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Weltrevolution Nr. 102

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Das Erbe des Bolschewismus und des Linkskommunismus

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 Im Juni lud die Gruppe Aufbrechen zu einem Wochenende der öffentlichen Debatten nach Berlin ein. Das von den Genossen vorgeschlagene Thema war die Frage des „Leninismus“ und damit verbunden eine Bilanz der Russischen Revolution. Nach Ansicht der Genossen von Aufbrechen können weder das historische Beispiel der Bolschewiki noch die theoretische Arbeit Lenins heute als Leitbild für die Arbeit einer neuen Generation von revolutionären Marxisten dienen. Das Einladungsschreiben der Aufbrechen-Genossen bezieht sich ausdrücklich auf die Kommunistische Linke als Alternative zu Lenin und zu den Bolschewiki und als geeigneter Ausgangspunkt einer kritischen Wiederaneignung der Theorie und der Geschichte der Arbeiterbewegung. Das Einladungsschreiben unterscheidet dabei zwischen zwei Hauptrichtungen innerhalb der Kommunistischen Linken, zwischen der italienischen Linken, welche vor allem die Bedeutung der Klassenpartei für den Sieg der proletarischen Revolution betonte, und der deutsch-holländischen Linken, welche mehr die entscheidende Bedeutung der Arbeiterräte als revolutionäre Machtorgane des Proletariats betonte.

Aufbrechen und die „rätistischen“ Thesen Helmut Wagners

Bereits dieses Schreiben machte deutlich, dass die Aufbrechen-Genossen sich selbst mehr in der Tradition der deutsch-holländischen Linken sehen. Dies machte das Einleitungsreferat der Genossen auf der Veranstaltung selbst erneut deutlich. Vor allem die Analyse der Russischen Revolution weist deutliche Ähnlichkeiten mit den rätekommunistischen „Thesen über den Bolschewismus“ auf, welche Helmut Wagner in den 30er Jahren veröffentlichte, und die später von bedeutenden marxistischen Theoretikern wie Anton Pannekoek mehr oder weniger unkritisch übernommen wurden. Die Kernidee dieser Thesen ist, dass aufgrund der Rückständigkeit Russlands 1917 im wesentlichen eine bürgerliche, antifeudale Revolution auf der Tagesordnung stand, und dass infolge der Schwächen der eigentlichen Bourgeoisie in Russland diese Revolution durch eine intellektuelle Kaderpartei - sprich durch die Bolschewiki - durchgeführt werden musste. In der Nachfolge Wagners suchte Pannekoek in seinem Buch „Lenin als Philosoph“ den Beweis dafür, dass Lenin kein proletarischer, sondern im wesentlichen ein bürgerlicher Revolutionär war, in den philosophischen Schwächen des Buches „Materialismus und Empiriokritizismus“. Dieser Auffassung zufolge, welche Aufbrechen sich zu eigen macht, waren die antiproletarischen Maßnahmen, welche die russische Staatsmacht nach 1917 unter bolschewistischer Leitung ergriff - von der schleichenden Entmachtung der Arbeiterräte und der Militarisierung der Arbeit bis hin zur blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes von 1921 - die logische Folge einer bürgerlichen, staatskapitalistischen Revolutionsauffassung. So gesehen ist es nur logisch, wenn die Genossen diese Tradition als Beispiel für proletarische Revolutionäre heute verwerfen wollen.

Sowohl das Einladungsschreiben als auch das Einleitungsreferat können von der Adresse der Aufbrechen-Redaktion angefordert werden.

Vielleicht aus der Sorge heraus, dass auch die Auffassung des „italienischen“ Linkskommunismus zu Lenin und zur Russischen Revolution bei der Veranstaltung ausreichend dargestellt werden sollte, wurde das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) eingeladen. Das Büro konnte ein zweites Einleitungsreferat halten. Vertreter der beiden Hauptbestandteile des IBRP, Battaglia Comunista (Italien) und Communist Workers Organisation (Großbritannien) hatten ihre Teilnahme zugesagt. Da aber der Vertreter von Battaglia krankheitsbedingt verhindert wurde, vertrat der Genosse der CWO die Auffassungen dieser gesamten Strömung auf der Veranstaltung. Er verteidigte den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution in Russland sowie den bedeutenden Beitrag zum Marxismus und zum historischen Befreiungskampfes der Arbeiterklasse, welchen Lenin und die Bolschewiki geleistet haben. Der Genosse kritisierte die Herangehensweise des Aufbrechen-Referates als ahistorisch und idealistisch. So gäbe es nicht einen über der Geschichte schwebenden Lenin, sondern verschiedene Lenins, entsprechend der verschiedenen Phasen des Klassenkampfes, die er durchlebte, und entsprechend des sich dabei verändernden Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die Russische Revolution habe gezeigt, dass die Arbeiterklasse die Revolution machen kann. Heute gehe es darum, nicht Lenin die Schuld für den Verlauf der Weltgeschichte zu geben, sondern die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit zu ziehen. Zu diesen Lehren gehört es nach Auffassung der CWO, dass sich die Klassenpartei nicht um jeden Preis an der Macht festklammern darf, sondern bereit sein muss, in die Opposition zu gehen und die Räte gegen den Staat zu verteidigen.

Die Verteidigung der Oktoberrevolution

Es war ein besonderes Anliegen der IKS auf dieser Veranstaltung, den proletarischen Charakter der Russischen Revolution und der Bolschewistischen Partei zu verteidigen. In diesem Sinne richteten wir einige Fragen an die Genossen von Aufbrechen. So wollten wir wissen, wie die Genossen es erklären können, weshalb die Bolschewiki und mit ihnen Lenin, obwohl sie laut Aufbrechen bürgerliche Revolutionäre waren, gegenüber den entscheidenden Fragen der Geschichte an der Spitze des proletarischen revolutionären Kampfes gestanden haben. Wir gaben drei Beispiele:

- Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg

Bereits auf dem Stuttgarter Kongress der 2. Internationalen 1907 waren es im wesentlichen Lenin und Rosa Luxemburg, welche die proletarische Position gegen den herannahenden Weltkrieg gemeinsam formulierten. Und während des Weltkrieges nahm Lenin die entschiedenste, kompromissloseste Position aller Revolutionäre ein.

- Der Kampf für eine neue, kommunistische Internationale

Auch hier bildeten die Bolschewiki den wichtigsten Pol des Widerstandes gegen den Verrat der Arbeiterparteien und der Umgruppierung für eine neue Internationale, um den herum sich alle künftigen Vertreter des Linkskommunismus scharten.

- Der Kampf für eine proletarische Weltrevolution.

Während Aufbrechen die Russische Revolution im wesentlichen als Antwort auf ein national beschränktes Problem - auf die Rückständigkeit Russlands - auffasst, sahen die Bolschewiki selbst den Roten Oktober als Auftakt zur proletarischen Weltrevolution. Auch hier waren sie der konsequenteste Vertreter des proletarischen Internationalismus. Somit war es kein Zufall, dass Trotzki in seinem Kampf gegen Stalins konterrevolutionäre Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ sich zum bedeutenden Teil auf Schriften Lenins stützen konnte.

Unserer Meinung nach haben die Genossen von Aufbrechen diese Frage nicht befriedigend beantworten können. Sie bestritten nicht die Gültigkeit der Beispiele, die wir anführten, sondern machen geltend, dass die Bolschewiki zu verschiedenen Zeitpunkten der politische Ausdruck von unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft sein konnten. Diese Argumentation scheint uns wenig marxistisch zu sein. In einer Klassengesellschaft ist eine politische Organisation immer der Ausdruck der Interessen einer bestimmten Klasse der Gesellschaft. Eine proletarische Organisation kann verraten und auf die Seite der Bourgeoisie überwechseln, was mit den Parteien der 2. und später auch der 3. Internationalen (einschließlich der russischen Partei) auch geschah. Aber dann ist diese Partei für das Proletariat für immer verlorengegangen. Aber eine Partei kann nicht mal eine und mal eine andere Klasse der Gesellschaft vertreten. Wenn ein solches Wunder möglich wäre, könnte man genauso gut hoffen, dass die SPD plötzlich wieder die Interessen der Arbeiterklasse wahrzunehmen beginnen könnte - eine Illusion, welche der Trotzkismus täglich von neuem zu verbreiten versucht. Etwas anderes wäre es zu sagen, eine proletarische Partei kann unter dem Einfluss der Ideologie fremder Klassen Fehler begehen und sogar degenerieren und am Ende verraten. Und genau dies ist nach unserer Überzeugung mit den Bolschewiki auf dem tragischen Hintergrund der Isolation der russischen Revolution und des Sieges der weltweiten Konterrevolution auch geschehen. Weil die Genossen die Augen vor dieser gigantischen historischen Tragödie verschließen, befassen sie sich auch nicht mit den Lehren, welche die Kommunistische Linke aus den Fehlern von Lenin und der Bolschewiki gezogen haben. Schlimmer noch: als Genossen, welche sich immer noch nicht vollständig vom Erbe des „Marxismus-Leninismus“ sprich des Stalinismus gelöst haben, laufen sie Gefahr, mit ihrer Vorstellung von einer bürgerlichen Revolution in Russland, Tür und Tor zu öffnen für die Idee, dass der Stalinismus ein revolutionäres, fortschrittliches (wenn auch bürgerliches) Phänomen war. Keine gute Voraussetzung, meinen wir, um den zutiefst konterrevolutionären Charakter des Stalinismus wirklich zu verstehen.

Die Notwendigkeit einer offenen und ehrlichen Debatte

Weil der Vertreter von Battaglia fehlte, schlug ein Genosse der ex-GIK aus Österreich (der sich als Sympathisant des IBRP bezeichnete) vor, an seiner Stelle eine kurze Darstellung der Geschichte des italienischen Linkskommunismus zu geben.

Wir denken, es lohnt sich, die Rolle dieses Genossen auf dieser Veranstaltung zur Sprache zu bringen.

In seiner Einleitung, der der Genosse in eigener Verantwortung hielt, trug er zwar im wesentlichen die geschichtliche Einschätzung der Gruppe Battaglia Comunista vor, kritisierte aber die opportunistische Politik der Vorläuferorganisation von Battaglia (der Partito Comunista Internazionalista) während des 2.Weltkrieges gegenüber den Partisanen - ein Opportunismus, den Battaglia, so weit wir wissen, bis heute niemals öffentlich zugegeben hat. Auch hielt der Genosse aus Österreich an der Vorstellung eines internationalistischen, im wesentlichen aus der IBRP, der IKS und den „bordigistischen“ IKPs bestehenden proletarischen Lagers fest.

Und als am Anfang der Veranstaltung Aufbrechen es für nötig hielt, sich dagegen auszusprechen, dass eine der anwesenden Gruppen anschließend in ihrer Presse über diese Veranstaltung berichtet (nur unsere Organisation wurde dabei namentlich erwähnt), verteidigte der Genosse der ex-GIK die Notwendigkeit einer solchen Berichterstattung. Er bezeichnete die regelmäßige Berichterstattung über öffentliche Debatten in den Seiten der ‚Weltrevolution‘ als sehr nützlich und interessant und fragte, ob die Aufbrechen-Genossen in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht hätten, dass die IKS solche Debatten verfälscht wiedergegeben hat - was Aufbrechen verneinte.

Wenn wir richtig verstanden haben, war es auch der Genosse aus Österreich, der ursprünglich der Aufbrechen-Gruppe den Vorschlag machte, diese Veranstaltung abzuhalten und die verschiedenen Gruppen des Linkskommunismus einzuladen.

Wir wollen somit an dieser Stelle seine Haltung ausdrücklich begrüßen, die öffentliche Debatte unter Revolutionären zu fördern und keine der ernstzunehmenden Gruppen des proletarischen Milieus dabei außen vorzulassen.

Die Notwendigkeit einer Synthese der historischen Beiträge

Da die IKS keine Gelegenheit erhielt, bei dieser Veranstaltung ein eigenes Referat zu halten, wollen wir uns hier abschließend ganz kurz zur Darstellung des Linkskommunismus im Einladungsschreiben von Aufbrechen äußern. Dies auch deshalb, weil einige Teilnehmer an der Veranstaltung ihr Interesse bekundeten, mehr über die Unterschiede zwischen der IKS und der IBRP zu erfahren. Es ist nicht ganz falsch, aber dennoch undifferenziert zu behaupten, dass von den beiden Hauptströmungen des Linkskommunismus die „Italienische“ mehr die Bedeutung der Klassenpartei und die „Deutsch-Holländische“ mehr die der Arbeiterräte betonte. Richtig jedenfalls ist, dass der „Rätekommunismus“ später unter dem Einfluss der stalinistischen Konterrevolution die Organisation der Revolutionäre verwarf oder deren Bedeutung unterschätzte sowie, damit zumeist einhergehend, den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution und der Bolschewiki leugnete. Richtig ist auch, dass die italienische Linke viel konsequenter an der Notwendigkeit der revolutionären Organisation und an der Verteidigung der Oktoberrevolution festhielt. Dass ist auch der Grund, weshalb alle Organisationen des heutigen proletarischen Milieus -einschließlich der IKS und des IBRP - aus der italienischen Linken hervorgegangen sind.

Aber im Gegensatz zum Einladungsschreiben von Aufbrechen erscheint es uns notwendig, in erster Linie die Gemeinsamkeiten der geschichtlichen Hauptströmungen des Linkskommunismus zu betonen. So haben während der Revolutionsjahre selbst alle die Notwendigkeit der revolutionären Organisation und der Verteidigung der Oktoberrevolution vertreten. Und auch später gab es innerhalb der deutsch-holländischen Linken - namentlich innerhalb der KAPD - immer eine Strömung, welche an diesen Grundfesten festhielt - bis sie Mitte der 30er Jahre in der Illegalität unter den Hammerschlägen der Repression des NS-Regimes in Deutschland zerschlagen wurde. Umgekehrt hieß bereits zur Zeit der Oktoberrevolution die erste bedeutende Oppositionszeitung der italienischen Kommunisten unter Bordiga „Il Soviet“ (Der Arbeiterrat). Und es war gerade die Auslandsfraktion der italienischen Linkskommunisten, welche später die Bilanz der russischen Revolution zog und dabei entscheidende Einsichten in die Rolle der Arbeiterräte gewann.

In dieser Hinsicht vertreten die IKS und das IBRP zwei unterschiedliche Traditionen innerhalb der italienischen Linken. Das IBPR (und auf viel karikaturalere Weise die „bordigistischen“ IKPs) sind der Ansicht, dass man nichts wesentliches von der deutsch-holländischen Linken zu lernen habe. Die IKS hingegen steht in der Tradition der Auslandsfraktion der 20er und 30er Jahre, insbesondere um die Zeitschrift Bilan, sowie in der Tradition der Kommunistischen Linken Frankreichs (GCF) nach dem 2. Weltkrieg, welche eine kritische Synthese der Beiträge aller Linkskommunisten vorgenommen haben. So gesehen halten wir die Gegenüberstellung der verschiedenen historischen Strömungen des Linkskommunismus für nicht hilfreich und auch nicht marxistisch. Aber wir werden in unserer Presse auf diese wichtige Frage bald zurückkommen.

Dieses Veranstaltungswochende war ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer proletarischen Diskussionskultur, die es ermöglichte, in der Öffentlichkeit offen und kontrovers über die wichtigen Fragen nicht nur der Geschichte sondern auch über die wichtigen Fragen von heute und von morgen auszutauschen.


Die Arbeiterklasse ist nicht verschwunden

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Beim Presseverkauf, in Diskussionen oder auf öffentlichen Veranstaltungen werden uns oft Fragen gestellt wie, ob die Arbeiterklasse überhaupt noch existiere, ob sie noch fähig sei zu kämpfen und ob sie noch über die Stärke verfüge, eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen. Es gibt auch Leute, die offen sagen: ”Das Proletariat ist eine überholte Idee, die Arbeiterklasse existiert nicht, und der Klassenkampf gehört der Geschichte an.” Andere anerkennen die Existenz der Arbeiterklasse und dass deren Ausbeutung immer schlimmer wird, doch sie sehen den Kampf der Arbeiter nicht und haben Zweifel daran, dass jene fähig sind, eine Antwort zu geben. Es gibt auch Leute, die zwar die unmittelbaren Kämpfe sehen, aber nicht an die Möglichkeit einer revolutionären Veränderung glauben. Und schlussendlich treffen wir immer wieder Leute, welche die Arbeiterkämpfe generell unterstützen und von der Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung überzeugt sind, doch aus verschiedensten Gründen davon ausgehen, dass eine Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und die Auswirkungen der sozialen Zersetzung auf die Arbeiter, vor allem auf die Arbeitslosen, zu einer Krise der Arbeiterklasse geführt hätten.

Wir stützen uns in der Antwort auf diese Anliegen auf einen Artikel, den wir in der Internationalen Revue Nr. 14 und 15 unter dem Titel ”Wer kann die Welt verändern?” veröffentlichten und aus dem wir lange Zitate entnommen haben. Wir werden mit den größten Zweifeln beginnen: dem Leugnen der Existenz der Arbeiterklasse und des Klassenkampfes.

Das angebliche Verschwinden der Arbeiterklasse

”Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.” (Marx/Engels, Die deutsche Ideologie) Die herrschende Ideologie der bürgerlichen Klasse besagt, ”dass soziale Klassen gar nicht existieren” und alle Individuen über gleiche Rechte und Möglichkeiten verfügten, und wenn jemand zur Arbeitslosigkeit und Armut verurteilt sei, so trage er selbst daran die Schuld. Im Rahmen des ”demokratischen” Staates wiederholen all die Institutionen zur ”Bildung der öffentlichen Meinung” (Fernsehen, Presse, Soziologen, Experten, Politiker und Gewerkschaften) bei jeder Gelegenheit, die Arbeiter seien reaktionär, verbürgerlicht, etc. Sie seien eine Masse von zur Gewalt neigenden Individuen, unfähig über etwas anderes als Fussball, Sex und Konsum nachzudenken. ”Den Ideologen der herrschenden Klasse kommt es darauf an, ja das Hauptstreben all ihres ‚Denkens‘ besteht darin aufzuzeigen, dass die marxistische Theorie verworfen werden müsse (obgleich der eine oder andere sich auf Beiträge Marxens beruft). Und der Eckpfeiler ihrer ‚Theorien‘ ist die Behauptung, dass der Klassenkampf keine Rolle mehr in der Geschichte spiele, ja manchmal wird ganz einfach das Vorhandensein von Kämpfen oder noch schlimmer gar die Existenz von gesellschaftlichen Klassen geleugnet.” (”Wer kann die Welt verändern?” in Internationale Revue Nr. 14)

Mittels einer endlosen Wiederholung der Lüge, die Arbeiterklasse existiere nicht und sei reaktionär, hofft die herrschende Klasse, sie als ”offensichtliche” Wahrheit darzustellen. Dazu benutzt sie die Methode von Hitlers Handlanger Goebbels, der sagte, dass ”eine tausendmal wiederholte Lüge zur Wahrheit wird”. Diese hartnäckigen Anstrengungen, die gesamte Gesellschaft, allen voran die Arbeiterklasse, zu überzeugen, dass das Proletariat gar nicht existiere und der Klassenkampf eine altmodische Idee sei, hat eine sehr wichtige politische Bedeutung: Die herrschende Klasse hat im Verlauf ihrer Geschichte verstanden, dass der Klassenkampf des Proletariates für ihre Herrschaft die grösste Gefahr darstellt.

1848 bewies das noch junge und im Entstehen begriffene Proletariat durch sein Kämpfe in Frankreich, Österreich und Deutschland, mit der Bildung des Bundes der Kommunisten und der Niederschrift des Kommunistischen Manifests, dass es eine selbständige Klasse bildet, welche fähig ist, ihre eigenen Kämpfe zu entwickeln und ihnen eine ganz andere Perspektive zu geben als es die Bourgeoisie vorsah, d.h. ihr Stosstrupp für die Beseitigung der feudalen Überreste zu sein. Die herrschende Klasse machte deshalb aus Angst vor dem Proletariat einen Pakt mit dem Feudalismus.

Mit der Pariser Kommune 1871, der Entstehung der Ersten Internationale und der Ausbreitung einer sozialen Bewegung in ganz Europa wurde die proletarische Gefahr unleugbar. Aus diesem Grund erreichte der Kampf gegen die Internationale und die Unterdrückung der Pariser Kommune ein Maß an Grausamkeit, wie es selten in der Geschichte gesehen worden war.

Konfrontiert mit dem Entstehen von Arbeiterräten 1905 in Russland (Sowjets) und der grossen revolutionären Bewegung, die sich in diesem Land entfaltete, zog es die Bourgeoisie vor, das selbstmörderische Regime des Zarismus gewähren zu lassen, aus Angst davor, von der proletarischen Revolution entmachtet zu werden.

1917 zeigte die Arbeiterklasse ihre Fähigkeit, den bürgerlichen Staat zu zerstören, ihre eigene Macht zu errichten – die Macht der Arbeiterräte – und eine internationale revolutionäre Bewegung in Gang zu bringen. Die systematische Verunglimpfung Lenins und der Bolschewiki, all die Verfälschungen und Entstellungen über das, was zwischen 1917 und 1921 wirklich geschah, zeigt einerseits den internationalen Hass der Bourgeoisie auf die proletarischen Erhebungen und andererseits ihre Angst, dass sich solche Ereignisse wiederholen.i [1]

Die revolutionäre Bewegung, welche in Russland ihren Anfang nahm, griff auf den Rest der Welt über und setzte der abscheulichen Schlächterei des Ersten Weltkrieges ein Ende. Die Revolution von 1918 in Deutschland zeigte der herrschende Klasse, dass sie den Krieg sofort beenden musste, um nicht einen Schlag zu erleiden, der viel grössere Auswirkungen gehabt hätte als in Russland: den Verlust der Macht in Deutschland.ii [1]

Ein weiterer Beweis für die Furcht innerhalb der herrschenden Klasse vor dem Proletariat sind die Schritte, die sie vor dem Auslösen des Zweiten Weltkrieges unternahm: die Massaker in Deutschland und Russland (wo das Proletariat am weitesten gegangen war), die Zerschlagung der kämpferischen Arbeiter in Spanien durch die Metzeleien des ”Bürgerkriegs”, die ideologische Mobilisierung des Proletariates in Frankreich, den USA und in anderen Ländern mit dem Gift des Antifaschismus.

Ebenso bewiesen die Aufstände in Norditalien 1943 und die anschliessenden Erhebungen in Polen, Ungarn und Deutschland von 1944 und 45 trotz ihrer Niederlage erneut das Potential der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie reagierte darauf mit brutalsten Mitteln, um alles im Keim zu ersticken. Dresden und viele andere deutsche Industriestädte, die keinerlei militärische Bedeutung hatten, wurden bombardiert mit der direkten politischen Absicht, das Proletariat zu dezimieren und mit einem Terror in Schach zu halten, um möglichen Aufständen zuvorzukommen.

Seit 1968 mit den Kämpfen im Mai 68 in Frankreich, dem ”heissen Herbst” 69 in Italien, Kämpfen in Argentinien, Spanien, Polen, Grossbritannien etc. kehrte das Proletariat auf die Bühne der Geschichte zurück und bewies, dass es trotz der grossen Schwächen, die noch auf ihm lasten, eine Kraft ist, die eine revolutionäre Bewegung entfalten kann.

Ein anderer Ausdruck für die Bedeutung, welche die herrschende Klasse der Gefahr durch das Proletariat zumisst, ist die Vielzahl politischer, ideologischer und gewerkschaftlicher Manöver in den vergangenen Jahren. Ihr grundlegendes Ziel war, die Arbeiterklasse zu verwirren, von ihrem Klassenterrain abzulenken, Ausbrüchen der Kampfbereitschaft zuvorzukommen und die Organe zu verstärken, welche die Arbeiterklasse spalten: die Gewerkschaften. In diesen Rahmen reihen sich auf politischer und ideologischer Ebene die Antiterrorismus-Demonstrationen 97 in Spanien, der ”Weisse Marsch” 96 in Belgien und auf der Ebene der gewerkschaftlichen Manöver Ereignisse wie der irreführende Streik im Dezember 95 in Frankreich oder die Instrumentalisierung des UPS-Streiks in den USA ein.

Wenn sie unermüdlich und penetrant wiederholen, die Arbeiterklasse existiere nicht mehr, dass sie verschwunden oder verbürgerlicht sei, dann weil sie sie wesentlich stärker fürchten, als sie zugeben. ”Die kommunistische Theorie besagt, dass der Zusammenstoss zwischen den Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft letzten Endes die Perspektive des Umsturzes der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse und die Errichtung der Macht der Arbeiterklasse über die gesamte Gesellschaft in sich birgt. Natürlich wurde diese These immer von den Verteidigern des kapitalistischen Systems verworfen.” (a.a.O.)


Die sogenannte Verbürgerlichung des Proletariates durch die Konsumgesellschaft

Dazu wird immer wieder folgendes Argument angeführt: ”Der Klassenkampf hatte im 19. Jahrhundert seine Berechtigung, doch heute hat sich die Situation vollständig verändert.” Weiter wird angeführt, die Arbeiter hätten heute ein Haus, ein Automobil, Fernseher, Ferien und eine ganze Serie von ”Konsumvergnügen”, von denen sie in der Vergangenheit nicht einmal hätten träumen können. Einen Fernseher zu besitzen, ein Haus mit fast lebenslangen Hypotheken, einen Wagen, der Geld verschlingt, um ihn zu warten, und die Möglichkeit, eine oder zwei Wochen Ferien in der Sonne zu verbringen, wird als Grund angeführt, um zu behaupten, die Arbeiterklasse sei auf magische Art und Weise verschwunden und der Klassenkampf sei keine Bedrohung mehr für die herrschende Klasse.

Wenn heute eine grosse Mehrheit der Arbeiter in den industrialisierten Ländern Zugriff auf diese Konsumgüter haben, dann vor allen aus zwei Gründen:

- wegen der starken Verbilligung dieser Produkte durch die unglaubliche Steigerung der Produktivität seit Beginn des 20. Jahrhunderts

- wegen der gesteigerten Ausbeutung, die durch die erhöhte Produktivität ermöglicht wurde; der Kapitalismus saugt heute nicht nur die letzten physischen Kräfte aus den Arbeitern heraus, sondern auch ihre intellektuellen Fähigkeiten.

Es ist diese höhere und intensivere Form der Ausbeutung die sich in den letzten hundert Jahren entwickelte, welche die sozialen Bedingungen veränderte: ”Das Auto ist unverzichtbar, um zur Arbeit zu gelangen oder Einkäufe zu machen, denn die öffentlichen Verkehrsmittel sind unzureichend und die zurückgelegten Distanzen immer größer. Auf einen Kühlschrank kann man nicht verzichten, da Nahrungsmittel zu günstigen Preisen oft nur in großen Mengen zu kaufen sind und man dies nicht täglich machen kann. Was den Fernseher betrifft, der dargestellt wurde als das Symbol für den Eintritt in die ‚Konsumgesellschaft‘, und der ausserdem vor allem ein Instrument der Propaganda und Verdummung in den Händen der Bourgeoisie ist (als ‚Opium für das Volk‘ hat er vortrefflich die Religion abgelöst), ihn findet man heute in vielen Wohnungen in den Slums der Dritten Welt, was genug besagt über den Wertverlust eines Artikels wie diesen. (...) Die Verlängerung der Dauer von bezahltem Urlaub ist absolut notwendig für die kolossale Steigerung der Arbeitsproduktivität und das Tempo, in dem dies geschieht, genauso wie die Gesamtheit der städtischen Lebensbedingungen.”

Diese Güter ”zu besitzen (heißt) noch lange nicht, dass man sich vom Arbeiterdasein befreien kann oder dass man weniger ausgebeutet ist. In Wirklichkeit ist der Grad der Ausbeutung der Arbeiterklasse nie bestimmt gewesen durch die Menge oder die Art der Konsumgüter, über die sie in einem bestimmten Moment verfügen konnte. (...) Die Kaufkraft der Lohnempfänger entspricht dem Wert ihrer Arbeitskraft. Mit anderen Worten: Sie entspricht der Menge der Güter, die notwendig sind, um diese Arbeitskraft wiederherzustellen. Wenn ein Kapitalist einen Arbeiter einstellt, dann will er damit möglichst viel aus dem Arbeiter im Produktionsprozess herausholen. Dies setzt voraus, dass der Arbeiter nicht nur Nahrung, Kleidung und Wohnung hat, sondern sich erholen und die notwendige Ausbildung aneignen kann, um die sich laufend entwickelnden Produktionsmittel in Bewegung zu halten.”

”Auch das (relative) Verschwinden der Kinderarbeit und die Verlängerung der Schulzeit (bevor dies ein Mittel zur Verschleierung der Arbeitslosigkeit geworden ist), die man uns als weiteres Geschenk der herrschenden Klasse darstellt, erwächst grundsätzlich aus der Notwendigkeit für das Kapital, über Arbeitskräfte verfügen zu können, welche an die Erfordernisse des unaufhörlich wachsenden Qualifizierungsprozesses der Arbeit infolge ständig komplexer werdender technischer Produktionsabläufe angepasst sind. (...) Als die Kinder mit 12 Jahren oder weniger arbeiten gingen, lieferten sie, bevor sie selbst eine Familie gründeten, während mehr als 10 Jahren ein zusätzliches Einkommen an die Familie ab. Mit der Schulpflicht bis hin zu 18 Jahren verschwindet dieser Zuschuss fast gänzlich. Anders ausgedrückt sind die ‚Lohnerhöhungen‘ auch (und zum grössten Teil) eines der Mittel, mit welchen der Kapitalismus die neuen Generationen von Arbeitern auf die neuen technologischen Produktionsbedingungen vorbereitet.” (a.a.O., Internationale Revue Nr. 15)

Diese Lebens- und Arbeitsbedingungen erreichten in den 70er Jahren einen Höhepunkt und haben sich seither systematisch verschlechtert. Die feste Anstellung, die mehr oder weniger garantiert war, ist abgelöst worden durch die temporäre Arbeit, die uns einer völligen Unsicherheit ausliefert. Die Nominallöhne sind derart gesunken, dass die ”Vergnügen” der ”Konsumgesellschaft” immer unerreichbarer werden. Die immer länger werdenden Arbeitstage widerlegen die Spekulationen der Soziologen über die ”Freizeitgesellschaft”. Die Arbeitslosigkeit ist eine traurige Tatsache für zahlreiche Jugendliche und für Arbeiter, die mit 40 oder 50 aus dem Berufsleben ausgeschlossen werden, nachdem sie bis zum letzten Tropfen ausgesaugt worden sind. Viel Elend, das der Vergangenheit anzugehören schien, taucht wieder auf und trifft die heutigen Arbeitergenerationen: Die Kinderarbeit tritt nicht nur in der Dritten Welt, sondern selbst in der EU wieder hervor; ebenso kehren Krankheiten wie die Tuberkulose, die ausgerottet schienen, in die grossen Metropolen zurück und fordern zusammen mit Krebs und andern Krankheiten der angeblich ”fortschrittlichen” Gesellschaft ihren verheerenden Tribut.

”Auch wenn der Kapitalismus der hochentwickelten Länder während einer gewissen Zeit Illusionen über die Reduzierung der Ausbeutung von Lohnabhängigen schüren konnte, so ist das nichts anderes als ein äusserer Schein. Tatsächlich ist der Grad der Ausbeutung, d.h. das Verhältnis zwischen dem durch den Arbeiter produzierten Mehrwert und dem Lohn, den er erhält, ständig gewachsen. Deshalb sprach schon Marx von einer ‚relativen‘ Verarmung der Arbeiterklasse als permanenter Tendenz im Kapitalismus.

Während die Bourgeoisie einiger europäischer Staaten von den ‚glorreichen 30 Jahren‘ sprach, womit sie die Jahre des relativen Aufschwungs in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg meinte, verstärkte sich die Ausbeutung der Arbeiter kontinuierlich, auch wenn sich dies nicht in einem Sinken ihres Lebensniveaus ausdrückte. Heute stehen wir nicht mehr nur vor einer Frage der relativen Verarmung. Die ‚Verbesserungen‘ der Gehälter der Arbeiter sind im Laufe der Zeit aufgefressen worden, und die absolute Verarmung, deren definitives Ende die Schreiberlinge der bürgerlichen Ökonomie angekündigt hatten, hat in den ‚reichen‘ Ländern stark zugenommen. Angesicht der Krise greift die herrschende Klasse in allen Ländern den Lebensstandard der Arbeiter massiv an. Durch die Arbeitslosigkeit, die drastische Kürzung der Sozialleistungen und auch durch die Senkung der Nominallöhne wird dem Gerede über die ‚Konsumgesellschaft‘ und die ‚Verbürgerlichung‘ der Arbeiterklasse der Boden entzogen.” (a.a.O.)

Die Ideologie vom ”Verschwinden des Klassenkampfes” und von der ”konsumistischen Verbürgerlichung der Arbeiterklasse” ist eine der schädlichsten Waffen der Bourgeoisie, denn sie zielt darauf ab, uns zu demoralisieren, uns die Klassenidentität vergessen zu lassen, uns als formlose Masse von atomisierten Individuen darzustellen, die unfähig seien, sich zu vereinigen und gemeinsam zu handeln. Deshalb ist es eine wesentliche Aufgabe der Revolutionäre und aller bewussten Arbeiter, diese Lügen zu bekämpfen. Adalen

  • i [1] Zur Analyse der Russischen Revolution siehe Internationale Revue Nr. 2, 5, 6, 14, 15, 16, 19, 20
  • ii [1] Zur Revolution in Deutschland siehe die Reihe in Internationale Revue Nr. 17 ff.

Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/1219

Links
[1] https://de.internationalism.org/content/1221/die-arbeiterklasse-ist-nicht-verschwunden