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Weltrevolution Nr. 69

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1905: Der Massenstreik und die Arbeiterräte

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 Vor 90 Jahren begann das Proletariat in Rußland die erste revolutionäre Bewegung dieses Jahrhunderts: die Generalprobe für die siegreiche Revolution von 1917 und die internationale Welle von revolutionären Kämpfen, die sich ihr anschloß. 1905 entfaltete die Arbeiterklasse zum ersten Mal ihre spezifische Waffe im Zeitraum der kapitalistischen Dekadenz: den Massenstreik. In Anbetracht der Schlüsselfragen, vor denen das Proletariat heute steht, ist es die Aufgabe der revolutionären Minderheiten, ihre Klasse an die gewaltigen, gegen ein System, das auf seinen Zusammenbruch hinraste, gerichteten Kämpfe von 1905 zu erinnern.Der Grund, weshalb es heute so wichtig ist, daß sich die Arbeiter die Lehren dieser Erfahrung aneignen, liegt darin, daß die Antworten auf die Fragen, vor denen die Arbeiter heute stehen, 1905 gegeben wurden: die Vereinigung der Arbeiterklasse durch die Ausdehnung und Selbstorganisierung des Kampfes, wodurch die Grundlagen für die revolutionäre Offensive gegen die kapitalistische Ordnung gelegt wurden.Die Revolution von 1905 wurde durch ein unbedeutendes Ereignis ausgelöst, das aber wie ein Funken bei einem Pulverfaß wirkte: im Dez. 1904 wurden zwei Arbeiter der Putilov-Werke in St. Petersburg deswegen entlassen, weil sie einer politischen Organisation angehörten. Am 3. Januar traten die Arbeiter der Putilov-Fabrik in den Streik, und am 7. Januar brachten 140.000 Streikende ihre Wut in den Fabriken von St. Petersburg zum Ausdruck, organisierten Vollversammlungen, in denen politische und ökonomische Forderungen formuliert wurden. Diese spiegelten die Revolte gegen die Autorität des Zaren, die Bedingungen der Misere und der Ausbeutung wider, welche durch die Wirtschaftskrise und den imperialistischen Krieg mit Japan aufgezwungen wurden. Insbesondere forderten sie Lohnerhöhungen, den 8-Stunden-Tag, Bürgerrechte, das allgemeine Wahlrecht. Von einem Priester, Gapon, angeführt, - von dem sich später herausstellte, daß er ein Polizeiagent war - marschierten die Arbeiter friedlich zum Winterpalais des Zaren. Sie wollten dem Zar eine Petition vortragen, in der sie demütig um eine Verbesserung ihrer Lebenslage nachsuchten. Aber ihnen traten die Truppen des Zaren entgegen, die wild auf die Menge schossen. Dieser ‘blutige Sonntag’ war Anlaß für die erste revolutionäre Explosion des Proletariats im ganzen Zarenreich, die erste Massenstreikbewegung in der Geschichte.

Die Ausdehnung des Massenstreiks

Während der nachfolgenden zwei Monate dehnte sich der Widerstand der Arbeiter über ganz Rußland aus, schloß später 132 Städte und nahezu eine Million Arbeiter ein. Dann flachte die Bewegung langsam ab, um spontan und mit vereinten Kräften im Herbst wieder aufzutauchen. Die Kämpfe im Herbst 1905 waren der Höhepunkt einer ganzen Bewegung. Wie im Januar 1905 wurden sie durch ein kleines Ereignis ausgelöst: am 19. Sept. traten die Arbeiter in der Sytine Druckerei in Moskau in den Streik, um ihrer Forderung nach Lohnerhöhungen und einer Verkürzung des Arbeitstages Nachdruck zu verleihen. Der erste Streik dehnte sich auf der Ebene der Branche aus: die Drucker aus andern Petersburger Druckereien legten aus Solidarität die Arbeit nieder, um die Moskauer Drucker zu unterstützen. Aber der Streik überwand schnell die Barrieren der Berufe und Branchen und dehnte sich geographisch aus. Der Funken sprang über auf die Eisenbahner und wurde noch verstärkt, als die Beschäftigten des Telegrafenamtes der Bewegung beitraten. Die Streikenden kamen zu Vollversammlungen zusammen, die sich sofort entschlossen, Räte (Sowjets) zu bilden, um ihre Kämpfe zu koordinieren und zentralisieren. 5 Tage nach der Schaffung des ersten Sowjets begann sich der Streik durch den Impuls der Eisenbahner auszudehnen, die die Eisenbahnlinien blockierten. Jegliche Verbindung zwischen Moskau und anderen Städten wurde unterbrochen. Das hinderte die Arbeiter nicht daran, die Verbindung untereinander aufrechtzuhalten. Trotz der Drohung der Repression (3-monatige Gefängnisstrafen für Streikende) ließen sich die Eisenbahner und die Telegrafenamtbeschäftigten nicht einschüchtern. Die Bewegung dehnte sich vom Zentrum zur Peripherie aus. Andere nichtausbeutende Schichten wurden ebenfalls in den Kampf einbezogen. Die Ausdehnung nahm zunehmend einen politischen Charakter an, insbesondere bei der Solidarität der Soldaten. Hier stellte das Proletariat sein Bewußtsein unter Beweis, indem es die Arbeiter und Bauern in Uniform auf seine Seite zog, deren Unterstützung gewann, was eine unabdingbare Bedingung für die Übernahme der Macht war. Die revolutionären Aufstände dehnten sich im Herbst 1905 auf ganz Rußland aus und ergriffen alle Gesellschaftsschichten. Überall nahmen die Streiks zu, es kam zu Studentendemos, Arbeiter- und Matrosenmeutereien, Bauernaufständen. Die herrschende Klasse war gezwungen, Konzessionen zu machen. Das Kriegsrecht wurde aufgehoben, Streiktage bezahlt, für die Aufständischen von Kronstadt wurde eine Amnestie ausgesprochen.

Der Massenstreik von 1905 bewies, daß das Proletariat durch die Ausdehnung seiner Kämpfe auf alle Bereiche seiner Stärke bewußt wird, und als das einzige Subjekt in der Geschichte auftreten kann.

Der ‘rote Oktober’ des Jahres 1905 bietet der Arbeiterklasse heute viele Lehren an. In Anbetracht der Hauptfrage, vor denen die Arbeiter immer wieder stehen, nämlich die Ausdehnung der Kämpfe, hat uns 1905 eine große Errungenschaft hinterlassen. In der Zeit des Massenstreiks (d.h. in der Dekadenz dieser Gesellschaft) ist die Dauer eines Kampfes keine Stärke an sich. Unter bestimmten Umständen besteht das Risiko, daß nicht die Bourgeoisie sondern das Proletariat gelähmt wird. So stellte in der Zeit vom Oktober bis November 1905 der Aufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit in bestimmten Branchen einen wichtigen Schritt der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats dar, der es ihm ermöglichte, seine Kämpfe später zu vereinigen. Die Züge wurden für die Beförderung von Delegierten eingesetzt, die Telegrafenleitungen für die Übermittlung von Anordnungen der Sowjets herangezogen, Druckereien gingen in die Kontrolle der Arbeiter über, um die Presse der Arbeiter zu drucken.

Die Arbeitskraft der Arbeiter nicht für das Kapital einzusetzen, sondern sie für die Ausdehnung des Streiks zu verwenden, das ist eine der Hauptlehren von 1905. Die Ausdehnung der Kämpfe für die Vereinigung der Klasse, die Entwicklung des Klassenbewußtseins, das Zurückdrängen der Bourgeoisie, die Notwendigkeit, den Massenstreik geschickt einzusetzen, so daß die Arbeiterklasse und nicht die Bourgeoisie gestärkt wird, das sind wichtige Lehren, die sich die Arbeiterklasse heute aneignen muß - so wie sie es in Polen 1980 auch gezeigt hatte.


Die Sowjets: Die Selbstorganisation des Proletariats

Aber die von den Arbeitern 1905 verwendeten Methoden zur Ausdehnung der Streiks beschränkten sich nicht nur auf die Kommunikationsmittel. Die bewußte Ausdehnung der Kämpfe erforderte ihre Koordinierung und somit die selbständige Organisierung der Klasse. Nur weil das Proletariat 1905 die ersten Arbeiterräte schuf, konnte es das große Potential der Massenstreiks ausschöpfen.

Im Okt. 1905 beschlossen die Petersburger Arbeiter, ihre Bewegung durch die Schaffung einer autonomen Arbeiterverwaltung zu zentralisieren. So wurde der erste Petersburger Arbeiterrat gegründet, in dem Delegierte aller Fabriken der Stadt vertreten waren, und der als das Nervenzentrum der revolutionären Bewegung auftrat. Drei Jahre nach der Gründung der Sowjets brachte das organisierte Proletariat eine Arbeiterpresse (Isvestia) (Nachrichten) heraus, das ein Verbindungs- und Propagandaorgan war. Im Sowjet waren Delegierte aus allen Fabriken vertreten, die gewählt und jederzeit abwählbar waren. Ständig fanden Treffen statt, deren Hauptdiskussionsthemen folgende waren:

- Wie den Kampf auf alle Bereiche ausdehnen? So schickte z.B. Anfang Oktober der Arbeiterrat große Delegationen zu den Textilfabriken Petrograds, die immer noch zögerten, sich dem Streik anzuschließen. Unmittelbar danach legten die Textilarbeiter die Arbeit nieder. Die Ausdehnung fand ohne Zwangsausübung statt. Die Sowjets hatten die zögernden Arbeiter durch ihre eigene Entschlossenheit überzeugt.

- Die Aufstellung einer Plattform von Forderungen (Garantie eines Raumes für Treffen, Lebensmittel- und Waffenlieferungen an das Proletariat...). Die Sowjets machten sich keine Illusionen über die Fähigkeit der Bourgeoisie, solche Forderungen zu erfüllen. Sie hatten vor allem agitatorischen Wert und dienten der Vertiefung des Bewußtseins des Proletariats.

Darum lag die zentralisierende Rolle der Sowjets. Indem sie die Arbeiterklasse vereinigten, bündelten sie alle Aspekte des Kampfes in sich zusammen: defensive und offensive, lokale und allgemeine, ökonomische und politische.

Die selbständige Organisation der Klasse in Arbeiterräten im dem Jahre 1905 zeigt uns andere wichtige Lehren für heute auf.

1) Der wirkliche Sieg oder die Niederlage werden nicht bestimmt durch einzelne Momente des Massenstreiks, sondern durch seinen Höhepunkt, den revolutionären Aufstand. Diese erste Lehre wurde von Nov. 1905 an deutlich. Als der Sowjet in Anbetracht des Drucks in den Reihen der Arbeiter die Kampagne für den 8-Stunden-Tag einleitete. In vielen Fabriken (insbesondere in der Textilindustrie und im Metallbereich) führten die Arbeiter ihn selbst ein. Aber die Bourgeoisie wollte nicht nachgeben und schloß Fabriken. Damit warf sie ca. 19.000 Arbeiter auf einen Schlag auf die Straße. Unter dem Zwang nachzugeben, nahmen die Arbeiter die Arbeit wieder zu den alten Bedingungen auf. Der Sowjet war sich bewußt, daß die Aussichten einer solchen Bewegung auf ‘Erfolg’ gering waren. Aber er wußte auch, daß sich hinter dieser unvermeidbaren wirtschaftlichen Niederlage ein politischer Sieg abzeichnete, der im Bewußtsein des Proletariats unauslöschliche Spuren hinterlassen würde. Denn indem das Proletariat auf eine unnachgiebige, krisengeschüttelte herrschende Klasse stieß, konnte es von 1905 an langsam die Notwendigkeit der Übernahme der Macht begreifen. So traten die Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat in all ihrer unverkennbaren Nacktheit auf. Die Bewegung für den 8-Std.-Tag, die durch die Selbstorganisierung des Proletariats vorangetragen wurde, sollte ein Vorspiel sein für den Aufstand im Dezember in Moskau.

2.) Die zweite wichtige Lehre, die die Erfahrung aus dem Sowjet von 1905 uns heute hinterlassen hat, ist die Erkenntnis, daß es unmöglich ist, einen Streik isoliert zu entwickeln. Das Beispiel des Streiks der Petersburger Arbeiter, die im November aus Solidarität mit Kronstadt die Arbeit niedergelegt hatten, ist aufschlußreich.

Am 26. Okt. 1905 brach ein Aufstand aus in den Kasernen von Kronstadt; am nächsten Tag wurde er von den Truppen des Zaren niedergeschlagen. Sofort gab es eine breite Protestbewegung in den Petersburger Fabriken, die von dem Sowjet in die Wege geleitet wurde. Die Bewegung brach jedoch auf dem Hintergrund des allgemeinen Zurückweichens der Kämpfe in Rußland aus, und sie blieb auf die Petersburger Gegend beschränkt. In Anbetracht der Schwierigkeit, den Streik auszudehnen, rief der Sowjet zur Wiederaufnahme der Arbeit am Ende der Woche auf, weil er begriffen hatte, daß die Fortführung des Streiks unter den Bedingungen der Isolierung nur zur Demoralisierung der Petersburger Arbeiter führen würde. So kann die Fähigkeit des Proletariats, seinen Kampf zu verstärken, ebenfalls von seiner Fähigkeit abhängen, einen Rückzug anzutreten, wenn die Bedingungen für eine sofortige Offensive nicht reif genug sind. Der Petersburger Sowjet brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: ‘Wir fürchten weder die Schlachten noch die Niederlagen. Niederlagen sind für uns Schritte, die uns zum Sieg führen... Für jede Schlacht suchen wir die besten Bedingungen. Die Zeit arbeitet für uns, und wir haben keinen Grund etwas zu überstürzen... Alle Vorteile sind auf unserer Seite, denn morgen, Genossen, werden wir stärker sein als heute, und übermorgen stärker als morgen! Wir sollten jetzt den Streik abbrechen... und alle unsere Kräfte darauf konzentrieren, das zu schaffen und zu verstärken, was wir jetzt am meisten brauchen: Organisation und noch mal Organisation. Vergeßt nicht, daß wir in der Stunde der Entscheidung nur auf uns selbst zählen können’ (Rede des Berichterstatters vor dem Exekutivkomitee des Sowjets auf der Sitzung vom 5. Nov. 1905).

Die Kämpfe von 1905 bewiesen, daß die Arbeiterklasse ihre Kämpfe auf die neuen Bedingungen des Niedergangs des Kapitalismus einstellen konnte. Auch wenn die Gewerkschaften immer versuchen, das Proletariat in Sackgassen zu lenken (Kämpfe auf einen Bereich zu beschränken, lange, aber isolierte Streiks, ‘finanzielle’ Solidarität statt Ausdehnung und andere überholte Methoden), müssen wir aus der Erfahrung von 1905 alle Lehren ziehen. Avril


Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1905 - Revolution in Russland [1]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [2]

Umwälzungen innerhalb der Arbeiterklasse - Soziologie gegen Marxismus

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Auf der letzten Diskussionsveranstaltung der IKS in Köln wurde lebhaft über die Tatsache diskutiert, daß die Krise auf der einen Seite die Arbeiterklasse weltweit immer mehr in Existenznöte bringt, daß andererseits aber die Arbeiterklasse in letzter Zeit nicht in große Abwehrkämpfe gegen die Angriffe des Kapitals eingetreten ist. Während die IKS die Ursache für dieses Auseinanderklaffen zwischen der Heftigkeit der Krise und der zögernden Reaktion der Arbeiter vor allem dem globalen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeiterklasse zuordnet, das in den letzten Jahren nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime im Osten zu einer Schwächung sowohl der Kampfbereitschaft als auch des Bewußtseins in der Klasse geführt hat, argumentierten einige Diskussionsteilnehmer folgendermaßen. Es habe umfassende Umschichtungen innerhalb der Arbeiterklasse gegeben. Ihre Zusammensetzung, ihre Arbeitsbedingungen haben sich derart geändert, daß dies auch zu großen politischen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse geführt habe. Dieser Ansatz, dessen Befürworter vor allem Soziologen sind, hat in den letzten Jahren viel Auftrieb erhalten. Manche gehen soweit zu behaupten, die Arbeiterklasse sei gar in der Auflösung begriffen. Wir wollen uns deshalb mit diesem Standpunkt auseinandersetzen.

Gab es die Arbeiterklasse nur im vorigen Jahrhundert?

Wenden wir uns zunächst den Argumenten der bürgerlichen Soziologen und bezahlten Historiker zu. Sie geben bereitwillig zu, daß das Proletariat zu Lebzeiten von Marx und Engels, oder sogar noch von Lenin und Luxemburg, eine revolutionäre Kraft war. Sie weisen ohne Umschweife auf die revolutionären Arbeiterkämpfe von damals hin: 1848 und 1870 in Paris, 1905 und 1917 in Rußland, 1918-1923 in Deutschland. Und sie sagen: damals war das Proletariat revolutionär, im Gegensatz zu heute. Denn damals war die Arbeiterklasse wirklich arm und mußte schwerste körperliche Arbeit verrichten. Vor allem aber: die Arbeiterklasse von damals war eine wirkliche industrielle Armee, in der Produktion in Riesenbetrieben vereinigt. Und das Proletariat war eine homogene Masse, welche ungefähr dieselben Arbeits- und Lebensbedingungen teilte.

Wie die Soziologen die Arbeiterklasse weganalysieren

Es kostet unsere Soziologen nicht viel, um die DAMALIGE revolutionäre Gesinnung des Proletariats einzugestehen, denn sie teilen uns sofort triumphal mit, daß dies heute nicht mehr gilt! Und warum nicht? Hier die gängige Antwort der bezahlten Propagandisten:

- Die Vereinigung der Arbeiter am Arbeitsplatz sei gesprengt worden durch Dezentralisierung, internationale Arbeitsteilung, das Wiederaufleben des Kleinbetriebes, durch Zulieferbetriebe, Subunternehmertum und Leiharbeit.

- Die industrielle Armee des Proletariats sei dermaßen dahingeschmolzen, daß die sog. "Tertiarisierung", d.h. die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich, jetzt zum überwiegenden Bereich der Arbeiterklasse wird.

- Die Homogenisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen, welche laut der marxistischen Theorie durch die Krise vorangetrieben wird, hat einer rasanten Heterogenisierung weichen müssen, so daß die Arbeiterklasse enorm differenziert, aufgesplittert ist zwischen hochqualifizierten und hochbezahlten Spezialisten einerseits und "Prekär-Beschäftigten" bzw. den Arbeitern der Billiglohnländer und -bereiche andererseits, zwischen Beschäftigten und Langzeitarbeitslosen usw.

Mit anderen Worten: das Proletariat sei heute viel zu sehr nach Einkommen, Arbeitsplatz und Arbeitsbedingungen gespalten; sein industrieller Kern viel zu klein geworden, um noch eine revolutionäre Kraft darstellen zu können.

Der Widerhall der Soziologen bei den Operaisten

Während der durchschnittliche bürgerliche Soziologe über seine, den Fortbestand des Kapitalismus scheinbar stützende Schlußfolgerung jubelt, gibt es auch linksgerichtete Vertreter dieser Zunft, welche "mit Bedauern" zu derselben Schlußfolgerung kommen. Aber es gibt sogar Leute, welche sich als Revolutionäre ausgeben (und vielleicht sogar daran glauben, welche zu sein), aber in genau dieselbe reaktionäre soziologische Kerbe hauen. So z.B. die sog. Operaisten in Italien, oder Leute wie Karl-Heinz Roth und die Wildcat-Kreise in Deutschland. Diese Leute sind keine Marxisten. Für sie sind die kapitalistische Krise, oder die wirtschaftliche und militärische Konkurrenz zwischen Teilen der Bourgeoisie, zu vernachlässigende Größen. Sie glauben, daß die ganzen Änderungen in der "Zusammensetzung" der Arbeiterklasse, welche sie zusammen mit den anderen Soziologen zu erkennen meinen, vom Kapital ausschließlich herbeigeführt wurden, um die Arbeiterklasse zu schwächen. Sie sprechen nicht vom "Niedergang" der Arbeiterklasse sondern von ihrer "Krise" bzw. ihrer "Neuzusammensetzung". Dennoch: ob man die "Dezentralisierung" und "Tertiarisierung" der Arbeiterklasse als das Ergebnis der "neuen Revolution der Informationsgesellschaft" wie die linken Uniprofessoren, oder ob man diese "Informationsgesellschaft" als das Mittel auffaßt, womit das Kapital sein angebliches Ziel der "Dezentralisierung" und "Tertiarisierung" der Arbeiterklasse auffaßt, dies ist letzten Endes einerlei. Wesentlich ist die soziologische Methode, die Arbeiterklasse abzuschreiben.

Veränderungen in der Arbeiterklasse ja, aber nicht deren Aufhebung

Gegenüber dieser Auffassung stellen wir folgendes fest:

- Diese soziologische Methode, die Arbeiterklasse abzuschreiben, ist nichts neues. Schon um die Jahrhundertwende versuchten die politischen Gegner des Marxismus dasselbe nachzuweisen. z.B. der Revisionismus von Bernstein, welcher die verstärkte "Differenzierung" der Arbeiterklasse in den Mittelpunkt stellte. Diese Theorien wurden bereits durch den 1. Weltkrieg und die darauffolgenden revolutionären Arbeiterkämpfe widerlegt.

- Der Marxismus hat die Differenzierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen innerhalb des Proletariats nie verneint, sondern sogar ihre Unvermeidbarkeit nachgewiesen. Er hat aber nie eine Identität der Lebens- und Arbeitsbedingungen zwischen allen Teilen der Klasse als eine Bedingung der Revolution angesehen. Wichtig ist, daß die Bedingungen aller Arbeiter sich rasant verschlechtern, damit eine revolutionäre Situation entstehen kann, und nicht daß es überall dieselben Bedingungen gibt! Den Schlüssel hierfür liefert die marxistische Untersuchung der kapitalistischen Wirtschaftskrise, und nicht die "militante Untersuchung" der verschiedenen Arbeitsplätze, welche die anti-marxistischen Operaisten propagieren.

- Trotz Desindustrialisierung und Tertiarisierung als Folge der kapitalistischen Niedergangskrise bleibt der industrielle Kern der Arbeiterklasse heute weltweit stärker und umfangreicher als jemals früher.

- Durch die Entwicklung der vergesellschafteten und industrialisierten Arbeit, die er an die Stelle der individuellen Arbeit gesetzt hat, hat der Kapitalismus die Arbeiterklasse nicht nur am Arbeitsplatz, in den einzelnen Betrieben, sondern weltweit durch die internationale Arbeitsteilung vernetzt. Während die Soziologen behaupten, die Arbeiter seien heute in der Produktion nie so isoliert von einander gewesen, trifft genau das Gegenteil zu.

- Die wirklichen Ursachen der unbestreitbaren Schwierigkeiten der Arbeiterklasse liegen nicht in einer angebliche "Krise" aufgrund ihrer "Zusammensetzung", sondern im politischen Bereich - auf der Ebene des Klassenbewußtseins. Gerade dieses Bewußtsein wird heute massiv angegriffen durch die "Thesen" einer "Krise" der Arbeiterklasse und von der "Überholtheit" des Marxismus.

Wir sind davon überzeugt, daß man der Arbeiterklasse nur aus ihren gegenwärtigen Schwierigkeiten heraushelfen kann, wenn man ihre revolutionäre Theorie, den Marxismus, vorbehaltlos verteidigt. Dazu gehört an erster Stelle. die marxistische Auffassung von der Arbeiterklasse.

Widerhall der Soziologen bei den Revolutionären

Diese absurde soziologische Theorie hat neulich ihren Widerhall im revolutionären Milieu gefunden. So hat Battaglia Comunista dazu einen Artikel in ‘Communist Review’ (die es gemeinsam mit der CWO auf Englisch herausgibt) veröffentlicht. Schon immer hat Battaglia genau wie Programma Comunista behauptet, daß wir uns trotz der Kämpfe seit Ende der 60er Jahre nach wie vor in der Phase der Konterrevolution befinden, die Mitte der 20er Jahre nach der Niederschlagung der revolutionären Kämpfe von 1917-23 anfing. Denn die Partei habe ihren Einfluß über die Massen nicht zurückgewinnen können. Jetzt heißt es aber, die Schwächen des Klassenkampfes seit Ende der 80er Jahre seien auf die Entwicklung der Informatik, auf die Entqualifizierung und Dezentralisierung der Arbeitsplätze, die Tertiarisierung sowie die Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit zurückzuführen. Die Auswirkungen des Zusammenbruchs im Osten werden nur beiläufig als ein sekundärer Faktor erwähnt. Merkwürdigerweise wird in diesem Artikel die Arbeitslosigkeit als Erpressungsmittel aber nicht als Ausdruck der Krise angesprochen.

Zwar zieht Battaglia daraus nicht direkt die Schlußfolgerung einer "Krise der Arbeiterklasse". Aber es bleibt nicht weit davon entfernt. Die Änderungen innerhalb der Arbeiterklasse werden noch länger Schwierigkeiten für das Proletariat mit sich bringen, heißt es dort. Kein Wunder! Denn die angeführten Phänomene sind kaum als vorübergehend zu betrachten! Die FECCI hingegen, die sog. "externe Fraktion" der IKS, hat schon lange die Seiten ihrer "Internationalist Perspectives" mit Humbug gefüllt über die "Krise des Proletariats" aufgrund der soziologischen "Neuzusammensetzung".

Weshalb ist das Proletariat eine revolutionäre Klasse?

Entscheidend sind 2 Faktoren. Erstens die vollständige Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln. Grundlage dafür die Lohnarbeit. Hier liegt die Quelle der spezifisch kapitalistischen Ausbeutung des Proletariats, die von Marx im Band I des Kapital aufgedeckt wird. Zweitens aber die Vergesellschaftung der Arbeit. Aus individuellen werden kollektive Arbeitsmittel. Dies bedeutet, daß die Aufhebung der Trennung zwischen Produzenten und Produktionsmittel nicht mehr individuell sondern nur gemeinsam erfolgen kann, durch die kollektive Inbesitznahme durch das Proletariat. Daraus folgt das kollektive, kooperative, solidarische, internationalistische, bewußte Wesen des Proletariats. Entscheidend ist also nicht, ob mehr mit der Hand oder mit dem Kopf, ob am Fließband oder in Gruppenarbeit, ob mit konventioneller oder mittels computergesteuerter Maschinen und Werkzeugen produziert wird. Entscheidend ist, daß diese Produktion vergesellschaftet, auf der Grundlage der Lohnarbeit, der kapitalistischen Ausbeutung erfolgt. Dieses Wesen des revolutionären Proletariats hat sich nicht geändert. Es hat sich auch nicht "neu zusammengesetzt".

Dabei spielt natürlich die Konzentration des Kapitals und der Arbeiterklasse eine große Rolle. Nur ist diese Konzentration der Klasse nicht in erster Linie als eine physische, im Sinne von gemeinsamem Arbeiten innerhalb ein- und derselben Fabrik gedacht. Natürlich hängt das irgendwie zusammen. Vergleichen wir aber z.B. die Arbeiterklasse in Ost- und Westeuropa vor "der Wende" miteinander, so sehen wir, daß im Osten die Klasse viel stärker in Riesenfabriken und Kombinaten zusammengeballt war, während im Westen der Trend zu kleineren, voneinander örtlich getrennten Betrieben viel stärker war. Wo aber war die Klasse stärker konzentriert? Eindeutig im Westen! Was macht diese Konzentration z.B. in Westdeutschland aus? Die Dichte der Vernetzung aller Produktionsstätten miteinander, wofür gerade die Entwicklung der Informatik, des Transportsystems, die hochgradige Arbeitsteilung steht. Es ist also nicht die Konzentration am einzelnen Arbeitsplatz, die entscheidend ist, sondern die tatsächliche Verknüpfung aller Arbeitsplätze miteinander durch die wirkliche Konzentration des Kapitals. Außerdem sind diese Verknüpfungen nicht lokal, sondern international. Die westlichen Industriestaaten erscheinen wie Mittelpunkte von weltumspannenden Werkstätten und Märkten - im Osten war dies nicht der Fall. Es stimmt tatsächlich, daß die westliche Bourgeoisie an einer Dezentralisierung der Produktionsstätten interessiert ist, und daß dies neben wirtschaftlichen auch militärstrategische und soziale Gründe hat. Aber das Kapital kann damit die wirkliche Konzentration des Proletariats nicht rückgängig machen, welche mit der Konzentration des Kapitals selbst einhergeht. Deshalb bleibt die Bourgeoisie weit entfernt davon, sich auf die "Verkleinerung" des Einzelbetriebs verlassen zu können, sondern ist in erster Linie auf die Gewerkschaften angewiesen, um die Klasse zu spalten! Aber dieser entscheidende Punkt bleibt ein Buch mit 7 Siegeln für alle, die das revolutionäre Wesen des Proletariats nicht begreifen.

Die Fragen der Zusammensetzung der Arbeiterklasse sind nicht unwichtig. Es ist bedeutsam, daß z.B. die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes seit einem Dutzend von Jahren oft eine Vorhut des Klassenkampfes geworden sind. Oder die weitaus größere Integration der "white collar workers" seit 1968 mit großen Streikbewegungen der Lehrer oder Bankangestellten. Das Gewicht der Bergarbeiter in den Industriestaaten hat hingegen abgenommen. Natürlich ist auch die Entwicklung sowie die "Zusammensetzung" der Arbeitslosen sehr wichtig zu verfolgen. Aber diese Änderungen berühren keineswegs das revolutionäre Wesen der Klasse.

 


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