Parlamentsgebäude zu stürmen. Nachdem sie das Eingangstor durchbrochen hatten, gab die Polizei Warnschüsse ab (…) Hamas hat den Streik als einen Versuch verurteilt, die Regierung zu destabilisieren, und hat Lehrer zum Streikbruch aufgefordert. Hamas verlangt, dass stattdessen die Wut gegen Israel gerichtet werden soll, das ‚über unser Volk den Belagerungszustand verhängt hat'. Hamas behauptet, der ‚Streik sei gegen das nationale Interesse gerichtet' und werde von der Fatah-Partei koordiniert, die ‚keine Bindungen zu den Beschäftigten' habe, denn viele Gewerkschaftsführer sind Fatah-Mitglieder. Trotz dieser parteipolitischen Manöver sind Wut und Empörung sehr groß in Anbetracht einer Arbeitslosigkeit von 30% und der Tatsache, dass ca. 25% der Beschäftigten auf ihre ausstehenden Gehälter warten. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten kann mit ihrem Lohn gerade mal überleben. Nach UN-Einschätzungen leben ca. 80% der Menschen in Armut." www.libcom.org/news/31.08.06 [6]).

Auch wenn Fatah-Politiker diese Wut zu ihren Gunsten auszuschlachten versuchen, handelt es sich hier um eine wichtige Entwicklung, denn sie treibt einen kleinen Spalt in die nationale Einheit, die nur dazu dient, den Klassenkampf in beiden Lagern zu erdrosseln. Im Gefolge des Krieges sind alle möglichen Schwindler aufgetreten, von denen viele behaupten, "Sozialisten" zu sein, und uns erzählen wollen, dass "wir alle Hisbollahs sind" und dass Arbeiter den legitimen "nationalen Widerstand" der Libanesen unterstützen sollten oder umgekehrt argumentieren, dass Israel "das Recht zur Selbstverteidigung gegen den Terrorismus" habe.

All dies sind nur Vorwände, um uns für die eine oder andere Seite im imperialistischen Krieg zu mobilisieren. Entgegen dieser Lügen können die Revolutionäre nur erklären, dass die Arbeiterklasse kein Vaterland zu verteidigen hat, dass ihr Kampf in der Tat nicht mit dem Interesse der Nation verbunden ist, dass im Zeitalter des Imperialismus alle Kriege imperialistische Kriege sind und wir bei diesen imperialistischen Massakern nichts gewinnen können durch die Unterstützung einer der beiden Kriegsparteien.

"Der einzig mögliche Widerstand gegen den Imperialismus ist der Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung, denn nur Widerstand kann in einem offenen Kampf gegen das kapitalistische System gipfeln; einem Kampf, der diese sterbende System des Profits und Krieges durch eine Gesellschaft ersetzt, die auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet ist. Weil die Ausgebeuteten überall die gleichen Interessen haben, ist der Klassenkampf international; die Arbeiterklasse hat kein Interesse daran, sich mit dem einen Staat gegen den anderen zu verbünden. Ihre Kampfmethoden richten sich direkt gegen die Zuspitzung des Hasses unter den ethnischen oder nationalen Gruppen, weil der Klassenkampf die Arbeiter aller Nationen in einem gemeinsamen Kampf gegen Staat und Kapital verbindet.

In Nahost hat die Spirale nationalistischer Konflikte den Klassenkampf sehr erschwert, doch er existiert noch - in Demonstrationen arbeitsloser palästinensischer Arbeiter gegen die palästinensischen Behörden, in Streiks israelischer Beschäftigter des öffentlichen Dienstes gegen die Sparprogramme der Regierung. Aber jene Kraft, die die  Mauer des Krieges und des Hasses im Nahen Osten noch am ehesten durchbrechen kann, befindet sich außerhalb dieser Region - im zunehmenden Kampf der Arbeiter in den zentralen kapitalistischen Ländern. Das beste Beispiel der Klassensolidarität, die wir den Menschen bieten können, die direkt unter den Schrecken des imperialistischen Krieges im Nahen Osten leiden, besteht in der Entfaltung des Klassenkampfes, der bereits von den künftigen Arbeitern aus den französischen Schulen und Universitäten, von den Metallarbeitern im spanischen Vigo, den Postbeschäftigten in Belfast oder den Flughafenbeschäftigten am Londoner Flughafen geführt wurde" (Erklärung der IKS:  Nahost - Gegen das Abgleiten in den Krieg, 17. Juli 2006).

Diese Bewegungen mögen weniger Lärm verursachen als die Raketen und Bomben, die auf den Nahen Osten herab regnen, aber sie kündigen die einzige Alternative gegen das Versinken in der Barbarei an: eine Zukunft, in der die wachsende Solidarität unter den kämpfenden Arbeitern den Weg für eine Gesellschaft ebnet, die sich auf die Solidarität unter allen Menschen stützt. WR 2.9.06

(1) Die außergewöhnliche Betonung, die die französischen Medien auf diese Episode legten, ist zweifellos mit dem Bedürfnis verknüpft, die Bevölkerung an den Gedanken einer französischen Präsenz in den "friedenserhaltenden" Streitkräften im Südlibanon zu gewöhnen.

Schweiz: Diskussionsveranstaltung in der Schweiz

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Krieg oder Revolution - die Zeit läuft ab

Aus Anlass des Krieges im Libanon führte die IKS in der Schweiz Ende August 2006 eine öffentliche Veranstaltung durch zum Thema "Naher Osten: Der Klassenkampf - einziges Mittel gegen das Versinken im Krieg". Bei dieser Diskussion in Zürich tauchten verschiedene für die Arbeiterklasse existentielle Fragen auf, die eng miteinander verflochten sind und auf die es sich lohnt, in diesen Spalten noch einmal zurückzukommen:

Rationalität der Kriegszerstörungen?

Die IKS unterstreicht immer wieder den irrationalen Charakter der Kriege und tat dies auch in der Einleitung zur Diskussion über den jüngsten Libanonkrieg. Darauf warf ein Teilnehmer die Frage auf, ob nicht in wirtschaftlicher Hinsicht eine gewisse Rationalität hinter den Kriegen stecke, also eine Logik, die wenigstens einen wirtschaftlichen Sinn habe. Einmal würden sicher die Rüstungsproduzenten von den Kriegen profitieren. Aber auch für das kapitalistische System insgesamt sei der Wiederaufbau nach einem Krieg unter Umständen ökonomisch von Vorteil, da das Grundproblem des Kapitalismus doch die Überproduktion sei. Es würden zu viele Waren produziert, die schliesslich unverkäuflich seien. Mit den Kriegen würden zahlreiche Einrichtungen, Fabriken usw. zerstört, so dass ein Bedarf nach Ersatz entstehe. Insofern werde doch der Kapitalismus einen Teil seiner überflüssigen Waren los und könne wieder neue produzieren, für die auch eine Nachfrage bestehe, argumentierte der Genosse sinngemäss.

Dass die Rüstungsproduzenten von kriegerischen Auseinandersetzungen profitieren, kann nicht bestritten werden. Die Nachfrage nach Waffen steigt, und es handelt sich dabei meist auch um eine zahlungskräftige Nachfrage. Staaten oder Organisationen, die mit dem Anspruch auftreten, ähnliche Funktionen wie Staaten wahrzunehmen, kaufen Rüstungsgüter und verfügen zu diesem Zweck über das nötige Geld.

Wenn aber die Frage der wirtschaftlichen Vernünftigkeit von Kriegszerstörungen im Raum steht, kann man nicht bloss einen einzelnen Sektor der Wirtschaft (hier den Rüstungssektor) betrachten, sondern muss den Gesamtprozess der Kapitalakkumulation im Auge behalten. Was der Waffenproduzent einnimmt, wird von den Waffenkäufern ausgegeben. Diese haben ihre Mittel meist aus Steuern im weitesten Sinn. Wenn also infolge eines Krieges zusätzliche Waffen gekauft werden müssen, sind die Steuern zu erhöhen, was für die Wirtschaft kein Vorteil ist - im Gegenteil: das betreffende Land wird für alle, die Steuern bezahlen müssen, unattraktiv, z.B. auch für zukünftige Investoren. Ein anderes Mittel zur Finanzierung der Waffen besteht darin, dass der betreffende Staat mehr Geld druckt, was aber nur dann funktioniert, wenn die Waffen in der eigenen Währung bezahlt werden können, und was zwangsläufig zu einer Geldentwertung, also zu einer Verteuerung der Importe führt. Eine solche Inflation ist zwar regelmässig die Folge von Kriegen, aber eine von den betreffenden Staaten keineswegs erwünschte Erscheinung. 

Hinzu kommt ein weiteres Problem, das mit dem spezifischen Gebrauchswert von Waffen im gesamten Produktions- und Zirkulationsprozess zu tun hat: Marx unterschied für die Reproduktion und Zirkulation des Gesamtkapitals zwei Abteilungen, nämlich die Produktion von Produktionsmitteln einerseits und diejenige von Konsumtionsmitteln andererseits. In der ersten Abteilung werden diejenigen Waren produziert, die dann als konstantes Kapital benutzt werden; in der zweiten Abteilung werden die Güter und Dienstleistungen hergestellt, die sowohl von den Arbeitern als auch von allen anderen Klassen zu ihrer Reproduktion benötigt werden, wobei hier auch Luxuskonsumgüter eingeschlossen sind, die nur von der Kapitalistenklasse gekauft werden. Somit werden in beiden Abteilungen grundsätzlich Waren produziert, die von ihrem Gebrauchswert her im nächsten Produktionszyklus Verwendung finden können, sei es als Produktionsmittel (konstantes Kapital), sei es als Konsumtionsmittel (zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft, des variablen Kapitals), oder die von den Kapitalisten als Luxusgüter verbraucht werden. Aber was passiert mit den Waffen? - Sie können aufgrund ihres Gebrauchswerts, ihrer Zweckbestimmung, weder als konstantes noch als variables Kapital verwendet werden. Sie sind dazu bestimmt, früher oder später in Kriegen zu dienen. Ein Teil der Waffen (z.B. Raketen, Bomben, Munition) wird notwendigerweise beim ersten Einsatz zerstört; der andere Teil (Gewehre, Kanonen, Flugzeuge, Tanks etc.) bleibt im kriegerischen Einsatz bis zur Zerstörung durch den Gegner oder den Rost. In jedem Fall sind Rüstungsgüter unter dem Gesichtspunkt der Akkumulation des Gesamtkapitals eine Verschwendung. Sie erfordern Ausgaben, ohne dass sie auf der rein ökonomischen Ebene eine notwendige, geschweige denn gewinnbringende Funktion hätten. (Eine andere Frage ist, ob sie aus politisch-militärischen Gründen notwendig sind - doch dazu weiter unten.)

Es bleibt das Argument mit dem Wiederaufbau. Es ist klar, dass zerstörte Häuser, Produktionsanlagen und Infrastruktur nach einem Krieg soweit möglich wieder aufgebaut werden. Doch fragt sich auch hier, mit welchen Mitteln dies geschieht und ob es eine für das Gesamtsystem produktive Entwicklung ist. Dem Genossen, der die Frage aufgeworfen hat, ist sicher zuzustimmen, dass der Kapitalismus unter einer Überproduktion leidet. Es fehlt also an einer genügenden Nachfrage nach Waren, die bereits produziert worden sind oder mit den bestehenden Kapazitäten hergestellt werden könnten. Doch was heisst genügende Nachfrage? Im Kapitalismus bedeutet Nachfrage nie allein den Wunsch zur Konsumption, ein zu deckendes Bedürfnis, sondern auch die entsprechende Zahlungsfähigkeit des Konsumenten. "Andre Konsumarten als zahlende kennt das kapitalistische System nicht (…). Dass Waren unverkäuflich sind, heisst nichts, als dass sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten (sei es nun, dass die Waren in letzter Instanz zum Behuf produktiver oder individueller Konsumtion gekauft werden)." (1) Dieses Grundproblem des Kapitalismus lösen die Kriegszerstörungen nicht, im Gegenteil. Sie schaffen keine zusätzliche Kaufkraft, sondern vernichten einen Teil der bestehenden. Ein Beispiel: Tausende von libanesischen Familien haben zwischen dem 13. Juli und dem 14. August 2006 ihre Häuser und einen Grossteil ihres sonstigen Eigentums verloren. Die Hisbollah rühmen sich, dass sie unter den Bedürftigen auf unbürokratische Weise Geld für den Wiederaufbau verteilen. Dieses Geld stammt offenbar zum überwiegenden Teil aus dem Iran (es würde keinen wesentlichen Unterschied machen, wenn es woanders herkäme). Selbst wenn der iranische Staat dieses Geld nicht aus den Steuereinnahmen, sondern aus dem  Erdölverkauf hat, fehlt es ihm doch anderswo. Er kann zwar das Geld aus politischen Gründen zur Einflussnahme unter die Armen verteilen; dadurch wird im Libanon eine zahlungsfähige Nachfrage geschaffen. Das gleiche Geld fehlt aber potenziellen Konsumenten im Iran. Mit den Kriegszerstörungen sind zwar neue Bedürfnisse entstanden, die Zahlungskraft ist aber insgesamt um keinen Cent gewachsen. Damit ist der Kapitalismus aber auch der Überwindung der Überproduktionskrise nicht näher gekommen. (2)

Gibt es einen Zerfall des Kapitalismus?

Zwei andere Teilnehmer warfen Fragen auf, die mit der vorangehenden zusammenhingen: Was meint die IKS mit Zerfall? Gibt es im gegenwärtigen Kapitalismus tatsächlich eine Tendenz zum Zerfall? Und was bedeutet dies? Zerfall heisst ja noch nicht Zusammenbruch.

Wir können hier aus Platzgründen nicht auf die Ursachen des kapitalistischen Zerfalls eingehen, wie dies an der Diskussionsveranstaltung der Fall war. Da es darüber aber schon mehrere Artikel gibt, ist es hier auch nicht unbedingt nötig, in schriftlicher Form die Argumente zu wiederholen (3). Vielmehr möchten wir uns an dieser Stelle auf zwei Fragen konzentrieren, die aktualitätsbezogen sind und das Wesen des Zerfalls veranschaulichen:

- Wie drücken sich die für den Zerfall typischen Tendenzen heute, z.B. im Libanonkrieg, aus?

- Heisst Zerfall, dass der Kapitalismus von selber zugrunde geht?

Die im vorherigen Abschnitt angesprochene Irrationalität des Krieges drückt sich nicht nur darin aus, dass das kapitalistische System insgesamt der Lösung der z.B. wirtschaftlichen Probleme nicht näher kommt, sondern auch darin, dass selbst die stärksten Grossmächte ihre Kriegsziele nicht mehr erreichen. Dies trifft namentlich auf die USA, die einzig übrig gebliebene Supermacht, zu. Nach dem 11. September 2001 haben sie eine Strategie der Einkreisung Europas und Russlands betrieben und zu diesem Zweck zuerst Afghanistan und dann den Irak besetzt sowie ihre militärischen Stützpunkte in verschiedenen Staaten Zentralasiens auf- und ausgebaut. Als wir im Oktober 2001 in Zürich (in der ersten öffentlichen Veranstaltung nach den Anschlägen auf die Twin Towers und während der Invasion der USA in Afghanistan) die Position vertraten, die Macht der USA befinde sich auf dem absteigenden Ast, lachte uns ein Teilnehmer aus und behauptete vehement das Gegenteil: Die USA würden den 11. September nicht bloss als Vorwand für einen Ausbau ihrer Vormachtstellung benützen, sondern dabei auch Erfolg haben. Das Fiasko dieser Politik ist heute je länger je weniger zu bestreiten. Der Irakkrieg bindet so viele Kräfte, dass die anderen von George W. Bush so genannten "Schurkenstaaten" Iran und Nordkorea den USA auf der Nase herumtanzen können, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. Und selbst in Afghanistan verlieren die Nato-Truppen zunehmend die Kontrolle: "Der britische Oberkommandierende General Richards erklärte, die Intensität der Kämpfe übersteige jene im Irak und habe ein Gewaltniveau erreicht, wie es die Welt seit dem Koreakrieg nicht mehr gesehen habe." (NZZ 9./10.09.06)

Dies ist eine neue Qualität: Die Siegermächte des 1. und des 2. Weltkrieges hatten zwar ökonomisch je nachdem viel verloren, aber wenigstens in strategischer Hinsicht ihre Position verbessern können. Nicht mehr so die heutigen Kriegsgewinner. Die israelische Armee ist den Streitkräften der Hisbollah weit überlegen. Die Schäden, die jene im Libanon angerichtet hat, übersteigt die durch die Hisbollah und ihre Verbündeten verursachten um ein Vielfaches. Und doch kommt niemand auf die Idee zu behaupten, Israel habe diesen Krieg gewonnen. Vielmehr feiern sich die Hisbollah als die Sieger. Und in strategischer Hinsicht trifft dies wohl zu, insbesondere wenn man auch den Machtzuwachs des Irans mit berücksichtigt.

Es ist nicht bloss paradox, sondern nachgerade absurd: Wenn die Starken auf den Einsatz ihrer Streitkräfte verzichten, freuen sich die Rivalen und bauen ihre Macht aus; wenn die Starken umgekehrt ihre Macht demonstrieren, untergraben sie damit zuerst einmal ihre eigene Machtposition. Was sie auch tun - sie verlieren an Macht. Und die Unordnung nimmt zu. Kein Imperialist, ob gross oder klein, ist mehr in der Lage, etwas von Bestand zu gestalten, aufzubauen. Wie in der Physik scheint sich das Gesetz der Entropie durchzusetzen. Die Bourgeoisie wird sich dessen selber zunehmend bewusst: "Militärische Schläge, deren Ziele unklar, unerreichbar und schlicht nicht vorhanden sind, bergen jedoch die Gefahr, nur die Zerstörung des angegriffenen Landes zu bewirken und damit zu einem neuen gescheiterten Staat zu führen." (Arnold Hottinger in der NZZ vom 6.09.06) Es ist unübersehbar, dass diese Logik auf einen Untergang zusteuert: "Wie gross muss die kritische Masse von gescheiterten Staaten sein, damit die noch überlebenden Länder von der Zersetzung erfasst werden und die ganze Region in den Zusammenbruch hineingezogen wird?" (ebenda)

Doch führt dieser "Zusammenbruch" nicht zu einer neuen Gesellschaftsordnung. Der Kapitalismus verfault zwar zunehmend und verbreitet seinen Gestank über die ganze Erde. Er wird aber nicht von selbst einer neuen Gesellschaft Platz machen. Vielmehr braucht es dazu die bewusste Tat derjenigen Klasse, die im Kapitalismus die ausgebeutete Klasse ist und den Schlüssel für eine andere Produktionsweise in der Hand hält - eine Produktionsweise, in der nicht mehr für die zahlungskräftige Nachfrage produziert wird, sondern für die Bedürfnisse der ganzen Menschheit.

Die Fragen nach dem aktuellen Zustand des Kapitalismus und seinen Tendenzen sind für diejenigen, die die Welt verändern wollen, existenziell. "Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist" (4);  und eine Revolution "ist nur in den Perioden möglich, wo (…) die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten." (5) Es ist also zunächst wichtig zu wissen, ob das System, das man revolutionär überwinden will, noch eine wirtschaftliche Zukunft hat.

Weiter ist es aber auch wichtig zu wissen, ob sich die Bedingungen für die Revolution noch verbessern oder nur noch verschlechtern. Der kapitalistische Zerfall ist die Periode, in der die Zeit begonnen hat, gegen uns zu laufen.

Gerade auch deshalb begrüssen wir die kritischen und bohrenden Fragen von Genossen, die der Sache auf den Grund gehen wollen. Die Klärung ist unabdingbar für die Bewusstseinsentwicklung. Und die Debatte ist eines der besten Mittel dazu.

WG, 14.09.06

(1) Marx, Kapital Band 2, MEW 24 S. 409

(2) An der öffentlichen Veranstaltung in Zürich hat niemand in Frage gestellt, dass der Kapitalismus an einer Überproduktionskrise krankt. Diejenigen, die daran zweifeln, dass es ein Problem der Sättigung der Märkte überhaupt gibt, verweisen wir auf die aktuelle Debatte mit CWO in der kommenden International Review Nr. 127 (engl./frz./span. Ausgabe) bzw. unter

 https://fr.internationalism.org/ir/127/cwo_intro_economie_guerre [7].

(3) z.B. "Thesen über den Zerfall" in  Internationale Revue Nr. 13; und "Den Zerfall des Kapitalismus verstehen" in Internationale Revue Nr. 34

(4) Marx, MEW 13 S. 9

(5) Marx, MEW 7 S. 440

Spanien 1936: Die Linke gegen die Arbeiterklasse

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In den 30er Jahren wurde nach der Niederschlagung der revolutionären Welle von Kämpfen zwischen 1917-23 überall der Weltkrieg vorbereitet. Die Arbeiterklasse war besiegt, vom Kapitalismus erdrückt. So konnte es der Kapitalismus schaffen, die Arbeiterklasse von ihrem Kampf als Klasse abzulenken, um sie vor die falsche Alternative 'Faschismus oder Demokratie' zu stellen. Gleichzeitig gingen nach dem Tod der Kommunistischen Internationalen, nachdem diese den 'Sozialismus in einem Land' erklärt hatte, die meisten Arbeiterorganisationen, die entartet waren, in das Lager der Bourgeoisie über oder neigten dazu, völlig auseinanderzubrechen. Die 'Kommunistischen' Parteien wurden zu einfachen Instrumenten der 'Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes' im Dienste der stalinistischen Konterrevolution. Nur einige wenige Stimmen erhoben sich gegen diese Entwicklung. Dazu gehörte eine Gruppe wie BILAN (zwischen 1933 - 38 veröffentlichte die Italienische Linke im Ausland eine Zeitschrift mit diesem Namen).

Die Linken unterwarfen die Arbeiterklasse dem bürgerlichen Staat

Spanien, wo sich noch ein Teil der Arbeiterklasse befand, der deshalb noch nicht besiegt worden war, weil Spanien selbst nicht am 1. Weltkrieg teilgenommen hatte, sollte im Mittelpunkt eines umfassenden Manövers einer vereinigten Bourgeoisie stehen, die danach strebte, die Arbeiter von ihrem Kampfterrain wegzudrängen, damit sie sich in eine rein militärische und imperialistische Schlacht auf kapitalistischer Grundlage stürzte. Aufgrund seiner geopolitischen Lage an der Tür zu Europa, da am Mittelmeer und am Atlantik sowie gegenüber Afrika gelegen, war Spanien ein ideales Gebiet, wo die durch die Krise verschärften Spannungen sich weiter zuspitzen konnten. Das trifft insbesondere für die Interessen des deutschen und italienischen Imperialismus zu, die eine starke Stellung im Mittelmeer anstrebten und den Kurs zum Krieg beschleunigten.

Die archaischen Strukturen dieses Landes, das durch das Toben der Wirtschaftskrise in den 30er Jahren zutiefst erschüttert worden war, boten darüber hinaus einen günstigen Nährboden, um die Arbeiterklasse von ihrem Kampf abzulenken. Der Mythos einer 'bürgerlich demokratischen Revolution', die von den Arbeitern abgeschlossen werden sollte, wurde in Gestalt der Formel 'Republik gegen Monarchie' in Umlauf gebracht, womit der 'antifaschistische Kampf gegen den Faschismus' vorbereitet wurde. Nach der Militärdiktatur Primo de Riveras, die 1923 errichtet worden war und die aktive Unterstützung durch die sozialistische Gewerkschaft UGT erhielt, arbeitete die spanische Bourgeoisie vom August 1930 an den 'Pakt von San Sebastian' aus, dem die beiden Gewerkschaften UGT und CNT beitraten. Die CNT wurde von den Anarchisten beherrscht, die für eine 'republikanische Alternative' gegenüber der Monarchie eintraten. Am 14. April 1931 war König Alfons XIII in Anbetracht eines drohenden Eisenbahnerstreiks gezwungen abzutreten. Die Republik wurde ausgerufen. In den Wahlen siegte eine 'sozial-republikanische' Koalition. Die neu 'gewählte' Regierung fing sofort mit der Unterdrückung der Streikbewegungen an, die als Reaktion auf die Zunahme der Arbeitslosigkeit und die Preissteigerungen entflammte. Hunderte von Arbeiter wurden erschossen und verletzt. So wurden allein in Casas Viejas in Andalusien 33 Arbeiter erschossen. Während dieser Welle der Repression befahl der 'Sozialist' Azana den Soldaten: 'Wir wollen keine Verwundeten oder Gefangenen, schießt in die Herzen!'. Diese blutige Niederschlagung der Arbeiterkämpfe, die im Namen der Demokratie stattfand und ca. zwei Jahre dauerte, ermöglichte es den Rechten, sich zu organisieren und der Regierungskoalition das Steuer zu entreißen. 1933 gewannen die Rechten dann die Wahlen. Ein Teil der Sozialistischen Partei, die ihre Glaubwürdigkeit aufgrund ihrer führenden Rolle bei der Repression verloren hatte, nutzte die Lage aus, um eine Linkswende zu vollziehen. Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges, d.h. die Notwendigkeit, die Arbeiterklasse von ihren Streiks abzubringen und sie in Sackgassen zu lenken, zwang die linken Parteien zu handeln. Im April-Mai 1934 nahmen die Streiks weiter an Schärfe zu. Die Metaller in Barcelona, die Eisenbahner und vor allem die Bauarbeiter in Madrid nahmen ihre Kämpfe auf. Die Linken und Vertreter der extremen Linken legten den Schwerpunkt ihrer Gegenstrategie voll auf den Antifaschismus, um die Arbeiter dazu zu bewegen, 'eine Einheitsfront aller Demokraten' aufzustellen. Damit wollten sie die Arbeiter in eine Zwangsjacke stecken.

Von 1934 bis 1935 wurde die Arbeiterklasse immer wieder dazu aufgerufen, sich bei den Wahlen hinter die Volksfront zu stellen, um 'der faschistischen Gefahr entgegenzutreten'.  Im Oktober 1934 schafften es die linken Kräfte, die Arbeiter in Asturien in die Falle eines selbstmörderischen Zusammenstoßes mit dem bürgerlichen Staat zu locken. Das sollte die Arbeiter teuer zu stehen kommen. Der Sozialistischen Partei PSOE und der UGT gelang es, den heldenhaften Widerstand der Arbeiter in den Bergarbeitergebieten und im Industriegürtel von Oviedo und Gijon zu isolieren und die Ausbreitung ihrer Kämpfe auf den Rest des Landes, insbesondere auf Madrid zu verhindern. Die Regierung schickte 30.000 Soldaten mit Panzern und Flugzeugen nach Asturien, um die Arbeiter niederzuschlagen. Dies leitete schließlich die Repression im ganzen Land ein.

Die 'Volksfront' trieb die Arbeiter ins Massaker

Am 15. Jan. 1935 wurde das Wahlbündnis der Volksfront von allen linken Organisationen wie auch von der zum Trotzkismus neigenden linken Gruppe POUM unterzeichnet. Die anarchistischen Führer der CNT und der FAI machten von ihrem 'Prinzip  der Parlamentsgegnerschaft' eine Ausnahme, um schweigend diesem Bündnis ihre Unterstützung zukommen zu lassen. Im Februar 1936 wurde die erste Regierung der Volksfront gewählt. Während eine neue Streikwelle entflammte, rief die Regierung zu Ruhe und zur Beendigung der Streiks auf, da die Streiks nur dem Faschismus dienten. Die 'Kommunistische' Partei (KP) ging sogar soweit zu behaupten, die 'Unternehmer provozieren und heizen die Streiks an, weil sie damit politische Sabotage betreiben' wollen. In Madrid, wo am 1. Juni ein Generalstreik ausbrach, verhinderte die CNT jede direkte Konfrontation mit dem Staat, indem sie die Forderung nach Selbstverwaltung aufstellte. Mit dieser 'Selbstverwaltung' sollten die Arbeiter in 'ihrer' Fabrik, 'ihrem' Dorf oder 'ihrer' Stadt eingesperrt werden.

Das Militär griff im Juli 1936 von Marokko aus an, nachdem es sich stark genug dazu fühlte. Es stand unter der Führung von Franco, der als General in der von den Sozialisten beherrschten Republik seine ersten Auszeichnungen erhalten hatte.

Die Arbeiter reagierten sofort: Am 19. Juli traten sie gegen das Militär Francos in den Streik; in großen Scharen zogen sie zu den Kasernen, um die Soldaten zu entwaffnen. Dabei stellten sie sich gegen die Direktiven der Volksfront und der republikanischen Regierung. Indem sie ihre ökonomischen Forderungen mit dem politischen Kampf verbanden, boten sie dem mörderischen Treiben Francos Einhalt. Aber gleichzeitig wurden in anderen Gegenden die Aufrufe der Volksfront zur Ruhe respektiert. In Sevilla beispielsweise, wo die Arbeiter den Anordnungen der Volksfrontregierung gefolgt waren, richteten die Militärs ein furchtbares Massaker an. Damit konnten die linken Kräfte des Kapitals ihre Rekrutierungsbemühungen für das Kapital entfalten. Innerhalb von 24 Stunden trat die Regierung, die mit den Truppen Francos verhandelte und mit ihr die Massaker an den Arbeitern organisierte, zugunsten einer Regierung Girals zurück, die 'noch mehr links' stand und 'noch antifaschistischer war. Diese Regierung richtete die Erhebung der Arbeiter ausschließlich gegen die Truppen Francos und beschränkte alles auf die rein militärische Auseinandersetzung. Die Arbeiter erhielten nur Waffen, um damit an die 'Front' gegen Franco geschickt zu werden. Von dem Klassenkampf sollten sie abgehalten werden. Die Bourgeoisie verbreitete die Lüge von einem angeblichen 'Verschwinden des republikanischen kapitalistischen Staates', während dieser sich in Wirklichkeit hinter einer angeblichen Arbeiterregierung versteckte. Die Illusion einer 'Doppelmacht' wurde verbreitet. Überall wurden die Arbeiter von den Truppen Francos niedergemetzelt. Hunderttausende von Arbeitern wurden für die antifaschistischen Milizen der Anarchisten und des POUM rekrutiert.

Nachdem es so von seinem Klassenterrain abgebracht worden war, wurden große Teile des Proletariats massakriert und in die Zwangsjacke einer gigantischen Ausbeutungsmaschine im Namen der 'antifaschistischen' Kriegswirtschaft durch die Volksfront gesteckt. So wurden sie aufgefordert, Lohnkürzungen, Rationierungen, Militarisierung der Arbeit, Verlängerung des Arbeitstages usw. hinzunehmen.

Im Mai 1937 erhob sich das Proletariat Barcelonas erneut verzweifelt. Die Volksfrontregierung ließ es niederschlagen - mit der KP und der PSUC an der Spitze, während die Truppen Francos freiwillig ihren Vormarsch stoppten, um es den stalinistischen Henkern zu ermöglichen, die Arbeiter niederzuschlagen: 'Am 19. Juli 1936 wehrten die Proletarier Barcelonas mit ihren bloßen Fäusten den Angriff der Bataillone Francos, die bis an die Zähne bewaffnet waren, ab. Am 4. Mai 1937 mußten die gleichen Arbeiter, die diesmal bewaffnet waren, mehr Opfer als im Juli hinnehmen, als sie Franco zurückschlugen, und es war die antifaschistische Regierung - der die Anarchisten beigetreten waren, und mit der sich der POUM indirekt solidarisch erklärte - die die Kräfte der Repression auf die Arbeiter hetzte', schrieb BILAN 1938 in dem Artikel 'Blei, Maschinengewehre, Gefängnis - so reagiert die Volksfront auf die Arbeiter Barcelonas'.

In dieser blutigen Tragödie haben damals alle Organisationen, die vorgaben im Namen der Arbeiter aufzutreten, nicht nur bewiesen, daß sie in den bürgerlichen Staat integriert waren, sondern sie haben sich direkt an der Niederschlagung der Arbeiterklasse beteiligt: die KP, PSCU, PSOE, UGT haben direkt die Rolle des Henkers übernommen, während die CNT, FAI und POUM die Arbeiter dazu gebracht haben, ihr Klassenterrain im Namen des Antifaschismus zu verlassen, damit haben sie sie vor die Gewehre ihrer Mörder getrieben, um im imperialistischen Krieg aufgerieben zu werden. Die Beteiligung der Anarchisten und der CNT als Minister  an der Regierung in Katalonien und dann an der Zentralregierung Caballeros hat stark zur Verschleierung der Volksfront beigetragen. Die Anarchisten haben für die Bourgeoisie eine sehr nützliche Rolle gespielt, denn sie haben das Klassenwesen der Volksfrontregierung mit übertüncht: 'Sowohl von den Prinzipien als auch von der Überzeugung her war die CNT immer gegen den Staat eingestellt und ein Gegner jeder Regierung. Aber die Verhältnisse haben das Wesen der spanischen Regierung und des Staates geändert. Heute ist die Regierung als ein Kontrollinstrument der Staatsorgane keine die Arbeiterklasse unterdrückende Kraft mehr, genauso wenig wie der Staat kein Organismus mehr ist, der die Gesellschaft in Klassen spaltet. Die beiden werden das Volk sogar weniger unterdrücken, nachdem ihnen jetzt Mitglieder der CNT angehören' (Federica Montseny, 4.11.1936).

Alle Teile der CNT führten einen erbitterten Krieg gegen die wenigen Leute, die in dieser großen Verwirrung für die Verteidigung der revolutionären Positionen eintraten, indem sie sie an die gefährlichsten Stellen der Front schickten oder sie von der Polizei der 'republikanischen Kräfte' ins Gefängnis stecken ließen. Die Ereignisse in Spanien zeigten die ganze Drecksarbeit auf, die diejenigen verrichteten, die behaupteten, auf der Seite der Arbeiter zu stehen, ob sie sich nun  'Demokraten', Anarchisten, Sozialisten, 'Kommunisten' nennen, die aber in Wirklichkeit unnachgiebige Verteidiger des bürgerlichen Staates und des nationalen Kapitals waren. Sie alle waren die schlimmsten Feinde des Proletariats.               CB

(FAI: Anarchistische Föderation Iberiens)

(PSUC= Sozialistische Einheitspartei Kataloniens)


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