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Weltrevolution Nr. 140

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Anarchismus, Bolschewismus, Arbeiterkontrolle

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In einer aktuellen Diskussion auf der Libcom-Website wurde die Frage nach der Rolle derRolle der bolschewistischen Partei in der Russischen Revolution aufgeworfen. Alle Fraktionen der Kommunistischen Linken, die mit der Komintern gebrochen hatten, werteten die Erfahrungen von einer marxistischen Perspektive aus, um die Lehren für die zukünftigen Kämpfe der Arbeiterklasse und die revolutionäre Partei zu ziehen. Die IKS hat dabei stets versucht, sich auf die klarsten Beiträge der italienischen, deutschen und holländischen Linken zu beziehen (siehe zum Beispiel unsere Broschüre „Die Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Kommunismus"). Der hier veröffentlichte Artikel wurde von einem engen Sympathisanten der IKS verfasst.

Ein häufig auftauchender Kritikpunkt von Anarchisten, sowohl der linksbürgerlichen wie der internationalistischen, ist, dass die Bolschewiki direkt nach der Oktoberrevolution damit begannen, die Organe der Arbeiterkontrolle zu demontieren. Die populärste unter diesen Kritiken präsentiert einen naiven Gegensatz zwischen dem utopischen Bild einer durch die Arbeiter selbst organisierten Ökonomie und der grotesk anmutenden Beherrschung des Staates durch bösartige Bolschewiki, die die Eigenaktivitäten der Arbeiterklasse an sich gerissen hätten.

Vieles an dieser Kritik erscheint oberflächlich wahr zu sein: Tatsächlich begannen die Bolschewiki die Organe der Arbeiter zu demontieren und sie dem zunehmend mächtigeren zentralen Apparat zu unterstellen. Die Frage für Kommunisten ist aber, welche materiellen Spannungen diesen Prozess antrieben - und ob diese Tendenzen völlig negativ waren.

Die ökonomischen und die politischen Strukturen wurden zwischen den beiden Polen des Lokalismus und Zentralismus hin und her gerissen. Zum Beispiel tauchte 1918 ein Moskauer Gebietssowjet der Volkskommissare auf. Dieser lokal gegründete Sowjet kopierte die Funktionen sowohl des Stadtsowjets als auch des nationalen Sowjets und des von ihm gebildeten Rates der Volkskommissare. Dies ging so weit, dass der Moskauer Gebietssowjet ein eigenes außenpolitisches Sekretariat besaß! Ein Rat wie dieser tendierte, im Gegensatz zu der vereinheitlichenden Entwicklung der Sowjets, in hohem Maße zum Lokalismus – indem er faktisch versuchte, einen Moskauer Stadtstaat zu etablieren. Die Organisation der Rätegesellschaft in dieser frühen Phase, die zweifellos auch die revolutionäre Energie des Proletariats ausdrückte, schuf viele Organe, ohne klare Vorstellungen, wie all diese in einen Zusammenhang gebracht werden sollen.

Gleichzeitig waren die Fabrikkomitees zwischen Hammer und Amboss gefangen, zwischen der Leitung von im Wesentlichen kapitalistischen Unternehmen inmitten einer schweren Krise einerseits und der Wut der Arbeiter andererseits. Die russische Wirtschaft, schon längst in ernsthafter Bedrängnis, brach in den sechs Monaten nach der Revolution praktisch zusammen. Die Komitees selbst waren auf Initiative von Arbeitern entstanden, um die Wirtschaftskrise zu bewältigen, die bereits seit dem Februar 1917 um sich gegriffen hatte. Trotz ihrer extremen Machtfülle und ihrem großen Einfluss und obwohl sie wirkliche Ausdrücke der Eigenaktivitäten der Arbeiterklasse darstellten, waren sie niemals etwas anderes als unmittelbare Adhoc-Arrangements zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Ihr eigentliches Fundament, die Aufrechterhaltung der Produktion in den Fabriken, machte sie für die Einflüsse des Lokalismus und den Illusionen der Arbeiterselbstverwaltung anfällig.

Als die Krise sich ausbreitete, konnte selbst den Mindestforderungen der Arbeiterklasse nicht mehr entsprochen werden. Viele Faktoren, nicht zuletzt die der Entscheidung der neuen proletarischen Macht, die militärische Produktion völlig abzuschaffen, führten dazu, dass etliche Fabriken geschlossen werden mussten. In Petrograd, wo die Industrie von der Waffenproduktion dominiert wurde, stieg die Arbeitslosigkeit auf 60 Prozent! Betriebe begannen bewaffnete Wachen aufzustellen, um die Arbeitslosen draußen zu halten. Angesichts des extremen sozialen Drucks begann die Arbeitersolidarität sich aufzulösen. Die Fabriken sandten Beschaffungsteams aus, die Nachschub besorgen sollten und die, häufig genug bewaffnet, des öfteren in Konflikt mit ähnlichen Gruppen aus anderen Fabriken gerieten.

Die politische Macht während der Wirtschaftskrise

Während dieser Periode existierten fünf Machtzentren, die in der Ökonomie aufeinander stießen: die Fabrikkomitees, die kapitalistischen Eigentümer, die Wirtschaftsverwaltungen der Sowjets, die Gewerkschaften und der Staat! Als sich die Krise verschärfte, standen all diese Organe unter extremem Druck. Aufgebrachte Arbeiter wählten Fabrikkomitees, die sie schon in der nächsten Woche wieder abwählten, beschuldigten sie des Machtmissbrauchs und der Unfähigkeit, die Krise zu meistern. In einigen Fabriken wechselten die Komitees nahezu täglich, was einen äußerst zerstörerischen Kreislauf schuf.

Sowohl die Sowjets als auch die Fabrikkomitees forderten zentralisierte Staatsinterventionen, um die Wirtschaft zu koordinieren und das wachsende Chaos zu ordnen. Aber auch die Antwort des von den Bolschewiki kontrollierten Staates war konfus. Tatsächlich waren es die ersten bolschewistischen Dekrete des nationalen Rates der Volkskommissare gewesen, die den Fabrikkomitees direkt die ökonomische Macht übertragen hatten, womit sie allerdings lediglich einen schon bestehenden Zustand nachträglich legalisierten.

Hinter dieser Kulisse des Chaos, in dem niemand mehr die Kontrolle über die allgemeinen ökonomischen Prozesse inne hatte – nicht die Kapitalisten, sicherlich nicht die Arbeiterklasse, nicht einmal die Bolschewiki –, gab es das wachsende Problem von Hungersnöten. Die landwirtschaftliche Produktion war von den Kleinbauern übernommen worden, die kaum bereit waren, die Arbeiter freiwillig mit Lebensmitteln zu versorgen, als diese aufgrund des faktischen Zusammenbruchs der Industrieproduktion nicht mehr in Lage waren, sich Nahrungsmittel leisten zu können. Die Zentralregierung war zudem mit dem fortdauernden Krieg mit Deutschland (der erst im März 1918 durch den Frieden von Brest-Litowsk beendet wurde), mit verschiedenen Anschlagsversuchen, marodierenden Kosakenbanden und einem weit verbreiteten Banditenwesen konfrontiert.

Mitte 1918 war Lenin völlig desillusioniert bezüglich der Kompetenz der Arbeiterklasse (zumindest in Russland), die Wirtschaft zu leiten. Die Partei, die stets als Avantgarde des Proletariats wahrgenommen worden war, wurde nun als radikale Sozialdemokratie verstanden, d.h. als diejenige, die Staat und die Wirtschaft zugunsten der Arbeiterklasse lenkt - bis die Revolution sich über Europa ausbreiten und die erfahreneren Arbeiter des Westens dem russischen Proletariat zu Hilfe eilen würde. Die organisatorischen Strukturen der Partei - die in der Zeit nach der Oktoberrevolution praktisch aufgelöst waren - wurden reorganisiert und eine neue Disziplin eingeführt. Von nun an hatten die Parteidirektiven für die Mitglieder Vorrang, ungeachtet ihrer Posten im Sowjetstaat. Die Partei wurde also zum Mittel der Ausübung administrativer Macht umorganisiert, entgegen der Rolle, die die Partei in der vorrevolutionären Epoche gespielt hatte, als sie die Arbeiterkämpfe mit einer politischen Orientierung versorgte.

Als die klassenbewusstesten Arbeiter zu den verschiedenen Fronten abrückten oder in den Organen des sich entwickelnden Sowjetstaates zu arbeiten begannen, schickten sich Fabrikkomitees und Sowjets an, eine weitaus menschewistischere Färbung anzunehmen. Einzelne Fabrikkomitees forderten die Reetablierung der alten Kommunalbehörden, d.h. die Rückkehr des bürgerlichen und zaristischen Staatsapparates! Andere verabschiedeten Resolutionen zugunsten einer Beendigung des Bürgerkriegs, d.h. für ein Entgegenkommen gegenüber denselben Weißen, die überall, wo sie ihrer habhaft wurden, kommunistische Arbeiter (buchstäblich) kreuzigten. In dieser Periode befürchteten die Bolschewiki vor allem anderen den Zusammenbruch der Revolution, und sie begannen, den Staat zu stärken, um die grundlegenden Errungenschaften der Revolution zu beschützen. Sie waren auch darauf vorbereitet, dies gegen die Opposition der Masse der Arbeiterklasse zu bewerkstelligen, weil sie (mit einiger Berechtigung in dieser Zeit) glaubten, dass die heftigste Opposition von den rückständigsten und degeneriertesten Teilen des Proletariats kommt.

Die Haltung der zeitgenössischen Anarchisten

Die Anarchisten verweisen heute auf diese Praktiken, um den bürgerlichen Charakter der Bolschewiki zu beweisen. In Wirklichkeit aber schwankten die Anarchisten damals selbst zwischen drei Hauptpositionen:

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Offene Unterstützung der Provisorischen Regierung unter Kerenski - sie sahen in der Februarrevolution mit ihrem kleinbürgerlich-demokratischen Charakter das wahre Ziel der Russischen Revolution. Beispielsweise diente Kropotkin als Berater der Kerenski-Regierung, obwohl er alle Posten in ihr ablehnte. Diese Anarchisten waren im Kern Menschewiki.

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Unterstützung der bolschewistischen Revolution - die besten Elemente des Anarchismus schlossen sich zumindest anfangs mit den Bolschewiki zusammen. Viele, wie etwa Victor Serge, blieben für den Rest ihres Lebens loyal zur Revolution und den ursprünglichen Inhalten des Bolschewismus und schlossen sich in ihrer Kritik an der Degeneration der Revolution den besten Elementen des Linkskommunismus an.

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Opposition gegenüber den Bolschewiki auf der Basis eines falschen Radikalismus, der jegliche Art der „Autorität" zurückwies. Diese Anarchisten teilten den Irrtum der damaligen Linkskommunisten bei ihrer Ablehnung des Friedens von Brest-Litowsk. Doch anders als die Kommunistische Linke, die sich dem demokratischen Willen der Sowjets unterordnete, versuchten Anarchisten und linke Sozialrevolutionäre, den Konflikt mittels Agitation an der Front und Attentaten auf prominente Deutsche neu zu entfachen. Dies sollte der Auslöser für den Versuch einer „Dritten" Russischen Revolution sein, um die „bolschewistische Diktatur" abzusetzen. Der Führer der Hauptkraft dieses Aufstandes war faktisch der linke Sozialrevolutionär Popow, der persönlich weit entfernt davon war, den Gebrauch der Staatsmacht zu verschmähen – war er doch damals leitender Funktionär der TSCHEKA!

Diese Schwankungen im anarchistischen Milieu sind auch in ihrer theoretischen Annäherung gegenüber der Oktoberrevolution gewärtig. Ihr Fetisch der Fabrikkomitees verrät ihre „kommunistische" Gesellschaftsvision: eine lockere Föderation genossenschaftlicher und miteinander Handel treibender Betriebe. Eine solche Vorstellung widerspricht aber keineswegs, was Marx als „Zellform des Kapitalismus" bezeichnete - die Warenproduktion. Welche Behauptungen auch immer bezüglich der „Arbeiterkontrolle" aufgestellt werden mögen, die wirklichen Herrscher bleiben immer der Markt, die Anarchie der Produktion und das Wertgesetz. Dies ist nicht die Vision des Proletariats, sondern die der Bauern, Handwerker und des Kleinbürgertums. Während die Kritik des modernen Anarchismus an der Degeneration der Russischen Revolution eine genuine proletarische Opposition zum Stalinismus enthält, gibt es in ihr auch ein starkes Element der bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Ressentiments gegen die Zentralisierung, gegen die Unterordnung der Teile unter dem Ganzen und ihre allgegenwärtige reaktionäre Selbstgefälligkeit.

Lehren für die Zukunft

Der wirkliche Kommunismus kann das Wertgesetz nicht durch die Gründung eines Netzwerks von freien Handel treibenden Genossenschaften überwinden, sondern lediglich durch die rigorose Unterordnung der Produktion unter einen international koordinierten Plan. Dies bedeutet keineswegs die Herrschaft eines Staates, sondern die Mobilisierung der Weltarbeiterklasse nach dem Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen". Diese wirklich proletarische Vision bedarf nicht des Handels, sondern nur der Verteilung, auch nicht der Rivalität zwischen dieser oder jener Fabrikgenossenschaft, sondern der Harmonie und Einheit aller Arbeiter, Betriebe und geographischen Regionen des „Kommune-Staates", indem sie ihre eigenen Bedürfnisse dem Ganzen unterordnen, denn dies ist der einzige Weg, auf dem die Bedürfnisse aller befriedigt werden können.

Dennoch darf dieses Verständnis und das natürliche Bedürfnis, den Bolschewismus gegenüber seinen Verleumdern zu verteidigen, uns nicht blind machen bezüglich seiner sehr realen Unzulänglichkeiten. Das Proletariat hat keine Angst vor der Konfrontation mit seinen vergangenen Misserfolgen. Die Bolschewiki begingen viele schwere Irrtümer beim Versuch der Zentralisierung der Wirtschaft und der Verteidigung der Revolution gegen die Bourgeoisie. Insbesondere waren sie nicht in der Lage zu erkennen, dass ihr zunehmendes Vertrauen in die staatliche Repression die eigentliche Bedrohung schuf, gegen die sie zu kämpfen meinten. Außerdem produziert die Zentralisierung der Wirtschaftsorgane der Gesellschaft nicht aus sich heraus den Sozialismus. Was die Russische Revolution zu einer wirklichen Revolution machte, war nicht die Tatsache, dass Arbeiter in ihrem Bemühen, sich gegen die fortschreitende kapitalistische Krise zur Wehr zu setzen, Komitees gründeten (2). Auch wenn sie ein Ausdruck des Klassenkampfes waren, können diese Organe nicht als endgültige Form der proletarischen Kontrolle über die Gesellschaft angesehen werden. Dies aus dem einfachen Grund, dass – auch wenn sie wichtig sind, um die lokalen Aspekte der Wirtschaftsaktivitäten in den Gang zu bringen – ihr Charakter sie von der Leitung der Wirtschaft für das gemeinsame Wohl der gesamten Gesellschaft ausschließt. Der wirklich revolutionäre Inhalt des Roten Oktober bestand in der Tatsache, dass die Arbeiterklasse sich nicht lediglich als fähig zur Kontrolle über die Fabriken mit dem Ziel ihres eigenen unmittelbaren Überlebens begriff, sondern auch als eine Klasse, die die politische Macht der Bourgeoisie, wie sie durch den kapitalistischen Staat verkörpert wurde, zerstören und schließlich beginnen kann, die Gesellschaft als Ganzes zu leiten. Die Bolschewiki begannen diese Revolution als Ausdruck dieses Prozesses, aber als das Klassenbewusstsein zurückging, begingen sie den Fehler, zu glauben, dass sie selbst die Arbeiterklasse ersetzen können.

  • [1]                Die anarchistische Fixierung auf rein ökonomische Formen offenbart auch die Tendenz, die Notwendigkeit für das Proletariat zu vernachlässigen, die politische Macht zu ergreifen, ehe es auch nur ansatzweise die ökonomische Macht ergreifen kann. Dieser fundamentale Irrtum ihres Ansatzes verleitet den Anarchismus zu der Behauptung, der Erfolg des spanischen Bürgerkrieges liege in den „Kollektiven". Während es zwar wahr ist, dass diese Kollektive die Form der Arbeiterkontrolle annahmen, stellten sie ihrem Inhalt nach jedoch die eigene Ausbeutung im Dienste einer bestimmten Fraktion des kapitalistischen Staates dar.
  • [2]
  •                Das Komitee war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls pro-bolschewistisch. Die Kombination ihrer Unterstützung und ihres großen Einflusses führte dazu, dass Lenin in Betracht zog, die Parole: „Alle Macht den Räten!" in „Alle Macht den Fabrikkomitees!" umzuwandeln.

     

     

     Wie können die Klasse und ihre revolutionären Minderheiten sich auf solche zukünftigen Belastungen vorbereiten? Der erste prinzipielle Punkt - eine Lehre aus den Erfahrungen der Russischen Revolution – ist, dass die Revolution nicht durch das Handeln einer revolutionären Avantgarde gerettet werden kann, die sich, mit oder ohne Macht des Staates in ihren Händen, als Ersatz für die Klasse ansieht. Solche Aktionen dienen nur der Demoralisierung der Klasse, der Trennung von ihren bewusstesten Minderheiten und der Zerstörung des wesentlichen Inhalts einer Revolution – der Selbsttätigkeit der Arbeiter. Kommunisten müssen akzeptieren, dass die Klasse Fehler machen wird und dass oftmals ihre Ansichten innerhalb der Klasse in der Minderheit sein werden. Gelegentlich wird die Arbeiterklasse zögern und die Macht wieder in die Hände der Bourgeoisie zurückgeben, der sie sie gerade abgenommen hatte. Kommunisten können auf diese Zögerlichkeit nur so antworten, wie es die Bolschewiki taten, als sie sich den von den Menschewiki dominierten Sowjets in den ersten Etappen der Revolution gegenübersahen: durch beharrliche, aber energische Agitation. Konfrontiert mit der unvermeidlichen Konfusion des Lokalismus, müssen Kommunisten der Methode von Marx folgen und die Interessen des Proletariats als Ganzes propagieren. DG, 16/11/06

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    Politische Strömungen und Verweise: 

    • Internationalistischer Anarchismus [1]

    Geschichte der Arbeiterbewegung: 

    • 1917 - Russische Revolution [2]

    Den Kapitalismus überwinden, bevor er den Planeten zerstört

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    Am 18. Januar 2007 tobte der Organ Kyrill in Westeuropa, mit extrem verheerenden Auswirkungen in Deutschland, besonders in NRW. Nach ersten Schätzungen geht man von Schäden von mehr als einer Milliarde Euro aus. Zum ersten Mal musste die Deutsche Bahn ihren Verkehr bundesweit einstellen. Viele Menschen saßen in Bahnhöfen oder auf der Strecke fest, die blockiert waren durch unzählige Bäume, die auf Oberleitungen und die Gleise gefallen waren und jeden Zugverkehr unmöglich machten. Viele Menschen waren stundenlang ohne Strom.

    Dieser Orkan hinterließ seine Verwüstungen in einem der höchst entwickelten Industriestaaten der Welt. Kaum auszudenken, wie verheerend das Ausmaß der Zerstörungen in einem weniger entwickelten Land gewesen wäre. Jetzt schon lässt dieser Orkan erahnen, welche weiteren Umweltschäden, welches Chaos diese Klimakatastrophe noch bringen wird.

    Die Ursachen der Klimakatastrophe

    Auch wenn einige den Zusammenhang zwischen Klimakatastrophe, der Zunahme von Orkanen und deren Ausmaß und der Umweltverschmutzung bezweifeln oder gar leugnen, steht für die meisten Wissenschaftler dieser Zusammenhang fest. Deshalb sind wir in Diskussionsveranstaltungen der IKS in zahlreichen Städten zu diesem Thema zunächst auf die Frage eingegangen, welche Ursachen für die Umweltzerstörung verantwortlich gemacht werden müssen.

    Profitproduktion oder Produktion für die Bedürfnisse des Menschen

    Der Kapitalismus produziert nicht für die Bedürfnisse der Menschen, sondern für Profit, für Tauschwert. Nicht der Gebrauchswert, d.h. nicht der Nutzen einer Ware für die menschlichen Bedürfnisse motiviert den Kapitalisten, sondern er produziert einfach alles, was sich verkaufen lässt.

    Während in den früheren Produktionsweisen Produkte hergestellt wurden, die dem Gebrauch dienten, sei es dem Konsum der Ausgebeuteten oder dem Prunk der Herrschenden, wird im Kapitalismus ausschließlich für Profit produziert.

    Nutzen, Art, Zusammensetzung, Entstehung, Verwertung, Entsorgung der produzierten Waren sind dem Kapitalisten schnuppe – Hauptsache, damit lässt sich Geld machen.

    Dieser Mechanismus führt dazu, dass im Kapitalismus Waren hergestellt werden, die oft - wenn überhaupt - nur einen geringen Gebrauchswert haben.

    Ist der Nutzen eines Produktes oft schon verschwindend gering, nimmt die Herstellung bei vielen Produkten absurde Züge an.

    Es werden Produkte hin- und hertransportiert, nicht weil deren Beschaffenheit oder Veredelung dies verlangen würde, sondern weil die Herstellung bzw. Verarbeitung an verschiedenen Standorten für den einzelnen Kapitalisten kostengünstiger ist.

    Zwei Beispiele: Milch wird von Deutschland über die Alpen nach Italien transportiert, um dort zu Joghurt verarbeitet zu werden, bevor dieser wieder nach Deutschland über die Alpen zurückbefördert wird, um erst dann verkauft zu werden. Der Grund: einzig weil die Lohnkosten für den einzelnen Unternehmer an den beteiligten Orten günstiger sind, als das Ausgangsprodukt an einem Ort zu verarbeiten. Das andere Beispiel: Jeder PKW wird heute aus einzelnen Bestandteilen zusammengebaut, die zuvor durch halb Europa gekarrt werden, bevor der Wagen schließlich in einem Werk vom Band läuft. Bevor eine Ware zum Verkauf bereitsteht, haben ihre Bestandteile in verschiedenster Form schon unzählige Kilometer zurückgelegt.

    So sind unglaublich umfangreiche Güterbewegungen entstanden, die bei einer vernünftigen Produktionsform, die sich nicht nach den Profitinteressen eines einzelnen Unternehmers richtet, sondern nach den Bedürfnissen der Menschen und den Erfordernissen der Natur, nicht anfallen würden.

    Weil ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen auf den Verkehr zurückzuführen ist, lassen sich diese Emissionen auch gar nicht vermeiden, solange die Unternehmer ihre Güter hin und herkarren, nur weil in dem einen Ort billiger produziert werden kann als woanders.

    Ein Großteil des PKW-Verkehrs selbst aber ist ein Ergebnis eines unkontrollierten Prozesses, wo aufgrund der Konzentration der immer weniger werdenden Arbeitsplätze in einigen Gebieten auf dem Erdball jeden Tag Hunderte von Millionen Menschen zwischen Arbeitsplatz und Wohnort pendeln – viele legen dabei wahre Marathonstrecken zurück, oft stundenlang, mit entsprechendem CO2-Ausstoß.

    Solange diese Kette von Widersprüchen nicht durchbrochen ist, doktert man nur an den Symptomen herum.

    Konkurrenz und Anarchie bringen der Menschheit und der Natur den Tod

    Ein weiteres Prinzip im Kapitalismus ist, dass jeder Kapitalist für sich produziert. Er steht in meist mörderischer Konkurrenz zu anderen Produzierenden. Weil somit jeder der Rivale des anderen ist, kann es keine Absprachen, keine Planung, kein gemeinsames Vorgehen geben, sondern nur ein Sich-Durchsetzen des einen auf Kosten des anderen. Leidtragender ist die Natur und damit letztendlich der Mensch. Das hat zur Folge, dass bei der Erstellung eines Produktes nicht danach gefragt wird, ob der Aufbau einer Fabrik im Einklang steht mit den Gegebenheiten der Natur oder ob z.B. der Anbau eines landwirtschaftlichen Erzeugnisses gesamtwirtschaftlich sinnvoll ist.

    Die Folge: Unternehmer können Fabriken inmitten unberührter Flecken errichten, weil sich dort leicht Rohstoffe fördern lassen oder weil dort mit billigen Löhnen produziert werden kann. Bauern bestellen die Felder mit Pflanzen, die ohne künstliche Bewässerung, ohne Unmengen von Pestiziden, Fungiziden usw. nicht gedeihen können, während sie an anderen Orten auf der Erde ohne all diese Hilfsmittel bzw. mit einem viel geringeren Aufwand gedeihen könnten. Mittlerweile entstehen in der Landwirtschaft ein Drittel der Ernteerzeugnisse mit künstlicher Bewässerung. Resultat: zwei Drittel des weltweit vorhandenen Süßwassers wird von der Landwirtschaft zur künstlichen Bewässerung benötigt.

    Die Folgen des Raubbaus an der Natur sind bekannt: Überdüngung, Entzug des Grundwassers, Versalzung der Böden. So ist infolge der künstlichen Bewässerung weltweit ca. ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch Versalzung bedroht.

    Welche Erklärung gibt es somit für die Tatsache, dass mehr als 150 Jahre Kapitalismus eine ökologische Trümmerlandschaft hinterlassen haben, dass die jeweiligen Konkurrenten – vom einzelnen Unternehmer bis hin zu den Staaten – nicht miteinander, sondern gegeneinander arbeiten? „In dem Ganzen, das sich über Ozeane und Weltteile schlingt, macht sich kein Plan, kein Bewusstsein, keine Regelung geltend; nur blindes Walten unbekannter, ungebändigter Kräfte treibt mit dem Wirtschaftsschicksal der Menschen sein launisches Spiel. Ein übermächtiger Herrscher regiert freilich auch heute die arbeitende Menschheit: das Kapital. Aber seine Regierungsform ist nicht Despotie, sondern Anarchie. Erkennen und bekennen, dass Anarchie das Lebenselement der Kapitalsherrschaft ist, heißt in gleichem Atem das Todesurteil sprechen, heißt sagen, dass ihrer Existenz nur eine Gnadenfrist gewährt ist" (Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, Gesammelte Werke, Ökonomische Schriften, Bd. 5, S. 578).

    Der Kapitalismus kann sich die Frage nicht stellen, was wo wie am vernünftigsten produziert wird. Solange es keine Planung, keine Abstimmung über eine ökologisch vernünftige, auf Nachhaltigkeit abzielende Produktion gibt, müssen die Mechanismen der kapitalistischen Produktion uns weiter erdrücken. Solange die Produktion nicht nach diesen Kriterien organisiert wird, wird die Klimakatastrophe weiter zunehmen, werden Müllberge, Deponien, Kloaken weiter anwachsen.

    Welche Schritte sind erforderlich?

    In Anbetracht der überall in der Natur und in allen Bereichen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu spürenden Auswirkungen der Umweltzerstörung kam in unserer öffentlichen Diskussionsveranstaltung in Köln die Frage auf, ob nicht eigentlich ein staatenübergreifendes, weltweit abgestimmtes Vorgehen erforderlich wäre, um weiteren Schaden von der Menschheit und dem Erdball abzuwenden.

    Auch wenn sich einige Verantwortliche in Regierung und Wirtschaft der Gefahr immer bewusster werden, ist der Kapitalismus unfähig, irgendeine Art Weltregierung zu bilden. Denn die Konkurrenz, die nationalstaatlichen Interessensgegensätze, der sich daraus ergebende Kampf des Jeder-gegen-Jeden verhindern ein weltweites und auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Vorgehen. Das jüngste Beispiel, das Kyoto-Protokoll, das eine (verschwindend geringe) Reduzierung vorsieht, belegt die Unfähigkeit, der Herrschenden, überhaupt an einem Strang zu ziehen. Dabei haben sowohl die größte Industriemacht der Welt – die USA – und das Land mit den seit Jahren beeindruckendsten Wachstumszahlen – China – dieses Protokoll nicht einmal unterzeichnet bzw. wurden von dieser Verpflichtung ausgenommen. Trotz des Kyoto-Protokolls steigt der weltweite CO2-Ausstoß weiterhin an. Statt diesen Trend zu brechen, betreibt die Kapitalistenklasse eifrig Emissionshandel. Eine weltweite Abstimmung der Produktion unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Natur ist erst in einer Gesellschaft möglich, in der nicht mehr für Profit, sondern für die Bedürfnisse der Menschen produziert wird.

    Eine Politik der ‚kleinen’ Schritte?

    Ein Teilnehmer meinte im weiteren Verlauf der Diskussion, dass Umweltschutzorganisationen nicht nur wertvolle Informationen und Einsichten lieferten, somit zum Problembewusstsein beitrügen, sondern auch handelten und notwendige kleine Schritte unternähmen.

    In der Diskussion wurde darauf entgegnet, dass zum einen die Herrschenden in Wirklichkeit die katastrophalen Perspektiven ausnutzen, um ein Gefühl der Hilflosigkeit zu erwecken und Maßnahmen vorzuschlagen, die alle auf eine Vereinzelung und letztendlich reine Kosmetik hinauslaufen. Dem gegenüber tun Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace so, als ob man durch spektakuläre Proteste wie Anketten an Fabrikschlote oder vor Werktoren von ‚Umweltsündern’ usw. Leute mobilisieren könnte.

    Wie die Diskussion hervorhob, lässt sich das ganze Ausmaß der Umweltzerstörung nicht durch einzelne Maßnahmen eindämmen. Es ist unumgänglich, das Übel an der Wurzel zu packen. Man muss die Grundlagen der Produktion selbst ändern. Während die fortschreitende Zerstörung der Erde es zu einer Überlebensfrage der Menschheit macht, dieses System zu überwinden, rufen die Umweltschutzorganisationen das Gefühl hervor, man habe etwas getan. Tatsächlich versperren sie den Blick auf das Ganze, d.h. den Zusammenhang zwischen den Widersprüchen des Systems, der Krise, dem Krieg und der Umweltzerstörung und damit der Notwendigkeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

    Die Tatsache, dass die Auswirkungen der Umweltkatastrophe überall weltweit festzustellen sind, verlangt nach einer weltweiten Lösung. Weil es keine lokale, keine regionale, keine nationale und auch keine Teillösung gibt, rückt die Frage der Überwindung des Kapitalismus immer mehr in den Vordergrund. Und weil die Lösung des Problems nur global, d.h. weltweit erreicht werden kann, muss und kann sie nur von einer Kraft herbeigeführt werden, die dazu in der Lage ist, international, d.h. planetar zu denken, und die kein Interesse an der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems hat. Deshalb betonte ein Teilnehmer zu Recht, dass eigentlich nur der Klassenkampf, d.h. der Kampf der Arbeiterklasse für die Verteidigung ihrer ökonomischen Interessen einen Ansatzpunkt liefert, eine Kraft aufzubauen, die ein späteres Überwinden des Systems möglich macht. D.h. nicht die Mobilisierung für irgendwelche Teilbereiche der Gesellschaft führt zum notwendigen Zusammenschluss der Betroffenen, sondern der Abwehrkampf der Arbeiterklasse für ihre Klasseninteressen bietet einen gemeinsamen Nenner, all die anderen Fragen aufzugreifen, die notwendigerweise angepackt werden müssen.

    Auch wenn Teile der herrschenden Klasse sich des Ausmaßes der Umweltschäden immer bewusster werden, sind sie dennoch unfähig, einschneidende, eine Kehrtwendung herbeiführende Maßnahmen zu ergreifen, die diesem fatalen Verlauf Einhalt gebieten könnten. Ein klassischer Vorschlag zur Bekämpfung der Klimakatastrophe ist zum Beispiel der Einsatz von Instrumenten des Marktes, indem z.B. "Kohlendioxid (...) kurzerhand zu einem Wirtschaftsgut erklärt (wird), so wie Weizen, Autos oder Turnschuhe." (Spiegel, 45/2006). Auf die Frage, ob der Markt die Lösung oder die Wurzel des Problems ist, wurde in der Diskussion ausführlicher eingegangen - aus Platzgründen können wir jedoch nicht näher hier darauf eingehen. Wir verweisen auf das Einleitungsreferat, das wir auf unserer Webseite veröffentlicht haben.

    Einerlei, in der Veranstaltung wurde zum Schluss betont, dass die Zeit gegen die Menschheit arbeitet, denn die Gefahr besteht, dass durch die Umweltzerstörung irreparable Schäden entstehen, die die Überlebensfähigkeit der Menschheit aufs Spiel setzen.

    Theoretische Fragen: 

    • Umwelt [3]

    Die Gärung der Kampfbereitschaft und die Hindernisse auf diesem Weg

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    Es gibt gegenwärtig in der Schweiz keine spektakulären Ausbrüche der Arbeiterkampfbereitschaft. Der Stress am Arbeitsplatz wird zwar immer unerträglicher. Die Unzufriedenheit nimmt zu. Aber bis jetzt ist dieser Groll immer noch auf viele kleine Rinnsale und Bächlein verteilt, noch nicht zu einem Fluss oder gar Strom zusammengewachsen, der die eigene Kraft, die gemeinsame Stärke uns selber vorführen würde.

    Die technischen Angestellten am Schauspielhaus Zürich und die ehemaligen Crossair-Piloten bei der Fluggesellschaft Swiss streikten im Herbst. Auch gab es in Lausanne, Aarau und Zürich Demonstrationen der kantonalen Angestellten, eine landesweite Gewerkschaftsdemonstration in Bern für mehr Lohn und weitere so genannte Montagsdemonstrationen bei der Post und der Bahn gegen geplanten Stellenabbau und die Verlängerung der Arbeitszeit. Im Dezember 2006 entdeckte die NZZ am Sonntag gar eine „neue Lust am Streik": „Bauarbeiter, Piloten und Lehrer tun es, Pöstler und Bähnler drohen damit. Die Schweiz, einstiger Hort des Arbeitsfriedens, entdeckt die Lust am Streik. Die Zahl der Streikenden ist so hoch wie seit dem Generalstreik 1918 nicht mehr. (…) ‚Seit Mitte der neunziger Jahre nimmt die Zahl der Streikenden in der Schweiz deutlich zu’, sagt Bernard Degen, Gewerkschaftsexperte und Historiker an der Universität Basel. Die Zahl der Streikenden hat in den letzten Jahren ein Niveau erreicht, wie es letztmals in den Zeiten des Landesstreiks erreicht worden war. 2004 legten in der Schweiz 24'000 Personen die Arbeit nieder, genau gleich viele wie anno 1918." (NZZ am Sonntag, 10.12.06)

    Anzeichen für eine Zunahme der Kämpfe

    Es ist nicht anzunehmen, dass sich die Zeitung bei diesem Zahlenbeispiel auf den Historiker abstützt, denn am Generalstreik vom November 1918 beteiligten sich je nach Quelle 250'000 bis 400'000 Arbeiter bei einem Total von damals etwa 800'000 Industriearbeitern (1). Wir wollen hier auch nicht weiter bei der Frage verweilen, ob dieser krass falsche Vergleich der blossen Unwissenheit der Journalistin (und der Nachlässigkeit der verantwortlichen Redaktion) entspringt oder ob ein bewusstes Interesse dahinter steckt, den bisherigen Höhepunkt der Arbeiterkämpfe in der Schweiz in seiner Bedeutung möglichst herabzumindern (2).

    Tatsache ist, dass es verschiedene Anzeichen dafür gibt, dass die Kampfbereitschaft in den letzten Jahren wirklich zugenommen hat, wenn auch quantitativ erst in bescheidenem Ausmass. Die Streikstatistiken für die Schweiz sind das Eine. Hinzu kommt aber auch eine weltweite Tendenz der Zunahme der Kämpfe seit 2003, über die wir in diesen Spalten immer wieder berichtet haben. Da die Arbeiterklasse von ihrem Wesen her eine internationale Klasse ist, wächst ihr Selbstvertrauen auch bei Kämpfen, die anderswo stattfinden. Und bedeutsam ist auch das Auftauchen von immer mehr Leuten, die sich grundlegende Fragen über die Zukunft, ihre eigene Rolle und diejenige der Arbeiterklasse stellen.

    In diesem Kontext möchten wir eine kleine Zwischenbilanz über den Stand des Klassenkampfes in der Schweiz ziehen. Dabei ist insbesondere auch der Kampf der Swissmetal-Arbeiter in Reconvilier (La Boillat) einzubeziehen, der gerade vor einem Jahr mit einem zweiten Streik in eine neue Phase trat.

    Beginnende Desillusionierung über die Gewerkschaften

    Vom 25. Januar bis Ende Februar 2006 streikten die Arbeiter von Swissmetal in Reconvilier zum zweiten Mal. Der erste Streik im November 2004 war seinerzeit beendet worden, weil die Konzernleitung zugesagt hatte, den Standort Reconvilier und die Arbeitsplätze zu erhalten. Nachdem die Konzernleitung im Januar 2006 entgegen diesen Zusagen 27 Entlassungen ausgesprochen hatte, beschlossen die Arbeiter der Boillat in Solidarität mit den Entlassenen den Streik. Bei der Versammlung, die den Streik beschloss, war die Gewerkschaft nicht dabei. Danach schaltete sich aber die UNIA ein und bezahlte auch Streikgelder. Nach einem Monat stellte diese Gewerkschaft die kämpfenden Arbeiter vor die Alternative, den Vorschlag eines von der Regierung eingesetzten Vermittlers anzunehmen oder keine Streikgelder mehr zu erhalten. Der Vorschlag des Vermittlers beinhaltete im Wesentlichen, dass die Kündigungen vorübergehend aufgehoben, das Vermittlungsgespräch fortgesetzt und der Streik beendet werden sollen. Der Streik wurde nach dieser Erpressung durch die Gewerkschaft abgebrochen. Die Frustration, ja gar Wut auf die Gewerkschaft war unüberhörbar: „Es war ein Fehler, dass wir die Verhandlungen aus unseren Händen gegeben haben." „UNIA ist eine Bande von organisierten Dummköpfen, ich erkläre meinen Austritt." „UNIA hat die Angestellten hängen lassen und verraten." Dies war im Frühjahr/Sommer 2006 der Tenor unter den Arbeitern im weiteren Umkreis um Reconvilier (3). Wir hoben dabei vor allem zwei Dinge hervor:

    - Die Notwendigkeit, einen solchen Kampf rasch über die einzelne Fabrik hinaus auszudehnen, d.h. Delegationen zu bilden, die in die umliegenden Betriebe mit den Arbeitern diskutieren gehen und versuchen, sie auch für den Kampf zu gewinnen. Nur so kann ein Kräfteverhältnis geschaffen werden, das den Gegner (die Konzernleitung, die so genannten Vermittler und letztlich den Staat) zum Rückzug zwingt.

    - „Eine der wichtigsten Lehren ist, dass sich die Gewerkschaften als Gegner der Arbeiter entlarvt haben. Hüten wir uns auch vor all denen, die zwar den bestehenden Gewerkschaften oder ihrer Bürokratie kritisch gegenüberstehen, aber doch ihr Wesen verteidigen und uns die Idee verkaufen wollen, dass wir an diesen Organisationen festhalten müssten!" (3) Wir dürfen die Kontrolle über den Kampf nicht aus unseren Händen geben. Die Gewerkschaften sind Teil des staatlichen Apparats.

    Auch ein Jahr nach diesem Streik bei Swissmetal schwelt der Kampf weiter. Nach wie vor entlässt die Konzernführung weitere Angestellte und demontiert die Anlagen in Reconvilier, um sie an den zweiten Standort in der Schweiz, nach Dornach, zu verschieben, wo es den Gewerkschaften gelang, eine Solidarisierung und einen Eintritt in den gleichen Kampf zu verhindern.

    Was die Mobilisierungen der Gewerkschaften in den letzten Monaten betrifft, fällt auf, dass die Medienaufmerksamkeit umgekehrt proportional zum Echo ist, das die Demonstrationsaufrufe in der Arbeiterklasse finden. Während die von den Medien breit getretenen Montagsdemonstrationen bei Post und Bahn jeweils gesamtschweizerisch nicht mehr als einige Hundert (überwiegend gewerkschaftlich organisierte) Arbeiter mobilisierten, beteiligten sich an den Demonstrationen der kantonalen Angestellten in Lausanne, Aarau und Zürich jeweils 3000-5000 Leute, obwohl dafür kaum mobilisiert und anschliessend auch nicht überregional berichtet wurde. Dies ist ein Indiz dafür, dass es der Bourgeoisie nicht behagt, wenn sich die Arbeiterklasse für Forderungen, die unmittelbar ihre Interessen betrifft, massenhaft auf die Strasse begibt, selbst wenn die Mobilisierungen gewerkschaftlich organisiert sind.

    Wenn die Arbeiter auf ihrem Terrain zusammen kommen, entsteht für die Bourgeoisie die Gefahr, dass sich jene ihrer Macht bewusst werden. Wie formulierte es eine Arbeiterin der Boillat in Reconvilier gegenüber der Wochenzeitung? – „Mit der Solidarität, die wir aufbauen konnten, haben wir etwas Wertvolles geleistet. Es bleibt das Erlebnis der vollständigen Machtlosigkeit der Direktion, solange wir uns einig waren." (4) Diese Einigkeit der Arbeiter hat ihre Grundlage in der Gemeinsamkeit der Interessen, die grundsätzlich nicht auf einen Betrieb oder eine Region, ja nicht einmal auf ein Land beschränkt ist. Es scheint, dass sich die Bourgeoisie mit all ihren Apparaten, namentlich den Gewerkschaften und den Medien, dieser Gefahr bewusst ist und deshalb massenhafte Mobilisierungen möglichst vermeidet oder wenigstens nicht an die grosse Glocke hängt.

    Trotzdem will sie das Terrain auch nicht einfach der spontanen Gärung der Unzufriedenheit unter den Arbeitern überlassen. Deshalb mobilisieren die Gewerkschaften bei Bahn und Post, bei Piloten und beim Theater, überall in kleinen Dosen, um kontrolliert Dampf abzulassen.

    Vor Weihnachten 2006 gab es zwischen den Gewerkschaften und den Bahn- und Postunternehmen je eine Einigung. Bei der SBB wurde ein neuer Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen, wobei bis Ende 2007 weitere 100 Stellen abgebaut werden. Auch bei der Post bleibt es dabei, dass im Zuge des „Ymago" genannten Projekts 400 bis 500 Stellen abgebaut werden. Die Post wolle aber „wirtschaftlich begründete Kündigungen vermeiden". „Man sei „zufrieden", heisst es auf beiden Seiten." (NZZ, 16.12.06) Die Gewerkschaften handeln also zusammen mit den Unternehmen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen aus - Arbeitsplätze werden abgebaut, obwohl die Arbeitslast zunimmt – und erklären ihre Zufriedenheit. Die bürgerlichen Medien begleiten die Farce, indem sie scheinbar radikale Forderungen und Drohungen der Gewerkschaften ins Rampenlicht rücken, dann aber über die Resultate höchstens noch klein gedruckt berichten.

    Die Einheit von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften zeigt sich auch in den Personalentscheiden, die ihre Apparate treffen. Die Spitze der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft muss neu besetzt werden, da der jetzige Amtsinhaber Jean-Luc Nordmann altershalber zurücktritt. Die Stelle wird nun auf 1. Februar 2007 vom bisherigen Chefökonomen und geschäftsführenden Sekretär des Gewerkschaftsbundes Serge Gaillard übernommen, der seine Karriere als Trotzkist begann.

    Weitere Stellungen der Bourgeoisie

    Die Desillusionierung über den Charakter der Gewerkschaften wird noch manche Hürde nehmen müssen. Die linksextremen Kräfte der Bourgeoisie – in der Schweiz z.B. die Bewegung für den Sozialismus (BFS) oder der Aufbau – kritisieren zwar die Gewerkschaftsführung, verteidigen aber um so mehr die Gewerkschaften an sich. Sie halten an der kapitalistischen Logik fest, verpacken sie aber in eine „radikalere" Rhetorik. Der Aufbau z.B. kritisiert im Zusammenhang mit der Post die Gewerkschaft, dass sie vor dem gemeinsamen Kampf Angst habe (was grundsätzlich stimmt), fordert aber von ihr mehr Entschlossenheit. Er setzt also auf eine Reform der Gewerkschaft. Im gleichen Atemzug beklagt er sich darüber, dass „der funktionierende Staatsbetrieb (die Post) verscherbelt werden" soll und meint, es sei ja „nicht ganz so schlimm", denn der Betrieb schreibe immer noch Gewinn (5). Die Botschaft ist klar: Wenn es wirklich schlimm für die Gewinne wäre, müsste man sich wohl die Angriffe (oder einen Teil derselben) gefallen lassen. Dies ist die gleiche Logik, die der Aufbau auch zum Kampf der VW-Arbeiter in Belgien propagiert: „Diese Fabrik war produktiv und wettbewerbsfähig", kritisierte der Generalsekretär der Gewerkschaft CSC, Guy Tordeur, die „blinde Umstrukturierung« des Konzerns" (aus einem aktuellen Artikel auf der Webseite des Aufbaus unter dem Titel „Arbeitskämpfe").

    Diese Logik findet ihre Fortsetzung in der konkreten Agitation, wenn der Aufbau die Postangestellten für den sterilen Protest gegen das World Economic Forum (WEF), das alljährlich im Januar in Davos stattfindet, mobilisieren will: „Beispielsweise für die Angestellten der Post würde sich das WEF als Protestadressat eignen." (aus dem Aufruf des Aufbaus zur Anti-WEF-Demo in Basel)

    Die Arbeiterklasse kann ihre Einheit und damit ihre Stärke nur auf ihrem eigenen Terrain erkämpfen, nämlich auf demjenigen der Verteidigung ihrer eigenen handfesten Interessen, nicht in symbolischen Protestaktionen gegen ein WEF oder einen G8-Gipfel. Wenn wir auf unserem Terrain kämpfen und dort unsere Stärke entwickeln, werden sich über die Verteidigung der gegenwärtigen Arbeits- und Lebensbedingungen hinaus schnell auch wirklich radikale Fragen stellen – nämlich diejenige der Überwindung dieses Systems, das uns keine Zukunft mehr zu bieten hat.

    Cassin, 14.01.07

    • Fussnoten:
  • 1. Vgl. André Rauber, Histoire du mouvement communiste suisse, Genf 1997, S. 70; Paul Schmid-Ammann, Die Wahrheit über den Generalstreik von 1918, Zürich 1968, S. 294 (mit weiteren Quellenangaben).
  • 2. Vgl. dazu auch den Artikel „1918 – Generalstreik in der Schweiz" in Weltrevolution Nr. 90, Okt./Nov. 1998 (
  • 3. Vgl. den Blog
  • 4. WOZ vom 9.11.06, S. 4
  • 5. aus einem Flugblatt des Aufbaus zu einer Montagsdemonstration im Dezember
  • welt90/1998_generalstreikschweiz). https://laboillat.blogspot.com/ [4] und auf unserer Webseite den Artikel „Zwischenbilanz im Kampf bei Swissmetal in Reconvilier - Welche Lehren für die Arbeiterklasse insgesamt?" vom Juli 2006, reconvilier_solidaritaetsstreik_lehren.

    Die USA bereitet eine Kurskorrektur ihrer imperialistischen Politik im Irak vor

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    (Der nachfolgende Artikel wurde Anfang Dezember 2006 verfasst. Auf die jüngste Reaktion Präsident Bushs gegenüber dem Bericht der Baker-Kommission und seinem Entschluss, entgegen den Empfehlungen der Kommission weitere Soldaten in den Irak zu schicken, sind wir in einem gesonderten Artikel eingegangen – siehe dazu: „Vom Mittleren Osten bis Afrika -

    Wenn das Chaos neue Höhepunkte erreicht").

    Der dominierende Teil der herrschenden Klasse der USA hat die Kongress-Wahlen vom letzten November genutzt, um seine imperialistische Politik neu zu justieren und die widerspenstige Bush-Administration zur Kurskorrektur im Irak zu zwingen. Im letzten Winter kam es zu einer Übereinstimmung innerhalb der dominierenden Fraktion in der Auffassung, dass die Lage im Irak ein absolutes Chaos darstellt, das auf Dauer die globalen Interessen des US-amerikanischen Imperialismus gefährdet. Die US-Armee wird durch die Kriege im Irak und Afghanistan derart beansprucht, dass sie nicht mehr auf Herausforderungen in anderen Teilen der Welt reagieren kann. Dies ist eine unakzeptable Situation, da die Ausübung der militärischen Macht im Ausland für den amerikanischen Imperialismus in einer Zeit, in der ihre Hegemonie zunehmend in Frage gestellt wird, eine absolute Notwendigkeit geworden ist. Was die Dinge noch schlimmer macht, ist, dass die Bush-Administration mit ihrem Pfusch im Irak-Krieg den ideologischen Gewinn, den die herrschende Klasse in den USA bei der Manipulierung der öffentlichen Zustimmung für ihre imperialistischen Übersee-Abenteuer nach 9/11 erzielt hatte, komplett verspielt hat.

    Dieser Konsens führte im vergangenen März zur Bildung einer überparteilichen Kommission, der Irak-Untersuchungskommission, angeführt von James A. Baker, einem engen Berater und Freund von George Bush sen. Baker hatte als Finanzsekretär in der Reagan-Administration und als Staatssekretär unter Bush sen. während der ersten US-Invasion im Irak 1991 gedient. Der frühere demokratische Abgeordnete Lee Hamilton, ehemaliger Co-Vorsitzender der Kommission für den 11. September, wurde zum Co-Vorsitzenden der Untersuchungskommission ernannt. Überwiegend zusammengesetzt aus prominenten Offiziellen der Reagan-, Bush sen.- und Clinton-Administration, stellt diese Kommission im Kern die Kontinuität des staatskapitalistischen Apparates dar, der es als notwendig erachtete, das herrschende Regierungsteam zu einer Kurskorrektur zu zwingen.

    Anfangs wurde die Arbeit der Kommission geheim und vertraulich ausgeführt. Doch im Laufe der Wahlkampagne begannen deren Mitglieder, sowohl Demokraten als auch Republikaner, vermehrt in der Öffentlichkeit aufzutreten und die von der Regierung ständig wiederholten Durchhalteparolen zu kritisieren. Sie mokierten sich über die polarisierende politische Rhetorik des Regierungsapparates, die die „Durchhalteparolen" der Devise „Abbruch und Abhauen" (Cut and run) gegenüberstellte, da dies ungenügend sei, um die nationalen imperialistischen Interessen zu fördern. Die Neigung der Regierung, den Patriotismus ihrer Kritiker in Frage zu stellen, war offensichtlich haltlos. Tatsächlich trugen die Medien die von der Baker-Kommission geäußerte Botschaft weiter, dass diese schlichte Spaltungspolitik eine unhaltbare Position darstellt, da sie die Wirklichkeit aus den Augen verloren hat. Dieser Druck war so stark, dass der Präsident Anfang September faktisch aufhörte, weiterhin von den „Durchhalteparolen" Gebrauch zu machen. Zwar schien Bush auch weiterhin störrisch an dieser Auffassung festzuhalten, als er die Demokraten als die Partei des „Abbruchs und Abhauens" denunzierte; und der Inhalt seiner eigenen Botschaft betonte noch immer, dass es notwendig sei, im Irak bis zum Sieg weiterzukämpfen. Doch die Baker-Kommission hatte damit schon vor den Kongress-Wahlen den Weg für einen Kurswechsel geebnet.

    In der Zeitschrift der US-Sektion der IKS, in Internationalism Nr. 140, hatten wir vorausgesagt, dass der bevorstehende Sieg der Demokraten „den Druck für Korrekturen im Regierungsapparat außerhalb der Wahlen erhöhen wird, einschließlich des vorzeitigen Rücktritts des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld".

    Diese Voraussage wurde unmittelbar danach durch die Ankündigung des erzwungenen Rücktritt des Verteidigungsministers Rumsfeld und der Ernennung seines Nachfolgers am Nachmittag des ersten Tages nach den Wahlen bestätigt. Wenn man den Berichten der bürgerlichen Medien Glauben schenkt, so hatte Bush Rumsfeld schon am Wochenende vor den Wahlen zum Rücktritt aufgefordert und entschieden, ihn durch George Gates zu ersetzen, einem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter, der unter Bush sen. als CIA-Direktor gedient hatte. Die Tatsache, dass Gates Mitglied der Irak-Untersuchungskommission war (er trat erst einen Tag nach seiner Nominierung aus dieser Kommission aus), demonstriert anschaulich die Rolle der überparteilichen Irak-Untersuchungskommission als einen Mechanismus zur Wiedererlangung der Kontrolle durch die dominierende Fraktion der Bourgeoisie über eine verirrte und fehlgeleitete Regierungsmannschaft. Gates folgt im Wesentlichen Bakers vorsichtigem Kurs in der imperialistischen Politik und dessen Kritik an der Haltung der gegenwärtigen Regierung. Diese „Neujustierung in der Administration außerhalb der Wahlen" beinhaltet nicht einfach einen Personalwechsel, sondern die Durchsetzung eines Politikwechsels. Das Übertragen von wichtigen, entscheidenden Positionen an Leuten, die in der Frage der imperialistischen Politik von den überparteilichen Perspektiven der dominierenden Fraktion der Bourgeoisie ausgehen, ist dabei wesentlich.

    Die Wiederverstärkung der demokratischen Mystifikation, die durch die Novemberwahlen erreicht wurde, ist für die Bourgeoisie wichtig, weil die Überzeugung, dass das System funktioniert, eine Vorbedingung für die Akzeptanz ihrer Politik in der Bevölkerung ist. Trotz des öffentlichen Unmuts gegen den Krieg, insbesondere in der Arbeiterklasse, sind die Wahlen natürlich kein Sieg für den Frieden, sondern stattdessen ein Sieg für die Bemühungen der Bourgeoisie, den nächsten Krieg vorzubereiten, indem der Schaden, den das US-Militär, ihre Geheimdienste und ihre Außenpolitik durch die Fehler der Bush-Administration erlitten hat, repariert wurde.

     

     

    Die Entwicklung einer wirksameren imperialistischen Strategie

    Die Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse über den Irak sind tatsächlich nicht Ausdruck eines Kampfes zwischen Falken und Tauben, sondern eine Auseinandersetzung unter Falken, die sich darum streiten, wie man sich am besten im Irak aus der Affäre zieht, um das nächste militärische Abenteuer in Übersee vorzubereiten. Wie die „friedliebende" New York Times zwei Tage nach den Wahlen in ihrem Leitartikel schrieb: „Die wichtigste Aufgabe von Gates - gesetzt den Fall, er wird bestätigt – muss es sein, jene notwendigen Kommunikationsstränge mit den Spezialisten des Militärs, des Geheimdienstes und des auswärtigen Amtes vor Ort wieder zu öffnen. Nachdem er ihre Meinungen angehört hat, muss er Bush eine neue realistische Strategie anstelle der offensichtlich gescheiterten auf den Tisch legen (...) Er wird eine überstrapazierte Armee wieder aufbauen, die militärische Umwandlung durch den Austausch der unnötigen Waffen des Kalten Krieges durch neue, den gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechende Technologien neu fokussieren und ein konstruktiveres Verhältnis zu den Kontrollausschüssen des Kongresses pflegen müssen".

    Nach den Wahlen bemühten sich die Generalstäbe schnell, ihre Unabhängigkeit gegenüber dem diskreditierten Rumsfeld zu bezeugen. Sie unternahmen eine Neueinschätzung der militärischen Lage im Irak und suchten nach eigenen politischen Alternativen, noch bevor Gates in seinem Amt bestätigt wurde und die Empfehlungen der Irak-Untersuchungskommission Mitte Dezember veröffentlicht wurden. Die Armee hat bereits neue Übungsanleitungen herausgegeben, welche Rumsfelds eher kontroverse Politik ersetzten, die eine minimale Truppenstärke für die Besetzung und den Wiederaufbau nach militärischen Invasionen vorsah - eine Politik, die im Irak im Desaster endete.

    Von der Auflage befreit, sich an die alten Weisungen der lahmen Ente Rumsfeld zu halten, sagte der Kommandant der US-Truppen im Irak, General Abizaid, vor dem Senat und dem Ausschuss des Weißen Hauses aus und kritisierte offen die einst von Rumsfeld und Bush gefällten Beschlüsse in der Irak-Politik. So sagte Abizaid zum Beispiel bezüglich des schon lange schwelenden Konflikts zwischen den Streitkräften und Rumsfeld um die notwendige Truppenstärke im Irak aus, dass General Eric Shinseki - der 2003 von Rumsfeld gefeuert wurde, weil er Rumsfelds Doktrin einer spärlichen Besatzungsstärke kritisierte und darauf bestanden hatte, dass bis zu 300.000 Soldaten notwendig seien - mit seiner Einschätzung richtig gelegen hätte.

    Abizaid widersprach ebenfalls der von der Regierung andauernd wiederholten Propaganda, als er darauf bestand, dass die größte Gefahr nicht von Al-Qaida ausgehe, sondern von sektiererischen Milizen, welche den Irak an den Rand eines Bürgerkrieges bringen würden. Abizaid war sowohl gegen einen stufenweisen Truppenabzug, wie er von einigen Demokraten befürwortet wurde, als auch gegen die Entsendung von weiteren Tausenden von Soldaten, wie sie vom republikanischen Senator John McCain befürwortet wurde. Stattdessen forderte er einen Kurswechsel, der die Verschiebung von beträchtlichen Truppenkontingenten von Kontroll- und Kampfaufträgen hin zur Schulung irakischer Sicherheitskräfte vorsieht.

    Trotz der öffentlichen Ernüchterung über den Krieg und einer breiten Unterstützung für die Forderung nach einem Rückzug wird es sicher keinen schnellen militärischen Rückzug aus dem Irak geben. Mit größter Wahrscheinlichkeit und trotz des halsstarrigen Widerstands einiger Neo-Konservativen, die noch immer im Regierungsapparat verharren, werden jene Maßnahmen durchgesetzt werden, welche von der Irak-Untersuchungskommission im Dezember vorgeschlagen wurden. Diese beinhalten einen erhöhten Druck auf die irakische Bourgeoisie, einen internen Kompromiss anzustreben, sowie eine Art Zeitplan für einen stufenweisen Rückzug und eine Aufhebung der Weigerung der Bush-Administration, mit Syrien und dem Iran zu verhandeln. Baker unterstrich bereits in der Öffentlichkeit die Wichtigkeit, „mit den Feinden zu sprechen", und baut auf die Einbeziehung der regionalen Mächte, um den Irak zu stabilisieren und die Ausbreitung des Chaos’ im Mittleren Osten zu verhindern. In der Tat scheint die Baker-Kommission zu einer Art Entgegenkommen gegenüber dem Iran als Schlüsselelement in ihrer neuen Orientierung zu neigen. Die Untersuchungskommission ließ Gerüchte über eine mögliche Konferenz im Mittleren Osten über die Zukunft des Irak durchsickern (ähnlich der Dayton-Verhandlungen über den Kosovo). Die Bush-Administration hat bereits begonnen, sich in diese Richtung zu bewegen, indem sie regionale Gespräche mit befreundeten Ländern wie Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten eröffnete. Auch wenn die Regierung sich mit Händen und Füßen gegen eine Einbeziehung des Iran und Syriens wehrt, so ist es unumgänglich, dass sich die neue Orientierung letztendlich durchsetzen wird. Sie ist die einzig verfügbare Option, die es den USA erlaubt, sich aus dem Irak-Desaster zurückzuziehen, gleichzeitig eine Präsenz in der Region aufrechtzuerhalten und die Avancen europäischer Staaten gegenüber dem Iran und Syrien abzublocken.

    Die Neujustierung der Situation im Mittleren Osten soll es dem amerikanischen Imperialismus ermöglichen, sich wirksamer den Herausforderungen im Fernen Osten und in Lateinamerika zu widmen.

    Die Wiedereinführung einer politischen Disziplin innerhalb der herrschenden Klasse, die Wiedererweckung der demokratischen Mystifikation, die Neuausrichtung der herrschenden politischen Führung und die Neujustierung der imperialistischen Politik sind wichtige Ziele der amerikanischen Bourgeoisie. Doch können diese Bestrebungen nicht die Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise, die wachsende Infragestellung der amerikanischen imperialistischen Hegemonie und das wachsende Chaos auf internationaler Ebene lindern. Wie wir bereits des öfteren geschrieben haben, sehen sich die USA mit einer Krise des amerikanischen Imperialismus konfrontiert, nicht mit einer Krise von George W. Bush. Auch wenn diese Krise möglicherweise durch die Fehltritte der Bush-Administration bei der Durchsetzung der US-Politik verschlimmert wurde, so ist und bleibt sie eine Krise des Systems und kann nicht einer Person zugeschrieben werden. Es ist ein charakteristisches Kennzeichen der heutigen Zeit, dass, welche Aktionen die USA auch immer unternimmt, um ihre in Frage gestellte imperialistische Hegemonie zu verteidigen, sie am Ende das Gegenteil ihres ursprünglichen Ziels erreichen werden – die Verschlimmerung und nicht eine Abmilderung der Herausforderungen des US-Imperialismus. Im Moment kann die Bourgeoisie die euphorische Stimmung nach den Kongresswahlen auskosten, doch wird dies nicht lange anhalten. J. Grevin 2.12.2006

     

    Februar 1917 – Das Aufkommen der Arbeiterräte öffnete den Weg zur proletarischen Revolution

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    Der Ausbruch der russischen Revolution 1917 bleibt die gewaltigste, bewussteste und an Erfahrung, Initiativen und Kreativität reichste Bewegung der ausgebeuteten Massen, die es jemals in der Geschichte gegeben hat. Millionen von Arbeitern schafften es damals, ihre Atomisierung zu durchbrechen und sich bewusst zu vereinigen. Indem sie die Mittel zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates und zur Übernahme der Macht – die Arbeiterräte (Sowjets) – geschaffen hatten, waren sie in der Lage, als gemeinsam handelnde Kraft auftreten zu können. Abgesehen von dem Sturz des Zarenregimes kündigte diese bewusste Massenbewegung nichts geringeres als den Beginn der proletarischen Weltrevolution im Rahmen einer internationalen Welle von Arbeiteraufständen gegen den Krieg und das kapitalistische System insgesamt an.

    Die Bourgeoisie hat sich nicht getäuscht. Seit Jahrzehnten verbreitet sie die abscheulichsten Lügen über dieses historische Ereignis. 80 Jahre nach der Machtübernahme durch die Sowjets in Russland singen die Propagandachefs der herrschenden Klasse immer noch das gleiche Loblied auf die Tugenden der bürgerlich-parlamentarischen ‘Demokratie’ und verbreiten gleichzeitig weiterhin die schlimmsten Verfälschungen über die ‘Diktatur des Proletariats’ in Russland. Dabei tischen diese im Dienst des Kapitals stehenden ‘Historiker’ eine ganze Reihe von Spitzfindigkeiten auf, um die Februarrevolution 1917 als eine Bewegung für die ‘Demokratie’ darzustellen, die von dem bolschewistischen Staatsstreich abrupt zu Ende gebracht, ja vergewaltigt wurde. Februar 1917 sei eine echte ‘demokratische Revolution’ gewesen, Oktober 1917 ein gewöhnlicher ‘Staatsstreich’, eine Manipulation der rückständigen Massen des zaristischen Russlands durch die Bolschewistischen Partei. Dieses schamlose ideologische Trommelfeuer ist ein Zeichen der Angst und der Wut, die die Weltbourgeoisie gegenüber dem kollektiven und solidarischen Werk, der bewussten Aktion der ausgebeuteten Klasse empfindet, einer Klasse, die es gewagt hat, ihr die Stirn zu bieten und die bestehende Weltordnung in Frage zu stellen. Der weltweite Widerhall der Revolution von 1917 lastet wie ein Alptraum auf dem Gedächtnis der Bourgeoisie. Deshalb setzt diese heute wie damals alles daran, der Arbeiterklasse den Zugang zu ihrer eigenen geschichtlichen Erfahrung zu versperren. Wenn die Bourgeoisie das Wesen der russischen Revolution und der Arbeiterräte verzerrt, verfolgt sie damit das gleiche Ziel wie bei ihrer hinterlistigen Kampagne zum ‘Tod des Kommunismus’. Indem der Kommunismus mit dem Stalinismus identifiziert wird, sollen revolutionäre Organisationen verleumdet und als Verfechter des Totalitarismus dargestellt werden. So wird die Idee verbreitet, dass jede Revolution nur zu einem neuen Gulag führe. Entgegen diesen Verleumdungen und Lügen ist die Verteidigung der russischen Revolution, dieses gewaltigen Werkes des im Kampf für den Kommunismus vereinten Proletariats, eine Aufgabe der Revolutionäre, um der Arbeiterklasse dabei zu helfen, den ganzen ideologischen Dreck über Bord zu werfen, den die herrschende Klasse verbreitet, und den ganzen Reichtum der Lehren dieser grundlegenden Erfahrung wieder aufzuarbeiten.

    Februar 1917: Erste Episode der proletarischen Weltrevolution

    Die Erhebung der Arbeiter von Sankt Petersburg (Petrograd) im Februar 1917 erfolgte nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie war eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Kämpfe, die die Arbeiter seit 1915 als Reaktion auf das Abschlachten im Weltkrieg, auf den Hunger, die grausame Verarmung und Ausbeutung bis aufs Blut und den ständigen Terror im Kriegszustand geführt hatten, und auf die die Regierung mit einer brutalen Repression antwortete. Diese Streiks und Revolten waren damals keine Besonderheit des russischen Proletariats, sondern ein integraler Bestandteil der Kämpfe und Demonstrationen der Arbeiterklasse weltweit. Die gleiche Welle von Kämpfen der Arbeiter ergoss sich über Deutschland, Österreich, Großbritannien usw. An der Front kam es vor allem unter deutschen und russischen Soldaten zu Meutereien, Massendesertierungen und Verbrüderungen zwischen den Soldaten auf beiden Seiten. Nachdem die Arbeiterklasse zunächst durch das Gift des Patriotismus verseucht und den ‘demokratischen’ Lügen der Regierungen aufgesessen war, den Verrat der Mehrzahl der demokratischen Parteien und der Gewerkschaften geschluckt hatte, erhob die internationale Arbeiterklasse ihr Haupt und fing an, die Fesseln der chauvinistischen Benebelung abzustreifen. An der Spitze der Bewegung standen die Internationalisten - die Bolschewiki, Spartakisten, die ganze Linke der 2. Internationalen –, die seit seinem Ausbruch im August 1914 den Krieg als einen imperialistischen Beutezug brandmarkten und als einen Ausdruck des Debakels des Weltkapitalismus darstellten, als ein Signal, das die Arbeiterklasse dazu zwingen sollte, ihre geschichtliche Aufgabe zu erfüllen: die internationale sozialistische Revolution. Diese historische Herausforderung sollte von der Arbeiterklasse von 1917 bis 1923 auf internationaler Ebene angenommen werden. An der Spitze dieser proletarischen Bewegung, die den Krieg zu Ende brachte und die Tür zum Ausbruch der Weltrevolution aufstieß, stand im Februar 1917 das russische Proletariat. Der Ausbruch der Russischen Revolution war also keine nationale Angelegenheit oder ein isoliertes Phänomen, d.h. eine verspätet stattfindende Revolution, die sich zur Aufgabe gesetzt hätte, den absoluten Feudalismus zu stürzen - diese Bewegung stellte den Höhepunkt der Antwort des Proletariats auf den Krieg und darüber hinaus auf den Eintritt des Systems in die Phase seines Niedergangs dar.

    Die Bildung der Arbeiterräte: Die spezifischen Organe der Revolution

    Als Reaktion auf das historische Problem des imperialistischen Krieges brach am 22.Februar ein sechstägiger Aufstand der Arbeiter in St. Petersburg aus. Der Krieg war zum Ausdruck der Dekadenz des Kapitalismus geworden. Anfänglich ging die Bewegung von den Textilarbeitern aus; aber innerhalb von drei Tagen dehnten sich die Streiks auf nahezu alle Fabriken der Hauptstadt aus. Am 25. Februar hatten mehr als 240.000 Beschäftigte die Arbeit niedergelegt. Anstatt passiv in den Werkstätten zu verharren, hielten sie überall Versammlungen und Straßendemonstrationen ab. Ihren ersten Forderungen nach ‘Brot’ wurden schnell die Forderung nach ‘Nieder mit dem Krieg’, ‘Nieder mit der Autokratie’ hinzugefügt.

    Am Abend des 27. Februar wurde der Aufstand, den die bewaffnete Arbeiterklasse in der Stadt durchgeführt hatte, erfolgreich abgeschlossen. Zum gleichen Zeitpunkt brachen in Moskau Streiks aus, und Demonstrationen wurden organisiert. Diese Bewegung dehnte sich in den nachfolgenden Tagen auf die Provinzstädte aus, insbesondere auf Samara, Saratow, Charkow. In die Isolation getrieben, war das Regime des Zaren, das sich außerstande zeigte, die vom Krieg selbst angeschlagene Armee gegen die revolutionäre Bewegung einzusetzen, dazu gezwungen zurückzutreten.

    Sobald die ersten Teile der Kette zerschlagen waren, wollten die Arbeiter nicht mehr zurückweichen. Und weil man nicht einfach blind in den Kampf treten wollte, stützten sie sich auf die Erfahrung von 1905. Damals waren in den Massenstreiks die ersten Arbeiterräte spontan gegründet worden. Diese Arbeiterräte waren direkt hervorgegangen aus unzähligen Versammlungen der Arbeiter in den Fabriken und Wohnvierteln. Die Versammlungen waren selbständig, die Treffen waren zentralisiert und die frei gewählten Delegierten waren jeweils gegenüber den Versammlungen rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar. Vielen Arbeitern mag dieser gesellschaftliche Prozess heute als Utopie erscheinen, aber es handelte sich um eine Errungenschaft der Arbeiter selber, die sich von einer unterworfenen und gespaltenen Masse in eine vereinigte Klasse verwandelten, als einheitlicher Körper auftraten und sich als fähig erwiesen, den revolutionären Kampf aufzunehmen.

    Trotzki hatte schon nach den Kämpfen von 1905 aufgezeigt, was ein Arbeiterrat ist:

    ‘Was war der Sowjet der Arbeiterdeputierten? Der Sowjet entstand als eine Reaktion auf ein objektives Bedürfnis – ein Bedürfnis, das im Laufe der Ereignisse entstanden war. Es handelte sich um eine Organisation, die Autorität ausstrahlte und dennoch über keine Tradition verfügte, und sofort eine zerstreute Masse von Hunderttausenden von Menschen zusammenfassen,... die Initiative ergreifen und spontane Selbstkontrolle ausüben konnte’ (Trotzki, 1905).

    Die Arbeiterräte, die während der russischen Revolution entstanden, waren nicht einfach ein unbeabsichtigtes Ergebnis außergewöhnlicher objektiver Bedingungen, sondern auch das Ergebnis einer kollektiven Bewusstwerdung. Die Rätebewegung hat selber Stoff geliefert für die Bewusstwerdung und Selbsterziehung der Massen. Die Arbeiterräte führten ständig jeweils die ökonomischen und politischen Aspekte des Kampfes gegen die bestehende Ordnung zusammen. Wie Trotzki schrieb:

    ‘Eine Revolution lehrt, und zwar schnell. Darin besteht ihre Kraft. Jede Woche brachte den Massen etwas Neues. Jeder zweite Monat schuf eine Epoche. Ende Februar – der Aufstand. Ende April – Auftreten bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd! Anfang Juli - ein neues Auftreten in viel breiterem Maßstab und unter entschiedeneren Parolen. Ende August – der Kornilowsche Staatsstreichversuch, von den Massen zurückgeschlagen. Ende Oktober – Machteroberung durch die Bolschewiki. Unter diesen durch die Gesetzmäßigkeit ihrer Rhythmen verblüffenden Ereignissen vollzogen sich tiefe, molekulare Prozesse, die die verschiedenartigen Teile der Arbeiterklasse in ein politisches Ganzes verschmolzen.’ (Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, ’Verschiebungen in den Massen’, S. 353, Bd. I

    ). ‘Treffen wurden in den Gräben, auf Dorfplätzen, in den Fabriken abgehalten. Monatelang wurde in Petrograd und in ganz Russland jede Straßenecke zu einer öffentlichen Tribüne’ (ebenda). Diese ‘endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariats’, wie Lenin sie bezeichnete, bewirkte, dass die ständigen Organisationsformen, die Gewerkschaften, als überholt anzusehen waren. In dem Zeitraum, wo die Revolution historisch auf der Tagesordnung steht, brechen die Kämpfe spontan aus und neigen dazu, sich auf alle Bereiche der Produktion auszudehnen. So geht der spontane Charakter des Entstehens der Arbeiterräte direkt aus dem explosiven und nicht-programmierten Wesen des revolutionären Kampfes hervor.

    Die Rolle der Bolschewistischen Partei in den Arbeiterräten

    Auch wenn das russische Proletariat sich mit den Arbeiterräten seine Kampfinstrumente geschaffen hatte, so stand es doch ab Februar vor einer sehr gefährlichen Situation. Denn die Kräfte der internationalen Bourgeoisie versuchten sofort, die Lage zu ihren Gunsten auszunutzen. Da sie die Bewegung nicht blutig niederschlagen konnten, versuchten sie, sie auf bürgerlich ‘demokratische’ Ziele zu lenken. Einerseits bildeten sie eine offizielle provisorische Regierung, deren Ziel in der Fortführung des Krieges bestand. Andererseits wurden die Räte sofort von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären (SR) ins Visier genommen.

    Viele Arbeiter schenkten zu Beginn der Februarrevolution den SR, deren Mehrheit im Laufe des Krieges durch die Unterstützung eben jenes Krieges auf die Seite des Kapitals gewechselt war, noch großes Vertrauen. Von dieser strategischen Position aus versuchten sie mit allen Mitteln, die Arbeiterräte zu sabotieren, sie zu zerstören.

    Nach einer Situation der ‘Doppelmacht’ im Februar kam man zu einer Situation der ‘doppelten Ohnmacht’ in den Monaten Mai und Juni 1917, weil der Vollzugsrat der Arbeiterräte der Bourgeoisie als Maske diente, um ihre Ziele zu verwirklichen. Insbesondere ging es ihr darum, die Ordnung hinter der Front und an der Front selbst wiederherzustellen, um den imperialistischen Krieg fortzusetzen. Diese menschewistischen oder sozialdemokratischen Demagogen machten noch immer Friedensversprechungen und versprachen auch eine ‘Lösung des Agrarproblems’, die Einführung des 8-Stunden-Tages usw., selbstverständlich ohne all dies in die Tat umzusetzen.

    Zwar waren die Arbeiter, zumindest die von Petrograd, überzeugt davon, dass nur die Macht der Arbeiterräte imstande war, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, zwar erkannten sie, dass ihre Forderungen nicht umgesetzt wurden, doch in den Provinzen und unter den Soldaten glaubte man noch immer an die ‘Versöhnler’, an die Anhänger der angeblichen bürgerlichen Revolution.

    Es sollte die Aufgabe Lenins sein, mit Hilfe seiner ‘Aprilthesen’ zwei Monate nach Ausbruch der Bewegung zunächst eine Plattform anzubieten, um die Bolschewistische Partei für die Lage der Dinge zu rüsten, denn auch die Bolschewistische Partei neigte dazu, sich versöhnlich gegenüber der provisorischen Regierung zu verhalten. Lenins Thesen brachten deutlich zum Ausdruck, in welche Richtung das Proletariat gehen musste, und sie formulierten auch die Perspektiven der Partei:

    _In unserer Stellung zum Krieg... sind auch die geringsten Zugeständnisse an die ‘revolutionäre Vaterlandsverteidigung’ unzulässig’.

    ‘Keine Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen, insbesondere hinsichtlich des Verzichts auf Annexionen. Entlarvung der Provisorischen Regierung statt der unzulässigen, Illusion erweckenden ‘Forderung’, diese Regierung, die Regierung der Kapitalisten, solle aufhören, imperialistisch zu sein’...

    ‘Keine parlamentarische Republik – von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter,- Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben’. (‘Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution’, Bd. 24, S. 3ff., 4. April 1917).

    Mit diesem Kompass ausgerüstet, konnte die Partei Vorschläge machen, die den Bedürfnissen und Möglichkeiten der jeweiligen Momente des revolutionären Prozesses entsprachen und sich jeweils nach der Perspektive der Machtergreifung ausrichteten. Dabei stützten sie sich auf die ‘geduldige und hartnäckige Überzeugungsarbeit’ (Lenin). Und bei diesem Massenkampf um die Kontrolle ihrer Organisationen gegen die bürgerliche Sabotage wurde es nach mehreren politischen Krisen im April, Juni und vor allem Juli, möglich, die Sowjets zu erneuern, denn die Bolschewiki hatten nunmehr in ihnen die Mehrheit erobert.

    Die entscheidenden Aktivitäten der Bolschewiki richteten sich auf die Fortentwicklung des Klassenbewusstseins. Dabei hatten sie großes Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterklasse zur Selbstkritik, zur Lageanalyse sowie zu ihrer eigenen Vereinigung und Selbstorganisierung. Die Bolschewiki haben nie behauptet, die Massen einem ‘Aktionsplan’ unterwerfen zu wollen, der von vornherein festgestanden habe. ‘Die Hauptstärke Lenins war, dass er die innere Logik der Bewegung begriff und danach seine Politik richtete. Er zwang den Massen seinen Plan nicht auf. Er half den Massen, ihren eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen’ (ebenda S. 277, Die Umbewaffnung der Partei).

    So stellten die Bolschewiki von September an klar die Frage des Aufstands in den Versammlungen der Arbeiter und Soldaten:

    ‘Der Aufstand wurde sozusagen auf ein festes Datum festgelegt, auf den 25. Oktober. Er wurde nicht von einem Geheimtreffen festgelegt, sondern offen und öffentlich, und die siegreiche Revolution fand genau am 25. Oktober statt’ (ebenda).

    Dies weckte eine bis dahin nie dagewesene Begeisterung unter den Arbeitern der ganzen Welt. Die Revolution in Russland wurde zum Hoffnungsschimmer, der die Zukunft aller Ausgebeuteten erstrahlen ließ..

    Heute noch ist die Zerstörung der politischen und ökonomischen Macht der herrschenden Klasse eine Überlebensnotwendigkeit. Die Diktatur des Proletariats, die sich in selbständigen Arbeiterräten organisiert, bleibt der einzige realistische Weg, um die Grundlagen einer neuen, wirklich kommunistischen Gesellschaft zu legen. Im Lichte der Erfahrung von 1917 müssen sich die Arbeiter diese Lehre wieder aneignen. SB

    Geschichte der Arbeiterbewegung: 

    • 1917 - Russische Revolution [2]

    Historische Ereignisse: 

    • Proletarische Revolution [5]
    • Klassenbewusstsein [6]
    • Sowjets [7]

    Theoretische Fragen: 

    • Arbeiterklasse [8]

    Erbe der kommunistischen Linke: 

    • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [9]

    Rubric: 

    100 Jahre Russische Revolution

    Intervention der IKS in Brasilien - Debatte über die Perspektiven des Klassenkampfes

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    Intervention der IKS in Brasilien

     

    Vor allem wollen wir unterstreichen, wie die Teilnehmer gegenüber unserer Einleitung reagiert haben, deren Inhalt für sie ‚außergewöhnlich‘ war, da wir die Wahlen als etwas verwerfen, das völlig im Dienst der herrschenden Klasse steht. Wir entwickelten ebenfalls die Perspektive der Verstärkung der Arbeiterkämpfe auf internationaler Ebene. Aber unsere Analysen stießen keineswegs auf Feindseligkeit oder Skepsis, sondern haben im Gegenteil ein großes Interesse hervorgerufen und wurden oft auch direkt unterstützt.

    Im September 2006 hatte die IKS die Gelegenheit, vor ca. 170 Studenten in einer brasilianischen Universität ihre Analyse der Weltlage und die historische Alternative vorzutragen. Unsere Einleitung (1) drehte sich um die folgenden Achsen: Krieg, Klassenkampf und die Rolle der Wahlen. Wir wollen hier die wesentlichen Teile der Debatte wiedergeben. (2)

    Das Wesen der Gewerkschaften und der Linken

    In der Einleitung waren wir nur kurz auf die Rolle und das Wesen der Gewerkschaften eingegangen. Eine Intervention zu dieser Frage wurde besonders begrüßt, weil sie aufzeigte, dass diese ein Anhängsel der bürgerlichen Parteien und ein Sprungbrett für diejenigen darstellen, die zur führenden Bürokratie des Staates gehören wollen.

    Wir wurden gefragt, ob die Regierung Lula als rechts oder links einzuschätzen sei. Wir antworteten: "auf jeden Fall als links". Die Tatsache, dass die Regierung Lula als ein Feind des Proletariats handelte, ändert nichts an dieser Tatsache, da die Linken mit dem gleichen Auftrag wie die Rechten gewählt wurden: Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals. Dies kann nur auf Kosten des Proletariats geschehen.

    Egal, welche Tonart sie einschlagen, ob mehr oder weniger radikal, von Bachelet in Chile, Kirchner in Argentinien, Chavez in Venezuela oder Morales in Bolivien - sie verfolgen alle die gleiche Linie. Der ‚radikalste‘ unter ihnen, Chavez, der mit Teilen der nationalen Bourgeoisie zusammengestoßen ist und der keine Gelegenheit auslässt, um öffentlich den Imperialismus der USA zu brandmarken, strebt nach einer Vergrößerung seines Einfluss in der Karibik. Er zögert nicht, die Ausbeutung der Arbeiter Venezuelas mit der größten Brutalität zu betreiben.

    Wenn wir behaupten, die Linke und die Rechte verteidigen beide die Interessen des nationalen Kapitals gegen die Arbeiterklasse, heißt dies aber noch lange nicht, dass sie identisch seien. Im Allgemeinen haben die Arbeiter weniger Illusionen über die Pläne der Rechten, die offen die Interessen der Bourgeoisie verteidigen. Aber leider ist sich die gesamte Arbeiterklasse über die Rolle der Linken nicht so klar. Das heißt, die Linke, und mehr noch die Extreme Linke, verfügt über eine größere Fähigkeit der Täuschung des Proletariats. Deshalb sind diese Fraktionen der Bourgeoisie ein gefährlicherer Feind des Proletariats.

    Die Rolle der Wahlen

    In einigen Redebeiträgen sind wir auf die Wahlen eingegangen, deren Rolle wir in unserer Einleitung ausführlicher behandelt hatten. "Ist es wirklich unmöglich, die Wahlen zugunsten einer gesellschaftlichen Umwälzung zu nutzen?" Unsere Haltung gegenüber dieser Frage war keineswegs dogmatisch, sondern sie spiegelt eine weltweite Wirklichkeit wider, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts festzustellen ist. Von diesem Zeitpunkt an ist "der Schwerpunkt des politischen Lebens endgültig aus dem Parlament verschwunden", wie es die Kommunistische Internationale formulierte. Der Wahlzirkus kann nur als ideologische Waffe zugunsten der Bourgeoisie gegen das Proletariat dienen.

    Wie entwickelt sich der Klassenkampf?

    "Wenn die Wahlen kein Mittel des Klassenkampfes sind, wie kann denn das Proletariat kämpfen?"

    Die Kämpfe, die das Proletariat seit 1968 entfaltet hat, sind keine Kämpfe an der Wahlurne gewesen. Obgleich sie nicht ausdrücklich eine revolutionäre Perspektive entwickeln konnten, waren sie jedoch ausreichend stark, um einen Weltkrieg zur Zeit des Kalten Kriegs und frontale Zusammenstöße zwischen den Großmächten zu verhindern. Das Proletariat ist weiterhin ein Hindernis für die Entfesselung der Kriege. Das Proletariat und die Ausgebeuteten im Allgemeinen können nicht durch die verschiedenen nationalen Bourgeoisien mobilisiert werden. Die gegenwärtige Schwierigkeit der USA, Soldaten für den Einsatz als Kanonenfutter in den Konflikten im Irak und in Afghanistan zu rekrutieren, verdeutlicht dies.

    Indem es sich weigert, die ständige Verschlechterung seiner Lebensbedingungen durch die Zuspitzung der Krise hinzunehmen, wird das Weltproletariat notwendigerweise seine Kämpfe verstärken. Insbesondere seit zwei Jahren kann man bei seinen Kämpfen, die sich weltweit entfalten, eine zunehmende Zahl von Merkmalen feststellen, die notwendige Bestandteile für die zukünftige Entwicklung eines revolutionären Prozesses sind:

    den massiven Charakter des Kampfes, wie es der Streik von zwei Millionen Beschäftigten in Bangladesh zeigt,

    die Solidarität der Beschäftigten des Heathrower Flughafens und der New Yorker U-Bahner 2005,

    die Fähigkeit, während des Kampfes Massenversammlungen abzuhalten, die für alle Arbeiter offen sind, wie beim Streik der Metaller im spanischen Vigo im Frühjahr 2006,

    die Fähigkeit der Studenten in Frankreich im Frühjahr 2006, souveräne Vollversammlungen abzuhalten, um den Kampf selbständig und unabhängig von den Gewerkschaften und den bürgerlichen Parteien führen zu können, welche den Kampf unter ihre Kontrolle bringen wollen, um sie zu schwächen.

    Während der Debatte wurden wir gebeten, mehr über diese Bewegung in Frankreich zu berichten. In dieser Bewegung mobilisierten sich nicht so sehr die Beschäftigen; die kämpfenden Studenten selbst waren Teil des Proletariats. Denn ein Großteil der Studenten ist zum Arbeiten gezwungen, um zu überleben; und ein großer Teil von ihnen wird nach dem Abschluss des Studiums zu Lohnabhängigen. Die Studenten sind in den Kampf getreten mit Forderung nach der Rücknahme eines Gesetzes, das ihre prekären Bedingungen noch weiter verschlechtert hätte und einen Angriff gegen das ganze Proletariat darstellte. Die große Mehrheit der Bewegung hat deshalb bewusst die Solidarität des gesamten Proletariats gesucht und auch versucht, es aktiv am Kampf zu beteiligen. Mehrmals gab es in verschiedenen Städten Frankreichs Massendemonstrationen mit mehr als drei Millionen Teilnehmern. In den meisten streikenden Universitäten wurden regelmäßig Vollversammlungen abgehalten, die das Herz der Bewegung darstellten. Im Mittelpunkt der Bemühungen stand die Solidarität, während gleichzeitig in der gesamten Bevölkerung, und in der Arbeiterklasse insbesondere eine wachsende Sympathie für diesen Kampf aufkam. All dies zwang die Regierung zum Nachgeben, um zu vermeiden, dass die Mobilisierung noch größere Ausmaße annahm.

    In einigen Redebeiträgen kam die Sorge um die objektiven Schwierigkeiten der Entwicklung des Klassenkampfes zum Vorschein: "Wenn die vormals großen Produktionszentren sich auflösen, stellt dies keine Schwierigkeit für die Entfaltung des Klassenkampfes dar?" Insgesamt gibt es weniger in der Industrie beschäftigte Arbeiter, was sowohl auf die Änderungen im Produktionsprozess zurückzuführen ist - dagegen hat die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor zugenommen - als auch auf die Wirtschaftskrise und die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Länder mit Niedriglöhnen wie China, wo in den letzten Jahren eine bedeutsame Entwicklung stattgefunden hat. Diese Erscheinung bringt für das Proletariat Schwierigkeiten mit sich, aber die Arbeiterklasse hat schon bewiesen, dass sie fähig ist, diese zu überwinden. Denn die Arbeiterklasse ist nicht beschränkt auf die Industriearbeiterklasse. Die Arbeiterklasse umfasst all diejenigen, die als Ausgebeutete nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, um zu überleben. Die Arbeiterklasse existiert überall und ihr bevorzugter Ort, um zusammenzukommen, ist die Straße, wie die Bewegung der Studenten in Frankreich gegen die Prekarisierung bewiesen hat.

    Die Verlagerung von Arbeitsplätzen in andere Länder wie China hat eine Spaltung zwischen dem chinesischen Proletariat, das unter den schrecklichsten Bedingungen bis aufs Blut ausgebeutet wird, und dem Proletariat der Industriestaaten, das aufgrund des Abbaus vieler Arbeitsplätzen unter der Massenarbeitslosigkeit leidet. Aber das ist keine Ausnahmeerscheinung. Denn von Anfang an hat der Kapitalismus ein Konkurrenzverhältnis unter den Arbeitern geschaffen. Und von Anfang an hat die Notwendigkeit des kollektiven Widerstands gegen diese Konkurrenz die Arbeiter dazu gezwungen, durch den kollektiven Kampf diese Konkurrenz zu überwinden. Die Gründung der I. Internationale 1864 ging aus der Notwendigkeit hervor, die englische Bourgeoisie daran zu hindern, die Arbeiter aus Frankreich, Belgien oder Deutschland als Streikbrecher gegenüber den englischen Arbeitern zu benutzen. Trotz wichtiger Kämpfe des chinesischen Proletariats ist dieses allein nicht dazu fähig, seine Isolierung zu durchbrechen. Damit lastet auf dem Proletariat der mächtigsten Länder eine noch größere Verantwortung, durch seine Kämpfe die internationale Solidarität voranzutreiben.

    Die Entwicklung des Klassenkampfes wird durch die wachsende Fähigkeit des Proletariats geprägt sein, seine Kämpfe kontrollieren und selbständig führen zu können. Deshalb wird es mehr zur Schaffung von souveränen Vollversammlungen kommen, in denen abwählbare Delegierte gewählt werden. Diese Stufe geht dem Entstehen von Arbeiterräten voraus, die die zukünftigen Organe der Ausübung der Arbeitermacht sind. Nur dieser Organisationstyp ermöglicht es den Arbeitern, kollektiv die Kontrolle über die Gesellschaft, über ihre Existenz und ihre Zukunft zu ergreifen.

    Solch ein Ziel kann aber nicht mit Organisationsformen erreicht werden, die nicht mit dem Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft brechen, wie zum Beispiel der ‚partizipativen Demokratie’, die sozusagen die Mängel der klassischen repräsentativen Demokratie korrigieren soll. Ein Diskussionsteilnehmer fragte nach unserer Position zu diesem Punkt. Aus unserer Sicht ist die partizipative Demokratie nichts anderes als ein Mittel, mit dessen Hilfe die Ausgebeuteten und die Ausgeschlossenen ihr eigenes Elend verwalten sollen und das sie glauben machen soll, dass sie eine Macht über die Gesellschaft ausübten. Somit ist die partizipative Demokratie nichts anderes als eine reine Mystifikation.

    Die revolutionäre Perspektive

    Die Perspektiven der Entwicklung des Klassenkampfes müssen sich auf die historische Erfahrung des Proletariats stützen. Dazu wurde uns folgende Frage gestellt: „Warum sind die Pariser Kommune und die russische Revolution besiegt worden? Warum ist die Russische Revolution degeneriert?"

    Die Pariser Kommune war noch keine ‚wirkliche Revolution’; es handelte sich um einen siegreichen Aufstand des Proletariats, der auf eine Stadt begrenzt blieb. Seine Grenzen waren im Wesentlichen das Ergebnis der noch nicht ausgereiften objektiven Bedingungen. Das Proletariat war damals noch nicht ausreichend entwickelt, um den Kapitalismus in den höchst entwickelten Ländern zu überwinden. Gleichzeitig war der Kapitalismus noch ein fortschrittliches System, das in der Lage war, die Produktivkräfte voranzutreiben, ohne dass die Widersprüche schon chronisch und in ihrer ganzen Brutalität auftraten. Die Dinge änderten sich Anfang des 20. Jahrhunderts, als 1905 in Russland die ersten Arbeiterräte auftauchten, die Machtorgane der revolutionären Klasse sind. Wenig später war die Auslösung des Ersten Weltkriegs die erste brutale Erscheinung des Eintritts des Systems in seine Dekadenzphase, in die „Epoche der Kriege und Revolutionen", wie die Kommunistische Internationale schrieb. Als Reaktion auf die Verbreitung der Barbarei in einem bislang unbekanntem Ausmaß erhob sich weltweit eine revolutionäre Welle von Kämpfen, in der wiederum die Arbeiterräte auftauchten. Dem Proletariat in Russland gelang es, die politische Macht zu ergreifen, doch der revolutionärer Anlauf 1919 in Deutschland wurde dank der Fähigkeit der Sozialdemokratie, die Arbeiter in die Irre zu führen, vereitelt. Diese Niederlage schwächte die weltweite revolutionäre Dynamik stark ab, so dass die Welle 1923 nahezu verebbt war. Isoliert konnte die Arbeitermacht in Russland nur degenerieren. Die Konterrevolution trat dort durch den Aufstieg des Stalinismus und durch die Bildung einer neuen bürgerlichen Klasse in Erscheinung, die durch die Staatsbürokratie verkörpert wurde. Aber im Gegensatz zur Pariser Kommune, die sich aufgrund der Unreife der materiellen Bedingungen nicht ausdehnen konnte, scheiterte die revolutionäre Welle von Kämpfen 1919-23 am mangelnden Bewusstsein der Arbeiter. Die Arbeiterklasse hatte nicht das verstanden, was historisch auf dem Spiel stand. Auch hatte sie nicht das wahre Gesicht, den Klassencharakter der Sozialdemokratie durchschaut, die den proletarischen Internationalismus und das Proletariat im 1. Weltkrieg endgültig verraten hatte. Die in den Reihen der Arbeiter fortbestehenden Illusionen über diesen Klassenfeind hinderten sie daran, die Schachzüge der SPD zur Bekämpfung der Revolution zu durchschauen.

    Weniger als ein Jahr nach einer Diskussion in der Universität von Vitòria da Conquista mit mehr als 250 Teilnehmern zum Thema „Die Kommunistische Linke und die Kontinuität des Marxismus" konnten wir in diesem jüngsten Treffen mit großer Zufriedenheit feststellen, dass vor dem Hintergrund einer wachsenden Ablehnung des materiellen, moralischen und intellektuellen Elends dieser zerfallenden Welt es ein wachsendes Interesse seitens der neuen Generation an der Zukunft des Klassenkampfes gibt. Wir fordern alle, die bei der Debatte anwesend waren oder diesen Artikel gelesen haben, auf, die jetzt begonnene Debatte fortzusetzen und schriftlich Stellung zu den aufgeworfenen Fragen zu beziehen. IKS, 12.Okt. 2006

     

    Vom Mittleren Osten bis Afrika -Wenn das Chaos neue Höhepunkte erreicht

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    Die dramatische Lage im Mittleren Osten, der dem Chaos ausgeliefert ist, zeigt den Zynismus und die große Doppelzüngigkeit der Bourgeoisie aller Länder auf. Jeder Teil der Bourgeoisie behauptet von sich, der Bevölkerung, die täglich unter diesen Schrecken und seit Jahren unter Massakern leidet, Frieden und Gerechtigkeit oder Demokratie zu bringen. Aber all dieses Gerede dient nur dem Vertuschen der schmutzigen, rivalisierenden imperialistischen Interessen und der Rechtfertigung der Interventionen, die bei der Zuspitzung der Konflikte und der kriegerischen Barbarei im Kapitalismus Ausschlag gebend sind. Dieser Zynismus und diese Heuchelei wird auch verdeutlicht durch ein weiteres Ereignis in der letzten Zeit - die überstürzte Hinrichtung von Saddam Hussein. Durch dessen Hinrichtung wird auf einer anderen Ebene deutlich, mit welch blutigen Mitteln rivalisierende Fraktionen der Bourgeoisie untereinander abrechnen

    Warum die überstürzte Hinrichtung von Saddam Hussein?

    Die Verurteilung und die Hinrichtung Saddam Husseins wurden von Präsident Bush als ein ‘Sieg der Demokratie’ gepriesen. Dahinter steckt ein Körnchen Wahrheit. Oft hat die Bourgeoisie im Namen der Demokratie und ihrer Verteidigung, die als Ideal der Bourgeoisie dargestellt wird, Rechnungen unter sich beglichen oder Verbrechen gerächt. Wir haben bereits einen Artikel dieser Frage gewidmet (siehe Internationale Revue Nr. 13, 3. Quartal 1991, «Die Massaker und die Verbrechen der großen Demokratien»). Mit grenzenlosem Zynismus erklärte Bush am 5. November 2006 nach der Urteilsverkündung der Todesstrafe für Saddam Hussein - zu einem Zeitpunkt, als er selbst mitten in der Wahlkampagne in Nebraska stand -, dass dieses Urteil als eine „Rechtfertigung der durch die US-Streitkräfte (seit März 2003 im Irak) erbrachten Opfer" betrachtet werden könne. So ist für ihn der Kopf eines Mörders wichtiger als das Leben von 3000 im Irak getöteten jungen Amerikanern (d.h. es gab mehr Opfer als die Zerstörung der Twin Towers hinterlassen hat), von denen die meisten erst in der Jugend ihres Lebens standen! Und er lässt all das Leben der Hunderttausenden Iraker außer Acht, die seit Beginn der US-Invasion ihr Leben gelassen haben. Seit der US-Besatzung im Irak gab es mehr als 600.000 Tote auf irakischer Seite. Die irakische Regierung hat übrigens beschlossen, die Zahl der Toten nicht mehr zu zählen, um die "Moral der Truppen" nicht zu zersetzen.

    Die USA waren sehr daran interessiert, dass die Exekution Saddam Husseins vor den nächsten Prozessen ausgeführt wurde. Sie wollten vermeiden, dass Tatsachen bekannt werden, die sie zu sehr kompromittiert hätten. Alle Anstrengungen sollten unternommen werden, um vergessen zu machen, dass sie und die anderen westlichen Großmächte die Politik Saddam Husseins zwischen 1979 und 1990 voll unterstützt hatten, einschließlich des Irak-Iran-Krieges (1980-1988).

    Eine der Hauptanschuldigungen gegen Saddam Hussein in einem dieser Prozesse war die Vernichtung von 5000 Kurden in Halabjah im Jahre 1988 mit Chemiewaffen. Dieses Massaker fand im Rahmen und am Ende des Krieges zwischen Irak und Iran statt, in dem mehr als 1,2 Mio. Menschen starben und doppelt so viele verletzt oder zu Invaliden wurden. Damals lieferten die USA und an ihrer Seite die meisten westlichen Staaten Waffen an Saddam Hussein und unterstützten ihn. Nachdem diese Stadt zuvor von den Iranern eingenommen worden war, war sie danach wieder von den Irakern zurückerobert worden. Dabei hatte der Irak eine Strafaktion gegen die kurdische Bevölkerung beschlossen. Dieses Massaker war übrigens nur das spektakulärste in einer Reihe von Vernichtungskampagnen, die unter dem Namen ‚Al Anfal’ (Kriegsbeute) geführt wurden. 180.000 irakische Kurden wurden dabei zwischen 1987 und 1988 getötet.

    Als damals Saddam Hussein den Krieg mit einem Angriff gegen den Iran begann, hatte er die volle Rückendeckung aller Westmächte. In Anbetracht der Ausrufung einer islamischen schiitischen Republik 1979 im Iran, als sich Ayatollah Khomeini erlaubte, die US-Militärmacht vorzuführen und die USA als den ‚großen Satan’ zu bezeichnen, ohne dass es den USA unter dem damaligen Präsidenten Carter, einem Demokraten, gelang, dieses Regime zu stürzen, spielte Saddam Hussein im Auftrag der USA und des westlichen Blocks den Gendarmen in der Region, indem er dem Iran den Krieg erklärte und diesen acht Jahre mit dem Ziel der Schwächung und Ausblutung des Irans fortsetzte. Der iranische Gegenangriff hätte übrigens zum Sieg gegen den Irak geführt, wenn der Irak nicht auf US-Militärhilfe hätte bauen können. 1987 hatte der westliche Block unter US-Führung eine gewaltige Flotte im Persischen Golf mobilisiert. Es beteiligten sich mehr als 250 Kriegsschiffe aus nahezu allen westlichen Ländern mit 350.000 Soldaten an Bord und mit den modernsten Kampfflugzeugen der Zeit ausgerüstet. Diese Armada, die seinerzeit als ‚humanitäre Eingreiftruppe’ bezeichnet wurde, hatte insbesondere eine Ölplattform und einige der leistungsfähigsten Kriegsschiffe der iranischen Marine zerstört. Dank dieser Unterstützung konnte Saddam Hussein ein Friedensabkommen unterzeichnen, bei dem die Grenzen an der gleichen Stelle belassen wurden wie bei Auslösung des Krieges.

    Saddam Hussein war mit CIA-Unterstützung an die Macht gekommen. Er ließ seine schiitischen und kurdischen Rivalen sowie andere Sunnitenführer innerhalb der Baath-Partei hinrichten, die zu Recht oder zu Unrecht beschuldigt wurden, gegen ihn Komplotte ausgeheckt zu haben. Jahrelang wurde ihm von den Staatsführern der Hof gemacht, die ihn gar als großen Staatsmann geehrt hatten (zum Beispiel wurde er in Frankreich als "großer Freund Frankreichs" betitelt – insbesondere von Chirac und Chevènement).

    Die Tatsache, dass er sich sein ganzes Leben lang durch blutige Erschießungen und Bestrafungen aller Art hervorhob (er ließ Leute hängen, köpfen, folterte seine Gegner, setzte Chemiewaffen ein und sperrte schiitische und kurdische Bevölkerungsgruppen ein) hat nie irgendeinen Politiker gestört, bis man schließlich vor dem Golfkrieg 1991 ‚entdeckte’, dass er ein ‚schrecklicher Tyrann’ war, woraufhin er damals zum ‚Schlächter von Bagdad’ erklärt wurde - ein Ruf, der zu der Zeit, als er Bluttaten im Interesse des westlichen Blocks beging, nie erklang. Man muss ebenso in Erinnerung rufen, dass Saddam Hussein in eine Falle gelaufen war, als er meinte, bei der Invasion Kuwaits im Sommer 1990 auf die Unterstützung Washingtons bauen zu können. Diese lieferte damals den USA den Vorwand für die schrecklichste kriegerische Operation seit dem 2. Weltkrieg. Damals, im Januar 1991, lösten die USA den ersten Golfkrieg aus. Saddam Hussein wurde als der Volksfeind Nr. 1 bezeichnet. Die von den USA angeführte und von ihnen als "Wüstensturm" getaufte Militäroperation, welche in der Propaganda als ein sauberer Krieg dargestellt wurde, kostete nach 106.000 Luftangriffen und dem Abwurf von mehr als 100.000 Tonnen Bomben sowie dem Einsatz der mörderischsten Waffen (Napalm-, Streu- und Druckbomben) binnen 42 Tagen nahezu 500.000 Irakern das Leben. Es ging den USA hauptsächlich darum, ihre überwältigende militärische Überlegenheit der Welt zur Schau zu stellen und ihre ehemaligen Verbündeten aus dem früheren westlichen Block, die mittlerweile zu ihren potenziell gefährlichsten Rivalen geworden waren, zu zwingen, ihren Krieg zu unterstützen. Für die USA ging es darum, die Tendenzen ihrer ehemaligen Verbündeten einzudämmen, sich nach der Auflösung des westlichen Blocks und der damit verbundenen Allianzen von der US-amerikanischen Vorherrschaft zu lösen.

    Mit dem gleichen Machiavellismus haben die USA und ihre ‚Verbündeten’ andere Umtriebe angezettelt. Nachdem sie zuvor die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden zum Aufstand gegen das Regime Saddam Husseins ermuntert hatten, haben sie eine Zeitlang die Eliteeinheiten des Diktators intakt gelassen, um ihm so zynischerweise zu ermöglichen, diese Aufstände blutig niederzuschlagen, da die USA überhaupt nicht daran interessiert waren, die Einheit des Iraks in Frage zu stellen. Dabei wurde die kurdische Bevölkerung erneut schrecklichen Massakern ausgeliefert.

    Die gehorsamen europäischen Medien und der sehr pro-amerikanisch eingestellte französische Präsidentschaftskandidat Sarkozy mögen heute sehr heuchlerisch die ‚schlechte Wahl’, den ‚Fehltritt’ kritisieren, den die überstürzte Exekution Saddam Husseins darstelle. Genauso wenig wie die US-amerikanische Bourgeoisie sind die westeuropäischen Bourgeoisien daran interessiert, dass ihre Beteiligung an all den Verbrechen aufgedeckt wird - auch wenn dies nur durch die verzerrenden Prismen der "Prozesse" und "Urteile" geschähe. Es stimmt, dass die Umstände dieser Exekution zu einer Zuspitzung des Hasses unter den verschiedenen Gruppen führen. Das Todesurteil wurde vollstreckt, als die größte religiöse Feier des Islam, der Aid, stattfand. Jenem Teil der fanatisierten schiitischen Anhänger, die hasserfüllt den Sunniten gegenüberstanden (Saddam Hussein war Sunnit), mag dies gefallen haben. Aber die Sunniten konnten sich dadurch nur empören und die meisten Menschen islamischer Religion nur geschockt werden. Zudem wurde Saddam Hussein in der Generation, die nicht seine brutalen Methoden erlebt hat, als Märtyrer dargestellt.

    Aber all diese Bourgeoisien hatten keine andere Wahl, da sie bezüglich der schnellen Exekution die gleichen Interessen verteidigen wie die Bush-Administration – es ging ihnen um das Vertuschen oder die Tilgung ihrer eigenen Verantwortung und ihrer Mittäterschaft bei den Massakern aus dem Gedächtnis. Der Gipfel der Barbarei und der Doppelzüngigkeit, der heute im Mittleren Osten erreicht wird, zeigt nur in gebündelter Form den wirklichen Zustand der Welt. Sie verdeutlicht die totale Sackgasse des kapitalistischen Systems auf der ganzen Welt (1).

    Die Flucht in den Krieg im Mittleren und Nahen Osten

    Die jüngste Entwicklung des Konfliktes zwischen Israel und den verschiedenen palästinensischen Fraktionen sowie die Zuspitzung der Zusammenstöße zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb des palästinensischen Lagers haben den Gipfel der Absurdität erreicht. Es fällt auf, dass die verschiedenen beteiligten Fraktionen der Bourgeoisie aufgrund der Dynamik der Lage und der Stärke der Widersprüche dazu gebracht werden, Entscheidungen zu treffen, die absolut widersprüchlich und irrational sind und selbst ihren kurzfristigen strategischen Interessen widersprechen.

    Als Ehmoud Olmer dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas die Hand reichte und dabei den Palästinensern einige Zugeständnisse machte, insbesondere die Aufhebung einiger Straßensperren und die Zusage, die Blockade von 100 Millionen Dollar im Namen der ‘humanitären Hilfe’ abzubrechen, sprachen die Medien bereits von einem neuen Anschub des Friedensprozesses im Nahen Osten. Mahmoud Abbas versucht diesen Schritt gegenüber seinen Rivalen der Hamas, auszunutzen, indem er diese Scheinzugeständnisse als Beweis der Richtigkeit seiner Politik der Zusammenarbeit mit Israel darstellt, weil sie schließlich zum Erhalt von Zugeständnissen geführt hätten.

    Aber Ehoud Olmert selbst desavouierte teilweise diese wenigen Bereiche, die er mit dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde teilte, als er am tags darauf gezwungen war, unter dem Druck der erzkonservativen Teile seiner Regierung die Entscheidung zu treffen, erneut die Politik der Errichtung von israelischen Siedlerkolonien in den besetzten Gebieten zu praktizieren und die Zerstörung palästinensischer Wohnungen in Jerusalem zu beschleunigen.

    Die Abkommen zwischen Fatah und Israel bewirkte, dass Israel Ägypten die Erlaubnis zu Waffenlieferungen an die Fatah erteilte, um diese im Kampf gegen die Hamas zu begünstigen. Aber der letzte Gipfel zwischen Israel und Ägypten in Sharm-el-Sheik wurde durch die jüngste Militäroperation der

    Ein anderes Paradox : zum Zeitpunkt, als sich Olmert und Abbas trafen, beziehungsweise kurz vor dem israelisch-ägyptischen Gipfeltreffen gab Israel zu, eine Nuklearmacht zu sein, und drohte direkt mit dem Einsatz der Atombombe. Auch wenn diese Drohung im Wesentlichen gegen den Iran gerichtet war, weil dieser das gleiche Ziel verfolgt, richtete sich diese Warnung auch an alle anderen Nachbarn Israels. Wie kann man Verhandlungen mit solch einem gefährlichen und kriegstreiberischen Gesprächspartner führen?

    Zudem kann diese Erklärung den Iran nur dazu drängen, seinen eingeschlagenen Weg fortzusetzen und seine Ambitionen, zum Bollwerk und zum Gendarmen in der Region zu werden, zu legitimieren – genauso wie alle Großmächte eine ‘Abschreckungsarmee’ unterhalten. Aber es geht um viel mehr als um den hebräischen Staat. Man erhält den Eindruck, dass all die Beteiligten unfähig sind, die Maßnahmen durchzusetzen, die zur Verteidigung ihrer Interessen notwendig sind.

    Abbas seinerseits ist wiederum das Risiko eingegangen, ein Kräftemessen mit den Hamas-Milizen zu veranstalten. Dabei hat er die Lunte angezündet, als er seine Absicht verkündete, im Gazastreifen vorgezogene Neuwahlen durchzuführen, was wiederum aus der Sicht der Hamas, die „demokratisch" gewählt wurde, eine wahre Provokation war. Aber dieses Kräftemessen, das zu blutigen Zusammenstößen und Straßenkämpfen führte, war das einzige Mittel, um der palästinensischen Autonomiebehörde dazu zu verhelfen, die von Israel auferlegte Blockade zu überwinden und die seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Hamas zurückgehaltenen internationalen Hilfsgüter in Empfang zu nehmen. Diese Blockade erwies sich als eine Katastrophe für die palästinensische Bevölkerung, die die von der Polizei und der israelischen Armee abgesperrten Gebiete nicht mehr verlassen konnte. Diese Blockade hat auch den Streik von 170.000 Beschäftigten des palästinensischen „öffentlichen Dienstes" ausgelöst, da ihre Löhne im Gazastreifen und in Jordanland seit Monaten nicht mehr bezahlt wurden (insbesondere in so wichtigen Bereichen wie im Gesundheits- und Erziehungswesen). Die Wut der palästinensischen Beamten, die auch die Polizei und die Armee erfasst hat, wird sowohl von Hamas und Fatah ausgenutzt, um so neue Kräfte für ihre jeweiligen Milizen zu rekrutieren, indem man sich die Verantwortung für diese Lage gegenseitig in die Schuhe schiebt, wobei 10- bis 15jährige Jugendliche bei diesen Schießereien massenhaft als Kanonenfutter eingesetzt werden.

    Tsahal in Ramallah in Jordanland und durch die Wiederaufnahme der Luftangriffe im Gazastreifen als Vergeltung auf sporadische Raketenbeschüsse torpediert. So werden die Aufrufe zur Besänftigung oder die Absichtserklärungen zur Wiederaufnahme des Dialogs konterkariert; die israelischen Absichten erscheinen immer widersprüchlicher.

    Hamas ihrerseits strebt danach, die Lage zu ihrem Gunsten auszunutzen, indem sie versucht, direkt mit Israel einen Austausch von Gefangenen (zwischen dem im Juni 2006 entführten israelischen Soldaten und ihren eigenen Mitgliedern) auszuhandeln.

    Eine Verschärfung des blutigen Chaos, das aus dem brisanten Nebeneinander zwischen der gewählten Hamas-Regierung und dem Präsidenten der Autonomiebehörde seit einem Jahr entstanden ist, ist die einzig wirklich realistische Perspektive. In Anbetracht dieser Konstellation, die nur zur Schwächung der beteiligten Parteien führen kann, ist der Ende 2006 beschlossene Waffenstillstand zwischen den Milizen von Fatah und Hamas schlicht illusorisch. Er wird seitdem von mörderischen Zusammenstößen untergraben: Attentate mit Autobomben, Straßenkämpfe, ständige Entführungen führen zu Terrorisierung und Todesangst unter der Bevölkerung des Gazastreifens, die ohnehin schon in größter Armut lebt. Und um dem Ganzen eine Krone aufzusetzen, werden die israelischen Luftangriffe im Jordanland und die gezielten militärischen Interventionen der israelischen Polizei bei Kontrollen als weitere „Ausrutscher" (dérapages?) dargestellt: Kinder und Schüler verlieren bei diesen Abrechnungen zuhauf ihr Leben. Das vom Krieg schon ausgeblutete israelische Proletariat ist seinerseits zur Zielscheibe der Repressalien durch die Hamas und Hisbollah geworden.

    Gleichzeitig hat sich die Sicherheitslage im Südlibanon, wo UNO-Einheiten stationiert sind, nicht verbessert. Seit der Ermordung des Christenführers Pierre Gemayel im November 2006 herrscht überall Instabilität. Während die Hisbollah und die schiitischen Milizen (bzw. die christlichen Milizen des Generals Aoun, der sich vorübergehend mit Syrien zusammengeschlossen hat) sich einen Machtkampf lieferten, als sie mehrere Tage lang den Präsidentenpalast in Beirut belagerten, bedrohten gleichzeitig bewaffnete sunnitische Gruppen das libanesische Parlament und seinen schiitischen Präsidenten Nabil Berri. Die Spannungen unter den rivalisierenden Fraktionen haben einen Höhepunkt erreicht. Und niemand nimmt den Auftrag der UNO, die Entwaffnung der Hisbollah, ernst.

    In Afghanistan zeigt der Einsatz von 32.000 Soldaten der internationalen Truppen der Nato und von 8.500 US-amerikanischen Soldaten keine Wirkung. Die Kämpfe gegen Al-Qaida und die Taliban, die ca. 100 Angriffe im Süden des Landes durchgeführt haben, versanden immer mehr. Die Bilanz dieses Guerillakrieges: 4.000 Tote allein im Jahr 2006. Und Pakistan, das eigentlich ein Verbündeter der USA ist, dient weiterhin als Stützpunkt der Taliban und von Al-Qaida.

    Jeder Staat, jede Fraktion des Kapitals wird trotz aller Rückschläge in kriegerische Abenteuer getrieben.

    Diese Sackgasse wird am offensichtlichsten im Falle der größten Macht der Erde. Die Politik der US-Bourgeoisie ist diesen Widersprüchen am meisten ausgesetzt. Während der Bericht der Baker-Kommission, (Baker war u.a. ehemals Berater von Bush Sen.), welcher von der Bush-Administration in Auftrag gegeben worden war, ein Scheitern der Irak-Politik konstatierte und eine Neuorientierung der Politik vorschlug, wobei einerseits eine diplomatische Öffnung gegenüber Syrien und Iran sowie andererseits ein schrittweiser Rückzug der 144.000 US-Soldaten befürwortet wurde, die in einem Verschleißkrieg im Irak gebunden sind, geschieht das Gegenteil. Bush jun., der zu einer Teilerneuerung seiner Regierung gezwungen ist, insbesondere zur Ersetzung Rumsfelds durch Robert Gates als Verteidigungsminister, beließ es dabei, einige Köpfe rollen zu lassen, denen die Verantwortung für das Fiasko im Irak angelastet wurde (das jüngste Beispiel ist die Absetzung der beiden Stabschefs der Besatzungstruppen im Irak, die übrigens gegen den Einsatz von zusätzlichen Soldaten in Bagdad gestimmt haben, da sie von der Wirksamkeit solch eines Schrittes nicht überzeugt sind). Aber vor allem entschloss sich Bush zu einer Verstärkung der US-Truppenpräsenz im Irak. 21.500 zusätzliche Soldaten sollten in der nächsten Zeit in den Irak geschickt werden, um Bagdad „sicherer" zu machen, wobei man bereits jetzt auf Reservisten zurückgreifen muss. Der Wechsel der Mehrheitsverhältnisse im Kongress und im amerikanischen Senat, der nunmehr von den Demokraten beherrscht wird, ändert nichts daran: Jeder Rückzug oder jede Weigerung, neue Gelder für das Militär und den Krieg im Irak bereitzustellen, wird als Eingeständnis der Schwäche der USA, der amerikanischen Nation angesehen, für die das „demokratische Lager" keine Verantwortung übernehmen will. Die ganze US-Bourgeoisie steckt wie jede andere bürgerliche Clique oder jeder andere Staat in der Sackgasse des Krieges, wo jede Entscheidung und jede Bewegung sie noch mehr in die Flucht nach vorne treibt, um ihre imperialistischen Interessen gegenüber ihren Rivalen zu verteidigen.

    Der afrikanische Kontinent: eine weitere schreckliche Verdeutlichung der kapitalistischen Barbarei

    Seit Jahren werden jeden Tag furchtbare Kriegsverbrechen auf dem afrikanischen Kontinent begangen. Nach Jahrzehnten der Massaker in Zaire und Ruanda, nach den Zusammenstößen zwischen Clans an der Elfenbeinküste, die von den Rivalitäten zwischen den Großmächten angefacht wurden, sind jetzt in andern Regionen weitere Brandherde entstanden.

    Im Sudan ist die „Rebellion" gegen die pro-islamische Khartoum-Regierung in eine Reihe von sich gegenseitig bekämpfenden Fraktionen zersplittert; diese werden wiederum von anderen Mächten in sehr zerbrechlichen Allianzen instrumentalisiert. Innerhalb von drei Jahren sind in Darfour im Westen Sudans mehr als 400.000 Menschen umgekommen, mehr als 1.5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben, Hunderte von Dörfer gänzlich zerstört worden. Es sind gewaltige Flüchtlingslager entstanden, in denen die Menschen aufgrund von Hunger und Epidemien inmitten der Wüste sterben. Zudem leiden die Menschen unter den schlimmsten Gewalttaten durch verschiedene bewaffnete Banden, wie zum Beispiel die sudanesischen Regierungskräfte. Die Bewegungen der Rebellen haben zur Ausdehnung des Konfliktes in andere Gebiete als den Darfour geführt; insbesondere hat sich der Konflikt auf die Zentralafrikanische Republik und den Tschad ausgedehnt. Dadurch ist Frankreich immer stärker in der Region militärisch involviert, um die letzten Überreste seiner afrikanischen „Jagdgründe" zu verteidigen. Insbesondere beteiligt sich Frankreich von Tschad aus aktiv an den Kämpfen gegen die sudanesische Regierung.

    Seit dem Sturz des ehemaligen Diktators, Präsident Siyad Barré, 1990, der gestürzt wurde, als auch die Sowjetunion auseinander fiel, ist Somalia im Chaos versunken. Ein ständiger Krieg zwischen den unzähligen Clans, die gleich Mafiabanden, plündernden, bewaffneten Banden und Auftragsmördern für denjenigen handeln, der am meisten bietet, hat das Land zerrüttet. Es herrscht Terror, die Armut breitet sich immer mehr aus. Die westlichen Staaten, die zwischen 1992 und 1995 im Land aktiv waren, mussten in Anbetracht des Chaos und des Zerfalls des Landes den Rückzug antreten. Die spektakuläre Landung der US-Marinesoldaten endete 1994 in einem jämmerlichen Fiasko; seitdem herrscht völlige Anarchie. Seit 1991 haben mehr als 500.000 Menschen in den Auseinandersetzungen in Somalia ihr Leben gelassen.

    Die Union der islamischen Gerichte, die eine Bande ohnegleichen war und unter dem Deckmantel der Sharia und eines „radikalen" Islam agierte, hatte schließlich im Mai 2006 die Hauptstadt Mogadischu mit Hilfe einiger Tausend bewaffneter Kämpfer unter ihre Kontrolle bringen können. Die nach Baidoa geflüchtete Übergangsregierung rief schließlich den mächtigen Nachbarn Äthiopien zu Hilfe (3). Die äthiopische Armee hat mit US-Unterstützung die Hauptstadt bombardiert und innerhalb weniger Stunden die islamistischen Truppen verjagt, von denen die meisten in den Süden geflüchtet sind. Mogadischu

    Die USA, Frankreich und alle anderen großen Mächte können nirgendwo eine stabilisierende Rolle spielen. Gleichgültig, welche Regierung an der Macht ist, sie können die kriegerische Barbarei in Afrika und anderswo nicht bremsen. Im Gegenteil, ihre imperialistischen Interessen tragen immer stärker dazu bei, diese Gewalttaten noch mehr auszubreiten.

    Der Kapitalismus kann die Menschheit nur noch tiefer in diese Barbarei und das Chaos stürzen, die jetzt schon in der Geschichte nie dagewesene Ausmaße erreicht haben. Das ist unsere Zukunft im Kapitalismus. Für den imperialistischen Krieg wird heute der gesamte Reichtum der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Technologie und der menschlichen Arbeit mobilisiert. All das geschieht nicht zum Wohl der Menschen, sondern um ihren Reichtum zu zerstören. Es bleiben nur Ruinen und Leichen übrig. Der imperialistische Krieg zerstört und bedroht das Erbe der Menschheit, das in der Geschichte geschaffen wurde. Langfristig besteht die Gefahr, dass die ganze Menschheit ausgelöscht wird. Dies ist ein Ausdruck des totalen Wahnsinns dieses Systems.

    Mehr als je zuvor besteht die einzige Hoffnung in der Überwindung des Kapitalismus, in dem Aufbau von menschlichen Beziehungen, die frei sind von den Widersprüchen, welche diese Gesellschaft erdrosseln. Dieses Werk muss jene Klasse vollbringen, die als einzige der Menschheit eine Zukunft bieten kann – die Arbeiterklasse.

    Wim (10. Januar 2007).

     

        (1) Übrigens behält ein anderer Tyrann der Region, der Syrer Hafez-el-Assad, der ewige Rivale Saddams, seinen Ruf als ein „großer Staatsmann", der für seine Unterstützung des Westens zur Zeit der beiden Blöcke belohnt wurde, obwohl auch an seinen Händen viel Blut klebt und er die gleichen Mittel benutzte wie Saddam Hussein.

        (2) Einige Schreiberlinge der Bourgeoisie sind sogar dazu fähig, den Ekel, der durch diese unglaubliche Barbarei auf der Welt hervorgerufen wird, aufzugreifen. Aber sie führen diese Barbarei immer auf „individuelle Impulse" und letztendlich auf das „menschliche Wesen" zurück. Aber sie können nicht anerkennen und begreifen, dass diese Barbarei im Gegenteil ein historisches Produkt ist; ein Produkt des kapitalistischen Systems und dass es eine gesellschaftliche Klasse gibt, die diese Barbarei beenden kann – das Proletariat.

        (3) Äthiopien, das vormals auch eine Bastion der UdSSR war, ist seit der Flucht Mengistus 1991, zu einem Stützpfeiler der USA am Horn von Afrika geworden.

    ist nur noch eine Ruinenstadt, deren Bevölkerung dahinvegetiert. Eine neue Übergangsregierung, die von Äthiopien unterstützt wird, hat ihre Geschäfte aufgenommen, aber sie verfügt über keinerlei politische Autorität. So ist beispielsweise ihr Aufruf an die Bevölkerung zur Ablieferung der Waffen nicht befolgt worden. Nach dem schnellen Sieg Äthiopiens konnte der Waffenstillstand nur vorübergehend und zerbrechlich sein, denn die islamistischen „Rebellen" sind dabei, sich neu zu bewaffnen, insbesondere im Gebiet der sehr durchlässigen Grenze zu Kenia. Aber die Rebellen können auf andere Stützpunkte zurückgreifen (Sudan, Eritrea – traditioneller Gegner Äthiopiens, Jemen). Die USA sind besorgt, da das Horn von Afrika und die Militärbasis in Dschibuti angesichts der Brückenfunktion, die Somalia gegenüber Asien und dem Mittleren Osten darstellt, eine der wichtigsten strategischen Regionen der Welt ist. Deshalb sahen sich die USA gezwungen, am 8. Januar direkt mittels Bombardierungen im Süden des Landes einzugreifen, wohin die „Rebellen" geflüchtet waren, von denen das Weiße Haus behauptet, sie seien direkt von Al-Qaida manipuliert und gesteuert.

    Zuspitzung der Krise - Der Kampf des Proletariats ist international

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    Drei Jahre lang, von 2004 bis 2006, beherrschte der Kampf gegen Werkschließungen, massiven Personalabbau und die damit einhergehenden Erpressungen gegen die Belegschaften die soziale Lage in Deutschland. Den Anfang machte Daimler-Chrysler im Frühsommer 2004. Als die Konzernleitung drohte, einen Teil der Produktion von Stuttgart nach Bremen zu verlagern, wenn die Beschäftigten in Baden-Württemberg nicht empfindliche Einbußen hinnehmen, gingen aus Solidarität auch die Kollegen in Bremen auf die Straße. Im Herbst 2004 folgte die außergewerkschaftliche, einwöchige Betriebsbesetzung bei Opel in Bochum, um gegen den Personalabbau zu protestieren. Es folgten ähnliche Aktionen in den unterschiedlichsten Branchen. Am spektakulärsten war die wochenlange Betriebsbesetzung der AEG in Nürnberg 2006, wo es, wie auch bei Infineon in München, nicht mehr um die Abwendung der Werksschließung, sondern „lediglich" um die Durchsetzung eines „Sozialplans" ging. In den wenigsten Fällen gelang es den kämpfenden Arbeitern, ihre Forderungen durchzusetzen. Die Beschäftigten von Bosch-Siemens-Haushaltswaren in Berlin wurden durch einen langandauernden, isolierten Streik ausgepowert. Zuletzt mussten auch die Betroffenen bei der Handyproduktion von BenQ (ehemals Siemens) angesichts der Pleite des Konzerns die Waffen strecken. Allerdings haben bis zuletzt die bedrohten Belegschaften versucht, den Beispielen von Daimler und Opel folgend die Solidarität der Arbeiter als einzig mögliche Antwort auf die Angriffe des Kapitals zu entwickeln. So haben beispielsweise die zur gleichen Zeit von Standortschließungen Bedrohten bei der Allianz-Versicherung und bei BenQ in Nordrhein-Westfalen Ende 2006 gemeinsam in Düsseldorf demonstriert.

     

    Der Aufschwung auf Kosten der Arbeiterklasse

    Während dieser ganzen Zeit war die Kapitalistenklasse emsig darum bemüht, das Problem der Massenentlassungen als ein spezifisch deutsches Phänomen darzustellen. Während die „deregulierten" Wirtschaften Asiens, Osteuropas oder die Wirtschaft der angelsächsischen Länder expandieren und immer neue Jobs schaffen – so hieß es –, seien die Lohnkosten in Deutschland zu hoch, der Arbeitsmarkt zu unflexibel, die „bürokratischen Investitionshemmnisse" noch zu umfangreich usw. Tatsächlich lag während dieser Zeit die offizielle Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich oberhalb des Durchschnitts der führenden Industriestaaten. Jetzt aber sind die Anhänger des Kapitalismus darauf aus, uns davon zu überzeugen, dass eine Wende zum Besseren auch in Deutschland eingetreten sei. Man weist nicht ohne Stolz darauf hin, dass die amtlich gezählte Arbeitslosigkeit von fünf auf vier Millionen abgesenkt werden konnte, dass die staatliche „Agentur für Arbeit" soeben einen Milliardenüberschluss erzielte und dass daraufhin die Beiträge der Arbeitslosenversicherung zum ersten Mal seit vielen Jahren leicht abgesenkt werden konnten. Dabei geht es den Herrschenden in erster Linie darum, dass die Massenentlassungen, die wir über uns ergehen lassen mussten, sowie die mittels der Massenarbeitslosigkeit von uns erpressten Einschnitte und Verschlechterungen nicht umsonst waren. Wir sollen nun glauben, dass diese „Opfer" etwas gebracht haben, dass die Interessen der Lohnarbeit und des Kapitals auch und gerade in der Krise übereinstimmen können, dass der Kapitalismus auch für die Lohnsklaven ein lohnendes Geschäft sein kann. Der bürgerliche Ausblick auf das Jahr 2007 sagt einen weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit voraus. Die „Hochkonjunktur" sei „stabil" und werde sich fortsetzen. Vor allem habe die „Zuversicht" der Konsumenten zugenommen, so dass eine sich selbst tragende Binnenkonjunktur in Aussicht stehe. Der Albtraum der Massenentlassungen – gehört er nunmehr „auch in Deutschland" der Vergangenheit an? Werden sich die Wellen der sozialen Unruhe glätten?

    Die Vertiefung der sozialen Gegensätze

    Indessen haben im Saarland die Metaller das neue Jahr mit ersten Kampfmaßnahmen eingeläutet. In Saarlouis demonstrierten Tausende gegen die neue Rentenreform der Bundesregierung. Weitere Proteste in anderen Bundesländern sollen folgen. Vor allem aber werfen die bevorstehenden Tarifverhandlungen schon jetzt ihren langen Schatten voraus. Bereits Ende 2006 fand eine aufgeregte „öffentliche Diskussion" über diese Frage statt. Prominente Vertreter der Bundesregierung sprachen sich dafür aus, die „Arbeitnehmer" – zumindest dort, wo es den Betrieben gut gehe – „endlich" an den Früchten der „Hochkonjunktur" zu beteiligen. Nicht nur die SPD wiederholte die in Zeiten des Wirtschaftswachstums üblichen keynesianischen Sprüche über Lohnerhöhungen zur Steigerung des Massenkonsums als unverzichtbare Stützen der kapitalistischen Konjunktur, auch prominente Vertreter der CDU stimmte mit ein. Der Ministerpräsident der konservativen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, Rüttgers, der der Union ein sozialeres Image verpassen will, sprach sogar von einer „Lebenslüge" der zu hohen Löhne in Deutschland. Damit wollen die Politiker die Unternehmer bei der bevorstehenden Lohnrunde zu einer umsichtigen, auf Provokationen verzichtende Vorgehensweise bewegen. Denn die direkten Vertreter des Staates wissen sehr wohl, dass die Arbeiterklasse – aller Niederlagen der letzten drei Jahren zum Trotz – keineswegs niedergeschlagen ist. Im Gegenteil: gerade weil es angesichts von Werksschließungen und massivem Personalabbau für die Arbeiter unmittelbar sehr schwierig ist, sich wirkungsvoll zur Wehr zu setzen, fürchtet die Bourgeoisie, dass die in den letzten Jahren aufgestaute Unzufriedenheit in einem anderen Rahmen wie etwa bei Tarifverhandlungen oder bei der Frage der Rente sich entladen könnte. Bereits im Herbst 2006, als eine erste Mobilisierung gegenüber dem Sozialabbau sich nicht mehr hinausschieben ließ, haben die Gewerkschaften dafür Sorge getragen, dass in den Betrieben nicht mobilisiert wurde, so dass die Arbeitslosen möglichst allein demonstrierten. Die Herrschenden wollen unbedingt größere Arbeiterkämpfe verhindern. Denn solche Kämpfe könnten nicht nur aufgrund der Entfaltung einer stärkeren Kampfbereitschaft Schwierigkeiten bereiten. Sie würden v.a. das derzeit zersplitterte, aber unter der Oberfläche vonstatten gehende Nachdenken über die Entwicklung des Kapitalismus und der Lage ihrer Lohnsklaven einen größeren und deutlicheren Rahmen liefern. Sie würden helfen klarzumachen, dass die Betroffenen dieser Krise nicht nur Einzelschicksale sind, sondern zu einer gemeinsamen, ausgebeuteten Klasse gehören.

     

    Der Kampf der Arbeiter ist international

    Während in Deutschland der Konjunkturhimmel sich angeblich aufhellt und die offizielle Arbeitslosenzahl zurückläufig ist, wird in der Öffentlichkeit sorgfältig vermieden, von den Aussichten der führenden Wirtschaftsmacht der Welt, der USA, zu sprechen, welche den Herrschenden immer mehr Kopfzerbrechen bereitet. Es ist auch kein Zufall, dass die bisherigen Sorgenkinder der Weltwirtschaft wie Deutschland, Japan oder die Schweiz sich im Vergleich zu ihren Hauptrivalen ein wenig gebessert haben, während beispielsweise im angelsächsischen Raum die Aussichten immer mehr eintrüben. Denn die Bourgeoisie der erstgenannten Länder hat in den letzten Jahren die dort besonders starke Zunahme der Erwerbslosigkeit ausgenutzt, um die Lage der Arbeiterklasse besonders brutal zu verschlechtern. Es spricht Bände, wenn eine Firma wie Volkswagen sich vornimmt, die Produktion bestimmter Modelle von Belgien – ein Staat, der im westeuropäischen Vergleich eher als Niedriglohnland galt – nach Deutschland zu verlagern. Diese Entwicklung zeichnete sich allerdings schon vorher ab, als DHL (ein aus der ehemaligen Deutschen Post hervorgegangenes, weltweit operierendes Logistikunternehmen) die Drehscheibe seines europäischen Frachtluftverkehrs von Brüssel nach Leipzig-Halle verlegte. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland sowie das Wirtschaftswachstum von knapp 2 % zeigen keineswegs eine Erholung der Weltwirtschaft an. Vielmehr wurden diese – in Wahrheit äußerst bescheidenen, durch statistische Manipulationen aufgebauschten – Erfolge direkt auf Kosten der Konkurrenten erzielt. Hinzu kommt, dass Deutschland, Japan und die Schweiz im Maschinenbau weltführend sind. Sie haben somit überdurchschnittlich von den Bestellungen aus China profitiert. Aber auch die Konjunktur in China ist in erster Linie Ausdruck der immer schärfer werdenden Konkurrenz eines unter chronischer Überproduktion stöhnenden kapitalistischen Weltmarkts. Inzwischen hat wohl jeder kapiert, dass China nur deshalb die deutsche Transrapid-Magnetschwebebahn oder, wie zuletzt, vierhundert Airbus-Passagierflugzeuge aus Europa bestellt hat (die in China gebaut werden sollen), um diese Produkte zu kopieren und billiger zu vermarkten.

     

    Die Grundlagen für einen umfassenden Widerstand der Arbeiter wachsen heran

    In den 1980er Jahren galten Deutschland und Japan als die kapitalistischen Wachstumsmodelle. Da diese beiden Länder aufgrund ihrer hohen Produktivität zugleich zu den Staaten mit den höchsten Löhnen gehörten, konnten sie noch dazu dienen, der Weltarbeiterklasse vorzugaukeln, dass ein erfolgreicher Kapitalismus auch „Erfolge" für ihre Lohnsklaven aufweisen könne. Heute sind die kapitalistischen Wachstumsmodelle - China und Indien. Somit realisieren die Arbeiter aller Länder immer mehr, dass selbst eine Produktion auf höchstem Niveau der Produktivität in den zentralen Ländern des Kapitalismus heute überall absolute Verarmung der Arbeiterklasse bedeutet. Die vorübergehend erzielten Vorteile der einen Nation oder des einen Unternehmens gegenüber seinen Konkurrenten sind nichts als Momente einer wahnwitzigen Abwärtsspirale, eines sinnlosen Unterbietungswettlaufs auf Kosten des Weltproletariats. Der Eindruck, dass die Arbeiterklasse in Deutschland in den letzten drei Jahren sich allein mit dem Problem der Massenentlassungen herumschlagen musste, während andernorts die Beschäftigten die Segnungen eines angeblichen Booms an Arbeitsplätzen genossen, ist nichts als ein Zerrbild. Der einzige Abwehrkampf der letzten drei Jahre in Europa, welcher zu einer wirklichen Massenbewegung anschwoll und das bürgerliche Regime zumindest vorübergehend zum Nachgeben zwingen konnte – der der Studenten und Schüler in Frankreich 2006 – richtete sich direkt gegen die zunehmende Unsicherheit der Beschäftigung. Auch die Ende 2006 angedrohte Werksschließung bei VW in Brüssel hat uns zuletzt an den internationalen Charakter der Massenarbeitslosigkeit erinnert. In China werden heute die Armeen der Erwerbslosen wie die der Wanderarbeiter stets größer.

    Auch die Mär, dass die Arbeiterklasse in Deutschland das Problem der Massenentlassungen nun hinter sich gebracht habe, wird durch die bittere Realität Lügen gestraft. Dies bewies die bereits im Januar 2007 angekündigte Beschleunigung der Zechenschließungen im Kohlebergbau Nordrhein-Westfalens.

    Zweifelsohne hemmt das Damoklesschwert der Massenarbeitslosigkeit zumeist noch die Abwehrreaktion der Arbeiterklasse. Auch wenn die dennoch erfolgten Reaktionen der Arbeiter auf Entlassungen und gar Betriebsschließungen zumeist isoliert blieben und fast nie konkrete Erfolge erzielen konnten, haben sie dennoch ein vertieftes Nachdenken über das Wesen des Kapitalismus ansatzweise angestoßen, welches jetzt schon den Ausbeutern Sorgen macht. Hinzu kommt, dass die Krise des Kapitalismus heute einen Frontalangriff gegenüber der Gesamtheit der Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats bedeutet: die Löhne, die Renten, die Erwerbslosenunterstützung, die Gesundheitsversorgung usw. Somit werden langsam, aber sicher die Grundlagen gelegt für einen umfassenden, internationalen Widerstand der Arbeiterklasse. 26.01.07

     


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