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Internationale Revue 10

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20 Jahre seit Mai 68: Die Entwicklung des proletarischen politischen Milieus 1968-1977 (Teil 1 und 2)

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Mai 1968: Zehn Millionen streikende Arbeiter in Frankreich kündigten nachhaltig die Rückkehr des Proletariats auf die Bühne der Geschichte an und eröffneten eine Welle von Kämpfen, die sofort eine internationale Dimension annahmen und bis Mitte der 70er Jahre sich in nahezu jedem Land auf dem Planeten bemerkbar machten.
Seit Jahrzehnten, seit dem Scheitern der revolutionären Welle, die 1917 begonnen hatte und Ende der 1920er Jahre abgeebbt war, hatte der Kampf des Proletariats nicht mehr solch eine Kraft und Breite erreicht. Nach 40 Jahren der Konterrevolution, in der der Triumph der Bourgeoisie durch eine bis dahin nie gekannte ideologische Herrschaft zum Ausdruck kam, in der Theorien über die Integration des Proletariats, seine Verbürgerlichung, sein Verschwinden als revolutionäre Klasse das Denken der Intellektuellen auf ihrer Suche nach Neuheiten beherrschten, in welcher der Sozialismus mit den finsteren stalinistischen Diktaturen und ihren "Drittwelt"-Karikaturen identifiziert wurde, in der die Dschungel Südamerikas und Indochinas als die Zentren der Weltrevolution dargestellt wurden, hat das Wiedererwachen des Proletariats das Pendel der Menschheit bewegt. Ein Riegel sprang auf, der Riegel der Konterrevolution. Ein neuer geschichtlicher Zeitraum war eröffnet worden.
Der wiedererstarkende Klassenkampf polarisierte die Unzufriedenheit, die sich seit Jahren nicht nur in der Arbeiterklasse aufgestaut hatte, sondern auch in vielen anderen Schichten der Gesellschaft. Der Vietnam-Krieg, der sich ewig hinzog und zuspitzte, die ersten Angriffe der Krise, die Mitte der 60er Jahre nach all den euphorischen Jahren des Nachkriegswiederaufbaus wieder zurückkehrte - all das rief ein tiefes Unbehagen in der Jugend hervor, die mit der Illusion eines triumphierenden Kapitalismus aufwuchs, der frei von Krisen  und voller Verheißungen in einer glänzenden Zukunft war. Die Revolte der Studenten auf den Campus überall auf der Welt gab der bürgerlichen Propaganda ein Mittel in die Hand, um den Klassenkampf zu kaschieren, aber sie gab auch ein verzerrtes Echo eines neuen politischen Denkprozesses wieder, der im Proletariat stattfand. Dies spiegelte sich im wiedererwachenden Interesse in der Klasse an ihrer Geschichte, ihrer Theorien und somit am Marxismus wider. "Revolution" wurde zum Modewort.
Brutal, als sei sie über ihre eigene Kraft erstaunt,verschaffte sich eine neue Generation von Arbeitern Geltung auf der Bühne der Weltgeschichte. Als ein Ergebnis dieser Dynamik, mit jugendlichem Überschwang, aber auch in größter Konfusion, ohne Erfahrung, ohne Verbindung zu den revolutionären Traditionen der Vergangenheit, ohne wirkliche Kenntnis der Geschichte ihrer Klasse und stark beeinflußt von der kleinbürgerlichen Protestbewegung, entstand ein neues politisches Milieu des Proletariats. Eine neue Generation von Revolutionären wuchs mit Enthusiasmus und ... Unerfahrenheit heran.
Wenn wir über das proletarische Milieu sprechen, schließen wir sicherlich nicht die Organisationen mit ein, die behaupten, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, aber in Wirklichkeit Ausdrücke der "Linken" des kapitalistischen Staatsapparates sind, deren Aufgabe es ist, die Arbeiterklasse zu kontrollieren, sie hinters Licht zu führen und ihre Kämpfe zu sabotieren. Dabei spielt es keine Rolle, welche Illusionen die Arbeiterklasse in diese Organisationen haben mag. Wir beziehen uns hier nicht nur auf die "sozialistischen" und "kommunistischen" Parteien, die seit langem in die Räderwerke des Staatsapparates integriert sind, sondern auch auf ihre maoistischen Nacheiferer, die nur ein später Auswuchs der Stalinismus sind, und auf die Trotzkisten, deren Aufgabe von Klassenpositionen im zweiten imperialistischen Weltkrieg, deren Unterstützung  für einen imperialistischen Block gegen den anderen sie endgültig außerhalb des proletarischen Lagers stellte. Obgleich diese linksextremistischen Gruppen 1968 und danach einen bestimmenden Einfluß ausübten und in den Mittelpunkt rückten, gehören sie aufgrund ihrer Vergangenheit nicht der Arbeiterklasse und ihres politischen Milieus an. Darüber hinaus war es die Reaktion auf das politische Verhalten dieser Gruppen der bürgerlichen "Linken", die anfangs die Grundlage für die Wiederbelebung des proletarischen Milieus legte, auch wenn in der Konfusion und dem Wirrwarr in jener Periode linksextremistisches Gedankengut schwer auf der Geburt dieses neuen, proletarischen Milieus lastete.
Seit den Ereignissen des Mai 68 sind zwanzig Jahre vergangen; zwanzig Jahre, in denen die Wirtschaftskrise den Weltmarkt verheerte, das Feld des Gesellschaftslebens umgrub, Illusionen der Wiederaufbauperiode wegfegte. Zwanzig Jahre, in denen der Klassenkampf Höhen und Tiefen durchlief. Zwanzig Jahre, in denen das proletarische Milieu seine Wurzeln hat wiederfinden müssen und nach der notwendigen Klärung für eine wirksame Intervention strebte.
Welche Entwicklung gab es in diesen zwanzig Jahren im politischen Milieu? Welche Bilanz kann man heute ziehen? Welche politischen Früchte hat die 68er Generation hinterlassen? Welche Perspektiven können wir verfolgen, um die Zukunft zu befruchten?


DAS POLITISCHE PROLETARISCHE MILIEU VOR 1968

Die politischen Gruppen, die der Erdrosselung durch die Konterrevolution vor den Umwälzungen Ende der 60er Jahre widerstanden hatten und ihre revolutionären Positionen bei Wind und Wetter aufrechtgehalten hatten, bestanden aus einer bloßen Handvoll von Individuen. Diese Gruppen definierten sich im Verhältnis zu ihren politischen Vorfahren. Es gab im Kern zwei große Strömungen, die von den Fraktionen abstammten, welche in den 20er Jahren gegen die politische Degeneration der Dritten Internationalen gekämpft hatten:

  • die Tradition der sog. "holländischen" und "deutschen" Linken (1), die durch politische Gruppen wie den "Spartacusbond" (2) in Holland oder durch mehr oder weniger formelle Zirkel wie den um Paul Mattick in den USA vertreten wurde. ICO (Information Correspondance Ouvrière) in Frankreich oder DAAD EN GEDACHTE in Holland, die Anfang der 60er Jahre erschienen, waren die degenerierten Früchte dieser Tradition des "Rätekommunismus" sind, die in den 30er Jahren hauptsächlich von der GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten) vertreten wurde. Diese Strömung, die in politischer Kontinuität zu den theoretischen Auffassungen Otto Rühles in den 20er Jahren und Anton Pannekoeks sowie Canne Meijers in den 30er Jahren stand, zeichnete sich durch ein weitgehendes Unverständnis für die Gründe des Scheiterns der Russischen Revolution und der Degeneration der Kommunistischen Internationalen aus, was sie dazu verleitete, ihren proletarischen Charakter zu verneinen und die Notwendigkeit für die politische Organisation des Proletariats zu leugnen.
  • die Tradition der sog. "italienischen" Linken, deren organisatorische Kontinuität von der PCInt (Partito Comunista Internazionalista) (3) ausgedrückt wurde, die 1945 um Onorato Damen und Amadeo Bordiga gegründet wurde, und BATTAGLIA COMUNISTA veröffentlichte. Eine Reihe von Spaltungen, deren bedeutsamste die Abspaltung um Bordiga 1952 war und die jene Gruppe ins Leben rief, die  PROGRAMMA COMUNISTA publizieren sollte (4), führte zum Dasein etlicher, virtueller "PCInt"s, unter denen wir die Gruppe erwähnen sollten, die IL PARTITO COMUNISTA herausbringt. Obgleich diese Organisationen eine organisatorische Kontinuität mit den kommunistischen Fraktionen der Vergangenheit aufrechterhalten konnten, berufen sie sich paradoxerweise nicht auf das Werk jener Gruppe, die in den 30er Jahren das höchste Niveau an politischer Klarheit ausgedrückt hatte, die diese Tradition erreicht hatte. Diese Ablehnung des politischen Beitrags, der von BILAN geleistet worden war(5), war Ausdruck einer Schwächung der politischen Kontinuität. Dies sollte sich in einer dogmatischen Rigidität manifestieren, die die Notwendigkeit für eine Klärung bestritt, die Jahrzehnte der kapitalistischen Dekadenz auferlegt haben. Sinnbild für diese Haltung waren Bordiga und die PCInt (Programma), die auf die Unveränderlichkeit (Invarianz) des Marxismus seit... 1848 bestanden. Ihre Kritik an den falschen Positionen der Dritten Internationalen war völlig unzureichend; dies drückte sich in äußerst wolkigen und oftmals falschen Positionen in solch zentralen Punkten wie der nationalen oder Gewerkschaftsfrage aus. Die völlig korrekte Entschlossenheit, mit der sie die Notwendigkeit der Partei verteidigten, nahm bei diesen Gruppen karikaturhafte Formen an, namentlich bei Bordiga, der dazu neigte, die Partei als die Antwort auf alle Probleme, mit denen das Proletariat konfrontiert ist, als ein universelles Wundermittel, das das Proletariat nur noch akzeptieren muß, zu begreifen und darzustellen. Von diesen Gruppen bestand nur die IKP (PROGRAMMA) auf internationaler Ebene, insbesondere in Frankreich und in Italien, während die anderen nur in Italien existierten.

In dieser Tradition der italienischen Linken muss auch INTERNACIONALISMO in Venezuela berücksichtigt werden, 1964 auf Initiative früherer Mitglieder von BILAN (1928-1939) (4) und INTERNATIONALISME (1945-1953) gegründet(6). Obgleich INTERNACIONALISMO keine wirklich organisatorische Kontinuität darstellte, war diese Gruppe der klarste Ausdruck der politischen Kontinuität mit den Errungenschaften von BILAN und später INTERNATIONALISME, die die Aufgabe theoretischer Aufarbeitung fortgesetzt hat. Zwar berief sich INTERNACIONALISMO ausdrücklich auf die Beiträge von BILAN und der Italienischen Linken, doch vermochte sie sich auch kritisch - wie dies zuvor BILAN und INTERNATIONALISME getan hatten -  mit den Beiträgen anderer Fraktionen der internationalen kommunistischen Linken Angang des 20. Jahrhunderts zu bereichern. Dies wird deutlich in der Klarheit ihrer Positionen in der Frage der Dekadenz des Kapitalismus, in der nationalen und Gewerkschaftsfrage wie auch über die Rolle der Partei. Es ist sicherlich kein Zufall, daß INTERNACIONALISMO die einzige Gruppe war, die das historische Wiederaufleben des Klassenkampfes vorausssah.
Dieses Porträt des politischen Milieus vor 1968 wäre nicht vollständig, wenn es nicht jene Gruppen miteinbezieht, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Reaktion auf den Verrat der trotzkistischen IV. Internationalen gegründet wurden und die aus dieser Strömung hervorgegangen waren. Besonders die Gruppe FOR (7), die um Benjamin Perret und G. Munis gebildet wurde, sowie SOCIALISME OU BARBARIE um Cardan-Chaulieu seien hier erwähnt. Diesen Gruppen, die aus einer politischen Tradition, dem Trotzkismus, hervorgegangen waren, die an der Degeneration der Dritten Internationalen beteiligt war und das Klassenterrain verlassen hatte, indem sie das zweite weltweite, imperialistische Gemetzel unterstützt hatte, haben eine Besonderheit, die auf ihren Ursprung zurückzuführen ist: ihr mangelndes Verständnis der Degeneration der Revolution in Rußland und der ökonomischen Grundlagen des Staatskapitalismus in einer Zeit der kapitalistischen Dekadenz. Dies führte dazu, daß sie über das Ende der Wirtschaftskrisen des Kapitalismus theoretisierten und sich so von den Fundamenten eines marxistischen, materialistischen Verständnisses der Gesellschaftsentwicklung abschnitten. SOCIALISME OU BARBARIE gab ausdrücklich das Proletariat und den Marxismus auf, um eine verschwommene Theorie zu entwickeln, in welcher der grundlegende Widerspruch der Gesellschaft nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Bourgeoisie und Proletariat war, sondern in dem ideologischen Verhältnis zwischen Führern und Geführten! Mit der Ablehnung des revolutionären Charakters des Proletariats verlor SOCIALISME OU BARBARIE seine Daseinsberechtigung als politische Organisation und verschwand Anfang der 60er Jahre. Jedoch sollte der schädliche Einfluß seiner Theorien nicht nur unter den Intellektuellen, sondern auch im politischen Milieu, insbesondere in der ICO und ihrer Randerscheinung, der Situationistischen Internationalen, erhebliche Auswirkungen haben. Was die Gruppe FOR anbelangt, so verfiel sie nie solchen Extremen, doch ihre Weigerung, die Wirklichkeit der Wirtschaftskrise zur Kenntnis zu nehmen, schwächte ihre politischen Positionen insgesamt, ließ sie doch damit jegliche unerlässliche Kohärenz vermissen.


DIE ZERBRECHLICHKEIT DES MILIEUS NACH 1968

Die Ereignisse rund um den Klassenkampf und insbesondere die Streiks im Mai 68 in Frankreich, der "heiße Herbst" in Italien 1969, die Unruhen in Polen 1970 lösten aufgrund ihres internationalen Echos einen Denkprozeß innerhalb der Arbeiterklasse und in der Gesellschaft insgesamt aus und erweckten so neues Interesse für die revolutionäre Theorie des Marxismus. Getragen von dieser internationalen Welle des Klassenkampfes, entstand - in größter Konfusion, aber alle auf der Suche nach einer revolutionären Kohärenz - eine Vielzahl von kleinen Gruppen, Zirkeln oder Komitees. Aus dieser informellen Bewegung sollte das neue politische Milieu entstehen.
Die konkrete Konfrontation mit der Sabotage und den Winkelzügen jener, die sich als die leidenschaftlichsten Interessensvertreter des Proletariats  ausgaben, war ein entscheidender Faktor in der brutalen Bewußtwerdung über den arbeiterfeindlichen Charakters der Gewerkschaften und der "linken" Parteien. Diese Infragestellung des proletarischen Charakters der Gewerkschaftsorganisationen, der Sozialistischen Parteien, die Teil der nicht mehr existierenden Zweiten Internationalen waren, der stalinistischen KPs und ihrer linksextremistischen Nacheiferer, ob maoistisch oder trotzkistisch, war das unmittelbare Ergebnis des Klassenkampfes, der einen enthüllenden Charakter hatte. Jedoch konnte diese Intuition für grundlegende politische Positionen des Proletariats nicht die tiefgreifende politische Zerbrechlichkeit dieser neuen Generation verbergen, die revolutionäre Positionen aufgriffen, ohne eine wirkliche Kenntnis der Vergangenheit der Arbeiterklasse, ohne jegliche Verbindung zu den früheren Organisationen der Klasse zu haben, ohne militante Erfahrung und stark beeinflußt von den kleinbürgerlichen Illusionen, die von der Studentenbewegung verbreitet wurden. Das Gewicht von Jahrzehnten der Konterrevolution war beträchtlich. "Lauf, Genosse, die Alte Welt ist hinter dir her", verlangten die Rebellen von 1968. Aber wenn die Ablehnung der "alten Welt" es auch ermöglichte, sich einigen Klassenpositionen anzunähern, wie in der Frage des kapitalistischen Charakters der Gewerkschaften, der linken Parteien, der sog. "sozialistischen Vaterländer", so führte es im gleichen Atemzug häufig zu einer Ablehnung der unverzichtbaren Errungenschaften des Proletariats, an erster Stelle  des revolutionären Charakters des Proletariats, aber auch des Marxismus, der vergangenen Organisationen des Proletariats, der Notwendigkeit einer politischen Organisation, etc. Zunächst waren die Ideen, die auf das breiteste Echo in einem von jugendlicher Unreife und Unerfahrenheit gekennzeichneten Ambiente stießen, die Ideen jener "radikalen" Strömungen wie die Situationistische Internationale, die die Theorien von Sozialismus und Barbarei auf den neuesten Stand gebracht haben und und als radikalste Stimme in der Studentenbewegung auftraten. Indem sie den Kampf der Arbeiter in der Revolte der kleinbürgerlichen Schichten aufgehen ließ, ihn mit dem radikalen Reformismus des Alltagslebens gleichstellte und eine clevere Mischung zwischen Marx und Bakunin herzustellen versuchte, kehrte die Situationistische Internationale dem Marxismus den Rücken zu, um - mit einem Jahrhundert Verspätung- zu den Illusionen des Utopismus zurückzukehren.
Und so geschah es auch mit dem "Modernismus" (8), der in seiner dezidierte Suche nach dem Neuen und mit seiner Ablehnung des Alten darin endete, Theorien wiederzuentdecken, die historisch obsolet waren. Aber während die "modernistische" Strömung der Arbeiterklasse grundsätzlich fremd ist, ist der Rätekommunismus (9) historisch gesehen ein Teil des proletarischen politischen Milieus. Insbesondere die ICO in Frankreich war typisch für diese Tendenz, die sich auf die Beiträge der "deutschen" und "holländischen" Linke berief. In Kontinuität mit den Fehlern der "holländischen" Linken in den 30er Jahren theoretisierte sie die Ablehnung der Notwendigkeit für das Proletariat, sich mit einer politischen Organisation auszustatten. Diese Position sollte sehr beliebt sein, weil nach Jahrzehnten einer triumphierenden Konterrevolution und des Verrats durch proletarische Organisationen, die dem Druck der Bourgeoisie erlegen waren und in den kapitalistischen Staat integriert wurden, weil nach Jahren antiproletarischer Winkelzüge durch Organisationen, die im Namen der Arbeiterklasse zu sprechen behaupteten, das Proletariat gegenüber jeglicher Art von Organisation äußerst mißtrauisch geworden war. Diese Tendenz gipfelte in der Furcht vor der Organisation als solcher. Allein das Wort schon versetzte die Leute in Angst und Schrecken.
Anfangs sollte die ICO das wiederentstehende politische Milieu in Frankreich und selbst international  (stießen die Ereignisse vom Mai 68 doch auf weltweites Echo) polarisieren. Sie trug zur Verbreitung und Wiederaneignung der proletarischen Erfahrungen der früheren Revolutionäre (insbesondere der KAPD in Deutschland) bei, wenn auch nur bruchstückhaft und deformiert. An den von der ICO organisierten Konferenzen beteiligten sich viele Gruppen, so in Frankreich die CAHIERS DU COMMUNISME DE CONSEIL aus Marseille, die GROUPE CONSEILLISTE aus Clermont-Ferrand, REVOLUTION INTERNATIONALE aus Toulouse, der GLAT, LA VIELLE TAUPE, NOIR ET ROUGE, Archinoir. An der Brüsseler Konferenz 1969 nahmen belgische und italienische Gruppen wie auch "Prominente" wie Daniel CohnBendit und Paul Mattick teil. Doch dieser dynamische Antrieb im Milieu fand unter dem Druck des Klassenkampfes statt und nicht dank der politischen Kohärenz der ICO. Mit dem Abflauen der Arbeiterkämpfe in Frankreich Anfang der 70er Jahre sollten die partei- und organisationsfeindlichen Auffassungen der ICO immer schwerer auf einem unreifen politischen Milieu lasten. Während die ICO anfangs für die proletarischen Positionen Gruppen und Elemente anziehen konnte, die mit dem Anarchismus und dem intellektuellen Akademismus gebrochen hatten, trat mit dem Abflauen der Streiks das Gegenteil ein: nun wurde die ICO vom anarchistischen und "modernistischen" Geschwür angezogen. Schließlich verschwand die ICO 1971.
Diese Entwicklung der lCO ist ganz typisch für die Dynamik des Rätekommunismus im internationalen politischen Milieu, auch wenn außerhalb Frankreichs dieses Phänomen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung einsetzte. Mit ihrer Ablehnung der Notwendigkeit einer Organisation, ihrer Ablehnung des proletarischen Charakters der Russischen Revolution, der bolschewistischen Partei und der Dritten Internationalen stellten die Theorien des Rätekommunismus eine Quelle der Desorientierung und des Zerfalls im aufkeimenden proletarischen Milieu dar, die es von seinen wirklichen historischen Wurzeln abschnitt und es seiner organisatorischen und politischen Mittel zur Ausübung einer langfristigen Arbeit beraubte. Der Rätekommunismus schwächte die revolutionären Energien der Klasse.
Alle proletarischen Gruppen, die Ende der 60er Jahre aus jugendlicher Begeisterung entstanden, waren mehr oder weniger geprägt durch den schädlichen Einfluß des Modernismus und Rätekommunismus. Wer redete nicht alles vom Ende der Krisen im Staatskapitalismus, von den bösen Bolschewiki, vom unausweichlichen Schicksal jeder Partei, das Proletariat zu verraten, und über die revolutionäre Militanz als höchste Stufe der Entfremdung? Damals waren solche Reden Mode und verschwanden, wie Moden sich ändern. Der unvermeidbare Klärvorgang, der mit dem Abflauen des Klassenkampfes eintrat, fegte nicht nur die Illusionen beiseite und erzwang eine notwendige politische Klärung, sondern führte auch zum Verschwinden der schwächsten politischen Gruppen. In der ersten Hälfte der 70er Jahre kam es zu einem regelrechten Massaker: das Aus der Situationistischen Internationalen, deren nur einen kurzen Frühling lang geschienen hatte, das Aus der ICO, gestorben auf dem trostlosen Feld der Kritik des Alltaglebens; Abgang von POUVOIR, NOIR ET ROUGE und VIELLE TAUPE in Frankreich; LOTTA CONTINUA und POTERE OPERAIO in Italien, die erst teilweise von der maoistischen Variation des Linksextremismus weggebrochen waren, faktischer Abgang von SOLIDARITY in Großbritannien ... und die Liste ließe sich natürlich noch fortsetzen. Mit dem Rückfluss im Klassenkampf legte die Geschichte unweigerlich Zeugnis ab und fällte ihr Urteil.
Die verschiedenen, aus der italienischen Linken hervorgegangenen IKPs, die sich als unfähig  erwiesen, zu begreifen, daß das Wiedererstarken des Klassenkampfes Ende der 60er Jahre das Ende der Konterrevolution bedeutete, und die vollkommen die Bedeutung der Streiks unterschätzten, die vor ihren Augen abliefen, waren nicht in der Lage, die Funktion zu erfüllen, für die sie ins Leben gerufen worden waren: im Klassenkampf zu intervenieren und in den Prozeß der Formierung eines politischen Milieus einzugreifen. Diejenigen, die behaupteten, die organische und politische Kontinuität mit den revolutionären Organisationen der Jahrhundertwende zu repräsentieren, und die das entstehende politische Milieu hätten stärken sollen, indem sie den notwendigen Wiederaneignungsprozeß der proletarischen Errungenschaften der Vergangenheit beschleunigen, jene, die schon heute behaupten, die Klassenpartei zu sein, waren bis Mitte der 70er Jahre fast völlig abwesend. Sie schliefen in dem Glauben, daß die lange Nacht der Konterrevolution noch andauerte, und klammerten sich an den "heiligen Gesetzestafeln" des kommunistischen Programms fest. Die IKP (Programma), als einzige Organisation wirklich auf internationaler Ebene bestehend, behandelte die Elemente, die sich tastend auf der Suche nach revolutionärer Kohärenz begaben, nur mit überheblicher Verachtung. Und die IKP (Battaglia Comunista), die der politischen Diskussion eher zugeneigt war, blieb ängstlich in Italien versteckt. Obgleich die politischen Positionen dieser Gruppen zur Parteifrage, die sie grundsätzlich vom Rätekommunismus unterschied, zunächst das politische Milieu nicht auf die gleiche Art polarisieren konnten wie Strömungen wie die ICO, hat ihre relative Abwesenheit das zerstörerische Gewicht des Rätekommunismus auf diese jungen, unreifen revolutionären Energien nur noch verstärken können.
Schließlich sollte nur jene Gruppe Früchte tragen, die oberflächlich als die "schwächste" der aus der italienischen Linken hervorgegangenen Strömungen erschien, weil sie isoliert in Venezuela war, die aber sicherlich nicht die schwächste Strömung auf politischer Ebene war, worauf es uns am meisten ankommt. Auf Initiative von Mitgliedern von INTERNACIONALISMO, die nach Frankreich eingewandert waren, wurde die Gruppe REVOLUTION INTERNATIONALE inmitten der Mai-Unruhen 1968 in Toulouse gegründet. Diese kleine Gruppe, die in der Vielzahl der damals entstehenden Gruppen nahezu unterzuging, sollte - weil es in ihr frühere Mitstreiter der "italienischen" Linken, von BILAN und INTERNATIONALISME gab, die eine unersetzliche politische Erfahrung mitbrachten - eine positive Rolle angesichts der Zerfallstendenzen spielen, die in einem neuen politischen Milieu wirksam waren, welches unter dem gefährlichen Einfluß des Rätekommunismus litt. Dies sollte sich insbesondere in der Umgruppierungsdynamik konkretisieren, die REVOLUTION INTERNATIONALE  zu verkörpern imstande war.


DIE DYNAMIK DER UMGRUPPIERUNG UND DAS GEWICHT DES SEKTIERERTUMS

Und so war innerhalb dieses neuen Milieus, das von allerlei Arten von Konfusionen beherrscht war, eine Tendenz aufgetaucht, die gegen den Zerfallsprozeß ankämpfte, der ein Ausdruck des Gewichts der rätekommunistischen Ideen war. Der Wille zur politischen Klärung, das Bemühen um die Wiederaneignung der politischen Errungenschaften des Marxismus wurde in der Verteidigung der Notwendigkeit der politischen Organisationen und in einer Kritik der rätekommunistischen Fehler verdeutlicht. Seit ihrer Gründung widmete sich REVOLUTION INTERNATIONALE (RI) dieser Aufgabe: die Verteidigung der revolutionären Prinzipien hinsichtlich der Organisationsfrage, aber auch die Anregung eines kohärenten Rahmens zum Verständnis der Klassenpositionen und der Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert im Spiegel der Theorie der Dekadenz des Kapitalismus, die von Rosa Luxemburg und BILAN bereichert worden war, sowie der Untersuchungen über den Staatskapitalismus von INTERNATIONALISME. Dies ermöglichte eine größere Klarheit über den proletarischen Charakter der Russischen Revolution, der bolschewistischen Partei, der Dritten Internationalen - Fragen, die im Milieu nach '68 mit größtem Nachdruck gestellt wurden. Darüber hinaus fanden die solideren politischen Fundamente von RI ihren Ausdruck im Verständnis der Ereignisse vom Mai 68: zwar verteidigte RI die historische Bedeutung der Arbeiterkämpfe, die sich international entfalteten, aber sie widersetzte sich auch den maßlosen Übertreibungen jener Elemente in der rätekommunistisch-modernistischen Strömung, die die kommunistische Revolution als eine unmittelbare Möglichkeit betrachteten und somit den Boden bereiteten für die zukünftige Demoralisierung. Auch wenn anfangs ihr Publikum sehr begrenzt war und sie in einem Meer von rätekommunistischen Vorstellungen unterging, stellte RI einen Pol der Klarheit im damaligen politischen Milieu dar. In Frankreich war sie dank ihrer Beteiligung an den von der ICO organisierten Treffen in der Lage, den rätekommunistischen Konfusionen entgegenzutreten und die Entwicklung anderer Gruppe zuzuspitzen. Der damals stattfindende Klärungsprozeß ermöglichte eine Dynamik in Richtung einer Umgruppierung, die 1972 in dem Zusammenschluß der Groupe CONSEILLISTE aus Clermont-Ferrand und CAHIERS DU COMMUNISME DE CONSEIL um RI führte.


Die Umgruppierungsdynamik und die Gründung der IKS (10)

Auf internationaler Ebene gab es die gleiche Dynamik. Mit dem Rückgang der Kämpfe nahmen die Debatten innerhalb des proletarischen politischen Milieus an Fahrt auf; und hier spielten RI und INTERNACIONALSIMO eine entscheidende Rolle bei der Klärung. Die Auseinandersetzung mit den rätekommunistischen Auffassungen verschärfte sich und drängte zahlreiche Gruppen zum Bruch mit ihrer ersten, libertär-rätekommunistischen Liebe. In den USA wurde INTERNATIONALISM in engem Kontakt mit INTERNACIONALISMO gegründet; Diskussionen mit RI standen am Anfang der Gründung von WORLD REVOLUTION in Großbritannien und sollten auch einen großen Einfluß auf Gruppen wie WORKERS' VOICE und REVOLUTIONARY PERSPECTIVES haben. In Belgien schlossen sich unter dem direkten Einfluß von RI (und dann der IKS) drei Gruppen zusammen, um INTERNATIONALISME zu gründen; ebenso bildeten sich in Italien und Spanien auf der Grundlage der Kohärenz von RI RIVOLUZIONE INTERNAZIONALE und ACCION PROLETARIA.
Der Appell von INTERNATIONALISM (USA) zur Gründung eines internationalen Netzwerkes von Kontakten zwischen den bestehenden proletarischen Gruppen half die theoretische und politische Klärung zu beschleunigen. In dieser Dynamik wurde 1974 eine internationale Konferenz abgehalten, die der Vorbote der Gründung der IKS 1975 war und sie vorbereitete. Es schlossen sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Plattform zusammen: INTERNACIONALISMO (Venezuela), REVOLUTION INTERNATIONALE (Frankreich), INTERNATIONALISM (USA), WORLD REVOLUTION (Großbritannien), INTERNATIONALISME (Belgien), ACCION PROLETARIA (Spanien), RIVOLUZIONE INTERNAZIONALE (Italien). In sieben Ländern existierend, die anarcho-rätekommunistischen Auffassungen ablehnend, die den Einfluß des Lokalismus kaum verhüllten, sollte die IKS auf einer international zentralisierten Grundlage funktionieren - nach dem Abbild der Arbeiterklasse, die keine besonderen Interessen in Abhängigkeit des Landes hat, in dem sie sich vorfindet.


Der Zerfall des Linksextremismus und die Entwicklung der IKP (Programm)

Die Welle des Klassenkampfes, die 1968 explosionsartig einsetzt hatte, verlangsamte sich Anfang der 70er Jahre. Die herrschende Klasse, zunächst überrascht von den Entwicklungen, reorganisierte ihren Apparat der politischen Mystifizierung, um der Arbeiterklasse wirksamer entgegenzutreten. Diese Wendung in der Lage, die zur Auflösung des rätekommunistischen Milieus führte, was sich an ihrem Immediatismus zeigte, verursachte auch gewisse Auflösungserscheinungen unter den maoistischen und trotzkistischen Gruppen. Letztere wurden durch etliche Spaltungen erschüttert, von denen einige versuchten, sich in Richtung revolutionärer Positionen zu bewegen. Doch schwer gezeichnet von ihrer Vergangenheit, waren sie unfähig, sich wirklich ins proletarische Milieu zu integrieren. So geschah es mit den beiden Abspaltungen von LUTTE OUVRIERE in Frankreich, UNION OUVRIERE und COMBAT COMMUNISTE. Die erstgenannte machte, nachdem sie anfangs vom FOR beeinflußt gewesen war, eine rasante Reise quer durch das proletarische Milieu, um sich schlußendlich im Modernismus zu verflüchtigen, während die zweite sich von Natur aus als unfähig erwies, um mit dem "radikalen" Trotzkismus zu brechen.
Diese Dynamik, in der eine Reihe von Elementen, mehr demoralisiert als politisch geläutert, aus den Gruppen des Linksextremismus hervorkamen, sollte sich mit dem Rückgang des Klassenkampfes Mitte der 70er Jahre intensivieren. Vor diesem Hintergrund durchlief die IKP (Programma Comunista) eine gewisse Entwicklung. Nachdem sie den Klassenkampf Ende der 60er fast völlig verpaßt hatte, erwachte die bordigistische IKP Anfang der 70er Jahre aus ihrer Erstarrung, behandelte jedoch das sich formierende politische Milieu mit arroganter Verachtung, während sie gleichzeitig eine opportunistische Rekrutierungspolitik gegenüber jenen Elementen begann, die nicht vollständig mit dem Linksextremismus gebrochen hatten. Auf der Grundlage falscher Positionen in solch wichtigen Fragen wie die nationale und die Gewerkschaftsfrage schlug die IKP während der 70er Jahre einen immer opportunistischeren Kurs ein. Sie unterstützte die nationale Befreiung in Angola, den Terror der Roten Khmer in Kambodscha und die "palästinensische Revolution". Und je mehr sich das linksextremistische Geschwür in ihr ausbreitete, desto aufgeblasener wurde die IKP.
Ende der 70er Jahre war die IKP (Programma) die wichtigste Gruppe innerhalb des proletarischen politischen Milieus. Doch wenn die IKP damals der vorherrschende Pol im politischen Milieu war, dann nicht nur wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer wirklich internationalen Existenz. Der Rückfluß des Klassenkampfes verstärkte die Zweifel an den revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse und verschuf den substitutionistischen Auffassungen der Partei eine neue Anziehungskraft, die sich auch in Reaktion auf das offenkundige Scheitern der organisationsfeindlichen Auffassungen der Rätekommunisten entwickelt hatten. Der Bordigismus, der die Partei als das Allheilmittel gegen all die Schwierigkeiten einer Klasse theoretisiert, die als im wesentlichen trade-unionistisch dargestellt wird sowie angeführt und organisiert werden müsse, so wie eine Armee von einem Generalstab organisiert wird - dieser Bordigismus genoss ein wiedererwachtes Interesse, von dem die IKP profitierte. Doch abgesehen von der IKP sollte sich das gesamte politische Milieu rund um die absolut notwendige Debatte über Rolle und Aufgaben der kommunistischen Partei polarisieren.


Das Gewicht des Sektierertums

Doch wenn die IKP (Programma) die größte Organisation des proletarischen Milieus in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war, so war sie mitnichten das Ergebnis einer Dynamik zur Klärung und Umgruppierung. Im Gegenteil: ihre Ausdehnung fand auf der Grundlage eines wachsenden Opportunismus und eines Sektierertums statt, das permanent theoretisiert wurde. Die IKP betrachtete sich als die einzige bestehende proletarische Organisation und verweigerte die Diskussion mit anderen Gruppen. Die Entwicklung der bordigistischen IKP war nicht ein Ausdruck der Stärke der Klasse, sondern ihrer vorübergehenden Schwächung, hervorgerufen durch den Rückgang der Streiks. Leider beschränkte sich das Sektierertum nicht nur auf die IKP Bordigas, obgleich sie ihn bis ins Absurde theoretisiert hatte. Es lastete auf dem gesamten proletarischen Milieu und drückte seine Unreife aus. Dies findet insbesondere seinen Ausdruck in:

  • der Tendenz einiger Gruppen, zu glauben, allein auf der Welt zu sein, und das Vorhandensein eines politischen, proletarischen Milieus zu leugnen. Wie die IKP entwickelten zahllose Sekten in der bordigistischen Tradition diese Haltung;
  • einer Tendenz, besorgter darum zu sein, sich in zweitrangigen Punkten abzugrenzen,um die eigene Existenz zu rechtfertigen, statt sich der Konfrontation mit dem politischen Milieu zu stellen, um den Klärungsprozeß voranzubringen. Diese Haltung ging in der Regel einher mit einer tiefgreifenden Unterschätzung der Bedeutung des proletarischen Milieus und der Debatten, die es animierte. Ein Beispiel hierfür war die Art und Weise, wie REVOLUTIONARY PERSPECTIVES (RP) einen Rückzieher auf dem Weg zur Umgruppierung mit WORLD REVOLUTION in Großbritannien 1973 machte. RP argumentierte, daß es eine "fundamentale"  Divergenz gebe: Laut RP war die bolschewistische Partei nach 1921 nicht mehr proletarisch. Die "Fixierung" von RP auf diese Frage war nur ein Vorwand. Dies zeigte sich einige Jahre später, als RP (nun in Gestalt der CWO) diese Position aufgab. Doch zog sie nie die Konsequenzen aus dem vorherigen Scheitern der Umgruppierung in Großbritannien;
  • einer Tendenz zu verfrühten und vorzeitigen Spaltungen, wie die Abspaltung der PIC, die 1973 aus aktivistischen und immediatistischen Gründen aus RI austrat und bald darauf eine rätekommunistische Richtung einschlagen sollte. Allerdings waren nicht alle Spaltungen grundlos. So war die Abspaltung der GCl  1978 von der IKS insofern gerechtfertigt, als die Genossen, die die GCI (11) bilden sollten, mit der Kohärenz der IKS in solch fundamentalen Fragen wie die Rolle der Partei und das Wesen der Klassengewalt gebrochen und im Kern bordigistische Positionen bezogen hatten. Dennoch bringt diese Spaltung auch das Gewicht des Sektierertums zum Ausdruck, griff die GCI doch auf eine ganze Reihe der sektierischen Konzeptionen des PCI zurück;
  • einer Tendenz zum Sektierertum, die paradoxerweise in den Umgruppierungsversuchen zum Ausdruck kam, die die Bemühungen der IKS nachäfften. So initiierte die PIC eine Reihe von äußerst konfusen Konferenzen, auf denen versucht wurde, Gruppen zusammenzubringen, die eher durch den Anarchismus denn durch revolutionäre Positionen geprägt waren. Die Fusion von WORKERS' VOICE und REVOLUTIONARY PESPECTIVES zur CWO (12) war, obwohl sie eine positive Bewegung in Richtung Umgruppierung ausdrückte, ebenfalls vom sektiererischen Verhalten geprägt, das die CWO trotz der Ähnlichkeit ihrer Positionen gegenüber der IKS an den Tag gelegt hatte.

Das Gewicht des Sektierertums innerhalb des politischen Milieus war das Resultat des Bruchs, der durch 50 Jahre der Konterrevolution, des Vergessens der Erfahrungen vergangener Revolutionäre in den Fragen der Umgruppierung und der Gründung der kommunistischen Partei hervorgerufen wurde - eine Situation, die sich in der zweiten Hälfte der 70er durch den Rückfluss des Klassenkampfes noch verschärfte. Doch weil das politische Milieu keine automatische Widerspiegelung des Klassenkampfes ist, sondern der Ausdruck eines bewußten Willens, gegen die Schwächen in der Klasse anzukämpfen, ist die Entschlossenheit der verschiedenen Gruppen des Milieus, sich mit der Aussicht auf die Umgruppierung revolutionärer Kräfte  auf einen Klärungsprozeß einzulassen, ein konkretes Maß ihrer politischen Klarheit über die erhebliche Verantwortlichkeit, derer sich die Revolutionäre in der gegenwärtigen revolutionären Periode gegenübersehen.
Unter diesen Umständen markierte der Aufruf von BC zur Einberufung von Konferenzen der Gruppen der Kommunistischen Linken nach einer langen Zeit der äußersten Verschwiegenheit einen positiven Schritt für das gesamte Milieu, das mit dem vorübergehenden Rückgang des Klassenkampfes schwer unter den Auswirkungen von Sektierertum und Zersplitterung gelitten hatte.
Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir die weitere Entwicklung des politischen Milieus Ende der 70er Jahre und Anfang der 80er Jahre verfolgen. Es war eine Zeit, die sich durch das Abhalten von Konferenzen und deren Scheitern auszeichnete, durch die Krise, die diese Situation im Milieu bewirkte, und den daraus resultierenden, brutalen Klärvorgang, insbesondere durch das Auseinanderbrechen der IKP. Wir werden anschließend untersuchen, wie das Milieu auf die Entwicklung einer neuen Welle von Kämpfen ab 1983 und auf die Aufgaben reagierte, die auf die Revolutionäre warteten.

JJ.  7.März 1988


(1) Eine Vorbemerkung: natürlich können wir im Rahmen dieses Artikels nicht den Werdegang und die Positionen aller in diesem Artikel erwähnten Gruppen umreißen. Viele Gruppen sind mittlerweile auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Deshalb beschränken wir uns auf die Gruppen aus der linkskommunistischen Tradition und auf jene, die noch existieren.
(2) "Spartakusbond", siehe IR Nr. 38,39. Über die "Holländischen Linke" siehe IR: 30, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 52.
(3) "Partito Comunista Internazionalista", 1945 gegründet, veröffentlicht BATTAGLIA COMUNISTA und PROMETEO. Siehe zum Beispiel IR: 36,40,41. Adresse: PROMETEO, Casella Postale 1753, 20100 Milano, Italien
(4) "Parti Communiste Internationale", Abspaltung von PCInt 1952, veröffentlichte auf Französisch LE PROLETAIRE und PROGRAMME COMMUNISTE und in den 70er Jahren auch auf Deutsch "Kommunistisches Programm" und "Der Proletarier", siehe u.a. IR 32,33,34,36, auch deutsche Ausgabe IR 3.
(5)) BILAN, Zeitschrift der "italienischen Linken", 1928 gegründet, veröffentlicht von 1933-38, siehe die Broschüre der IKS zur Italienischen Linken, u.a. IR, Nr. 47
(6) INTERNATIONALISME, Zeitschrift der Kommunistischen Linken Frankreichs, 1945-52. Siehe die Neuveröffentlichung von Artikeln in der IR. Siehe auch: Die Kommunistische Linke Italiens.
(7) "Ferment Ouvrier Revolutionnaire", die ALARME publiziert. BP 329, 75624 Paris Cedex 13. Siehe IR, Nr. 52
(8) Zum "Modernismus" siehe div. Artikel in WELTREVOLUTION.
(9) Zum "Rätekommunismus" siehe "Internationale Revue", Sonderausgabe zur Organisationsfrage.
(10) Siehe IR-Sonderausgabe zur Organisationsfrage.
(11) GCI, BP 54, BCL, 31 Bruxelles, Belgien, siehe dazu Artikel in dieser IR.
(12) CWO, PO Box 145, Head Post Office, Glasgow, GB, siehe IR: 39,40,41.

 


Die Entwicklung des proletarischen politischen Milieus 1968-1977 (Teil 2)

 

Mitte der 70er Jahre war das politische proletarische Milieu zwischen zwei Strömungen polarisiert, die das Ergebnis der karikaturartigen Theoretisierung der Schwächen (und nicht der Stärken) der Fraktionen der italienischen und deutsch-holländischen Linken waren - besonders hinsichtlich einer Frage, die für ein nach Jahrzehnten der Verbannung von der historischen Bühne wiederauftauchendes Milieu entscheidend war: die Organisationsfrage. Auf der einen Seite gab es die rätekommunistische Strömung, die dazu tendierte, die Notwendigkeit der Organisation abzulehnen, und auf der anderen Seite die bordigistische Strömung, repräsentiert insbesondere durch die die IKP (Programm), die die Partei zum Allheilmittel für die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse machte. Die Rätekommunisten hatten ihre Sternstunde in den Wirren der Ereignisse von '68 und den nachfolgenden Jahren, aber mit dem Zurückweichen des Klassenkampfes Mitte der 70er Jahre bekamen sie es mit allen möglichen Problemen zu tun. Dagegen stieß die bordigistische Strömung, die in der Zeit sich entwickelnder Kämpfe so auffällig zurückhaltend gewesen war, mit dem Abebben der Kämpfe auf ein größeres Echo, insbesondere unter jenen Elementen, die vom Linksextremismus herkamen. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre brach der rätekommunstische Pol zusammen, während die IKP (Programm) sich arrogant nach vorne drängte: sie war die Partei, und außerhalb ihrer existierte nichts.
Das politische proletarische Milieu war äußerst zersplittert und gespalten. Die Frage, die sich ihm mit wachsender Dringlichkeit stellte - eine Frage, die eng mit der Organisationsfrage verknüpft ist -, war die Notwendigkeit, Kontakte zwischen den existierenden Gruppen auf der Grundlage einer revolutionären Kohärenz zu knüpfen, um den Klärungsprozeß zu beschleunigen, der für die Umgruppierung revolutionärer Kräfte unverzichtbar ist. In Kontinuität mit der Arbeit von REVOLUTION INTERNATIONALE zeigte die IKS 1974/75 das weitere Vorgehen; das Manifest, das sie 1976 veröffentlichte, war ein Appell an die gesamte proletarische Bewegung, in diesem Geist tätig zu werden:
"Mit ihren noch immer bescheidenen Mitteln hat sich die Internationale Kommunistische Strömung der langwierigen und schweren Arbeit der Umgruppierung der Revolutionäre auf Weltebene um ein klares und kohärentes Programm verpflichtet. Dem Monolithismus der Sekten den Rücken zukehrend, ruft sie die Kommunisten aller Länder auf, sich der ungeheuren Verantwortung bewußt zu werden, die auf ihnen lastet, die falschen Streitereien aufzugeben und die künstlichen Spaltungen zu überwinden, die die alte Gesellschaft ihnen aufgezwungen hat. Die IKS ruft sie auf, sich diesen Bemühungen anzuschließen, um vor den entscheidenden Kämpfen die internationale, vereinigte Organisation der Avantgarde zu konstituieren.
Als bewußteste Fraktion der Klasse müssen die Kommunisten ihr das weitere Vorgehen zeigen, indem sie sich die Losung 'Revolutionäre aller Länder, vereinigt Euch!' zu eigen machen"
(Manifest der IKS).
Vor diesem Hintergrund eines im Umbruch  und in der Klärung befindlichen politischen Milieus, das tief gezeichnet war durch Zersplitterung und Sektierertum, lud BATTAGLIA COMUNISTA zu einer internationalen Konferenz von Gruppen der kommunistischen Linken ein.(1)
1972 hatte sich BATTAGLIA COMUNISTA geweigert, sich dem Aufruf von INTERNATIONALISM (USA) anzuschließen, das den Aufbau einer internationalen Korrespondenz mit der Perspektive einer internationalen Konferenz vorgeschlagen hatte, ein Appell, der die Dynamik in Gang gesetzt hatte, die 1975 zur Formierung der IKS führte. Damals, im Nachgang von 1968, antwortete BC, daß:

  • "man kann nicht in Betracht ziehen kann, daß es eine reale Weiterentwicklung des Klassenbewußtseins gab,
  • selbst das Aufblühen von Gruppen nur die Malaise und die Revolte der Kleinbourgeoisie zum Ausdruck bringt,
  • wir uns eingestehen müssen, daß die Welt noch unter der Knute des Imperialismus steht".

Was führte zur nachfolgenden Verhaltensänderung? Eine grundlegende Frage für BC: die "Sozialdemokratisierung" der stalinistischen KPs! BC nahm die "eurokommunistische" Wende der KPs, eine rein konjunkturelle "Wende" Mitte der 70er Jahre, wie wir jetzt im Nachhinein sehen können, als einen Grund für ihre neue Haltung gegenüber dem politischen Milieu. Um über diese grundlegende Frage zu diskutieren, schlug BC die Einberufung einer Konferenz vor. Darüber hinaus gab es kein einziges politischen Kriterium für die Definierung des proletarischen Milieus im Einladungsschreiben von BC, und BC schloß von dieser Einladung alle Organisationen des proletarischen Milieus in Italien aus, so z.B. die IKP (Programma Comunista) oder Il Partito Comunista. Trotz der Orientierung auf die Abhaltung von Konferenzen wollte Battaglia "Herr im eigenen Haus" bleiben.
Dennoch reagierte die IKS trotz dieses Mangels an Klarheit im Aufruf, in Übereinstimmung mit den Orientierungen, die sie in ihrer eigenen Geschichte verkörperte und nochmals bekräftigt im Manifest, das Januar 1976 veröffentlicht wurde, positiv auf diesen Aufruf und zog mit BC an einem Strang, um diese Konferenz zu fördern, indem sie politische Kriterien vorschlug, die die Organisationen des proletarischen Milieus von jenen der Bourgeoisie abgrenzten; indem sie appellierte, den Aufruf auch an die Gruppen zu richten, die BC "vergessen" hatte; indem sie diese Konferenz innerhalb einer Dynamik in Richtung einer politischen Klärung innerhalb des kommunistischen Milieus verortete, dem notwendigen Schritt zur Umgruppierung der Revolutionäre.


DIE DYNAMIK DER INTERNATIONALEN KONFERENZEN DER GRUPPEN DER KOMMUNISTISCHEN LINKEN

Die erste Konferenz (4)

Mehrere Gruppen stimmten dem Aufruf von BC prinzipiell zu: der FOR (Fomento Obrero Revolucionario) aus Frankreich und Spanien, ARBETAMAKT aus Schweden, die CWO aus Großbritannien (5), die PIC aus Frankreich. Aber es blieb bei einer rein verbalen Zustimmung; allein die IKS nahm neben BC aktiv an der ersten Konferenz teil, während alle anderen unter Berufung auf mehr oder weniger berechtigte Gründe - welche aber alle eine Unterschätzung der Bedeutung der Konferenzen widerspiegelten - durch ihre Abwesenheit glänzten.
Was die Apostel des Rätekommunismus und des Bordigismus - SPARTAKUSBOND (Holland) und die IKP (Program) (6) - anbelangt, so waren sie nicht interessiert an solchen Konferenzen und suchten Zuflucht in einer splendid isolation des Sektierertums.
Aber: obwohl faktisch nur zwei Organisationen (BC und IKS) an dieser ersten Konferenz  teilnahmen (was die traurige Realität des vorherrschenden Sektierertums widerspiegelte), war sie ein großer Schritt nach vorn für das gesamte proletarische Milieu.
Weit entfernt davon, eine geschlossene Debatte zwischen zwei Organisationen zu sein, demonstrierte diese erste Konferenz dem gesamten proletarischen Milieu, daß es möglich war, einen Rahmen für die Konfrontation und Klärung von divergierenden Positionen zu schaffen. Die Bedeutung der debattierten Fragen beweist dies zu Genüge:

  • die Analyse der Wirtschaftskrise und der Entwicklung des Klassenkampfes,
  • die konterrevolutionäre Funktion der sog. "Arbeiterparteien", SPs und KPs, sowie ihrer linksextremistischen Anhängsel,
  • die Rolle der Gewerkschaften,
  • das Problem der Partei,
  • die gegenwärtigen Aufgaben der Revolutionäre,
  • Schlußfolgerungen zur Bedeutung dieses Treffens.

Jedoch bestand eine große Schwäche dieser und der nachfolgenden Konferenz in der Unfähigkeit, eine gemeinsame Stellungnahme zu den Debatten zu veröffentlichen, die stattgefunden haben. So wurde der Entwurf einer gemeinsamen Erklärung, der von der IKS vorgeschlagen wurde und der die deutlich gewordenen Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten, namentlich in der Gewerkschaftsfrage, zusammenfaßte, von BC ohne einen alternativen Vorschlag abgelehnt.
Die Veröffentlichung der Konferenztexte, Beiträge und der Diskussionsprotokolle in zwei Sprachen (italienisch und französisch) stieß im proletarischen Milieu auf ein großes Interesse und verlieh der durch die erste Konferenz angeregten Dynamik einen weiteren Auftrieb.
Dies sollte sich anderthalb Jahre später, Ende 1978, konkretisieren, als die zweite Konferenz abgehalten wurde.


Die zweite Konferenz (7)

Diese Konferenz war besser vorbereitet und organisiert als die erste, sowohl in politischer wie in organisatorischer Hinsicht. So folgte die Einladung präziseren politischen Kriterien:

  • "Anerkennung der Oktoberrevolution als eine proletarische Revolution,
  • Anerkennung des Bruchs mit der Sozialdemokratie, der durch den I.und II. Kongreß der Kommunistischen Internationalen vollzogen wurde,
  • uneingeschränkte Ablehnung des Staatskapitalismus und der Selbstverwaltung,
  • Ablehnung aller Kommunistischen und Sozialistischen Parteien als bürgerliche Parteien,
  • Orientierung in Richtung einer Organisation von Revolutionären, die sich auf die marxistische Doktrin und Methodologie als Wissenschaft des Proletariats bezieht".

Diese Kriterien - die gewiss unzureichend sind für die Erstellung einer politischen Plattform für eine Umgruppierung und deren letzter Punkt sicherlich präzisiert werden muß - reichen jedoch völlig aus, um das proletarische Milieu abzugrenzen und den Rahmen für eine fruchtbare Diskussion zu entwickeln.
An den Debatten der zweiten Konferenz, die November 1978 abgehalten wurde, nahmen fünf proletarische Organisationen teil: die IKP (Battaglia Comunista) aus Italien, die CWO aus Großbritannien, der NUCLEO COMUNISTA INTERNAZIONALISTA aus Italien, FOR KOMUNISMEN aus Schweden und die IKS, die seinerzeit Sektionen in neun Ländern hatte. Die Gruppe IL LENINISTA schickte Textbeiträge zur Konferenz, ohne selbst physisch präsent sein zu können, und ARBETAMAKT aus Schweden und die OCRIA aus Frankreich erklärten ihre rein verbale Unterstützung der Konferenz. Der FOR war ein etwas besonderer Fall. Nachdem er der ersten Konferenz seine volle Unterstützung angediehen sowie Texte für die zweite geliefert hatte und selbst erschienen war, um teilzunehmen, führte er zu Konferenzbeginn ein Schauspiel auf: unter dem Vorwand, nicht mit der Tagesordnung einverstanden zu sein, weil sie einen Punkt über die Wirtschaftskrise enthielt, deren Existenz er in surrealistischer Manier leugnet, verschaffte er sich einen spektakulären Abgang. Was die Epigonen des Rätekommunismus und des Bordigismus angeht,  so hielten sie ihre ablehnende Haltung gegenüber den Konferenzen aufrecht: der SPARTAKUSBOND aus Holland, imitiert von der PCI in Frankreich, weil er die Notwendigkeit der Partei verneinte, die PCIs (Programm und II Partito Comunista in Italien), weil sie alle sich selbst als einzig bestehende Partei betrachteten und somit außer ihr keine andere proletarische Organisation bestehen konnte.
Die Tagesordnung der Konferenz spiegelt den militanten Geist wider, der von ihr animiert wurde:

  • die Entwicklung der Krise und der Perspektiven, die sie dem Kampf eröffnet,
  • die Position der Kommunisten gegenüber den sog. nationalen "Befreiungsbewegungen",
  • die Aufgaben der Revolutionäre in der gegenwärtigen Periode.

Die zweite internationale Konferenz der Gruppen der kommunistischen Linken wurde ein Erfolg, nicht nur weil es eine größere Zahl der teilnehmenden Gruppen gab, sondern auch weil sie es ermöglichte, die politischen Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen teilnehmenden Gruppen deutlicher zu umreißen. Indem die verschiedenen anwesenden Gruppen in die Lage versetzt wurden, sich besser kennenzulernen, bot die Konferenz einen Diskussionsrahmen, der es ermöglichte, falsche Debatten zu vermeiden und die Klärung der realen Divergenzen voranzutreiben. In diesem Sinne war die Konferenz ein Schritt vorwärts innerhalb der Perspektive einer Umgruppierung der Revolutionäre, die - obgleich nicht unmittelbar, kurzfristig in Aussicht - mit Sicherheit in Anbetracht der zersplitterten Lage des proletarischen Milieus nach Jahrzehnten der Konterrevolution auf der historischen Tagesordnung steht .
Jedoch lasteten die politischen Schwächen, unter denen das proletarische Milieu litt, auch schwer auf den Konferenzen. Das kam insbesondere im Unvermögen der Konferenzen zum Ausdruck, das Schweigen zu überwinden - d.h. die Fähigkeit der teilnehmenden Gruppen, zu einer kollektiven Position in den diskutierten Fragen zu gelangen, um herauszustellen, wo man in der Diskussion angelangt war. Die IKS schlug Resolutionen zu diesem Zweck vor, aber abgesehen vom NCI stieß sie damit bei den anderen anwesenden Organisationen und namentlich bei BC und CWO auf Ablehnung. Dieses Verhalten spiegelte das Klima des Mißtrauens wider, das das kommunistische Milieu befallen hat, selbst jene Teile, die am offensten für solch eine Konfrontation sind, und bremst den so dringend benötigten politischen Klärungsprozeß.
Unter diesen Umständen überraschte es nicht, daß der Vorschlag der IKS, über eine Resolution abzustimmen, die das Sektierertum der Gruppen kritisiert, welche sich weigerten, an den Konferenzen teilzunehmen, von den anderen Gruppen abgelehnt wurde. Offensichtlich hatte dies einen wunden Punkt berührt.
Diese Schwächen konkretisierten sich leider nach der zweiten Konferenz in den Polemiken, die BC und die CWO vom Stapel ließen und die die IKS ungeniert als "opportunistisch" bezeichneten sowie die Existenz eines Problems des Sektierertums leugneten. Ihnen zufolge war die Kritik am Sektierertum nur ein Mittel, um die bestehenden politischen Divergenzen zu leugnen. Diese Position von BC und CWO begreift nicht, daß das Sektierertum eine eigene politische Frage ist, weil sie eine wesentliche Frage aus den Augen verliert: die Rolle der Organisation in einem ihrer entscheidendsten Aspekte, nämlich in ihrem Wirken für die Umgruppierung der Revolutionäre. Indem die Gefahr des Sektierertums geleugnet wird, waren diese Gruppen schlecht gewappnet, um damit in den eigenen Reihen fertigzuwerden, was sich leider deutlich auf der dritten Konferenz manifestieren sollte.


Die dritte Konferenz (9)

Die dritte Konferenz fand im Frühjahr 1980 zu einem Zeitpunkt statt, als die Arbeiterkämpfe des vorherigen Jahres unter Beweis gestellt hatten, daß der Rückfluß der Arbeiterkämpfe Mitte der 70er Jahre gestoppt war; zu einer Zeit, als die Intervention der russischer Truppen in Afghanistan die Realität eines drohenden Weltkrieges aufzeigte, der schlaglichtartig die Verantwortung der Revolutionäre beleuchtete.
Neue Gruppen schlossen sich der Dynamik der Konferenzen an: der NUCLEI LENINISTI INTERNAZIONALISTA, der das Ergebnis der Fusion des NCI mit IL LENINISTA in Italien war, die schon mit der zweiten Konferenz assoziiert waren; die GROUPE COMMUNISTE INTERNATIONALISTE, die 1979 auf typisch bordigistische Art und Weise aus der IKS ausgetreten war, L'EVEIL INTERNATIONALISTE aus Frankreich, der aus einem Bruch mit dem sich nun in einem Zustand fortschreitenden Zerfalls befindlichen Maoismus herauskam, die MARXIST WORKERS' GROUP aus den USA, die sich der Konferenz anschloß, ohne sich an ihr direkt beteiligen zu können. Doch trotz eines wachsenden Echos, die die Konferenzen innerhalb des revolutionären Milieus hatten, scheiterte die dritte internationale Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken.
Der Aufruf der IKS an die Konferenz, vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan eine gemeinsame Resolution über die Gefahr des imperialistischen Krieges zu verabschieden, wurde von BC, CWO und, etwas später, L'EVEIL abgelehnt, denn obgleich die verschiedenen Gruppen eine gemeinsame Position zu dieser Frage hatten, wäre es ihnen zufolge "opportunistisch" gewesen, solche eine Resolution anzunehmen, weil "wir Differenzen in der Frage der Rolle der revolutionären Partei von morgen haben". Die Logik dieser brillianten, "nicht-opportunistischen" Argumentationsweise lautete also: wenn revolutionären Organisationen sich nicht über alle Fragen einigen können, dann dürfen sie auch nicht über jene sprechen, in denen sie sich schon seit langem einig sind. Die Besonderheiten jeder Gruppe überwiegen aus Prinzipiengründen das, was alle Gruppen gemeinsam vertreten. Und genau dies ist es, was wir mit Sektierertum meinen. Das Schweigen, der Mangel an jeglicher kollektiven Stellungnahme der Gruppen auf den drei Konferenzen waren die klarste Demonstration der Hilflosigkeit, in die das Sektierertum führt.
Zwei Debatten standen auf der dritten Konferenz auf der Tagesordnung:

  • An welchem Punkt ist die Krise des Kapitalismus angelangt und welche Perspektiven leiten sich daraus ab?
  • Perspektiven für eine Entwicklung des Klassenkampfes und die daraus resultierenden Aufgaben für die Revolutionäre.

Die Debatte über den zweiten Tagesordnungspunkt leitete eine Diskussion über die Rolle der Partei ein, die einer der Punkte gewesen war, die auf der zweiten Konferenz diskutiert wurden. Diese Frage ist eine der schwierigsten und wichtigsten, vor denen die heutigen revolutionären Gruppen stehen, insbesondere in Hinblick auf die Würdigung einer historischen Erfahrung, die seit Russischen Revolution (und durch sie) gesammelt worden war.
Und dennoch weigerten sich BC und die CWO aus Ungeduld, aus Angst oder (und dies ist leider am wahrscheinlichsten) aus jämmerlicher opportunistischer Taktik - auch wenn sie selbst auf den vorhergehenden Konferenz erklärt hatten, daß diese Frage "lange Diskussionen erfordert" -, die Debatte über die Parteifrage fortzusetzen. Die "spontaneistischen" Konzeptionen der IKS als Vorwand benutzend, erklärten sie die Frage für geschlossen und machten ihre Position zu einem Teilnahmekriterium für die Konferenzen, wodurch sie den Ausschluß der IKS und damit auch die Auflösung der Konferenzen provozierten. Indem sie die Dynamik zerschlugen, die es ermöglicht hatte, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Teilen des proletarischen Milieus wiederherzustellen und das gesamte Milieu in die Richtung einer Klärung zu drängen, die für die Umgruppierung der revolutionären Kräfte erforderlich ist, trugen die CWO und BC eine große Verantwortung für die  Verfestigung der Schwierigkeiten für das Milieu als unvermeidliches Resultat aus alledem.
Die CWO und BC zeigten also die gleiche Verantwortungslosigkeit wie die GCI, die sich an der dritten Konferenz nur beteiligt hatte, um das Prinzip einer Konferenz schlechthin anzuprangern und schamlos um neue Mitglieder zu buhlen.
Der Ausbruch des Massenstreiks in Polen drei Monate nach dem Scheitern der Konferenz beleuchtete schlaglichtartig die Verantwortungslosigkeit dieser Gruppen, die zu glauben scheinen, daß sie nur im Verhältnis zu ihrem eigenen Ego existieren, und die dabei vergessen, daß die Arbeiterklasse sie für die Verwirklichung der Bedürfnisse der Klasse hervorgebracht hat. Diese "kompromißlosen" Parteivertreter vergessen, daß es nicht die Aufgabe dieser Partei ist, sich in sektiererischer Manier auf sich selbst zu beziehen, sondern im Gegenteil den Willen zur politischen Auseinandersetzung zu zeigen, damit der Klärungsprozeß innerhalb des proletarischen Milieus beschleunigt und so ihre Fähigkeit zur Intervention in der Klasse gestärkt wird.
Die vierte (Pseudo-)Konferenz, die 1982 stattfand, hatte nichts mehr mit der Dynamik zu tun, die die ersten drei geprägt hat. Die CWO und BC hatten einen Dritten im Bunde gefunden, die UCM, die spätere "Kommunistische Partei des Iran". Diese nationalistische Gruppe, die sich nur unzureichend vom Stalinismus gelöst hatte, war sicherlich ein fundierterer Gesprächspartner für BC und die CWO als die IKS - möglicherweise weil sie eine "korrekte" Position über die Partei vertrat, anders als die IKS? Das Sektierertum ist ein Wechselbalg: es führt zum plattesten Opportunismus und schließlich zur Aufgabe von Prinzipien.


Die Bilanz der Konferenzen

Die erste Errungenschaft der Konferenzen besteht darin, daß sie überhaupt stattgefunden haben.
Die internationalen Konferenzen der Gruppen der Kommunistischen Linken waren besonders bedeutende Momente in der Entwicklung eines internationalen proletarischen politischen Milieus, das nach 1968 entstanden war. Sie ermöglichten es, einen Diskussionsrahmen zwischen den verschiedenen Gruppen zu schaffen, die sich direkt an ihrer Dynamik beteiligten, und führten so zu einer positiven Klärung der Debatten, die das Milieu als Ganzes animierten und einen politischen Bezugspunkt für alle Organisationen und Individuen anboten, die auf der Suche nach einer politischen Kohärenz waren. Die Bulletins, die nach jeder Konferenz in drei Sprachen veröffentlicht wurden und etliche schriftliche Beiträge sowie die Protokolle aller Diskussionen enthielten, bleiben eine unverzichtbare Referenz für all die Gruppen und Individuen, die seitdem revolutionäre Positionen angenommen haben.
In diesem Sinne stellten diese Konferenzen trotz ihres letztendlichen Scheiterns einen eminent fruchtbaren Moment in der Entwicklung eines proletarischen politischen Milieus dar, dank derer die verschiedenen Gruppen sich besser kennenlernen und einen Rahmen schaffen konnten, der einen positiven Klärungsprozeß möglich machte, welcher sich in der Entwicklung einer Dynamik zur Umgruppierung konkretisierte. (So nahm diese Dynamik innerhalb der Konferenzen Gestalt an in der Fusion von NCI und IL LENINISTA zu NLI; in der Aussiebung von Elementen von ARBETAMAKT und aus der Mehrheit der Gruppe FUR KOMMUNISMEN in Schweden, die sich auf die IKS zubewegten und später ihre Sektion in diesem Land gründeten; in der Annäherung zwischen BC und CWO, die sich später zusammentaten, um das INTERNATIONALE BÜRO FÜR DIE REVOLUTIONÄRE PARTEI zu gründen.)
Die positive Rolle der Konferenzen und das wachsende Echo, das sie fanden, manifestierte sich nicht nur in der steigenden Zahl der teilnehmenden Gruppen. Sie zeigten allen Gruppen im Milieu auch den Wert solcher Treffen an und  gaben ein Beispiel, wie dabei vorzugehen ist. Die Konferenz von Oslo im September 1977, an der skandinavische Gruppen und auch die IKS teilnahmen, war ein Beweis dafür;  auch wenn sie auf einer weitaus vageren Grundlage abgehalten wurde, drückte sie ein Bedürfnis innerhalb des internationalen proletarischen Milieu aus.
Doch mit dem Rückfluß ließ sich der positive Beitrag der Konferenzen am klarsten an der Lücke, die ihr Verschwinden hinterließ, und an der Krise des politischen Milieus ablesen, die dem Scheitern der dritten Konferenz folgte.


DIE KRISE DES PROLETARISCHEN POLITISCHEN MILIEUS

Zur gleichen Zeit, als die Konferenzen stattfanden, war das politische Milieu von einem zweifachen Phänomen geprägt: einerseits vom Zusammenbruch der rätekommunistischen Strömung, die zu Anfang des Jahrzehnts ein dominierender Pol gewesen war, und andererseits von der Entwicklung der IKP (Programm) zur größten Organisation des proletarischen Milieus.


Die politische Degeneration der bordigistischen IKP

Wenn die IKP (Programm) zur entwickeltsten Organisation des politischen Milieus wurde, dann nicht nur aufgrund ihrer internationalen Präsenz in einer Reihe von Ländern (Italien, Frankreich, Schweiz, Spanien mit Veröffentlichungen auf Französisch, Englisch, Spanisch, Arabisch, Deutsch), sondern auch aufgrund ihrer politischen Positionen, die in einer Zeit des Rückgangs im Klassenkampf nicht nur bei jenen auf offene Ohren stießen, die vom Zerfall des Linksextremismus produziert wurden, sondern auch innerhalb des schon bestehenden proletarischen Milieus. Die Unfähigkeit des "Rätekommunismus", dem Rückzug des Klassenkampfes zu trotzen, war eine konkrete Demonstration des Bankrotts, in den man stürzt, wenn man die Notwendigkeit für eine politische Partei der Arbeiterklasse ablehnt. Das Beharren der IKP auf die Notwendigkeit der Partei ist völlig korrekt. Doch sie hatte eine gänzlich karikaturhafte, "substitutionistische" Auffassung, derzufolge die Partei alles und die Klasse gar nichts war. Dieses Konzept wurde in den dunkelsten Jahren der Konterrevolution nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebrütet, als die ausgeblutete Arbeiterklasse so verblendet wie nie zuvor war; es war faktisch die Theoretisierung der Schwäche des Proletariats. Die Partei wurde als das Allheilmittel für all die Schwierigkeiten des Klassenkampfes dargestellt. In einer Zeit, in der sich der Kampf auf dem Rückzug befand, spiegelte das wachsende Echo, auf die die IKP-Position in der Parteifrage stieß, die Zweifel an der Arbeiterklasse wider. Diese Zweifel an den revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse sollten im wachsenden opportunistischen Abgleiten der IKP einen unübersehbaren Ausdruck finden. Da die Arbeiter der entwickelten Länder angeblich von den Dividenden des Imperialismus profitierten, die ihnen als Prämie für ihre Passivität ausgezahlt würden, erblickte die IKP eine Weiterentwicklung des revolutionären Potentials lediglich in der Peripherie des Kapitalismus, in den sog. "nationalen Befreiungskämpfen". Diese nationalistischen Neigungen verleiteten die IKP dazu, den Terror der Roten Khmer in Kambodscha, die nationalistischen Kämpfe in Angola und die "palästinensische Revolution" (zusammen mit der PLO) zu unterstützen, während in Frankreich zum Beispiel die Priorität, die die IKP den Kämpfen der "Gastarbeiter" einräumte, dazu tendierte, das Gewicht der nationalistischen Illusionen zu verstärken. Die falschen Konzeptionen des Bordigismus zur Frage der Partei, zur nationalen Frage, aber auch zur Gewerkschaftsfrage öffneten der Penetration durch die herrschende Ideologie Tür und Tor, der die IKP gerade verfällt. Die Weiterentwicklung des Bordigismus zum politischen Hauptpol innerhalb des proletarischen Milieus war der Ausdruck und die Theoretisierung des zurückweichenden Klassenkampfes. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, daß die IKP (Programm), die lieber den bürgerlichen Linksextremisten die Tür öffnet, statt mit dem revolutionären kommunistischen Milieu zu diskutieren, den Preis für diese Haltung zu zahlen hatte, nämlich mit einer beschleunigten politischen Degeneration, mit einer Aufgabe der Prinzipien selbst, die bei ihrer Entstehung noch Pate gestanden hatten.


Die Debatten innerhalb des proletarischen Milieus zu Beginn der 80er Jahre

Wenn die IKP (Programm) ihre Positionen bis zur Karikatur vorantrieb, so waren die abwegigen Ansichten, die ihnen zugrundelagen und die von den Streitfragen in der Dritten Internationalen stammten, auch in den allgemeinen Konzeptionen anderer Gruppen vorhanden (auch wenn sie nicht dasselbe Ausmaß an Abwegigkeit erreichten). Das trifft insbesondere auf jene zu, die, wie die IKP Bordigas, ihren Ursprung in unterschiedlichem Maße in dem PARTITO COMUNISTA INTERNAZIONALISTA haben, der hauptsächlich in Italien nach dem Zweiten imperialistischen Weltkrieg gegründet wurde: z.B. der PCInt (Battaglia), der der Fortsetzer mit den klarsten revolutionären Prinzipien ist; der PCI (Il Partito), der sich von KOMMUNISTISCHES PROGRAMM 1973 loslöste, oder der NCI.
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Debatten auf den Konferenzen sich um die gleichen grundlegenden Fragen drehten - die Partei, die Gewerkschaften, die nationale Frage -, denn sie waren die Fragen der Stunde, bestimmt von der Weltlage und der eigenen Geschichte des proletarischen Milieus. Auf den Konferenzen stand die NLI (NCI und IL Leninista) den bordigistischen Positionen am nächsten; BATTAGLIA machte Zugeständnisse in der nationalen und Gewerkschaftsfrage gegenüber diesen Konzepten. Hinsichtlich der Parteifrage haben wir gesehen, daß sie als ein Vorwand für die Sabotage der Dynamik der Konferenzen benutzt wurde, während die CWO im Verlaufe der Treffen eine Entwicklung durchschritt, die sie von einer der IKS sehr ähnlichen Plattform zu den Konzeptionen von BATTAGLIA führte.


Die Beschleunigung der Geschichte Anfang der 80er Jahre und der Klärungsprozess innerhalb des politischen Milieus

Nach dem Scheitern der Konferenzen sah sich Anfang der 80er Jahre ein zutiefst gespaltenes proletarisches Milieu mit einer mächtigen Beschleunigung der Geschichte konfrontiert. Diese war gekennzeichnet durch:

  • die internationale Entwicklung von Arbeiterkämpfen, die dem Rückfluß ein Ende setzten, welcher der Welle von Kämpfen nach 1968 gefolgt war, und die im Sommer 1980 ihren Höhepunkt erreichten - im Massenstreik von Polen, seiner brutalen Niederschlagung und damit einem weiteren Rückfluß des internationalen Klassenkampfes;
  • die Zuspitzung der inter-imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Supermächten mit der russischen Intervention in Afghanistan und der intensiven Kriegspropaganda sowie der Beschleunigung des Rüstungswettlaufs;
  • die Vertiefung der Weltwirtschaftskrise; die Rezession in den USA 1982, die schlimmste seit den 30er Jahren, stürzte die ganze Weltwirtschaft in die Rezession.

Einigen Leuten mögen die Lehren der Geschichte entgangen sein, doch vor der Geschichte selbst gibt es kein Entkommen. Es kam zwangsläufig zu einem politischen Klärvorgang innerhalb des proletarischen Milieus; die historische Erfahrung fällte ihr Urteil.
Die Welle von Kämpfen, die Ende der 70er Jahre ausbrachen, warf konkret die Notwendigkeit für die Intervention der Revolutionäre auf.
Der Kampf der Stahlarbeiter in Lothringen und im Norden Frankreichs im Jahre 1979, der Streik der Stahlkocher in Großbritannien 1980 und schließlich der Massenstreik in Polen 1980 stießen alle auf einen radikalisierten Gewerkschaftsapparat, auf die Basisgewerkschafter. Die Kämpfe endeten in Sackgassen und Niederlagen; der Sieg Solidarnoscs stand für die Schwächung der Arbeiterklasse, die schließlich die Repression ermöglichte. Der Fehlschlag der internationalen Welle und der brutale Rückfluß, der ihr folgte, stellten das proletarische politische Milieu auf die Probe.
Während das Scheitern der Konferenz das proletarische Milieu um die Möglichkeit brachte, über einen Ort zu verfügen, wo die Konfrontation von politischen Positionen fortgesetzt werden konnte, drückte sich der Klärungsprozeß nicht in einer Dynamik in Richtung Umgruppierung aus. Im Gegenteil, mit der Beschleunigung der Geschichte fand die politische Selektion in einem Vakuum statt, durch das Ausbluten militanter Energien, die im Debakel von Organisationen gefangen sind, welche unfähig sind, auf die Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu antworten. Das proletarische politische Milieu war in eine Krisenphase eingetreten (10).


Die Frage der Intervention:
Die Unterschätzung der Rolle der Revolutionäre und des Klassenkampfes

Angesichts der Notwendigkeit zu intervenieren reagierte das proletarische Milieu auf zersplitterte Weise und legte dabei eine tiefe Unterschätzung der Rolle der Revolutionäre an den Tag. Die Interventionen der IKS in den Arbeiterkämpfen, insbesondere bei den Ereignissen in Denain und Longwy in Frankreich, gerieten in den Mittelpunkt der Kritik des gesamten proletarischen Milieus(11), hatten aber zumindest das Verdienst, daß sie überhaupt stattfanden. Abgesehen von der IKS glänzte das politische Milieu vor allem durch seine Abwesenheit in den Arbeiterkämpfen: die IKP (Programm) z.B., d.h. die größte Organisation, die sich in der vorausgegangenen Phase durch ihren Aktivismus hervorgetan hatte, konnte den Klassenkampf vor ihren Augen nicht erkennen. Hypnotisiert von ihren Träumen über Kämpfen von der sog. Dritten Welt, setzte sie ihr Abgleiten in das Gewerkschaftstum fort.
Die schwache Intervention des politischen Milieus brachte seine tiefgreifende Unterschätzung des Klassenkampfes zum Ausdruck, seine Unerfahrenheit und sein mangelndes Verständnis des Klassenkampfes. Besonders in der Gewerkschaftsfrage wurde dies deutlich, nicht nur durch die politischen Zugeständnisse gegenüber dem Gewerkschaftstum, die in unterschiedlichem Maße von den Gruppen  ausgedrückt wurden, die aus der PCInt von 1945 hervorgegangen waren, sondern auch durch die Neigung, die Bedeutung und den positiven Charakter der Kämpfe, die im Gange waren, zu ignorieren, schlicht und einfach weil sie nicht dem Gewerkschaftsgefängnis oder dem "ökonomischen" Terrain entkommen seien. So stimmten paradoxerweise die rätekommunistischen und jene aus der IKP seit 1945 hervorgegangenen Tendenzen in ihrer Leugnung der Bedeutung der Arbeiterkämpfe wegen der noch vorhandenen gewerkschaftlichen Kontrolle überein. KOMMUNISTISCHES PROGRAMM, BATTAGLIA COMUNISTA und viele andere Gruppen, wie beispielsweise der FOR, leugneten weiterhin die Entwicklung der Klassenkämpfe seit 1968 und behaupteten, daß die Konterrevolution noch immer herrsche. Die CWO stach dabei besonders hervor, als sie während der Kämpfe in Polen zum Aufstand aufrief (Revolution Now); diese bedenkliche, einmalige Überschätzung spiegelte nur das gleiche Unverständnis wider, das das politische Milieu außerhalb der IKS unglücklicherweise  dominierte.


Die Explosion der IKP (Programm)

Die Niederlage in Polen und das internationale Zurückweichen des Klassenkampfes richteten, zusammen mit dem Einbruch der Rezession 1982, großen Schaden in einem Milieu an, das seine historischen Aufgaben nicht verstanden hatte. Am meisten erfaßt von der Krise des politischen Milieus wurden zunächst all jene Gruppen, die von Anfang an die Dynamik der Konferenzen abgelehnt hatten. SPARTAKUSBOND aus Holland und die PIC in Frankreich (sowie ihr Nachfolger mit dem ungeeigneten Namen KOMMUNISTISCHER WILLE) wurden durch diese Beschleunigung der Geschichte wie Strohhalme hinweggefegt, was nur geringe Folgen hatte. Die Explosion der IKP (Programm) 1982 dagegen sollte die Landschaft des politischen Milieus verändern. Die monolithische bordigistische Partei, die "wichtigste" Organisation des Milieus, zahlte den Preis für lange Jahre der politischen Verknöcherung und Degeneration sowie für die sektiererische Isolation, die diesen Prozeß noch beschleunigt hatte. Sie brach unter dem Druck der nationalistischen Elemente um EL OUMANI auseinander; es gab einen brutalen Aderlaß ihrer militanten Kräfte, die in Desorientierung und Demoralisierung versanken. Die IKP ging aus dieser Krise nahezu völlig entkräftet hervor; das Zentrum war zusammengebrochen. Die internationalen Kontakte waren verloren gegangen; was von den Sektionen in der Peripherie geblieben war, war isoliert voneinander. Die IKP war nur noch ein Schatten jener Organisation, die sie einst im proletarischen Milieu gewesen war. Der Untergang der IKP (Programm) markierte den endgültigen Zusammenbruch des Bordigismus als vorherrschenden politischen Pol im proletarischen Milieu.


Die Auswirkungen der Krise auf die anderen Gruppen des proletarischen Milieus

Die Krise des politischen Milieus, deren deutlichster Beweis das Auseinanderbrechen der IKP (Programm) war, reichte viel weiter und erfaßte auch Gruppen, die in unterschiedlichen Maßen an der Dynamik der Konferenzen mitgewirkt hatten.
Die schwächsten Gruppen, jene, die aus unmittelbaren Umständen hevorgegangen waren, ohne echte politische Traition oder Identität, verschwanden mit dem Ende der Konferenzen: ARBETAMAKT in Schweden, L'EVEIL INTERNATIONALISTE in Frankreich, die MARXIST WORKERS' GROUP in den USA usw. Andere, stabilere, weil stärker in einer politischen Traditionen verwurzelte Gruppen, die jedoch während der Konferenzen nicht nur wegen ihrer politischen Positionen, sondern auch, wie der FOR und die GCI,  wegen ihres sektiererischen, unverantwortlichen Verhaltens ihre Schwächen offenbart hatten, erlebten mit der Beschleunigung der Geschichte eine wachsende politische Degeneration:

  • der NLI in Italien schlug den gleichen Weg wie KOMMUNISTISCHES PROGRAMM ein, indem er wiederholt seine Prinzipien in der nationalen und gewerkschaftlichen Frage über Bord warf und immer offener mit dem bürgerlichen Linksextremismus flirtete;
  • was die GCI anging, so näherten sich ihre konfusen, vom Bordigismus angeregten Positionen in der Frage der Klassengewalt der anarchistischen Bewegung an, was weniger paradox war, als es auf dem ersten Blick erscheint;
  • der FOR wurde mit seiner irren Realitätsverweigerung der Wirtschaftskrise dazu verleitet, immer surrealistischere Positionen zu übernehmen, wo die radikale Phrase jegliche Kohärenz ersetzte.

Auch die IKS blieb von den Auswirkungen der Krise des proletarischen Milieus nicht verschont. Das Engagement der IKS in Interventionen führte zu ergiebigen und wichtigen Debatten in ihren Reihen, aber gleichzeitig ermöglichte es der Mangel an organisatorischer Erfahrung, der noch schwer auf der gegenwärtigen Generation von Revolutionären lastet, einem dubiosen Abenteurer namens Chenier, durch heimliche Winkelzüge die Spannungen zu kristallisieren und zum Diebstahl von Organistionsmaterial innerhalb der Organisation anzustacheln. Die wenigen Elemente, die Chenier in seinem Abenteuer folgten, veröffentlichten L'OUVRIER INTERNATIONALISTE, die ihre erste Auflage nicht überlebte. Gleichzeitig stellte sich die COMMUNIST BULLETIN GROUP, die in derselben dubiosen Dynamik durch Elemente entstand, die die Sektion der IKS in Großbritannien verlassen hatten, außerhalb des proletarischen Milieus, indem sie das kriminelle Verhalten Cheniers billigte.


Die opportunistische Gründung des IBRP

Die Gründung des Internationalen Büros für die Revolutinäre Partei (11) 1983, das die CWO aus Großbritannien und die IKP (Battaglia) aus Italien umfaßte, schien vor dem Hintergrund der Krise des proletarischen Milieus eine positive Reaktion zu sein. Während diese Umgruppierung die politische Landschaft auf organisatorischer Ebene klärte, trifft dies jedoch auf der politischen Ebene nicht zu. Diese Umgruppierung ereignete sich in der Dynamik des Scheiterns der Konferenzen, und sie fand zwischen jenen beiden Gruppen statt, die hauptverantwortlich für das Scheitern waren. Sie stand in direkter Kontinuität mit dem Opportunismus und Sektierertums, den diese beide Organisationen auf der dritten Konferenz und später zur Schau stellten.
Um einen echten politischen Beitrag zu leisten, ist es unabdingbar, daß die Dynamik zur Umgruppierung mit politischer Klarheit vor sich geht. Doch dies war bei der "Umgruppierung", aus der das IBRP resultierte, sicherlich nicht der Fall. Die CWO hatte sich von ihrer ursprünglichen Plattform entfernt, die jener der IKS sehr nahekam (was die CWO nicht daran hinderte, sich 1974 jeglicher Umgruppierung mit WORLD REVOLUTION, der späteren Sektion der IKS in Großbritannien,   zu verweigern, mit der Begründung, daß es nach 1921, nach Kronstadt kein proletarisches Leben in der bolschewistischen Partei und in den KPs mehr gegeben habe, ein sektiererischer Vorwand, der später schnell vergessen war), doch die Debatten, die zu diesem Wandel führten, blieben ein Geheimnis für das gesamte politische Milieu. Erst zwei Jahre nach der berühmten vierten Konferenz wurden die Diskussionen veröffentlicht, jedoch brachten auch sie keine wirkliche Klarheit über die politische Entwicklung der beiden Gruppen. Die Plattform des IBRP beinhaltete die gleichen Konfusionen und Zweideutigkeiten, die BC auf den Konferenzen zur Gewerkschaftsfrage, über die nationale Frage, die Möglichkeit des revolutionären Parlamentarismus und natürlich über die Parteifrage und den historischen Kurs an den Tag gelegt hat.
Aber vor allem spiegelte die Gründung des IBRP eine falsche Konzeption der Umgruppierung der Revolutionäre wider. Das IBRP ist ein Kartell bestehender Organisationen und nicht eine neue Organisation, die aus einer Umgruppierung hervorgegangen ist, in der die Kräfte sich um eine gemeinsame Plattform zusammenschließen. In ihm behält jede zugehörige Organisation ihre eigenen Besonderheiten bei. Neben der Plattform des IBRP behält jede Organisation ihre eigene Plattform bei, ohne dabei die bedeutenden Unterschiede zu erklären, die weiterhin bestehen können. Dies ermöglicht, die falsche Homogenität des IBRP zu ermessen, den Opportunismus, der bei seiner Gründung Pate stand.
Die Bildung des IBRP war daher nicht der Vorbote des Endes der Krise des Milieus, deren Verwüstungen sich noch immer bemerkbar machten, oder einer neuen Dynamik zu einer Klärung der revolutionären Kräfte. Sie war nur der Ausdruck einer Neugruppierung der Kräfte des politischen Milieus, die in opportunistischen Konfusion und sektiererischer Isolation stattfand.
1983 hatte sich mit seiner Krise das Gesicht des proletarischen Milieus verändert. Die bordigistische IKP war mehr oder weniger verschwunden; die IKS war die größte Organisation, der vorherrschende politische Pol innerhalb des kommunistischen Milieus und in dem Maße, wie die Geschichte ihr Urteil gefällt hat, ein Pol der Klarheit in den Debatten geworden, die das Milieu anregten. Die IKS ist eine  zentralisierte Organisation auf internationaler Ebene, mit Sektionen in zehn Ländern, die in sieben Sprachen ihre Publikationen herausgibt. Doch auch wenn die IKS zum Hauptpol der Umgruppierung geworden war, heißt das natürlich noch lange nicht, daß sie allein auf der Welt existierte. Trotz der Konfusionen, die bei seiner Gründung bestanden, bildete das IBRP im Vergleich zu den politischen Versäumnissen der anderen Gruppen, die das proletarische Milieu formten, den anderen Pol der Referenz und einer relativen politischen Klarheit in der kommunistischen Bewegung und in ihren Debatten.
Wie wir sehen können, waren die Gruppen, die am besten der Krise des proletarischen Milieus widerstanden haben, jene, die am ernsthaftesten an den internationalen Konferenzen mitgewirkt hatten. Diese Tatsache allein ermöglicht uns, den positiven Beitrag zu ermessen, den sie leisteten, und im Rückblick das Ausmaß des politischen Irrtums abzuschätzen, der sie aus der Bahn warf - ein Irrtum, für den BATTAGLIA und die CWO eine große Verantwortung tragen.
Mitte 1983, nach der kurzen, aber tiefgehenden Phase des Rückflusses des Klassenkampfes nach der Niederlage in Polen, begannen sich die ersten Anzeichen für ein Wiedererstarken des Klassenkampfes bemerkbar zu machen. Wir haben gesehen, wie Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre die Frage der Intervention der Revolutionäre ein echter Lackmus-Test für das proletarische Milieu war - die Kernfrage, die die Geschichte erneut den Revolutionären stellt.
JJ. (aus International Review 54, 3/1988)

(1) Siehe die auf Französisch, Englisch und Italienisch erhältliche Broschüre "Die Kommunistische Linke Italiens".
(2) Siehe die Artikel in IR, Nr. 11-16-17-21-25-2836-37-38-45 usw.
(3) Siehe IR, Nr. 10 und verschiedene KonferenzBroschüren.
(4) zur CWO siehe IR, Nr. 12-17-39.
(5) zu Battaglia Comunista siehe IR, Nr. 13-33-34-36.
(6) Zur IKP (Programm) siehe International Review Nr. 14-23-32-33.
(7) Siehe IR (deutsche Ausgabe) Nr. 4, 5.
(8) Zur Interventionsdebatte siehe IR, Nr. 20-24.
(9) Siehe Broschüren zur 2. Konferenz.
(10) Zur Krise im revolutionären Milieu siehe IR, Nr. 8, englische Ausgabe Nr. 28-32
(11) Zur Bildung des IBRP siehe Nr. 40-41

Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir10/1988_ppm [1]

pm

Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen

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Der immer apokalyptischere Charakter des gesellschaftlichen Lebens auf der ganzen Erde ist weder eine natürliche Fatalität noch das Ergebnis irgendeiner sog. "menschlichen Torheit". Auch ist er kein Kennzeichen, das den Kapitalismus seit seiner Entstehung geprägt hat. Er ist ein Ausdruck der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die, nachdem sie vom 16. Jahrhundert bis Beginn des 20. Jahrhunderts ein mächtiger Faktor in der ökonomischen und politischen Entwicklung war, zu einer immer stärker wirkenden Fessel für ihre weitere Entwicklung geworden ist - gefangen in ihren eigenen Widersprüchen .
Durch diese Polemik mit einer Gruppe namens GCI (1), die behauptet marxistisch zu sein, aber vehement die Idee einer "Dekadenz" ablehnt, wollen wir die Grundlagen der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus und ihrer brisanten Aktualität Mitte der 80er Jahre unterstreichen, wo das Weltproletariat einmal mehr sein Haupt erhoben hat und entscheidende Schlachten für seine Emanzipation führt.
Warum stellt sich die Menschheit die Frage, ob sie dabei ist, sich in einer wachsenden Barbarei selbst zu zerstören, wo sie doch einen Entwicklungsgrad der Produktivkräfte erreicht hat, der es ihr ermöglichen würde, eine Welt ohne materiellen Mangel aufzubauen, eine vereinigte Gesellschaft, die ihr Leben zum ersten Mal in der Geschichte nach ihren Bedürfnissen, ihrem Bewußtsein, ihren Wünschen  ausrichten könnte?
 Bildet also das Proletariat, die Weltarbeiterklasse, die revolutionäre Kraft, die die Menschheit aus der Sackgasse herausführen kann, in die der Kapitalismus sie getrieben hat? Und warum können die Kampfformen des Proletariats in unserer Epoche nicht mehr die des vergangenen Jahrhunderts sein (gewerkschaftlicher und parlamentarischer Kampf, Kampf um Reformen usw.)?  Es ist unmöglich, sich in der gegenwärtigen historischen Situation zu orientieren und noch weniger eine Vorreiterolle zu spielen sowie eine Orientierung für die Arbeiterkämpfe zu geben, wenn man nicht eine globale, kohärente Auffassung hat, die es ermöglicht, auf diese elementaren wie entscheidenden Fragen zu antworten.
Der Marxismus - der historische Materialismus - ist die einzige Weltanschauung, die dies ermöglicht. Seine klare und einfache Antwort kann mit den folgenden Worten zusammengefaßt werden: genauso wie die anderen vorhergehenden Produktionsweisen  (primitiver Kommunismus, orientalischer Despotismus, Sklavengesellschaft, Feudalismus) ist auch der Kapitalismus kein ewig währendes System.
Die Entstehung des Kapitalismus und seine spätere Beherrschung der Welt waren das Ergebnis einer umfangreichen Evolution der Menschheit und der Weiterentwicklung der Produktivkräfte: die Tretmühle entsprach der Sklavengesellschaft, die Wassermühle dem Feudalismus, die Dampfmaschine dem Kapitalismus, schrieb Marx. Aber nachdem sie einmal einen bestimmten Entwicklungsgrad überwunden haben, sind die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Seitdem ist die Menschheit in diesen überkommenen Produktionsverhältnissen gefangen, die alle Lebensbereiche in eine wachsende Barbarei stürzen. Das Aufeinanderfolgen von Krisen, Weltkriegen, Wiederaufbau, Krisen während der letzten 80 Jahre ist der klarste Ausdruck dafür. Dies ist die Dekadenz des Kapitalismus. Von nun an besteht der einzige Ausweg in einer vollständigen Zerstörung dieser Gesellschaftsverhältnisse durch eine Revolution, deren Führung nur das Proletariat übernehmen kann, denn es ist die einzige Klasse, die dem Kapital antagonistisch gegenübersteht. Er besteht in einer Revolution, die zu einer kommunistischen Gesellschaft führen kann, weil der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte die materiellen Möglichkeiten für solch ein Unterfangen geschaffen hat.
Solange der Kapitalismus eine historisch fortschrittliche Rolle in der Entwicklung der Produktivkräfte spielte, konnten die Arbeiterkämpfe nicht in einer siegreichen weltweiten Revolution münden, doch konnten sie mit Hilfe der Gewerkschaften und des Parlamentarismus reale Reformen und dauerhafte Verbesserungen der Existenzbedingungen der ausgebeuteten Klasse erwirken. Von dem Punkt an, wo der Kapitalismus in seine dekadente Phase eintrat, wurde die kommunistische Revolution zu einer Notwendigkeit und Möglichkeit, und dies wiederum änderte völlig die Kampfformen des Proletariats, selbst auf der Ebene des Kampfes um die unmittelbaren  Forderungen (Massenstreik).
Seit den Tagen der Kommunistischen Internationalen, die, gegründet auf dem Gipfel der internationalen revolutionären Welle, dem Ersten Weltkrieg ein Ende machte, ist diese Analyse, der Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase, zu einem gemeinsamen Erbgut der kommunistischen Strömungen geworden, denen es dank dieses "historischen Kompasses" gelungen war, kompromißlos auf einem kohärenten Klassenterrain zu verbleiben. Die IKS hat diese Erbgut lediglich wieder aufgegriffen und weiterentwickelt, wie es auch von den Strömungen der deutschen, italienischen (BILAN) kommunistischen Linken in den 30er Jahren, dann von der Kommunistischen Linken Frankreichs (INTERNATIONALISME) in den 40er Jahren überliefert und bereichert worden war (2).
Heute, wo sich unter dem Druck einer beispiellosen Wirtschaftskrise seit mehr als fünfzehn Jahren die Manifestationen der Dekadenz beschleunigen und die Klassenantagonismen zuspitzen und das Weltproletariat in die Spur des Kampfes zurückgefunden hat,  dabei mit tausend Widrigkeiten und mit tausend Waffen der herrschenden Klasse konfrontiert, und dies mit einer internationalen Simultaneität, wie sie noch nie da gewesen ist - heute ist es ausschlaggebend, daß revolutionäre Organisationen ihren Aufgaben gewachsen sind.
Weil wir auf entscheidenden Kämpfe zusteuern, ist es heute unverzichtbarer denn je, daß sich die Arbeiterklasse ihre eigene Weltanschauung wiederaneignet, so wie sie im Laufe von zwei Jahrhunderten von Arbeiterkämpfen und theoretischer Arbeit durch ihre politischen Organisationen ausgearbeitet wurde.
Mehr als je zuvor ist es für das Proletariat unerläßlich zu begreifen, daß die gegenwärtige Zunahme der Barbarei, die ununterbrochene Verschärfung seiner Ausbeutung nicht "natürlich" vorbedingt sind, sondern die Konsequenzen aus der kapitalistischen Ökonomie und der gesellschaftlichen Gesetze,  die weiterhin die Welt regieren, obgleich sie seit Anfang dieses Jahrhunderts historisch obsolet geworden sind.
Mehr denn je muß die Arbeiterklasse verstehen, daß die Kampfformen, die sie im 19. Jahrhundert gelernt hatte (Kampf um Reformen, Unterstützung für die Schaffung von großen Nationalstaaten - die Akkumulationspole des sich entwickelnden Kapitalismus ) und die eine Relevanz hatten, als sich die Bourgeoisie historisch noch entwickelte und die Existenz eines organisierten Proletariats innerhalb der Gesellschaft dulden konnte, im dekadenten Kapitalismus nur in die Sackgasse führen können.
Mehr denn je ist es entscheidend, daß die Arbeiterklasse begreift, daß die kommunistische Revolution - deren Träger sie ist - kein versponnener Traum, keine Utopie ist, sondern eine Notwendigkeit und Möglichkeit, deren wissenschaftliche Grundlagen im Verständnis der Dekadenz der herrschenden Produktionsweise liegen, eine Dekadenz, die sich vor unseren Augen verschärft.
"Es gibt keine revolutionäre Praxis  ohne revolutionäre Theorie", sagte Lenin. Diese Aussage muß heute umso mehr bekräftigt werden, da die herrschende Klasse sich nicht mehr ideologisch durch die Erarbeitung von neuen Theorien mit einem Mindestmaß an Stimmigkeit verteidigt, sondern durch eine Art "Nihilismus" des Bewußtseins, der Ablehnung jeder Theorie als "ideologischen Fanatismus". Sich schadlos haltend am gerechtfertigten Mißtrauen der Ausgebeuteten gegenüber den Theorien der "Linken", die, von der Sozialdemokratie bis zum Stalinismus, jahrzehntelang als Instrumente der Konterrevolution benutzt worden waren, unfähig, irgendeine Zukunft in einer zerfallenden gesellschaftlichen Realitat anzubieten, hat die herrschende Klasse nichts anderes anzubieten als eine Vogel-Strauß-Politik: kein Nachdenken, Resignation, Fatalismus.
Als die Bourgeoisie eine historisch revolutionäre Klasse gewesen war, brachte sie Männer wie Hegel hervor, die so entscheidende Türen aufstießen für das Verständnis der Evolution der Menschheit; als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Macht stabilisierte, entwickelte sie sich zurück zu den positivistischen Auffassungen eines Auguste Comtes. Heute bringt sie nicht einmal mehr Philosophen hervor, die mit irgendeinem  Geschichtsverständnis aufwarten könnten. Die herrschende Ideologie ist das Nichts, die Verneinung von Bewußtsein.
Doch so wie diese Verneinung des Bewußtseins ein Ausdruck der Dekadenz ist, die wiederum zu einem Instrument zur Verteidigung der herrschenden Klasse wird, so ist für Revolutionäre ein Bewußtsein ihres historischen Daseins ein entscheidendes Instrument für ihren Kampf.

   

DIE "ANTI-DEKADENTISTEN"

Diese Tendenz zum Nihilismus des Bewußtseins manifestiert sich auch bei proletarischen politischen Gruppen, oft paradoxerweise bei den Gruppen mit einem theoretischen Anspruch.
So veröffentlichte die GCI Ende 1985 in der Nummer 23 ihres Organs LE COMMUNISTE einen Artikel, dessen Inhalt perfekt vom zweiten Teil seines Titels illustriert wird: "Theorien der Dekadenz, Dekadenz der Theorie". Dieser Text, in einer hochtrabenden Sprache und in einem "marxistischen" Duktus geschrieben, Marx und Engels drauflos zitierend, behauptet zu zerstören, was er die "dekadentistischen Theorien" nennt. Deren Vertreter ordnet er ein auf der "Seite all dieser reaktionären Schakale, die von den Zeugen Jehovas über die euro-zentristischen Neo-Nazis und den Anhängern der Moon-Sekte bis hin zu den 'neuen Philosophen'  den Ruf der 'Dekadenz des Westens' ausstießen!" Aber sonst geht's noch?
Diesem Text gelingt das Kunststück, auf fünfzehn Seiten die Hauptmißverständnisse zu komprimieren, die man in der Geschichte der Arbeiterbewegung hinsichtlich der historischen Evolution des Kapitalismus und der objektiven Grundlagen für die Herausbildung einer kommunistischen Gesellschaft finden kann. Das Ergebnis ist ein ebenso spitzfindiger wie unausgegorener Mischmasch, der all die Themen miteinander vermanscht, die Marx so erbittert bekämpft hatte - jene des utopischen Sozialismus, des Anarchismus ... und neuerdings die bordigistische Theorie aus den 50er Jahren über die "Invarianz des Marxismus und der kontinuierlichen Entwicklung des Kapitalismus seit 1848"!
Unsere Absicht hier ist es, die Hauptirrtümer dieses Dokuments zu enthüllen, nicht so sehr wegen  der GCI für sich genommen, deren immer tieferes Absacken in die Inkohärenz wenig Aufmerksamkeit verdient, sondern weil ihre Verteidigung  einiger Klassenpositionen, ihre radikale Sprache und ihre theoretischen Ambitionen Illusionen unter den neuen Elementen, die eine theoretische Kohärenz suchen, verbreiten können - u.a. unter jenen, die aus dem Anarchismus kommen.(3)
Dies wird es uns ermöglichen, einige grundlegende Elemente in der marxistischen Analyse der Evolution von Gesellschaften nochmals zu bekräftigen und so aufzuzeigen, was es mit der Dekadenz des Kapitalismus auf sich hat.

 
GIBT ES EINE HISTORISCHE ENTWICKLUNG? GIBT ES EINE AUFSTEIGENDE PHASE DES KAPITALISMUS?

Die GCI ist nicht bescheiden. Im Stile Dührings, der behauptete, die Wissenschaft umzuwälzen, wälzt die GCI den Marxismus um. Sie will marxistisch sein, vorausgesetzt sie kann all jene in das Lager der "reaktionären Schakale" absondern, die seit der II. Internationalen den Marxismus bereichert haben, indem sie die Ursachen und die Entwicklung der Dekadenz des Kapitalismus untersuchten... und, wie wir sehen werden, indem sie das Werk von Marx selbst ignorieren oder vollkommen zu ändern.
Die große Entdeckung der GCI, die die Bolschewisten, die Spartakisten, die deutsche Linke in der KAPD, die italienische Linke um BILAN - die alle die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus ausgearbeitet und geteilt haben - auf eine Stufe mit den Anhängern der Moon-Sekte stellt - die große Wahrheit der GCI läuft darauf hinaus: es gibt keine Dekadenz des Kapitalismus, weil es nie eine aufsteigende, "fortschrittliche" Phase des Kapitalismus gab. Es gibt keine Barbarei der Dekadenz, weil der Kapitalismus immer schon barbarisch war.
Da muß man erst drauf kommen! Und was ist mit den vor-marxistischen Sozialisten und ihren anarchistischen Nachfahren, die nie verstanden hatten, warum man seine Zeit damit verschwenden soll, über die Gesetze der historischen Entwicklung nachzudenken, da es ausreichte, zu "rebellieren", und der Kommunismus immer auf der Tagesordnung der Geschichte stand: waren es nicht diese Strömungen, die genau dasselbe gegen den Marxismus einwendeten?
Aber knüpfen wir uns die Hauptargumente der GCI etwas näher vor:
"Fast alle Gruppen, die heute behaupten, eine kommunistische Perspektive zu vertreten, klammern sich an der dekadentistischen Vision nicht nur der kapitalistischen Produktionsweise, sondern aller Klassengesellschaften (Wertzyklus), und dies dank zahlloser 'Theorien', die von der 'Sättigung der Märkte' bis zum 'Imperialismus als höchster Stufe des Kapitalismus' reichen, vom 'dritten Zeitalter des Kapitalismus' zur 'realen Vorherrschaft', vom 'Stillstand in der Entwicklung der Produktivkräfte' bis zum 'tendenziellen Fall der Profitrate'... Worauf es uns hier zunächst ankommt, ist der gemeinsame Inhalt all dieser Theorien: die moralisierende und zivilisatorische Vision, die sie beinhalten" ("Theorie der Dekadenz: Dekadenz der Theorien", Le Communiste, Nr. 23, S. 7, Nov. 1985).
Inwiefern drückt die Feststellung, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte wurden, eine "moralisierende und zivilisatorische Auffassung" aus? Weil dies beinhaltet, daß es eine Zeit gab, als dies nicht der Fall war und diese Verhältnisse einen Fortschritt darstellten, einen Schritt vorwärts in der Menschheitsgeschichte. Mit anderen Worten: weil es eine "aufsteigende" Phase des Kapitalismus gegeben habe. Nur war für die GCI dieser "Fortschritt" eine bloße Verstärkung der Ausbeutung:
"... man muß sehen, wie der Gewaltmarsch des Fortschritts und der Zivilisation stets mehr Ausbeutung, die Produktion von Mehrarbeit (und für den Kapitalismus ausschließlich die Umwandlung dieser Mehrarbeit in Mehrwert) in Wirklichkeit die Verstärkung der Barbarei durch die immer totalitärere Herrschaft des Wertes bedeutet hat" (ebenda; die GCI verwendet hier den Begriff "Barbarei", ohne zu wissen, worum es sich handelt; wir kommen später darauf zurück). Daß der Kapitalismus seit seiner Entstehung immer ein Ausbeutungssystem gewesen ist - das höchst entwickelte und unbarmherzigste - ist weder falsch noch neu, doch es dabei zu belassen hieße, sich der idealistischen Sichtweise - der "moralischen" im eigentlichen Sinne des Wortes - anzuschließen, derzufolge nur jene Dinge, die die "soziale Gerechtigkeit" unmittelbar voranbringen, als historischer Fortschritt zählen. Dies erklärt sicherlich nicht, warum die Behauptung, daß das Auftauchen dieser Ausbeutungsweise einen historischen Fortschritt markiert, eine "moralisierende und zivilisatorische Auffassung" ist. Die GCI erklärt:
"Die Bourgeoisie stellte (...) alle vorherigen Produktionsformen als 'barbarisch' und 'primitiv' dar, die mit dem Voranschreiten der historischen Evolution immer 'zivilisierter' werden. Die kapitalistische Produktionsweise ist selbstredend die endgültige und höchste Verkörperung von Zivilisation und Fortschritt. Die evolutionäre Auffassung entspricht also durchaus dem 'gesellschaftlichen Wesen des Kapitalismus'; und es kommt nicht von ungefähr, daß diese Sichtweise auf alle Wissenschaften angewendet wird (d.h. auf all die Teilinterpretationen der Realität vom bürgerlichen Standpunkt aus): Naturwissenschaften (Darwin), Demographie (Malthus), logische Geschichte, Philosophie (Hegel)..." (ebenda)
Am Anfang ihres Textes hatte die GCI in Großbuchstaben den ambitiösen Untertitel: "Erster Beitrag: die Methodologie" gestellt. Der Happen, den wir gerade zitiert haben, ist ein Vorgeschmack darauf, was uns auf diesem Gebiet noch angeboten wird.
"Die Bourgeoisie", stellt die GCI fest, "stellt die kapitalistische Produktionsweise als das finale Ergebnis der Zivilisation und des Fortschritts dar". Daraus schließt sie, "daß die evolutionäre Sichtweise dem gesellschaftlichen Wesen des Kapitalismus entspricht".
Das übertrifft selbst die dümmste Plattheit. Mit solch einer "Methodologie" könnte man sich ebenso fragen, ob die "fixistische" Theorie ("nichts Neues unter der Sonne") nicht dem "gesellschaftlichen Wesen des Proletariats" entspricht. Die Bourgeoisie behauptete, daß die Welt sich bewegt und die Geschichte sich entwicklt. Die GCI leitet daraus ab, daß dies allein deshalb falsch sei, weil die Bourgeoisie es sagt: die Welt bewegt sich also nicht. So abwegig dies auch erscheint, aber genau dazu führt diese "Methode" der GCI, wie wir später in Hinblick auf ihre Vision der "Invarianz" noch sehen werden.
Der Marxismus lehnt natürlich die Vorstellung ab, daß der Kapitalismus das Endergebnis der menschlichen Entwicklung darstellt. Aber er lehnt nicht die Idee ab, daß die Menschheitsgeschichte einer Entwicklung gefolgt ist, die rational erklärt werden kann und deren Gesetze nur entdeckt werden müssen. Zu ihrer Zeit erkannten Marx und Engels das wissenschaftliche Verdienst von Darwin an und erhoben Anspruch auf den rationalen Kern der Hegelianischen Dialektik (Malthus, den die GCI zitiert, hat hier nichts zu suchen). Sie waren in der Lage, hinter diesen Bemühungen, eine Evolution, eine dynamische Vision der Geschichte zu definieren, den Ausdruck des bürgerlichen Kampfes zur Verteidigung ihrer Macht gegen die feudale Reaktion zu sehen, mit all ihren Fortschritten und Beschränktheiten, die damit verbunden sind. . So spricht Engels im Anti-Dühring über Darwin: "Hier ist vor allen Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten Entwicklungsprozesses ist." (MEW Bd. 19, S. 205)
Und über Hegel: "Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selber..." (Anti-Dühring, I. Allgemeines, S. 23, MEW 20)
Was der Marxismus an Hegels Sichtweise ablehnt, ist dessen immer noch vorherrschender idealistischer  Charakter (die Darstellung der Geschichte als nichts anderes als die Verwirklichung der Geschichte selbst), seine bürgerlichen Beschränkungen (der kapitalistische Staat als Inkarnation der Vernunft), aber selbstverständlich nicht den Gedanken, daß es eine historische Entwicklung gibt, die notwendige Etappen durchläuft. Im Gegenteil, Marx steht das Verdienst zu, den roten Faden in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften entdeckt und auf dieser Grundlage die Notwendigkeit sowie die Möglichkeit des Kommunismus gegründet zu haben:
"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen (...) in großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." (Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie)

 
STAND DER KOMMUNISMUS SCHON IMMER AUF DER TAGESORDNUNG DER GESCHICHTE ?

In ihrem "anti-dekadentistischen" Delirium meint die GCI, daß jene, die heute die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus vertreten, nur vom Niedergang des Kapitalismus in unserer Epoche  reden, um "pro-kapitalistisch" zu sein... ein Jahrhundert zuvor! "Die Dekadentisten sind also für die Sklaverei bis zu einem bestimmten Datum, pro-feudal bis zum nächsten... pro-kapitalistisch bis 1914! Sie sind aufgrund ihrer Fortschrittsverehrung also jedesmal gegen den Klassenkrieg, den die Ausgebeuteten dem Willen der kommunistischen Bewegung zum Trotz führen und der unglücklicherweise in der 'falschen' Periode ausbricht." (GCI, ebenda, S. 19)
Trotz ihres großspurigen, radikalen Gestus tut die GCI nichts anderes, als die idealistische Auffassung wiederzubeleben, nach der der Kommunismus jederzeit möglich sei.
Wir wollen hier nicht auf die Frage der Besonderheiten des Arbeiterkampfes in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus eingehen, sondern darauf, warum das KOMMUNISTISCHE MANIFEST sagt: "Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also nicht  ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger." (Bourgeois und Proletarier, MEW 4, S. 470) Warum und wie nahmen die Arbeiterkämpfe der folgenden Phase das Ziel der Durchsetzung von Reformen und die "immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter" in Angriff? Warum waren Gewerkschaften, Massenparteien und Sozialdemokratie Ende des 19. Jahrhunderts proletarische Instrumente...? All diesen Kampfformen, die die GCI nicht verstehen kann und ein Jahrhundert später als bürgerlich ablehnt, werden wir uns in einem späteren Artikel widmen, der sich mit der Frage des proletarischen Charakters der Sozialdemokratie befaßt.
Für den Moment ist es wichtiger, die marxistische Geschichtsauffassung und die Bedingungen der kommunistischen Revolution zu verstehen.
Marx und die Marxisten haben sich nie darauf beschränkt zu sagen, der Kapitalismus sei ein Ausbeutungssystem, das zerstört werden müsse und nie hätte bestehen dürfen, da der Kommunismus zu jedem Zeitpunkt möglich sei. Genau in dieser Frage vollzog der Marxismus einen Bruch mit dem "utopischen" oder "sentimentalen" Sozialismus; genau in dieser Frage vollzog der Marxismus auch den Bruch mit dem Anarchismus. Sie war zudem das Thema der Debatte zwischen Marx und Weitling 1846, die in der Konstituierung der ersten marxistischen politischen Organisation mündete: der Bund der Kommunisten. Aus Weitlings Sicht hieß es: "Die Menschheit ist notwendig immer reif oder sie wird es nie." (zitiert bei B. Nicolaevsky, K. Marx, Eine Biographie, S. 115)
Das gleiche Problem war auch der Grund für die Divergenzen zwischen Marx/Engels und der Willich-Schapper-Tendenz innerhalb des Bundes der Kommunisten. Wie Marx formulierte: "An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution."
Was die GCI ablehnt, ist das Konzept des historischen Materialismus, des wissenschaftlichen Sozialismus. So setzte sich Engels im Anti-Dühring mit einem grundlegenden Aspekt der Bedingungen des Kommunismus auseinander:
"Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der frühern geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag lieferte, der das zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich die Gesellschaft notwendig in Klassen (...) Aber wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat, so hat sie eine solche doch nur für einen gegebnen Zeitraum, für gegebne gesellschaftliche Bedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegt werden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte." (Anti-Dühring, II. Theoretisches, S. 262, MEW Bd. 20)
In diesem Sinn sprach Marx von den "Wundern" der Bourgeoisie und dem "großen zivilisatorischen Einfluß des Kapitals". "Erst hat sie (die Bourgeoisie) bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke  vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge." (Marx & Engels, Kommunistische Manifest, MEW Bd.4, S. 465)
"Hence the great civilising influence of capital (etwa: daher der große zivilisatorische Einfluß des Kapitals); seine Produktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie (etwa: Naturverehrung) erscheinen. Die Natur wird erst rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zuwerden..." (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, "Das Kapitel vom Kapital", Zweiter Abschnitt: "Der Zirkulationsprozeß des Kapitals)
Wenn die GCI konsequent wäre, wenn sie sich um ein Mindestmaß an theoretischer Kohärenz bemühen würde, würde sie nicht zögern, nicht nur die Kommunistische Linke, Trotzki, Lenin, Luxemburg und die gesamte II. Internationale in den bürgerlichen Mülleimer zu werfen, sondern auch die alten Marx und Engels, dafür daß sie leidenschaftliche Vertreter dessen waren, was die GCI "evolutionistische" und "zivilisatorische" Konzepte nannte.
Dann vielleicht könnte die Gruppe RAIA, die ihre eigene Vertiefung der "Marx-Bakunin-Frage" unternommen hat, plausibel machen, daß das, was sie vertritt, nichts anderes ist als die alte, fade Leier des Utopismus und Anarchismus, garniert -aus welchen Gründen auch immer - mit marxistischem Wortgeklingel.

 

DIE DEKADENZ DES KAPITALISMUS - "EINE ZEIT DER GESELLSCHAFTLICHEN REVOLUTION"

An welchem Punkt wurde die kommunistische Revolution zu einer historischen Möglichkeit? Marx antwortete:
"Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein." (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort)
Der Marxismus nennt keinen Tag, keine Stunde, ab der die kommunistische Revolution objektiv möglich wird. Er legt die allgemeinen Bedingungen - auf der Ebene des Gerüstes der Gesellschaft, die Wirtschaft - fest, die eine "Periode" charakterisieren, eine historische Ära, in welcher der Kapitalismus auf eine qualitativ andere Weise mit seinen eigenen Widersprüchen zusammenstößt und sich in eine Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte umwandelt.
Die Manifestationen dieser neuen historischen Lage treten hauptsächlich auf wirtschaftlicher Ebene auf (Wirtschaftskrisen, Verlangsamung des Wachstums der Produktivkräfte), aber auch in anderen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens, die letztendlich durch das Wirtschaftsleben der Gesellschaft beeinflußt werden. Marx spricht von "den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten" (Vorwort).
Marx und Engels glaubten mehrfach im Verlaufe der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, daß der Kapitalismus diesen Punkt erreicht hatte, besonders während der großen zyklischen Wirtschaftskrisen, die damals das System erschütterten. Aber sie erkannten jedesmal, daß dies nicht der Fall war. So schrieb Marx 1850 nach der Überwindung der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise von 1848:
"Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig erst entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution überhaupt keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten (...) Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis, sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." (Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, S. 98)     
Tatsächlich waren die Krisen des Kapitalismus noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts Wachstumskrisen, die schnell vom System überwunden wurden. Erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden auffällige und unmißverständliche Symptome ersichtlich, die darauf hindeuteten, daß die Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus eine qualitativ neue Stufe erreicht hatte.
Die revolutionären Marxisten, die Linke der II. Internationalen - dieselben, die jahrelang die revisionistischen Strömungen Bernsteins bekämpft hatten, der die Theorie aufgestellt hatte, daß der Kapitalismus keine Krisen mehr erleben würde und daß man  schrittweise und friedlich zum Sozialismus gelangen könnte - erkannten sofort das Auftreten einer neuen historischen Lage: den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase.
Der Ausbruch der Russischen Revolution und - in ihrem Kielwasser - die Welle internationaler, revolutionärer Kämpfe bestätigten unmißverständlich die marxistische Perspektive.
Auf diese Analyse berufen wir uns heute: eine Analyse, die die vergangenen 70 Jahre, welche von zwei Weltkriegen, zwei Wiederaufbauphasen und zwei großen Weltwirtschaftskrisen (1929-1939 und 1967 bis heute) gekennzeichnet waren - 70 Jahre einer beispiellosen Barbarei auf dem ganzen Planeten -, in Gänze bestätigt haben.

 

EINE SINNLOSE KRITIK

Bei ihrer Ablehnung dieser Analyse schreibt die GCI den "Dekadentisten" eine absurde Idee zu, die sie sich schlicht selbst ausgedacht hat und die sie dann ausführlich kritisiert.
Laut GCI wird in der Analyse der Dekadenz behauptet, daß das System während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus keine Widersprüche gehabt habe; diese Widersprüche tauchten erst in der dekadenten Phase auf. Und sie antwortet: "Es gibt somit  keine zwei Phasen: eine, in welcher der Klassenwiderspruch (mit anderen Worten der Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen) nicht existiert -  eine fortschrittliche Phase, in der die 'neue' Produktionsweise  ihre zivilisatorischen Wohltaten ohne Antagonismen entwickelt (...) und eine Phase, in der sie nach der 'fortschrittlichen' Entwicklung ihrer Wohltaten veraltet und zu verfallen beginnt und erst an diesem Punkt das Aufkommen eines Klassenantagonismus beinhaltet."
Dies schrieben wir in unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus über diese Frage:
"Marx und Engels hatten den genialen Scharfsinn, in den Wachstumskrisen des Kapitalismus all das Wesentliche dieser Krisen herauszuarbeiten, und sie kündigten somit den zukünftigen Generationen die Grundlagen der tiefgreifenden Zerrüttung der Gesellschaft an. Sie waren zu dieser Einsicht in der Lage, weil eine Gesellschaftsform von Anfang an die Keime all der Widersprüche in sich trägt, die sie in ihren Tod treiben werden. Aber solange diese Widersprüche sich nicht soweit entwickelt haben, daß sie auf ständige Weise ihr Wachstum hemmen, stellen sie selbst die Antriebskraft dieses Wachstums dar." (Die Dekadenz des Kapitalismus, Broschüre der IKS, deutsche Ausgabe, S. 25)
Die GCI weiß nicht, wovon sie redet.

 

DIE  "INVARIANZ"

Nachdem sie mit der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus all die konsequenten marxistischen Strömungen der letzten 50 Jahre über Bord geworfen hat und aus Furcht davor, als anarchistisch betrachtet zu werden, sucht die GCI in den Theorien Bordigas aus den 50er Jahren nach einer "marxistischen" Rechtfertigung für ihr libertäres Geschwafel: es handelt sich um die Theorie der "Invarianz (Unveränderbarkeit) des kommunistischen Programmes seit 1848".
Das Paradoxon ist nur scheinbar eines. Der Anarchismus, der die historische Entwicklung im allgemeinen außer Acht läßt, kann sich mit der bordigistischen Auffassung anfreunden, die unter dem Vorwand der "Invarianz" alle grundlegenden Änderungen ignoriert, die die Evolution des Kapitalismus seit seinen Ursprüngen kennzeichnen.
Doch auch wenn die Theorie Bordigas noch so abwegig ist, so hat sie zumindest das Verdienst, eine gewisse Kohärenz mit den politischen Positionen aufzuweisen, die sie vertritt: der Bordigismus geht davon aus, daß die Kampfformen des 19. Jahrhunderts, wie der gewerkschaftliche Kampf oder die Unterstützung neuer Staatsgründungen, auch in unserer Epoche noch gültig seien. Für die GCI dagegen, die diese Kampfformen ablehnt, wird die Theorie zur Quelle der Inkohärenz. Sie ist gezwungen, die Sozialdemokratie des 19. Jahrhundert dem Lager der Bourgeoisie zuzuordnen und erfindet einen anti-gewerkschaftlichen, anti-parlamentarischen, anti-demokratischen Marx; ein bißchen wie der Stalinismus, der die Geschichte der Russischen Revolution in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen seiner unmittelbaren Politik neu erfand.
Aber schauen wir uns Bordigas Kritik an der Theorie der Dekadenz und der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus etwas näher an, hinter der die GCI ihre anarchistische Rückentwicklung zu verbergen sucht. Bordiga, den die GCI im fraglichen Artikel zitiert, schrieb:
"Die Theorie der aufsteigenden Kurve vergleicht die historische Entwicklung mit einer Sinuskurve: jede Herrschaft, auch die bürgerliche Herrschaft z.B. fängt mit einer aufsteigenden Phase an, erreicht einen Höhepunkt, steigt danach ab bis zu einem Tiefpunkt, von dem an eine neue, andere Herrschaft ihren Aufstieg einleitet. Dies ist die Auffassung des gradualistischen Reformismus, keine Erschütterungen, kein Sprung. Die marxistische Auffassung dagegen kennt (zum Zweck der Klarheit und Genauigkeit) viele aufsteigende, ihren Höhepunkt erreichende  Kurven, denen ein gewalttätiger, fast vertikaler Sturz folgt, und an dessen Ende angelangt, eine neue gesellschaftliche Herrschaft entsteht. Es setzt eine andere, historisch aufsteigende Kurve ein (...) Die geläufige Behauptung, daß der Kapitalismus in seiner niedergehende Kurve sei und nicht mehr aufsteigen könne, enthält zwei Fehler: der eine ist der Fatalismus, der andere der Gradualismus..." (Treffen in Rom, 1951). An anderer Stelle schrieb Bordiga: "Aus Marxens Sicht wächst der Kapitalismus unaufhaltsam über alle Grenzen hinaus..." ("Dialog mit den Toten")
Bevor wir auf die fantasierenden Beschuldigungen des "Gradualismus" und des "Fatalismus" zu sprechen  kommen, wollen wir kurz die Auffassung Bordigas der Wirklichkeit gegenüberstellen.
Zunächst eine wichtige Bemerkung: Bordiga spricht von der auf- oder absteigenden "Kurve" eines Regimes. Eines muß klar sein: wenn Marxisten über eine "aufsteigende" oder "dekadente" Phase sprechen, dann geht es ihnen nicht schlicht um eine statistische Erhebung, um die Produktion als solche zu messen. Wenn man die Entwicklung der Produktion als ein Element ins Auge fassen will, um zu bestimmen, ob eine Produktionsweise in ihrer dekadenten Phase ist oder nicht, - d.h. um festzustellen, ob die Produktionsverhältnisse eine Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte geworden sind oder nicht -, muß man zunächst wissen, um welche Produktion es geht: die Produktion von Waffen oder anderer unproduktiver Güter und Dienstleistungen sind kein Beweis für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, sondern im Gegenteil für ihre Zerstörung. Des weiteren ist nicht das Niveau der Produktion als solches bedeutsam, sondern ihr Entwicklungsrhythmus, und dieser auch nicht absolut gesehen, sondern selbstverständlich im Verhältnis zu den materiellen Möglichkeiten, die von der Gesellschaft erreicht wurden.
Nach dieser Präzisierung sehen wir, daß hinter der Behauptung Bordigas, "die "marxistische Auffassung" (als deren "invarianter" Verteidiger er sich ausgibt) "kennt (...) viele aufsteigende, ihren Höhepunkt erreichende Kurven, denen ein gewalttätiger, fast vertikaler Sturz folgt", zwei falsche Aussagen stecken.
Es ist unwahr zu behaupten, daß dies eine marxistische Auffassung ist. Marx drückte sich sehr klar über das Ende des Feudalismus und die Geburt des Kapitalismus aus, und zwar in einem Text, der hinlänglich bekannt ist:  das Kommunistische Manifest:
"Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt." ("Bourgeois und Proletarier")
Es handelte sich hier allerdings um eine ganz andere Situation als jene, die das Ende des Kapitalismus begleitet, da der Kommunismus nicht innerhalb der alten Gesellschaft errichtet werden kann. Aber im Falle des Feudalismus wie auch des Kapitalismus stellt sich die Frage des Sturzes  der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse, wenn letztere zu einer "Fessel" geworden sind, wenn sie die wirtschaftliche Weiterentwicklung zurückhalten statt weiterbringen.
Ebenso falsch ist es zu behaupten, daß die Geschichte sich entwickelt hat, indem sie dem Schema einer Serie von stetig-wachsenden Kurven folgte. Insbesondere in dem Fall, der uns hier am meisten interessiert - der Kapitalismus.
Man muß entweder mit Blindheit geschlagen oder durch die Propaganda  der dekadenten  Bourgeoisie geblendet sein, um nicht den Unterschied zwischen dem Kapitalismus seit dem Ersten Weltkrieg und dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu erkennen und dann zu behaupten, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse im 20. Jahrhundert nicht eine größere Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte sind, als sie es im 19. Jahrhundert waren.
Wirtschaftskrisen, Kriege, das Gewicht der unproduktiven Ausgaben - all das gab es sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert, doch der Unterschied zwischen beiden Epochen ist quantitativ so groß, daß er zu einer neuen Qualität wird. (Die GCI, die das Wort "dialektisch" überall in ihrem Text benutzt, muß zumindest von der Umwandlung von Quantität in Qualität gehört haben).
Die hemmenden Auswirkungen auf die Entwicklung der Produktivkräfte, hervorgerufen durch die Zerstörungen und die Verschwendung der materiellen und menschlichen Ressourcen in den beiden Weltkriegen, unterscheiden sich qualitativ davon, was zum Beispiel im Krimkrieg (1853-56) oder im deutsch-französischen Krieg (1870-1871) stattfand. Was die Wirtschaftskrisen anbetrifft, sind die zyklischen Krisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum mit jenen von 1929-39 und 1967-87 vergleichbar, weder in ihrer geographischen Ausbreitung noch in ihrer Dauer (siehe dazu den Artikel in Internationale Revue Nr. 8: "Der Kampf des Proletariats im dekadenten Kapitalismus", wo diese Frage gesondert behandelt wird). Was das Gewicht der unproduktiven Kosten und ihrer sterilisierenden Wirkung auf die Produktion angeht, so liegt auch hier ein qualitativer Unterschied im Vergleich zum 19. Jahrhundert vor:

  • die  permanente Rüstungsproduktion, die wissenschaftliche Forschung für militärische Zwecke, der Unterhalt von Armeen (1985 sprachen offizielle Regierungszahlen von weltweit mehr als 1,5 Mio. Dollar Rüstungsausgaben pro Minute!);
  • die unproduktiven Dienstleistungen (Banken, Versicherungen, die meisten staatlichen Verwaltungen, Werbebranche usw.).

Die GCI zitiert einige Zahlen zum Produktionswachstum des 19. und 20. Jahrhunderts, die angeblich das Gegenteil beweisen. Wir können hier nicht in die Einzelheiten gehen (siehe dazu  unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus"). Einige kurze Bemerkungen müssen allerdings gemacht werden.
Die Zahlen der GCI vergleichen die Produktion zwischen 1950 und 1972 mit dem Zeitraum von 1870 und 1914. Das ist eine ziemlich krude Irreführung. Man muß nur vergleichen, was man vergleichen kann, damit das Argument in sich zusammenfällt. Wenn man statt der oben genannten Zeiträume, die den Zeitraum zwischen 1914 und 1949 (zwei Weltkriege und die Krise der 30er Jahre) aus der Dekadenzphase ausklammern, die Periode zwischen 1840 und 1914 mit 1914-1983 vergleicht, schmilzt der Unterschied dahin... Und außerdem bestand die Produktion im 19. Jahrhundert hauptsächlich in der Produktion von Produktionsmitteln  und Konsumgütern, während sie im 20. Jahrhundert einen stetig wachsenden Anteil von Zerstörungsmitteln oder anderen unproduktiven Elementen umfaßt (heute gibt es eine Anhäufung von Zerstörungskraft, die vier Tonnen Dynamit pro Mensch entspricht, und in der "Buchführung" des Staates  wird von einem Bürokraten ausgegangen, der das Äquivalent seines Gehalts produziert). Schließlich und vor allem wird der Vergleich zwischen der tatsächlich realisierten Produktion und dem, was in Anbetracht des technischen Entwicklungsstands in dieser Zeit hätte produziert werden können, völlig außer Acht gelassen.
Aber abgesehen von den Unwahrheiten, die in der Behauptung enthalten sind, daß "der Kapitalismus Marx zufolge  unaufhörlich, über alle Grenzen hinaus wächst", wendet sich die Auffassung Bordigas von den marxistischen, materialistischen Grundlagen der Möglichkeit der Revolution ab.
Wenn der "Kapitalismus unaufhörlich, über alle Grenzen hinauswächst", warum sollten sich dann eines Tages Hunderte von Millionen Menschen dazu entscheiden, in einem Bürgerkrieg ihr Leben zu riskieren, um das eine System durch ein anderes zu ersetzen? Wie Engels sagte:
"Solange eine Produktionsweise sich im aufsteigenden Ast ihrer Entwicklung befindet, solange jubeln ihr sogar diejenigen entgegen, die bei der ihr entsprechenden Verteilungsweise den kürzern ziehn." (Anti-Dühring, Politische Ökonomie, I. Gegenstand und Methode, MEW 20, S. 138)


GRADUALISMUS UND FATALISMUS

Die Theorie des "Gradualismus" behauptet, daß gesellschaftlichen Umwälzungen nur langsam, durch eine Reihe von kleineren Änderungen zustandekommen: "Keine Erschütterungen, keine Sprünge", wie Bordiga sagt. Die Analyse der Dekadenz besagt, daß sie sich durch die Eröffnung einer "Ära von Kriegen und Revolutionen" (Manifest der Kommunistischen Internationale) äußert. Sofern man nicht Kriege und Revolutionen als schmerzlos, als sanften Wechsel darstellt, dreschen Bordiga und die GCI bloß mit Phrasen.
Was die Beschuldigung des "Fatalismus" angeht, so ist diese auch nicht viel ernstzunehmender. (4)
Der Marxismus behauptet nicht, daß die Revolution unausweichlich sei. Er leugnet nicht den Willen als Faktor in der Geschichte, aber er zeigt auf, daß dieser Wille nicht ausreicht, daß er sich in einem materiellen Rahmen verwirklichen muß, der von einer Entwicklung, von einer historischen Dynamik bewirkt wird, welche man berücksichtigen muß, wenn Ersterer seine Wirksamkeit entfalten kann . Die Bedeutung, die der Marxismus dem Verständnis der "wirklichen Bedingungen", den "objektiven Bedingungen" beimisst, ist nicht die Verneinung des Bewußtseins und des Willens, sondern im Gegenteil die einzige konsequente Bestätigung dieser Faktoren. Ein klarer Beweis hierfür ist die Bedeutung, die der kommunistischen Propaganda und Agitation zugeschrieben wird.
Es gibt keine unvermeidliche Entwicklung von Bewußtsein in der Klasse. Die kommunistische Revolution ist die erste Revolution in der Geschichte, in der das Bewußtsein eine wirklich entscheidende Rolle spielt, und sie ist genauso wenig unvermeidlich wie dieses Bewußtsein.
Dagegen folgt die ökonomische Entwicklung objektiven Gesetzen, die, solange die Menschheit unter materiellem Mangel leidet, den Menschen unabhängig von ihrem Willen aufgezwungen werden.
In der Schlacht, die die Linke in der II. Internationalen gegen die revisionistischen Theorien Bernsteins führte, stand die Frage des unvermeidlichen Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft im Mittelpunkt der Debatte, was an der Bedeutung ersichtlich wird, die Rosa Luxemburg dieser Frage in Reform oder Revolution? beimaß, einem Werk, das von der gesamten Linken in Deutschland wie in Rußland (besonders von Lenin) begrüßt wurde.
Die "marxistische", religiöse Orthodoxie Bordigas ignoriert Marx und Engels, die furchtlos schrieben:
"Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eigenen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben." (Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, "Der Zirkulationsprozeß des Kapitals")
".... diese Produktionsweise durch ihre eigne Entwicklung dem Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht." (Anti-Dühring, ebenda)
Der Marxismus behauptet nicht, daß der Triumph der kommunistischen Weltrevolution unvermeidlich ist, sondern daß, wenn das Proletariat sich seiner historischen Aufgabe nicht als ebenbürtig erweist, die Zukunft nicht ein Kapitalismus ist, der "unaufhörlich, über alle Grenzen hinaus wächst", wie Bordiga behauptete, sondern die Barbarei - die reale Barbarei: jene Art, die sich seit 1914 unaufhörlich ausgebreitet hat; die Art, deren Bilder Verdun, Hiroshima, Biafra, den Iran-Irak-Krieg, die letzten zwanzig Jahre eines ununterbrochenen Wachstums in der Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Drohung eines Nuklearkrieges umfaßt, der die menschliche Spezies ausrotten würde.
Sozialismus oder Barbarei: zu begreifen, daß dies die Alternative für die Menschheit ist, heißt, die Dekadenz des Kapitalismus zu begreifen.


R.V.

 

(1) Groupe Communiste Internationaliste: BP 54, BXL 31, 1060 Bruxelles, Belgien,
(2) Die theoretischen Grundlagen der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus sind in der Einleitung der Broschüre der IKS zur "Dekadenz des Kapitalismus" dargelegt.
(3) So haben wir eine kleine Gruppe in Belgien gesehen, die den Bruch mit dem Anarchismus anstrebt und noch die "Marx-Bakunin-Frage zu vertiefen" hat, wie sie sich ausdrückt, die aber aus ihrem Elfenbeinturm der Ignoranz und in ihrem ehrfürchtigen Studium der GCI über die Dekadenztheorie richten will:
"Die Theorie der Dekadenz des Kapitalismus! Aber was zum Teufel will denn diese Theorie aussagen? Kurzum, wir können sie als die wundervollste, fantastischste Geschichte seit dem Alten Testament bezeichnen. Den Propheten der IKS zufolge teilt sich die Lebenslinie des Kapitalismus in zwei unterschiedliche Teile auf. Am schicksalhaften Tag des 4. August 1914 (sic!) (um die genaue Uhrzeit zu erfahren, möge man sich bitte an die Auskunft wenden) hörte das kapitalistische System auf, in seiner 'aufsteigenden Phase' zu sein, und trat in die Phase der furchtbaren, tödlichen Erschütterungen ein, die die IKS mit dem Namen 'Dekadenzphase des Kapitalismus' getauft hat. Offensichtlich haben wir es hier mit einer wahren Psychose zu tun!" (RAIA, Nr. 3, BP 1724, 1000 Bruxelles)
(4) Die GCI scheint nicht den Widerspruch zu bemerken, wenn sie im gleichen Atemzug Bordigas Formulierung aufgreift und behauptet, daß man "den Kommunismus als etwas bereits Geschehenes betrachten" könne!

Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir10/1988_poldekadenz [2]

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/1231

Links
[1] https://de.internationalism.org/ir10/1988_ppm [2] https://de.internationalism.org/ir10/1988_poldekadenz [3] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus