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Weltrevolution Nr. 141

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Airbus, Telekom, Bayer -Die Notwendigkeit der internationalen Solidarität

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Am Mittwoch, den 28. Februar, kündigte der Airbus-Konzern den Abbau von 10.000 Arbeitsplätzen binnen vier Jahren in Europa an, davon 4.300 Stellen in Frankreich, 3.700 in Deutschland, 1.600 in Großbritannien und 400 in Spanien. Betroffen davon werden je zur Hälfte Zeitarbeiter und Festangestellte. Die Werke St. Nazaire in Frankreich und Varel und Laupheim in Deutschland sollen verkauft, Nordenham als "Joint Venture" geführt werden. In mehreren französischen Werken reagierte man auf das "Power 8" getaufte "Sparprogramm" mit Arbeitsniederlegungen. In Varel, Laupheim und Nordenham fanden ebenfalls sofort Proteststreiks statt, welche meistenteils bis zum darauf folgenden Montag andauerten. Obwohl die Konzernleitung sichtlich bemüht war, den Eindruck zu erwecken, dass die Zukunft der wichtigsten, sich in städtischen Ballungsräumen befindlichen deutschen Standorte - Hamburg und Bremen -gesichert sei, fanden auch dort erste Arbeitsniederlegungen statt. Dies geschah teilweise als Reaktion auf den auch dort vorgesehenen Stellenabbau (1.000 Jobs in Hamburg, 900 in Bremen stehen zur Disposition) und teilweise aus Solidarität mit den noch härter betroffenen Belegschaften. Überall war von den betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter zu hören, dass die Beschäftigten der verschiedenen Standorte im In- und Ausland unbedingt zusammenstehen und verhindern müssen, dass die Belegschaften gegeneinander ausgespielt werden.

Am selben Tag legten 12.000 Telekom-Beschäftigte ebenfalls die Arbeit nieder und zogen protestierend vor die Konzernzentrale in Bonn. Sie reagierten damit auf die Ankündigung des Managements, 50.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Konzern auszugliedern, was zunächst bedeutet: für deutlich weniger Geld vier Stunden die Woche mehr arbeiten zu müssen.  Inzwischen will die ‚Wirtschaftswoche' erfahren haben, dass nicht 50.000 sondern 85.000 Opfer dieses "Outsourcing" werden sollen.

Genau zwei Tage später, am 2. März, demonstrierten aufgebrachte Arbeiterinnen und Arbeiter vor der Schering-Zentrale in Berlin. Ihr Protest galt dem soeben angekündigten Abbau von 6.100 Stellen weltweit. Betroffen sind Standorte in den USA, Japan, Kanada, Südamerika, dem asiatisch-pazifischen Raum sowie in Deutschland vornehmlich der Sitz der Bayer Schering Pharma AG mit 1.200 Stellen.

Mit diesen Aktionen bewiesen die Betroffenen wieder einmal die urwüchsige Klugheit der kollektiv in Bewegung geratenen Arbeiterklasse. Indem sie die falschen Alternativen - passives Hinnehmen oder  kopflose und isolierte Streiks bis zum bitteren Ende - vermieden, setzten die Betroffenen ein erstes, aber deutliches Signal, mit den Plänen des Kapitals nicht einverstanden zu sein und sie nicht hinnehmen zu wollen. Dabei rückte die Frage der Solidarität unvermeidlich in den Mittelpunkt des Arbeiterkampfes. Mit ihrer Betonung des Zusammenhalts aller Airbus-Beschäftigten in Europa, mit den Solidaritätsaktionen in Hamburg und Bremen knüpfen die Betroffenen an die besten Traditionen der Arbeiterbewegung wieder an, wie das beispielsweise vor drei Jahren bei Mercedes geschah, als das Werk Bremen aus Solidarität mit den angegriffenen Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart mitstreikte.

Der Verlust der Illusionen

So die ersten Reaktionen der Arbeiter. Und wie reagiert die Politik, die Regierungen dieser Welt auf diese neue Welle der Massenentlassungen und der "Präkarisierung"? Sie reagieren mit Sympathiebekundungen gegenüber den Betroffenen sowie mit Zusicherungen, helfen zu wollen. Warum plötzlich diese "Sympathie" der Regierenden, die sich sonst gnadenlos zeigen, wenn es darum geht, die Lasten der kapitalistischen Wirtschaftskrise auf die Schultern der Arbeiterklasse abzuwälzen? Von Sympathie war jedenfalls wenig zu spüren, als es darum ging, Hartz IV, die Rente mit 67, die "Lockerung" des Kündigungsschutzes oder einen erbarmungslosen Lohnabbau durchzusetzen. Die Herrschenden kennen keine Sympathie für die Klasse, von deren Ausbeutung sie leben. Sie sind aber jetzt aufgeschreckt, da die neuen Massenentlassungen im Herzen der modernen Industrie sowie die Reaktionen der Betroffenen die kommenden sozialen Explosionen ankündigen. Eigentlich wollte die Große Koalition am 28. Februar triumphal die Senkung der offiziellen Arbeitslosenzahlen um 826.000 gegenüber dem Vorjahr ankündigen und feiern lassen. Die Hiobsbotschaften  von Airbus, Telekom und dann Bayer, aber auch die von China ausgehende Panik an den Weltbörsen haben Union und SPD einen Strich durch die Rechnung gemacht. Von der immer krasser werdenden Retuschierung der Erwerbslosenstatistiken abgesehen, fragen sich immer mehr Menschen zu Recht, was das für neue Jobs sein sollen, die entstehen, während (mit einer Ausnahme) sämtliche in Deutschland börsennotierte Unternehmen im vergangenen Jahr kräftig Arbeitsplätze abgebaut haben (Mercedes z.B. in aller Stille 15.000)? Es handelt sich offensichtlich um Arbeit zu Hungerlöhnen, das, was man "working poor" nennt.


Die Herrschenden sind also alarmiert und wollen kein Öl ins Feuer gießen. Sie sind nicht weniger besorgt als der Betriebsratsvorsitzende von Opel in Bochum, der die aufkommenden Spekulationen darüber, dass General Motors erneut in Erwägung zieht, ein Werk in Europa - entweder Bochum oder Antwerpen - zu schließen, Anfang März so kommentierte: "Wer dies tut, riskiert es, einen Krieg auszulösen". Dabei meinte er einen Klassenkrieg. Dieser Krieg wird zwar nicht so schnell kommen. Aber die ersten Vorgeplänkel dazu finden jetzt schon statt.

Sie gehen einher mit dem Verlust der Illusionen der Lohnabhängigen über die Möglichkeit, Verbesserungen innerhalb dieses Systems zu erzielen, statt dessen merken sie, dass sie ihren jetzigen Lebensstandard im Kapitalismus nicht mehr halten können. Dies um so mehr, da derzeit sogar solche Firmen ihre Belegschaften massiv angreifen, die noch satte Profite erzielen (wie die Telekom) oder volle Auftragsbücher zu verzeichnen haben (wie bei Airbus). So wird das alte Märchen zunehmend der Lächerlichkeit preisgegeben, demzufolge es sich lohne, sich als Arbeiter für die Interessen des Kapitals zu opfern, da es den Arbeitern gut gehe, wenn es "ihren" Firmen gut geht. Stattdessen wird der Interessengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital immer unübersehbarer.

Auffallend an den Äußerungen der Demonstrierenden bei Airbus oder Telekom war die Beschäftigung mit der Zukunft, mit der (mangelnden) Perspektive der kommenden Generation und somit mit der Frage, in welcher Welt unsere Kinder leben werden. Es handelt sich um erste Ansätze, die Frage einer Alternative zum Kapitalismus wieder aufzuwerfen.

Was die Entlassungen derzeit v.a. bei Airbus außerdem verdeutlichen, ist, dass die Arbeiter aller Länder vor denselben Problemen stehen. Seit Jahren will uns die bürgerliche Propaganda weismachen, dass es der arbeitenden Bevölkerung verschiedener europäischer Nachbarstaaten besser gehe als "hierzulande" da dort die Wirtschaft - sprich: der Kapitalismus - besser funktioniere. Auch hier macht die Realität dieser Propaganda den Ausbeutern einen Strich durch die Rechnung. Brisant bei Airbus ist nicht zuletzt die sich abzeichnende Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse in Frankreich und Deutschland gleichzeitig frontal angegriffen wird. Brisant nicht nur, weil der moderne Kapitalismus in den letzten 150 Jahren die Arbeiter Frankreichs und Deutschlands in drei mörderischen Kriegen gegeneinander gehetzt hat, sondern auch, weil die Arbeiterbewegung dieser beiden Länder in der Geschichte immer wieder imstande war, voneinander zu lernen und durch ihre Kämpfe den Arbeitern aller Länder ein Signal zu geben. Aber auch die jüngste Ankündigung Daimler-Chryslers, Tausende von Stellen v.a. in den USA abzubauen, hilft zu verdeutlichen, dass es weltweit eine Arbeiterklasse gibt, der ein einziger Gegner gegenübersteht.

Die Gewerkschaften: Speerspitzen der kapitalistischen Konkurrenz

Und wie reagieren die Gewerkschaften? Sie haben angekündigt, um jeden Arbeitsplatz und um jeden Standort kämpfen zu wollen. Diesen "Kampf um jeden Arbeitsplatz" kann man natürlich nur als Floskel auffassen, wenn man bedenkt, welch millionenfache Arbeitsplatzvernichtung gerade die Gewerkschaften in der Vergangenheit mit unterschrieben und auch durchgesetzt haben. Dabei haben sie oft genug vorauseilend ihre eigenen "Sparpläne" vorgelegt, welche nicht selten über die der Unternehmen hinausgingen und noch raffinierter die Betroffenen untereinander spalteten.

Sie taten und tun dies nicht in erster Linie aus Bösartigkeit oder weil sie korrumpiert sind, sondern weil sie als bekennende Verteidiger des Kapitalismus die Konkurrenz bejahen. Die Konkurrenz aber ist das Grundprinzip des Kapitalismus, während die Solidarität das Grundprinzip des Arbeiterkampfes bildet. Diese beiden Dinge lassen sich niemals vereinbaren. Dies macht derzeit z.B. die Haltung der französischen Gewerkschaften gegenüber der Lage bei Airbus deutlich. Sie quittierten die Nachricht von den "Power 8"-Plänen des Konzerns mit einem Aufschrei gegen "den Ausverkauf der französischen Industrie". Seitdem hetzen sie gegen "die Deutschen", die angeblich bei Airbus "die Franzosen" über den Tisch gezogen haben.

Was ist aber mit der IG Metall in Deutschland? Redet sie nicht der "internationalen Solidarität" das Wort? War es nicht die IGM, welche als erste zu einem europaweiten Aktionstag bei Airbus (Mitte März) aufgerufen hat? Diese wohlfeilen Phrasen der internationalen Solidarität stehen den deutschen Gewerkschaften schlecht zu Gesicht. Auch sie kennen sich bestens aus, wenn es darum geht, sich der nationalistischen Hetze zu bedienen. Jedoch bietet die augenblickliche Lage in Deutschland, mit der Gleichzeitigkeit der Angriffe in verschiedenen Branchen, wenig Gelegenheit dazu. Oder sollen die Franzosen auch noch für die Misere bei der Telekom oder bei Bayer herhalten? So übernimmt die IGM in einer Art naturwüchsiger Arbeitsteilung den Part des "internationalistischen" Verteidigers des europäischen Airbuskonzerns insgesamt gegenüber der Konkurrenz von Boeing aus Amerika. Das verspricht eine "gehobenere", transatlantische Art, die Arbeiter verschiedener Länder gegeneinander aufzuhetzen. Dabei verteidigt diese Gewerkschaft damit durchaus die ureigenen Interessen des deutschen Kapitals. Denn Deutschland allein ist nicht imstande, gegenüber der amerikanischen Konkurrenz eine eigene Flugzeugindustrie zu unterhalten. Die Interessen des deutschen Kapitals verlangen somit eine Mäßigung der inner-europäischen Konkurrenz innerhalb des Airbuskonzerns, um Boeing die Stirn bieten zu können. Das titulieren sie dann "Solidarität aller europäischen Standorte". Die Gewerkschaften sind immer dabei, wenn es darum geht, den jeweiligen Betrieb, Konzern oder die Nation gegen andere zu verteidigen. Einen besonderen Eifer entfalten sie allerdings darin, wenn es um die Verteidigung der strategischen Interessen des eigenen Nationalstaats geht. Bei Airbus beispielsweise geht es auch und gerade um militärische Fragen, um den neuen, riesigen europäischen Militärtransporter, um die Satellitentechnologie des EADS-Konzerns usw. Da ist die IG Metall sehr engagiert. Nicht weniger engagiert zeigt sich die Gewerkschaft Verdi gegenüber der Deutschen Telekom. Jahrelang hat Verdi die Monopolstellung bzw. die Restprivilegien des einstigen Staatskonzerns erbittert verteidigt - angeblich im Interesse der Beschäftigten. Dabei sprechen die jetzt vom neuen Konzernchef Obermann vorgelegten Zahlen eine deutliche Sprache: Verluste im Inland, Gewinne im Ausland. Was bedeutet das? Jahrelang durfte die Telekom über überhöhte Inlandspreise spektakuläre Einkäufe im Ausland finanzieren, um zum "global player" aufzusteigen. Von wegen im Interesse der Beschäftigten, deren Arbeitsplätze immer wieder zehntausendfach abgebaut wurden! Es ging stattdessen um die Positionierung des deutschen Kapitals im strategisch wichtigen Telekommunikationsbereich, welcher für die kapitalistische Wirtschaft ebenso zentral ist wie fürs Militär. Jetzt, wo dieses Ziel mehr oder weniger erreicht ist, kann das deutsche Kapital es sich leisten, dem Druck der Europäischen Union (sprich: der europäischen Konkurrenz!) nachzugeben und mehr Konkurrenz im Inland zuzulassen. Dies liegt sogar im Interesse des deutschen Kapitals, denn langfristig bedeuten überhöhte Telekommunikationspreise einen Standortnachteil. Wie vorher das Erlangen der Konkurrenzfähigkeit im Ausland erfordert nun die Konkurrenzfähigkeit im Inland (was sonst?) neue Opfer der Beschäftigten. Nachdem Verdi zuvor die Kolleginnen und Kollegen bei der Telekom eine 34-Stunden-Woche mitsamt 8%ige Lohneinbußen mit aufgebürdet hat, sollen sie nun wieder vier Stunden mehr, und zwar gratis, arbeiten!

Man könnte viele andere solche Beispiele nennen, etwa die deutsche Energiewirtschaft, die letztens wieder von sich reden machte im Rahmen des Vorziehens der Bergbauschließungen an der Ruhr und an der Saar. Diese Konzerne haben jahrelang mit Unterstützung der Gewerkschaft eine Art Monopolstellung in Deutschland bewahren können und damit viel Kapital angehäuft, mit dem man nun versucht, die Energiewirtschaft anderer Staaten, wie z.B. Spanien, unter ihre Kontrolle zu bekommen. Es geht dabei um mehr als nur um das Erzielen von Gewinnen. Denn wer die Energiewirtschaft anderer Staaten kontrolliert, kann diese Staaten auch erpressen, wie die jüngsten Konflikte Russlands mit der Ukraine und zuletzt Weißrussland wieder gezeigt haben. Es ist selbstredend, dass nicht nur der deutsche, sondern alle Staaten nach diesem Gesetz des Dschungels gegeneinander verfahren.

Kein Wunder also, wenn der Airbus-Chef Gallois seinen "Power 8"-Masterplan nicht als starres Schema vorstellte, sondern als Richtlinie, welche zusammen mit den Gewerkschaften "schöpferisch" konkretisiert werden soll. Man zählt auf die Gewerkschaften vor Ort, die die Verhältnisse bestens kennen und für das In-Schach-Halten der Arbeiterklasse zuständig sind. Sie sollen dafür sorgen, dass der Widerstand der Arbeiter versandet, lokal abgekapselt und isoliert wird. Und die Gewerkschaften haben sofort ihre verantwortungsvolle Mitarbeit angekündigt. Sie werden umso "konstruktiver" mitarbeiten, da es nicht nur um das Wohl des Konzerns, sondern um das des Vaterlandes geht. Sie werden gegebenenfalls auch nicht zögern, die Arbeiter gegeneinander in einen imperialistischen Krieg zu hetzen, so wie sie es bereits im Ersten Weltkrieg getan haben.

Das Problem des "Mismanagements"

Was die Krise bei Airbus betrifft, beeilte sich Bundeskanzlerin Merkel, den Gewerkschaften beizupflichten, die von Mismanagement sprechen gegenüber der Konzernleitung, welche den "schwachen Dollar" als Hauptursache der Misere ausgemacht haben wollen. Das ist eine alte Leier. Wenn immer eine Firma ins Wanken gerät, sollen die Arbeiter denken, das liege nicht am kapitalistischen System sondern daran, dass man nicht kapitalistisch genug sei.

Jetzt sehen sich die Verteidiger des Systems allerdings bei ihren Klagen über Mismanagement gezwungen, ein wenig mehr zu verallgemeinern. Auf einmal gibt es drei Spitzenkonzerne, die unter dieser Krankheit leiden. Was schlagen sie uns also vor? Eine bessere Ausbildung für Manager? Schön. Es gibt gute und schlechte Manager. Die Firmen mit "gutem" Management haben einen Konkurrenzvorteil gegenüber den schlecht geführten. Was wäre aber, wenn es nur noch gute Manager gäbe? Das Problem der Eliminierung der weniger konkurrenzfähigen Firmen und damit des permanenten Drucks, Stellen abzubauen und die Löhne zu drücken, würde wohl kaum verschwinden - deren Ursache nicht im "Mismanagement", sondern in der kapitalistischen Konkurrenz liegt.

Oder wollen die Gewerkschaften beim Management der Konzerne mehr mitmischen, um dadurch deren Leitung aufzubessern? Dies ist seit Jahrzehnten längst geschehen! Die Gewerkschaften haben alle Entscheidungen bei Airbus oder der Telekom mitgetragen, die sie nun als "Mismanagement" abkanzeln!

Die Notwendigkeit der internationalen Solidarität

Bei Airbus sehen sich die Arbeiter mit den beiden derzeitig hauptsächlichen Denkrichtungen der Bourgeoisie konfrontiert. Die Konzernleiter unter Gallois stellen den Typus der neoliberalen Globalisierer dar, welche die Firma als international operierendes Unternehmen ohne Rücksicht auf die politischen Interessen der beteiligten Nationalstaaten führen möchte. Das ist natürlich eine Utopie. Denn Airbus ist überhaupt ein staatliches Geschöpf, eine Willensbekundung bestimmter europäischer Staaten. Aber selbst wenn das realistisch wäre, was würde es der Arbeiterklasse anderes bescheren als das, was ohnehin angekündigt worden ist?

Die zweite, mehr protektionistisch ausgerichtete, die Rolle des Nationalstaates betonende Richtung wird auch heute wieder vornehmlich von der Politik und von den Gewerkschaften hochgehalten. Aber auch die Ideologie der "Globalisierungsgegner" wie ATTAC steht dieser Sichtweise nah. Sie fordern die Nationalstaaten dazu auf, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung gegenüber den "Multis" zu wahren. Das bedeutet aber, dass diese Richtung offen die nationale Konkurrenz befürwortet. Nebenbei bemerkt: einer der Gründe, weshalb Airbus trotz voller Auftragsbücher in die Krise rutschte, war, weil etliche Aufträge aufgrund von nicht passenden Teilen (z.B. zu kurze oder zu dicke Kabel!) nicht rechtzeitig ausgeführt werden konnten! Diese unglaubliche Inkompetenz ebenso wie das unsinnige Hin-und-her-Transportieren von Teilen durch halb Europa ist ein klassisches Produkt der "Einmischung der Nationalstaaten zugunsten der arbeitenden Bevölkerung"!

Die neoliberale und die nationalstaatliche Richtung sind in Wahrheit keine Gegensätze und erst recht keine Alternativen, sondern stellen zwei Seiten ein- und derselben Medaille dar. Kapitalismus bedeutet Weltwirtschaft und zugleich Konkurrenz der Nationalstaaten. Die soeben erwähnten Ideologien betonen lediglich mehr die eine oder andere Seite dieses im Kapitalismus unlösbaren Widerspruchs.

 

Wir brauchen unbedingt eine Weltwirtschaft. Denn kein einziges der großen Probleme der Menschheit kann heute anders als auf Weltebene gelöst werden. Aber die kapitalistische Konkurrenz, die Produktion für den Markt, die Lohnarbeit - einst ein unentbehrlicher Stachel, um die noch unterentwickelten Produktivkräfte der Menschheit zur Entfaltung zu bringen - brauchen wir längst nicht mehr. Sie sind vielmehr zu einer riesigen Fessel der Entwicklung von Wirtschaft und Kultur geworden.

Die objektive Lage selbst wirft die Systemfrage auf und damit die Frage des Internationalismus. Nur die Arbeiterklasse ist international. Die Lohnsklaven bei Airbus müssen auf der Hut sein, dürfen sich nicht ausspielen lassen, nicht nur zwischen den einzelnen Airbus-Standorten, sondern auch zwischen Airbus und Boeing, zwischen Europa und Amerika (und China usw.) Das Kapital mit seiner Konkurrenz ist weltweit. Die Arbeiterklasse muss ihren Kampf aufnehmen. Das Wesen dieses Kampfes liegt in der Aufhebung der Konkurrenz unter den Arbeitern, in der Führung des Kampfes in allen Ländern im Zeichen der internationalen Solidarität.

Proletarier aller Länder, vereinigt euch! IKS. 5. März 2007.

Bemerkungen zur Finnischen Revolution 1918

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Ab 29.01.1918 galt das südliche Finnland als das rote Finnland, das von der provisorischen Regierung, genannt Volkskommissariat, regiert wurde. Auf diesem Gebiet liegt ein  Industrieort, um ein großes Papierwerk herum gewachsen, wo ich herkomme. Zur Zeit der finnischen Revolution war mein Großvater ein Arbeiter  in diesem Papierwerk. Als die Bourgeoisie die Revolution niederschlug und das Gebiet, das als rotes Finnland galt, wieder eroberte, nahm sie Zehntausende Arbeiter gefangen. Unter diesen Gefangenen war auch mein Großvater.  Daher ist mir die Revolution in Finnland von  meiner Kindheit  an bekannt gewesen. Meine Tante, die 1918 zehn Jahre alt war, hat den Aufstand als Kind der Arbeiterfamilie  miterlebt und mir und meinen Brüdern einiges darüber erzählt. Ich kann mich erinnern, dass sie erzählt hat, dass es den Arbeitern schlecht ging, und sie hatten 12-Stunden-Tage in der Fabrik, und deshalb haben die Arbeiter sich gewehrt. Sie hat erzählt, wie die "Herren" (wie man in meiner Stadt die Oberschicht in der Fabrik genannt hat) höhnisch und menschenverachtend zu den streikenden Arbeitern gesagt haben, streikt nur, es gibt genug Elende draußen vor den Fabriktoren. Als die "Säuberung", wie die Bourgeoisie die Niederschlagung der Revolution nach den militärischen Sieg über die roten Garden nannte, dann vor sich ging, bedeutete dies unter anderem, dass die Weißgardisten die Wohnungen der Arbeiterklasse systematisch nach Männern und Waffen durchsuchten. Dieses spielte sich auch bei meinen Großeltern zu Hause ab. Meine Großmutter lag mit ihrem jüngsten Kind im Wochenbett, die Weißgardisten marschierten rein, zeigten mit der Waffe auf meine Großmutter, nannten sie eine Verbrecherin. Dieses Bild haben meine Tanten ihr ganzes Leben lang in Erinnerung behalten. Viele zu Tode verurteilten Arbeitern wurden nachts z.B. im Wald erschossen, dass wussten damals alle. Die Angehörigen gingen Nacht für Nacht in den Wald, um den Schüssen zuzuhören, weil man ja nie wusste, wann die eigenen Familienangehörigen dran waren. Die Angst, der Schrecken und die Bitterkeit saßen tief bei den Arbeitern. Meine Tante erzählte, es hätte damals schon für ein Todesurteil genügt, dass man Brot für die Roten gebacken hat, oder dass man einfach von jemanden als Roter beschuldigt worden wäre. Als ich in den 70er Jahren anfing, an  Treffen einer maoistischen Gruppe teilzunehmen, hatten meine Tanten wirklich Angst, dass dieses irgendwann ein Grund zur Erschießung sein könnte.

Der Bürgerkrieg hat die Finnen zum Großen Teil erst mal in zwei Lager geteilt und ein Trauma hinterlassen. Trotz Erzählungen, die ich in meiner Kindheit gehört habe, war es allgemein so, dass man über den Bürgerkrieg nicht sprach. Die herrschende Meinung war, dass man die alten  Wunden nicht  aufreißen sollte und dass ein Bruderkrieg nie mehr entstehen sollte.  Heute verstehe ich, dass dieses zu Gunsten der finnischen Bourgeoisie geht, und ein Produkt der Konterrevolution ist.

Als ich vor einigen Jahren den Artikel über die finnische Revolution in der Zeitung der schwedischen Sektion der IKS, Internationell Revolution las, wurde mir klar, dass es sich 1918 in Finnland um eine  proletarische Revolution handelte. Bis dahin war ich es gewohnt gewesen, dass man über den Bürgerkrieg oder über den Aufstand sprach.  Natürlich bekam ich Interesse auch mehr zu erfahren. Bis jetzt bin ich leider erst so weit, dass ich vier Bücher über die finnische Revolution gelesen habe. Die Art und Weise, wie man in diesen Büchern die finnische Revolution handelt, ist eine bürgerliche.  Die große Frage in diesen Büchern ist, wieso war es möglich, dass Finnen sich gegenseitig in einem grausamen Bürgerkrieg schlachteten.  Bei Erörterung dieser Frage, wie auch bei allen anderen Fragen, wird die internationale Situation 1918, vor allem die weltweite revolutionäre Welle ausgeblendet. Natürlich übergeht man in diesen Büchern  die Revolution in Russland nicht, genauso wie auch nicht  die Tatsache, dass die finnische Bourgeoisie Unterstützung vom kaiserlichen Deutschland erhielt. Aber meiner Meinung nach wird nicht mal ein Versuch gemacht, die wirklichen Gründe für die Revolution in Finnland herauszufinden, bzw. wahrscheinlich ist es gerade der Zweck von dieser Art Geschichtsverarbeitung, die Tatsache zu verwischen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, und dass es eine Generation von Arbeiterklasse gab, die einen großartigen Versuch unternommen hat, um die Klassengesellschaft zu überwinden, in dem man das kapitalistische System stürzt. In einem der Bücher wird gesagt,  dass heute wohl kaum jemand allen Ernstes die Werte und Positionen vertritt, für die die Roten und die Weißen ihren Krieg führten.  Ich denke, dass sowohl die Bgsie als auch die Arbeiterklasse heute die gleichen Positionen und Werte vertreten wie damals. Die Bgsie ist heute zu denselben Grausamkeiten bereit wie damals und das Proletariat hat heute wie damals das Zeug in sich, eine neue klassenlose, wirklich menschliche Gesellschaft zu errichten und den Kapitalismus zu stürzen.

Meine Freundin hat mir diese Bücher besorgt, meinte aber, sie hätte wirklich keine Lust mit diesem Thema sich auseinander zu setzten. Ich habe angefangen mir diese Mühe zu machen, auch wenn es nicht leicht ist, z.B. Berichte über das Kriegsgeschehen, die Erschießungen, die Not, das Elend, die Angst und die Verzweiflung zu lesen, aber schon der Anfang hat sich gelohnt. Ich habe angefangen, mich von den  Mythen zu befreien, die den Bürgerkrieg in Finnland umranken. Auch wenn ich als Kind schon von der Revolution innerhalb der eigenen Familie gehört habe, bin ich natürlich, wie fast alle, durch die Schule und durch die Gesellschaft zur Vaterlandsliebe erzogen worden. Sie ist einem immer als etwas Hehres, etwas Reines und Ehrenhaftes und absolut etwas Gutes vermittelt worden. Wenn man aber die Geschichte der Entstehung des finnischen Staates liest, kommt einem alles andere entgegen, als etwas Hehres, Reines, Ehrenhaftes oder Gutes.  Der finnischen Bourgeoisie war es gelungen, ihre grausame Niederschlagung der Revolution als finnischen Freiheitskrieg zu verkaufen. Ihr war es auch gelungen, nach dem Krieg glauben zu machen, es habe  sich in diesem Krieg um einen Bruderkrieg gehandelt, der sich  nie mehr wiederholen dürfte. Der Begriff Bruderkrieg erscheint in einem ganz anderen Licht, wenn man weiß, dass die Bourgeoisie, so bald sie sich von dem Schrecken der Machtübernahme der Arbeiterklasse in Süd-Finnland erholt hatte und anfangen konnte sich zu rüsten, auch mit der Zwangsrekrutierung anfing. So mussten wirklich auch Teile der Arbeiterklasse ihre eigenen Klassenbrüder und -schwestern umbringen, was sie aus freien Stücken niemals gemacht hätten.

 

Diese Notizen sind meine ganz persönlichen Eindrücke, die ich von der finnischen Revolution gewonnen habe. Ich weiß, dass dies ein bescheidener Anfang ist. Der nächste Schritt wird sein, Texte zu lesen, die die Theoretiker der Arbeiterbewegung über die finnische Revolution geschrieben haben. In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch mit dem roten Terror auseinandersetzen. Die finnische Revolution war ein Teil des Kampfes des weltweiten Proletariats. So sind die Geschichte und die Erfahrungen daraus nicht nur für die finnische Arbeiterklasse wichtig, sondern für das ganze Weltproletariat. Somit ist es  auch eine Aufgabe der Avantgarde der Arbeiterklasse sich damit zu befassen. Ich fühle mich verantwortlich, im kollektiven Rahmen weiterzuarbeiten, zumal ich die finnische Sprache kann.

Stockholm 20.01.2007

Chavez - Der Mythos vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts

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Der überwältigende Triumph Chavez, der bei seinem Wahlsieg am 3. Dezember 2006 63% der abgegebenen Stimmen erhielt, während der Oppositionskandidat 37% Stimmen auf sich vereinigte, konsolidiert und legitimiert nicht nur die Macht des Chavez-treuen Teils der Bourgeoisie für einen weiteren Zeitraum von sechs Jahren, sondern er stellt auch einen Triumph für die gesamte venezolanische Bourgeoisie dar. Erneut hat die politische Konfrontation zwischen Fraktionen der Bourgeoisie, die das politische Leben nach der Übernahme der Macht durch Chavez 1999 beherrschte, die Bevölkerung gespalten und zu einer massiven Wahlbeteiligung geführt. Den Angaben des Nationalen Wahlbüros (CNE) gab es nur 25% Enthaltungen, d.h. der niedrigste Prozentsatz seit dem früheren Tiefpunkt von 40%.

Indem sich Oppositionsgruppen wieder an den Wahlen beteiligten (die Parlamentswahlen von 2005 hatten sie noch boykottiert), hat die verschleiernde Wirkung der Wahlen und der Demokratie wieder an Stärke gewonnen. Dies sind grundlegende ideologische Mechanismen, mit Hilfe derer die herrschende Klasse das kapitalistische Ausbeutungssystem aufrechterhält. Aber die größte Unterstützung für die Erreichung dieses Ziels wurde vom Chavismus geleistet, der eine Polarisierung herbeigeführt hat, indem er behauptete, der Oppositionskandidat sei der Kandidat des Teufels Bush; und falls dieser die Wahlen gewinnen sollte, würde dies alle Projekte der Regierung (z.B. Erreichung der 'sozialen Gerechtigkeit') und die Errungenschaften der 'Revolution' gefährden. So sind das Proletariat und mit ihm viele ausgeschlossene Schichten in die Falle der Polarisierung zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen geraten, indem sie ihre ganze Hoffnung auf einen Teil der Bourgeoisie setzten, der seine linkspopulistische Politik gegenüber den ärmsten Teilen der Gesellschaft zu seinen Gunsten ausnutzen konnte. Dabei kamen ihm die hohen Öleinkünfte gelegen. Dieser Flügel der Bourgeoisie verwaltet eigentlich nur die Armut, indem er eine "Gleichstellung" befürwortet, wodurch die gesamte Gesellschaft "gleichgestellt" wird. Tatsächlich werden dadurch die Mittelschichten verarmt und die Arbeiter sowie die sozial Ausgeschlossenen verarmen noch mehr. Dies ist das Rezept des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", den der Chavismus nach Bolivien, Ecuador und Nicaragua exportiert und der ihm als trojanisches Pferd dient, um seinen geopolitischen Einfluss in der Region zu verstärken.

Der "radikale" Antiamerikanismus Chavez' (dem die Bewegung der "Antiglobalisierer" frenetisch zujubelt), die Unterstützung für andere "linke" Regierungen wie in Bolivien, Ecuador und Nicaragua, wie auch "Hilfeleistungen" für mehrere Länder in der Region in Form von Preisrabatten beim Öl, zeigen, wie das Öl als Waffe in der Region auf Kosten der Amerikaner eingesetzt wird, die zuvor Lateinamerika als ihren Hinterhof betrachten konnten.

Was steckt hinter der "massiven Unterstützung des Volkes" für Chavez ?

Der Chavez-Flügel der Bourgeoisie, der von militärischen und zivilen Teilen der Linken und der Linksextremisten angeführt wird, stützt sich auf die gesellschaftliche Unterstützung der ausgebeuteten Massen, hauptsächlich der sozial Ausgeschlossenen, die in den großen Armutsgürteln um Caracas und anderen großen Städten des Landes leben, wie auch auf die verarmte Landbevölkerung. Gegenüber diesen Massen wurde die Illusion verbreitet, sie könnte ihr Elend bis 2021 überwinden!

Die große Cleverness dieses Teils der Bourgeoisie bestand darin, sich so darzustellen, als ob sie aus den Volksschichten stammte und auf der Seite der Armen stünde. Sie nutzte diesen Schachzug, um sich als Opfer gegenüber den "Angriffen des bürgerlichen Lagers", aber vor allem auch gegenüber dem US-Imperialismus darzustellen, der als eine Bedrohung von Außen aufgebauscht wird, welcher die "Revolution" an der Verwirklichung ihrer Pläne zur Überwindung der Armut hindert. Sich ständig als Opfer darzustellen war einer der besten Ratschläge seitens der kubanischen Bourgeoisie für die neuen Eliten des Chavismus. Erstere benutzte dies als Mittel zur Rechtfertigung der Armut und der mehr als 40 Jahre dauernden "Revolution".

Die Regierung Chavez hat seit Mitte 2003 die "Sozialausgaben" neu ausgerichtet, indem sie so genannte Missionen geschaffen hat. Es handelt sich um gesellschaftliche Projekte, in denen der Staat einige Brosamen unter der Bevölkerung verteilt. Dabei verfolgt sie hauptsächlich zwei Ziele: den sozialen Frieden aufrechterhalten (dies ist notwendig, damit die kapitalistische Ausbeutungsmaschinerie reibungslos funktioniert) und die Kontrolle über die verarmten Massen zu verstärken, mit dem Ziel, das Treiben der bürgerlichen Fraktionen zu unterbinden, die bislang mehrere Versuche unternommen hatten, um Chavez abzusetzen. Diese "Sozialausgaben" (die für die Chavez-Bourgeoisie zwingend war), wurden von einer noch nie dagewesenen ideologischen Manipulation begleitet. Dabei wurde die staatskapitalistische Politik Chavez als die Politik eines Hilfe leistenden Staats dargestellt, der die Reichtümer nach dem "Gleichheitsprinzip" verteilt und dabei unter den verarmten Bevölkerungsschichten die Illusion hervorruft, die Geldquellen des Staates seien unerschöpflich; dass man nur den Ölhahn mit den Petrodollars aufdrehen müsse und dass die Bourgeoisie sich wirklich bemühe, ihre Probleme zu lösen. Mittels ihrer "Missionen", den Kooperativen, unzähligen politischen Organisationen (innerhalb derer die Kreise Bolivars aktiv sind) und staatlichen Institutionen, hat der Chavismus ein Netz geschaffen, das bis in die entlegensten Teile des Landes vorgedrungen ist und dessen Hauptziel keinesfalls darin besteht, die Leute aus ihrer Misere zu führen, wie es die Regierungspropaganda behauptet, sondern die Bevölkerung ideologisch, politisch und sozial zu kontrollieren.

Um die Präsidentenwahlen zu gewinnen (bei denen er sieben Millionen Stimmen erringen konnte, obwohl er 10 Millionen von den 16 Millionen Stimmen der Wahlberechtigten anstrebte), hat der Chavismus wie seine Vorgängerregierungen in den Wahlphasen den Löwenanteil der Staatsausgaben auf das Jahr 2006 konzentriert. So wurden die Nahrungsmittelimporte in den ersten Monaten des Jahres erhöht, um sie zu subventionierten Preisen zu verkaufen. Viele öffentliche Bauprojekte wurden angefangen, aber nicht abgeschlossen. Zwei Mindestlohnerhöhungen für die Vollbeschäftigten wurden verkündet (die eine im Mai, die andere im September), die Auszahlung der Renten wurde beschleunigt, ausstehende Lohnzahlungen an Beschäftigte wurden geleistet, ebenso wurden Tarifverhandlungen bei auslaufenden Tarifverträgen in bestimmten Branchen geführt. Zu guter Letzt wurden den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, Rentnern und den Beschäftigten der "Missionen"  kurz vor den Wahlen Sonderzahlungen geleistet. Die Regierung konnte sich dabei der Einkünfte aus dem Ölgeschäft bedienen, um ein Gefühl des Wohlstands in der Bevölkerung zu verbreiten. Diese Ausgaben führten neben der historischen Erhöhung der Importe, den umfangreichen Waffenkäufen, der ‚Hilfe' an andere Nationen, zu einer Erhöhung der öffentlichen Ausgaben 2006 von 58% im Vergleich zu 2005. Dies entspricht 35% des BIP - eine wahre Zeitbombe, die sich früher oder später auf die Beschleunigung der Wirtschaftskrise auswirken wird.

Die 'sozialen Errungenschaften' des Chavismus verstärken die Verarmung

Gemäß der vom Chavismus im In- und Ausland verbreiteten Propaganda (mit Unterstützung durch Linksintellektuelle sowie wie der Antiglobalisierungsbewegung) hat Venezuela den Weg der Überwindung der Armut bis 2021 eingeschlagen.

Aber ungeachtet all der erstickenden Propaganda der Chavez-Regierung sieht die Wirklichkeit anders aus. Wenn man sich in den Armenviertel im Osten des Hauptstadt Caracas (Tetare) und im Westen (Catia) wie auch im Zentrum der Stadt bewegt, kann man die wirkliche Armut sehen, die sich hinter diesen Rauchwolken verbirgt: unzählige Indios, meistens Jugendliche, leben und schlafen auf der Straße, unter den Brücken und am Ufer des Flusses Guaira (die große Kloake, in welche die Abwässer der Stadt fließen), die Straßen sind mit Müll übersät, wodurch die Rattenplage und Krankheiten zugenommen haben. Zehntausende Straßenhändler (genannt Buhoneros) säumen die Straßen und verkaufen Grundnahrungsmittel. Die so genannte informelle Wirtschaft wird dadurch aufgebläht. Caracas ist aufgrund der gestiegenen Kriminalität zu einem der gefährlichsten Orte der Region und Venezuela zum Land mit der höchsten Kriminalitätsrate geworden. Es hat selbst Kolumbien in diesem Bereich überholt, das zuvor jahrelang an der Kriminalitätsspitze stand. Auf nationaler Ebene haben verschiedene Krankheiten wie Malaria und Dengue-Fieber zugenommen. Kindersterblichkeit und die Sterblichkeitsrate von Müttern sind ebenfalls im Ansteigen begriffen. Davon ist nicht nur Caracas, sondern auch all die anderen Großstädte, aber auch zunehmend die mittleren und kleineren Städte betroffen. Obwohl die Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um diese Armut zu vertuschen (z.B. wurden Straßenkinder oder Indio-Kinder aufgegriffen, Prostituierte verfolgt, Straßenhändler vertrieben usw.), und obwohl die Regierung für all diese Missstände der Opposition oder dem US-Imperialismus die Schuld in die Schuhe schob, kann die dramatische Verarmung der Bevölkerung nicht weiter verheimlicht werden.

Mit großer Heuchelei kritisiert die  Opposition die Regierung und wirft ihr die Schuld für die Verarmung vor. Damit will die Opposition sich nur als besserer "Verteidiger" der Armen darstellen, während sie eigentlich nur die Kontrolle über den Staatsapparat übernehmen will, um dieses System zu schützen, das nur Armut und Barbarei für uns bereit hält. Die regierungstreuen Medien verschweigen oder spielen diese Tatsachen herunter. Gewiss ist dieser Trend nicht auf Venezuela beschränkt, sondern er ist überall in allen Städten der Peripherie festzustellen.

Neben diesen sehr auffälligen Erscheinungen der Armut kann man auch andere erwähnen, die die Verarmung der Arbeitermassen verdeutlichen. Die vom Staat betriebene Organisierung in Kooperativen hat nur zur Bildung von noch mehr prekären Arbeitsplätzen geführt, da die Beschäftigten der Kooperativen noch weniger verdienen als andere Beschäftigte. Auch erhalten diese - den Erklärungen der Gewerkschaften und der Kooperativen selbst zufolge - nicht einmal den offiziellen Mindestlohn. Die Diskussion über die Tarifverträge, insbesondere im öffentlichen Dienst, ist immer wieder verschleppt worden. Lohnerhöhungen werden durch Dekrete angeordnet. Meistens geschieht dies durch Prämienzahlungen, die allerdings oft erst mit großer Verspätung ausgezahlt werden. Mit Hilfe der ‚Missionen' und anderen Regierungsinstanzen wurden parallele Dienstleistungsorgane geschaffen, die neben den im Gesundheitswesen und im Erziehungsbereich bestehenden arbeiten. Diese wurden vor allem dazu verwendet, die ‚Normalbeschäftigten' unter Druck zu setzen und deren Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Es wird offensichtlich, dass Prekarität, flexible Arbeitsbedingungen und Angriffe gegen die Löhne, die typisch sind für einen wilden Kapitalismus, für jede Bourgeoisie unverzichtbar sind; selbst die ‚anti-neoliberale' Regierung, als die sich der Flügel der Bourgeoisie um Chavez darstellt, verwendet solche Maßnahmen.

Die Beschäftigten wie auch die marginalisierten Massen zahlen den Preis für die ständig wachsenden öffentlichen Ausgaben, welche die ‚neue' chavistische Bourgeoisie einzudämmen versucht. Die Inflation ist enorm angestiegen - 2004: 19,2%, 2005: 14,4%, 2006 17% - so die offiziellen Zahlen. Dieser inflationäre Schub, der hauptsächlich durch die Wirtschaftspolitik des Staates ausgelöst wurde, hat zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der gesamten Bevölkerung, hauptsächlich aber der verarmten Massen geführt, die 70% oder mehr ihres Lohns für Lebensmittel ausgeben müssen. Bei diesen Produkten sind die Preise um 152% gestiegen (Statistik der venezolanischen Zentralbank). Die Prognosen für 2007 sind nicht besser, man erwartet eine Inflation von 20%. Allein im Januar 2007 stiegen die Preise schon um 2%.

Nach dem Wahlsieg hat der Chavismus grünes Licht bekommen, um seine Angriffe gegen die Arbeiter fortzusetzen

Wenige Tage nach den Wahlen hat die Regierung eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, um ihr Projekt des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" umzusetzen. Man beruft sich dabei auf das ‚Volk', das für dieses Projekt seine Zustimmung gegeben habe. Als erstes hat die Regierung ihre Muskeln gegenüber den oppositionellen bürgerlichen Kräften des In- und Auslandes spielen lassen, indem sie eine Reihe von Verstaatlichungsmaßnahmen in der Wirtschaft (Telekom, audiovisuelle Medien, Energie usw.), eine Mehrheitskontrolle der Ölförderung, die sich bislang in den Händen von Multis befand, und erhöhte Steuerbelastungen angekündigt hat. Diese Maßnahmen zeigen das Hauptziel der chavistischen Bourgeoisie: eine bessere Kontrolle der Wirtschaft durch radikale staatskapitalistische Maßnahmen.

Die Bourgeoisie weiß, dass sich die Krise früher oder später aufgrund der exzessiven Ausgabenpolitik des Chavismus beschleunigen wird. Deshalb befürworten die ‚Triebkräfte der bolivarischen Revolution' Maßnahmen einer größeren politischen und gesellschaftlichen Kontrolle der Arbeiterklasse und der Bevölkerung im Allgemeinen durch eine angebliche "Volksmacht" und die Gemeinderäte. Gleichzeitig mit der Verkündung der  Verstärkung dieser gesellschaftlichen Kontrollorgane hat die Regierung eine Reihe von Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse und die Bevölkerung ergriffen:

- Kontrollmaßnahmen und Repression gegen die Straßenverkäufer in der Hauptstadt, diese Maßnahmen werden auf das ganze Land ausgeweitet;

- baldige Erhöhung des Ölpreises;

- Aufgabe gewisser ‚Missionen' (wie die der Lebensmittel- und Medikamentenverteilung), was zu Versorgungsschwierigkeiten dieser Produkte geführt hat, deren Preise staatlich festgelegt wurden. Die Regierung hat geschickterweise Teile des Privatkapitals für die Verschlechterung der Lage verantwortlich gemacht, obwohl die Maßnahmen der Regierung selbst daran schuld sind.

- Ein Kampf gegen die Bürokratie und die Korruption wurde verkündet. Chavez hat verlangt, dass die Einkommen der höchsten Staatsbediensteten gekürzt werden (die in manchen Fällen mehr als 50 Mal höher als der Mindestlohn sind). Es handelt sich um ein Ablenkungsmanöver, da der Chavismus die Gefolgschaft dieser Staatsdiener und der Armee gekauft hat, indem diese Gehälter wie Multimillionäre bezogen und sie die Ressourcen des Staates insgeheim weiter verwalten konnten. Das wahre Ziel dieser Maßnahme besteht darin, die Gehälter der kleinen Bürokraten zu kürzen, d.h. der Bediensteten des öffentlichen Dienstes, indem sie zu prekär Beschäftigten (und sie gezwungen werden, Kooperativen zu gründen) oder  gar entlassen werden.

Auf dem Höhepunkt ihrer Popularität zeigt die Regierung ihr wirkliches Gesicht als bürgerliche Regierung. Nachdem sie die Arbeiter und die marginalisierten Schichten als Stimmvieh bei den Wahlen benutzt hat, wurden nun Spar- und Repressionsmaßnahmen angekündigt. Für die chavistische Bourgeoisie ist es nunmehr notwendig, die Ausgaben zu kürzen, zudem sie eine Senkung der Ölpreise für 2007 angekündigt hat, wodurch ihre Einnahmen sinken werden. Gegenüber dieser Lage haben die Arbeiter in Venezuela wie in allen Ländern auf der Welt keine andere Wahl als ihren Kampf gegen die unaufhörlichen Angriffe des Kapitals. Wir wissen, dass dieser Kampf nicht leicht sein wird, u.a. aufgrund der Schwächung, die sie durch den Einfluss der chavistischen Ideologie erlitten haben, denn diese hat die Idee des Sozialismus geschwächt und manipuliert. Die Mangelwirtschaft kann nur durch den revolutionären Kampf des Proletariats überwunden werden.  IKS - 18.2.07

Das neue Programm der Gruppe Internationalistische Kommunisten GIK: Eine solide Orientierung für die Arbeiterklasse

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Im Sommer letzten Jahres hat die Gruppe Internationalistische Kommunisten (GIK) eine über sechzig Seiten umfassende Broschüre veröffentlicht. Darin erläutert sie ihre politischen Positionen. Wir haben diese Publikation mit Freude in die Hand genommen und gelesen. Lassen wir die GIK aus der Vorbemerkung zu ihrem Programm sprechen: "Wir wenden uns mit diesem Programm, das auf den Positionen der internationalen kommunistischen Linken beruht, an all diejenigen Menschen, die am Kapitalismus als zukunftsfähigem System zweifeln und nicht nur ein paar Reformen wollen, sondern nach einem Ausweg aus diesem System suchen und deswegen die reformistische Linke, die Sozialdemokratie, den Stalinismus oder die bestehenden Gewerkschaften kritisieren und ablehnen."       

Das Programm der GIK ist in seiner gesamten Länge eine klare und begrüssenswerte Darlegung der markantesten historischen Erfahrungen der Arbeiterklasse und den daraus resultierenden politischen Lehren. Der GIK ist es mit ihrem Programm tatsächlich gelungen, die wichtigsten Fragen zu beantworten, welche sich heute Menschen stellen, die am Kapitalismus zunehmend Zweifel hegen. Es ist hier selbstverständlich nicht möglich, allumfassend auf das reichhaltige Programm einzugehen, alles hervorzuheben, mit dem wir einverstanden sind, oder eventuelle Kritiken zu erläutern. Doch dazu wird in unseren künftigen Nummern der WELTREVOLUTION Platz vorhanden sein. In diesem Sinne freuen wir uns auf eine lebendige Debatte, an der unsere Leser teilhaben sollen.

Weshalb begrüssen wir das Programm der GIK als eine solide Orientierung für die Arbeiterklasse…

1985 formierte sich die GIK vornehmlich in Österreich, nachdem diese Genossen aus Sorge um die notwendige, offene politische Arbeit innerhalb der Arbeiterklasse aus der Gruppe Kommunistische Politik (GKP) ausgetreten waren. Die GIK hat mittlerweile eine über 20-jährige Geschichte. Schon im Frühling 1987 hatte die GIK ihre ersten "Grundpositionen" in der Zeitschrift ARBEITERREVOLUTION veröffentlicht. Das grosse Verdienst der GIK war es, über all die Jahre hinweg dem Standpunkt der Arbeiterklasse absolut treu geblieben zu sein.

Wir möchten für Leser, welche die GIK nicht kennen, bei ganz grundlegenden Fragen beginnen und nicht die Kenntnis der Debatten, die wir mit diesen Genossen schon geführt haben, zur Voraussetzung machen. Es scheint uns natürlich auch wichtig zu betrachten, ob das Programm der GIK auf Fragen der politischen Aktualität Antworten bereit hat.

Wenn wir hier vom "Standpunkt der Arbeiterklasse" sprechen, meinen wir erst einmal folgendes: "Die Arbeiterklasse darf in all diesen Kriegen niemals eine der beiden Seiten unterstützen - bedeutet der Krieg doch immer, dass sich die ArbeiterInnen im Interesse ihrer Ausbeuter gegenseitig abschlachten und die grössten Opfer bringen. Es gibt keine fortschrittliche Seite, die die Arbeiterklasse unterstützen könnte. Die Arbeiterklasse muss in jedem kriegsbeteiligten Land der ‚eigenen' Regierung die Unterstützung verweigern, die nationale Einheit durchbrechen und den Krieg nach Kräften sabotieren."(Programm der GIK, Punkt 64). Diesen internationalistischen Standpunkt hatten die Genossen schon vor über 20 Jahren vertreten. Und tatsächlich ist die Haltung einer politischen Gruppierung zur Frage des Krieges in unseren Augen die wichtigste Messlatte, um über den Charakter einer Gruppe ein Urteil zu fällen. Sie entscheidet, ob eine Organisation sich auf die Seite der Arbeiterklasse stellt oder ob sie das kriegerische System des Kapitalismus verteidigt. Selbstverständlich tauchen in den Debatten unter Gruppierungen innerhalb der Arbeiterklasse verschiedenste Analysen über die Gründe von Kriegen auf. So hatten wir zum Beispiel auch mit Genossen der GIK in vergangenen Diskussionen nicht immer dieselbe Auffassung über die Bedeutung des Öls in den Golfkriegen. Meinungsverschiedenheiten dieser Art gehören aber zum Leben der Arbeiterklasse. Sie existieren nicht nur zwischen verschiedenen politischen Gruppen, sondern auch innerhalb einer Organisation. Was uns also grundsätzlich mit den Genossen der GIK verbindet, ist unsere gemeinsame Treue zum Internationalismus und die Ablehnung jeder beteiligten Seite in Kriegen - dem wohl bedeutendsten Prinzip für die Arbeiterklasse. 

Die Genossen der GIK verteidigen gleichfalls mit aller Klarheit ein anderes grundlegendes und umso aktuelleres Prinzip, um das die Arbeiterbewegung zeitlebens gerungen hat: nicht Reform des Kapitalismus, sondern seine Überwindung durch die proletarische Revolution! In ihrem Programm weisen sie gegenüber klassenübergreifenden Bewegungen zur Umwelt-, Friedens- oder Globalisierungsfrage auf Folgendes hin: "Alle diese Bewegungen legen den Finger auf wunde Punkte des Systems, sie drücken eine Empörung über augenfällige negative Erscheinungen und Auswüchse aus. Sie müssen aber bis zu einem grösseren Teil wirkungslos bleiben, da sie nur die einzelnen negativen Erscheinungen und nicht den Kapitalismus als Ganzes kritisieren, der diese Erscheinungen hervorbringt. (…) Somit schaffen sie mit ihren Zielsetzungen die Illusion eines Kapitalismus ohne den betreffenden negativen Auswuchs, also etwa die Illusion in einen umweltfreundlichen Kapitalismus, in einen friedlichen Kapitalismus ohne Kriege" (ebenda, Punkt 112). Die unübersehbaren Folgen der Klimaerwärmung und permanenten Zerstörung der Natur durch die kapitalistische Produktionsweise sind heute selbst in den bürgerlichen Medien zum Thema Nr.1 geworden. Der lächerliche Handel um CO2-Ausstossquoten zeigt heute die totale Hilflosigkeit des Kapitalismus gegenüber den bestehenden Problemen. Das oberste Gesetz des Profits in der kapitalistischen Produktionsweise lässt schlicht nicht die Möglichkeit offen, durch irgendwelche "ökologischen Reformen" das Wettrennen gegen die Umweltzerstörung zu gewinnen. Die in ihrem Programm formulierte Position der GIK zur Frage "Reform oder Revolution" hat es also nicht verpasst, auf der Basis eines historischen Prinzips der Arbeiterklasse eine klare Antwort auf eine der heute brennendsten Fragen der Menschheit zu geben.

Wie anfangs erwähnt, können wir hier dem gesamten Programm der GIK nicht gerecht werden und keine komplette Auflistung aller Punkte machen, weshalb wir es begrüssen.  Doch Folgendes bildet in unseren Augen einen weiteren Eckpfeiler: "Der Kommunismus ist noch nie verwirklicht worden. Die gemeinhin als ‚kommunistisch' oder ‚realsozialistisch' bezeichneten Gesellschaftssysteme wie die Sowjetunion mit ihren Satellitenstaaten (ehemaliger Ostblock), die Volksrepublik China sowie Nordkorea, Vietnam und Kuba hatten mit dem Kommunismus nichts zu tun. (…) Genauso wenig stellte das ‚realsozialistische' Gesellschaftssystem eine Übergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus dar, die gegenüber dem westlichen Kapitalismus zu verteidigen gewesen wäre, wie es etwa die trotzkistische politische Richtung und viele Linke behaupteten." (Punkt 22) "Unter Stalin strebte die so genannte kommunistische Partei Russlands die Politik, an die nach der Isolierung der Russischen Revolution übrig blieb: die forcierte nachholende industrielle Entwicklung Russlands unter dem Diktat des Staates und der Partei, genannt ‚Aufbau des Sozialismus' bzw. ‚Sozialismus in einem Land'. Diese Politik hatte aber nichts mit Sozialismus zu tun, denn es gibt keinen Sozialismus, der auf ein Land beschränkt wäre." (Punkt 75) Mit dieser Analyse über die konkreten Erfahrungen der Arbeiterklasse reiht sich das Programm der GIK klar in die Tradition des Linkskommunismus ein, in der auch unsere Organisation steht. Auch dies ist zwar nichts Neues, hatten doch schon ihre "Grundpositionen" von 1987 auf denselben Füssen gestanden. Doch es ist umso gewichtiger und aktueller. Der Linkskommunismus entstand im Wesentlichen in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als Reaktion auf den Stalinismus und die Degeneration der Russischen Revolution. Er beschritt aber einen anderen Weg als andere, dem "Sozialismus in einem Land" anfänglich ebenfalls ablehnend gegenüberstehende Strömungen. Der Linkskommunismus reihte sich nicht wie die Trotzkisten 1939 ins Weltkriegsgeheul und damit ins bürgerliche Lager ein. Es ist nur den Linkskommunisten gelungen, wirklich die Lehren aus der stalinistischen Konterrevolution zu ziehen und konsequent gegen die Lüge vom angeblichen "Sozialismus in einem Land" zu kämpfen und dies bis heute weiter zu tragen. Wir sind froh um die Genossen der GIK, wenn sie gerade heute die Bewusstseinsentwicklung innerhalb der Arbeiterklasse in dieser Frage zu stärken versuchen, die auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nichts an Aktualität verloren hat: Kürzlich veranstalteten Bush und Chavez ihre Propaganda-Tourneen durch Lateinamerika, jeder mit der Absicht, ihre imperialistischen Bündnisse zu schmieden. Dass die Bush-Regierung nicht auf der Seite der Arbeiterklasse steht, muss wohl kaum ausgeführt werden. Um die venezolanische Chavez-Regierung herrscht jedoch eine weit verbreitete Konfusion, da sie sich "antiimperialistisch" schimpft und sich vor allem eines bestehenden "Selbstverwaltungs-Sozialismus" brüstet. Wir selbst haben in mehreren Artikeln die verstärkte Ausbeutung der Arbeiterklasse in Venezuela unter Chavez beschrieben (siehe auch in dieser Ausgabe den Artikel "Wiederwahl von Chavez in Venezuela: Die Verschärfung der Armut im Namen des 'Sozialismus'"):

Das Programm der GIK antwortet darauf auch, und ganz grundsätzlich, indem es jede Möglichkeit eines "Sozialismus in einem Lande" und den linkskapitalistischen Mythos von Inseln der "Arbeiterselbstverwaltung" denunziert.

…und eine historisch-materialistische Angehensweise?

Der aufmerksame Leser dieses Grundlagentextes stellt in vielen Passagen fest, dass im Laufe der Geschichte des Kapitalismus, genauer: um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert eine einschneidende Veränderung stattfand. Um dem Leser einen lebendigen Einblick in die Positionen der GIK dazu zu ermöglichen, seien hier einige ausführliche Zitate erlaubt:

- "Im 19. Jahrhundert war der Kapitalismus noch ein fortschrittliches System (…) Seit die Feudalgesellschaft und die feudalen Monarchien abgeschafft und die kapitalistische Produktionsweise als weltweites System hergestellt ist und auch die sozialistische Revolution objektiv möglich ist, ist der Kapitalismus aber ein reaktionäres, weil zu überwindendes Gesellschaftssystem. (…) Alle Kräfte der Bourgeoisie - auch die so genannten demokratischen, fortschrittlichen - verteidigen ein niedergehendes System, das keine Perspektive mehr bietet." (Punkt 11)

- "Waren die Wirtschaftskrisen im 19. Jahrhundert noch relativ kurz und auf eine Branche oder eine Nation beschränkt, so sind die Wirtschaftskrisen im 20. Jahrhundert global und umfassen tendenziell alle Branchen." (Punkt 21)

- "Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Kapitalismus zwei Weltkriege mit Dutzenden Millionen von Toten, einer Kette von Massakern und der totalen Zerstörung ganzer Länder hervorgebracht." (Punkt 3)

- "Die Abschaffung des Kapitalismus durch die sozialistische Revolution ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts möglich." (Punkt 10)

- "Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft enorm verstärkt, es gab eine Tendenz zum Staatskapitalismus (…)." (Punkt 61)

Und dies hat laut den Genossen der GIK direkte Auswirkungen auf den Kampf der Arbeiterklasse:

- "Die Rolle der Gewerkschaften hat sich gegenüber ihrer Entstehungszeit im 19. Jahrhundert stark verändert." (Punkt 37)

- "Dies führte dazu, dass die Gewerkschaften gerade im Zuge des Anwachsens ihrer Machtstellung am Beginn des 20. Jahrhunderts aufhörten, wirklich für die Interessen der Arbeiter zu kämpfen, sie wurden im Gegenteil zu einer der wichtigsten Ordnungsfaktoren und Stützen des Kapitalismus." (Punkt 38)

- "Auch die Benützung der Parlamente als Tribüne für revolutionäre Propaganda, wie dies die Dritte Internationale mit der von Lenin forcierten Taktik des ‚revolutionären Parlamentarismu' vorsah, ist obsolet. Eine solche Politik hat in der Vergangenheit (in den Zwanzigerjahren) nur die Degeneration der revolutionären kommunistischen Parteien, ihr opportunistisches Abrücken vom revolutionären Programm und ihre allmähliche Umwandlung in Wahlparteien begünstigt." (Punkt 29)

Wir, die IKS, können auch diese Feststellungen nur begrüssen. Die GIK geht in ihrem Text klar ersichtlich davon aus, dass der kapitalistischen Produktionsweise erst eine "fortschrittliche" Rolle zukam, um die objektiven Voraussetzungen für den Kommunismus auf internationaler Ebene im Schosse ihres Systems auszubrüten. Damit ist die Entwicklung der Produktivkräfte und das Entstehen der Arbeiterklasse gemeint, welche allein fähig ist, die Menschheit in der Geschichte einen Schritt weiter zu führen. Die Genossen beschreiben den Charakter des Kapitalismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch als ein, im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, nun "niedergehendes System". Die GIK verwirft hier richtigerweise jeglichen Idealismus, demzufolge eine proletarische Revolution schon immer möglich gewesen sei. Andererseits beschreibt sie treffend den grundsätzlichen Wandel im Charakter des Kapitalismus. Diese Methode zieht sich, mit ein wenig Abstand betrachtet, wie ein roter Faden durch den gesamten Text.   

Auch die IKS hat ein Programm. Unsere PLATTFORM hat gleichermassen den Anspruch, eine Übersicht über unsere grundlegenden Positionen zu bieten. Wir haben darin derselben Feststellung, wie sie die GIK mehrfach in ihrem Programm über den Wandel des historischen Charakters des Kapitalismus macht, zu Beginn einen separaten Punkt mit dem Titel "Die Dekadenz des Kapitalismus" gewidmet. Dies ganz bewusst. Darin schreiben wir: "Damit die proletarische Revolution von der Stufe des einfachen Wunsches oder der einfachen Möglichkeit und historischen Perspektive zur Stufe der konkreten Möglichkeit übergeht, muss sie zu einer objektiven Notwendigkeit für die Entwicklung der Menschheit geworden sein. Diese historische Lage ist seit dem Ersten Weltkrieg eingetreten: der Erste Weltkrieg kennzeichnet das Ende der aufsteigenden Phase der kapitalistischen Produktionsweise, die im 16. Jahrhundert begonnen hatte, um ihren Höhepunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu erreichen. Die seitdem angebrochene Phase ist die der Dekadenz des Kapitalismus." Als wir vor über 30 Jahren unsere Plattform verfassten, schenkten wir gerade diesem Punkt besonderes Gewicht. Nicht nur, um sozusagen das Kind beim Namen zu nennen, sondern weil dieser Eintritt des Kapitalismus in seine niedergehende Phase bedeutende Veränderungen mit sich brachte. Bei der Verteidigung dieser historisch-materialistischen Angehensweise - die darlegt, weshalb die Überwindung des Kapitalismus seit einem Jahrhundert objektiv möglich und notwendig geworden ist und nicht etwa vom reinen Willen abhängt - sind wir in der Vergangenheit von verschiedener Seite als "idealistisch" kritisiert worden. Meist in offensichtlicher Blindheit der Kritiker darüber, dass diese Methode ja exakt die Verwerfung des Idealismus beinhaltet. Wir wollen hier den Genossen der GIK keinesfalls ungewollt die Mütze überstreifen, die Position der IKS über die Dekadenz des Kapitalismus zu vertreten. Doch wie dem auch sei und Hand aufs Herz: All die zitierten Stellen aus ihrem Programm haben uns davon überzeugt, dass die Methode der GIK und unsere nicht meilenweit voneinander entfernt sind.

Es sind die wertvollen politischen Konsequenzen aus der Erkenntnis über die niedergehende Epoche des Kapitalismus, welche die GIK für den praktischen Kampf der Arbeiterklasse verteidigt. So lehnen die Genossen, gleichfalls wie die IKS, jegliche Illusionen in die Gewerkschaften ab, einschliesslich der so genannten radikalen Basisgewerkschaften. Es ist unmöglich geworden, in der staatskapitalistischen Gesellschaft permanente Massenorganisationen der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, da diese schnell in den Staatsapparat integriert werden. Wenn heute angesichts der Entlassungen bei Airbus auf internationaler Ebene sofort die Gewerkschaften auf den Plan treten und unter anderem  versuchen, eine falsche "europäische Solidarität" unter den Airbus-Arbeitern in Konkurrenz zu den amerikanischen Arbeitern von Boeing zu schüren, dann liegt dies nicht, wie die GIK richtig schreibt, bei "den falschen Führungen der Gewerkschaften", sondern darin, dass die Gewerkschaften unwiederbringlich "zu einer der wichtigsten Ordnungsfaktoren und Stützen des Kapitalismus" geworden sind.

Eine einheitliche Weltpartei

Dass die GIK im letzten Sommer ein neues Programm erarbeitet hat, ist an sich schon Ausdruck dafür, ihre spezifische Rolle als revolutionäre Gruppe innerhalb der Arbeiterklasse ernst zu nehmen: sich nicht verbergen, sondern klar und offen ihre politischen Positionen der gesamten Arbeiterklasse zugänglich machen. Seit Beginn der Arbeiterbewegung haben ihre politischen Organisationen nicht nur eine direkte politische Aktivität in ihrer eigenen Klasse entfaltet, sondern auch aufs tiefste über die Art und Weise ihrer eigenen Organisationsformen nachgedacht. Oft nahmen solche Debatten eine zentrale Rolle ein. Dazu schreibt die GIK heute: "Es ist aber die Aufgabe der heutigen zersplitterten kommunistischen Organisationen, in der Zukunft eine einheitliche kommunistische Weltpartei zu bilden (…) Im Gegensatz zur Kommunistischen Internationale von 1919, die einen internationalen Bund nationaler Parteien darstellte, muss die Weltpartei von morgen von vorneherein als einheitlich internationale Partei gegründet werden, um in ihrem Innern jede nationale Gegensätzlichkeit bzw. den Einfluss von Sonderinteressen zu vermeiden." (Punkt 47+48). Und ganz zu Ende unter dem Kapitel "Unsere Praxis": "Die Gruppe Internationalistische Kommunisten (GIK) organisiert sich von Anfang an als internationale Gruppe in Deutschland und Österreich." Und sie setzen sich als Ziel "eine solidarische Debatte mit Gruppen und Einzelpersonen der kommunistischen Linken im internationalen Rahmen zu führen, mit dem Ziel einer Verständigung und Vereinheitlichung und der Bildung einer kommunistischen Weltpartei." Auch darin können wir den Genossen nur zustimmen. Eine der grössten Schwierigkeiten im Lager der revolutionären Organisationen seit dem Scheitern des Versuchs, den Kapitalismus nach dem Ersten Weltkrieg aus den Angeln zu heben, war der Verlust einer lebendigen Debatte. Engstirnige Rückzüge aufgrund der erdrückenden Schwäche der Arbeiterbewegung haben dies über Jahre hinweg immer wieder behindert. Dasselbe gilt für veraltete, föderalistische Auffassungen über die Frage der Organisation, welche vorsehen, in jedem Lande erst eine separate Organisation aufzubauen, die es dann am Sankt Nimmerleinstag zusammenzufügen gilt. Die GIK beschreibt eine andere Methode, die der Offenheit für die Debatte und des Versuchs, eine internationale Organisation aufzubauen.      Weltrevolution

Adresse der GIK:  Postfach    96, A 6845 Hohenems, Österreich

Der Operaismus: Eine ökonomistische und soziologische Betrachtungsweise des Proletariats (1)

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In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist es zu einer gewissen Renaissance des Operaismus gekommen. Dabei erwies sich der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 gewissermaßen als Startschuss seiner Wiederauferstehung. Verunsichert durch die "new economy" der neunziger Jahre und durch die Ausbreitung des neuen "Prekariats", aber auch und besonders durch das Ausbleiben einer entsprechenden massiven Reaktion der Arbeiterklasse, erfreuen sich seitdem operaistische Theorien und Methoden wieder wachsender Beliebtheit unter jenen, die sich nicht mehr mit den alten Erklärungsmustern der "Linken" zufriedengeben wollen. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff "Operaismus"? Wie und wo kann man ihn einordnen? Ist er eine adäquate Antwort auf die derzeitigen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse?

Wir wollen in folgender Artikelreihe versuchen, den Operaismus auch unter Zuhilfenahme des 2002  erschienenen Buches "Den Himmel stürmen - Eine Theoriegeschichte des Operaismus" von Steve Wright zu entschlüsseln. Alle Zitate in diesem Artikel sind, wenn nicht anders angegeben, diesem Buch entnommen.

Die beiden Geburtsfehler des Operaismus

Der klassische Operaismus ist als historische Strömung Anfang der 1960er Jahre in Italien entstanden. Sein Ursprung geht auf eine Strömung von linken Intellektuellen zurück, die sich Ende der fünfziger Jahre innerhalb der PCI (Kommunistische Partei Italiens) und PSI (Sozialistische Partei Italiens) in Opposition zum stalinistischen Leitmodell, aber auch zur Sozialdemokratisierung ihrer Parteiführungen gebildet hatte und nach einem "dritten Weg" zwischen dem "Realsozialismus" des Ostblocks und dem westlichen Kapitalismus suchte. An ihrer Spitze stand Raniero Panzieri, ehemaliges Mitglied des PSI-Zentralkomitees, dessen Hauptanliegen die Neudefinierung des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse war und der im Gegensatz zur bürgerlichen Linken für eine Emanzipation der Arbeiterklasse von der Partei plädierte. Von ihm übernahm der Operaismus das ehrliche Bemühen um die vielzitierte Autonomie der Klasse gegenüber allen substitutionistischen Versuchungen und das Bestreben, den Marxismus aus dem ‚orthodoxen' Korsett des Stalinismus zu befreien.

Die ersten Gehversuche des Operaismus fanden unter dem Eindruck gewaltiger Umgestaltungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich der italienischen Gesellschaft statt. Ähnlich wie im Rest Westeuropas boomte auch die italienische Wirtschaft, was sich unter anderem darin ausdrückte, dass Heerscharen von jungen Angehörigen aus der bäuerlichen Klasse Süditaliens in die wachsende Produktion im Norden des Landes geworfen und somit proletarisiert wurden.

Es ist nur vor dem Hintergrund des "Wirtschaftswunders", das auch in Italien stattgefunden hatte, zu verstehen, dass sich in den fünfziger und sechziger Jahren eine Denkschule bildete, die davon ausging, dass der Kapitalismus seine historische Krise, die ihn zweimal in ein weltweites Inferno gestürzt hatte, überwunden habe. Pionier dieser Denkrichtung war die Gruppe Socialisme ou Barbarie, die sich in Reaktion auf die Degenerierung des Trotzkismus im II. Weltkrieg von selbigem löste und u.a. die Theorie vertrat, dass nicht mehr die Wirtschaftskrise Auslöser des revolutionären Klassenkampfes sei, sondern der Kampf zwischen Befehlsgebern und -empfängern. Ähnlich dachten unter anderem die aus Socialisme ou Barbarie hervorgegangene Gruppe Solidarity, aber auch die viel früher entstandene sog. Frankfurter Schule, die nicht nur die historische Krise des Kapitalismus überwunden glaubten, sondern auch der angeblich "verbürgerlichten" Arbeiterklasse in den Industrieländern jeglichen revolutionären Charakter absprachen. Diese und viele andere modernistische Strömungen zu jener Zeit meinten Marx widerlegt und das neue revolutionäre Subjekt im entrechteten Kleinbauern Lateinamerikas, im diskriminierten Schwarzen Nordamerikas, im Studenten oder gar im Kleinkriminellen hierzulande gefunden zu haben.

Der Operaismus, selbst eine von Socialisme ou Barbarie beeinflusste Strömung, meinte zwar an Marx festhalten zu müssen, ging aber faktisch von derselben Prämisse aus: Der Begriff "Wirtschaftskrise" kommt in seinen verschiedenen Theorien so gut wie gar nicht vor. Schon gar nicht nimmt er Notiz von der historischen Krise des Systems, von der Dekadenz des Kapitalismus, die nach marxistischem Verständnis erst die Perspektive des revolutionären Klassenkampfes konkret eröffnet.

Der zweite Geburtsfehler des Operaismus liegt in seiner Haltung gegenüber der Frage der Politik begründet. Selbst angewidert von der Politik der KP, SP und der Gewerkschaften, war der klassische Operaismus in gewisser Hinsicht eine Antwort auf das damals weit verbreitete Misstrauen innerhalb der Arbeiterklasse gegenüber allem, was über den Tageskampf hinausging. Anders als die Agitatoren der linksextremistischen Organisationen, deren besserwisserisches Treiben das Misstrauen der Arbeiter hervorrief, gelang es den Operaisten in ihren Hoch-Zeiten, in etlichen Betrieben Italiens Fuß zu fassen, indem sie die Politik außen vor ließen und stattdessen den Arbeitern u.a. mittels Fragebögen Gehör schenkten. In diesem Sinne haben sie sich der politik-feindlichen Stimmung innerhalb der Klasse angepasst. Der Operaismus war die Theoretisierung dieser Reaktion, denn er betrachtete den Klassenkampf nicht als einen politischen, sondern als einen rein ökonomischen Kampf, der nur in den Betrieben stattfindet.

Trotz dieser Geburtsfehler und ungeachtet der linksbürgerlichen Herkunft vieler seiner Vordenker ist es abwegig, den Operaismus als dem linksbürgerlichen Spektrum zugehörig zu betrachten. Anders als die Stalinisten jeglicher Couleur hat er den Ostblock nie unterstützt; entgegen den Modernisten hat er im Großen und Ganzen am Klassenbegriff, an der Tatsache des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit festgehalten. Und trotz seiner unklaren Haltung zu den Gewerkschaften ist er insofern für die Selbstorganisation der Arbeiter eingetreten, als er die wilden Streiks der italienischen Arbeiterklasse Anfang der siebziger Jahre einhellig unterstützte. Aber vor allem: nie hat er die Arbeiterklasse zur Teilnahme am Krieg aufgerufen und damit jenen Sündenfall begangen, den sich sämtliche linkskapitalistischen Gruppierungen, von den Sozialdemokraten bzw. Sozialisten über die KP's bis hin zu den Trotzkisten, Maoisten etc., schuldig gemacht hatten.

Doch es wäre gleichfalls töricht, all die Ungereimtheiten und Konfusionen zu verschweigen, die es unserer Auffassung nach in der operaistischen Weltanschauung gibt. Beide Geburtsfehler des Operaismus - die Leugnung der Wirtschaftskrise und der politischen Dimension des Klassenkampfes - führten zu erheblichen Fehleinschätzungen der Arbeiterklasse bzw. ihres Kampfes gegen den Kapitalismus sowie der Rolle der kapitalistischen Linken.

Es wäre vermessen, in diesem Artikel alle Aspekte des Operaismus zu behandeln. Zumal Letzterer sich durch eine große Heterogenität in seinen Reihen auszeichnet. Da gibt es den Operaismus der sechziger Jahre, der eine Vorliebe für den "Massenarbeiter", sprich: Fabrikarbeiter, hatte, und da gibt es den Operaismus Toni Negris, der, enttäuscht über das Scheitern der "Fabrikkämpfe" in den siebziger Jahren, sich dem so genannten gesellschaftlichen Arbeiter zuwandte, d.h. all jenen Beschäftigten, die nicht in der unmittelbaren Produktionssphäre tätig sind. Die einen unterstützten (zumindest anfangs) den Terrorismus der Roten Brigaden als bewaffnete Vorhut der Arbeiterkämpfe, die anderen lehnten jegliche Zusammenarbeit mit ihnen ab. Ja, vereinzelte Stimmen innerhalb des operaistischen Milieus äußerten sich sogar skeptisch gegenüber den Säulen des Operaismus, wie die rein soziologische Herangehensweise.

Die Klassenzusammensetzung als Dreh-und Angelpunkt des Operaismus

Bei aller Vielfalt der operaistischen Strömungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es natürlich auch Gemeinsamkeiten, die in ausgeprägter oder abgeschwächter Form jeder operaistischen Denkart zu eigen sind - die Theorie der Klassenzusammensetzung und der "Umkehrung des Primatverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit". Diese Theorie ist zwar im Verlaufe der Entwicklung des Operaismus unterschiedlich interpretiert worden, doch in ihrem Kern unangetastet geblieben.

Es war Mario Tronti, einer der Vordenker des Operaismus, der eine ganz wesentliche Säule in der operaistischen Konzeption formulierte: "Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muss das Problem umdrehen (und) wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf." Soll heißen: Die Arbeiterklasse gibt jederzeit den Takt der Gesellschaft vor, bestimmt die Politik von Kapital und Staat - es herrscht stets das Primat des Klassenkampfes. Krisen, imperialistische Rivalitäten und andere Faktoren spielen keine Rolle in diesem Konzept. Das Mantra des Operaismus lautet schlicht und einfach: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen" - der berühmte Satz aus dem Kommunistischen Manifest.

Diese Auffassung - die Reduzierung des täglichen Lebens der bürgerlichen Gesellschaft auf die soziale Frage - ist nicht neu in der Arbeiterbewegung und keineswegs eine Besonderheit des Operaismus. So gab es in der Italienischen Kommunistischen Linken in den dreißiger Jahren die Neigung, im Krieg eine Verschwörung der Weltbourgeoisie gegen den angeblich anschwellenden Klassenkampf der Arbeiter zu sehen. Die Operaisten ihrerseits nun witterten hinter jeglichen Umstrukturierungen in der Industrie, hinter allen technologischen Neuerungen in den Produktionsabläufen einen bewusst inszenierten Anschlag des Kapitals auf die Kampfkraft der Arbeiter. Raniero Panzieri kritisierte in diesem Zusammenhang die "Linke", dass sie "nicht den leisesten Verdacht hegt, dass der Kapitalismus die neue ‚technische Basis', die der Übergang zum Stadium der fortgeschrittenen Mechanisierung (und der Automatisierung) ermöglicht hat, dazu ausnutzen könnte, um die autoritäre Struktur der Fabrikorganisation zu verewigen und zu konsolidieren...". Ob die Einführung des Fordismus und Taylorismus im Nachkriegsitalien, die die starke Stellung des Facharbeiters untergraben habe, die Dezentralisierung der Großindustrie in Kleinbetriebe als Antwort auf den Heißen Herbst 1969 oder die Modernisierung der Betriebsabläufe durch die Computertechnologie - überall betonen die Operaisten die politische Absicht des Managements, die Arbeiterklasse zu zersplittern und ihre Stellung im Produktionsprozess zu untergraben.

Es ist sicherlich völlig richtig, den Klassenkampf als Motor der menschlichen Geschichte zu bezeichnen. In der Tat drückt das tägliche Ringen mit ihrem proletarischen Gegner dem Denken und Handeln der Bourgeoisie unübersehbar seinen Stempel auf.

Doch heißt dies, dass die Schwächung der Arbeiterklasse das einzige Kriterium bei der "Neuzusammensetzung" der Arbeiterklasse, bei den Umstrukturierungen im Produktionsapparat ist? War die Einführung einer neuen Arbeitsorganisation in der italienischen Großindustrie in der Nachkriegszeit, die Einbeziehung neuer, unerfahrener Arbeiterschichten aus dem Süden Italiens in den sechziger Jahren und das Ausgliedern von Unternehmensteilen in den siebziger Jahren allein der Absicht geschuldet, den Arbeitern über die erhöhte Ausbeutungsrate hinaus auch politisch zu schädigen?

Schauen wir etwas weiter zurück. Mit Blick auf die erste Maschinisierungswelle der Industrie Anfang des 19. Jahrhunderts stellte Karl Marx fest: "Seit 1825 ist die Erfindung und Anwendung der Maschinen nur das Resultat des Krieges zwischen Unternehmern und Arbeitern. Und auch das gilt nur für England. Die europäischen Nationen sind zur Anwendung der Maschinen durch die Konkurrenz gezwungen worden, die die Engländer ihnen sowohl auf dem inneren Markt als auch auf dem Weltmarkt machten. In Nordamerika schließlich war die Einführung der Maschinen die Folge sowohl der Konkurrenz mit den anderen Völkern als auch des Mangels an Arbeitskräften, d.h. des Missverhältnisses zwischen der Bevölkerungszahl und den industriellen Bedürfnissen Nordamerikas." (1) In wenigen Sätzen zählte Marx neben dem, was er den "Krieg zwischen Unternehmer und Arbeiter" nennt, gleich zwei weitere Motive des Kapitals bei der Maschinisierung auf: die Konkurrenz und den Arbeitskräftemangel. Wir möchten an dieser Stelle noch auf ein drittes Motiv für betriebliche Umstrukturierungen hinweisen, das, wie wir bereits an anderer Stelle gezeigt haben, dem Operaismus gänzlich unbekannt zu sein scheint, das aber gerade in den letzten Jahrzehnten brandaktuell geworden ist: die Weltwirtschaftskrise, die nun schon seit fast 40 Jahren mit immer größerer Intensität wütet und die jeden Kapitalisten dazu zwingt, unablässig die organische Zusammensetzung seines Kapitals zuungunsten des lebendigen Kapitals, sprich: der Arbeitskraft, zu modifizieren.

Die Tatsache, dass das Kapital neue Technologien prinzipiell auch als Mittel zur Unterminierung der Stellung bestimmter Bereiche der Arbeiterklasse einsetzt, ist nichts Neues für Marxisten. Was den Operaismus jedoch gegenüber allen anderen Strömungen auszeichnet, das ist seine eindimensionale Sichtweise der Veränderungen im kapitalistischen Produktionsapparat. Eine Sichtweise, die geradezu versessen darauf ist, jeden Schritt, jede Handlung, jeden Mucks der Bourgeoisie als Ranküne gegen die Arbeiterklasse zu entlarven. Erst spät äußerten sich kritische Stimmen innerhalb des Operaismus-freundlichen Lagers gegenüber dieser Fixierung - wie die von Gisela Bock, Verfasserin des Buches "Die ‚andere' Arbeiterbewegung in den USA", die "die Theorie der Neuzusammensetzung nicht im Sinne einer bloßen Aneinanderreihung von Herrschafts- und Spaltungsmanövern" verwendete und nicht mehr bereit war, "ihr im Sinne der so genannten Massenarbeiterthese eine teleologische Funktion zuzuschreiben" (2).

Fortsetzung folgt

Fußnoten:

(1) Marx, Brief an P.W. Annenkow, MEW Bd. 4, S. 551).

(2) Zitat von Rexroth; aus: "Den Himmel stürmen".

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Operaismus [1]

Ein Jahr danach: Kämpfe der Studenten in Frankreich - Eindrücke und Erfahrungen von Sympathisanten der IKS zu einer Diskussio

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Im Mai 2006 hatten wir die Möglichkeit, an einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung der IKS in Paris teilzunehmen. Es ging in dieser Diskussion um die Studentenbewegung im Frühjahr. Dieser Besuch hat uns sehr beeindruckt, und da uns in diesem Zusammenhang verschiedene Fragen zugegangen sind, haben wir uns entschieden, über diese Diskussion und unsere Eindrücke zu berichten.

Fragen über den Grund unserer Reise:

Ihr seid nicht aus einem Krawalltourismus heraus nach Frankreich gefahren.

Was waren die Beweggründe für Eure Reise? Was wolltet Ihr vor Ort?

*Ich habe als Sympathisantin der IKS nach einer öffentlichen Veranstaltung in Deutschland zum gleichen Thema spontan den Entschluss gefasst, nach Paris zu fahren und war das erste Mal dort. Ich war sehr dankbar für die Berichterstattung der IKS über die Ereignisse in Paris, da die Informationen der bürgerlichen Medien nur sehr unzureichend und verfälscht erfolgen und meinerseits keinerlei Vertrauen in deren Wahrheitsgehalt besteht. Ich war sehr begeistert von dem, was die StudentInnen in Gang gebracht haben. Ich wollte jedoch vor Ort persönlich dieses Gefühl erleben, mit welcher Energie und Ernsthaftigkeit die StudentInnen und ArbeiterInnen in der Bewegung standen. Ich war wirklich berührt von dem, was ich gehört und gesehen habe, es gab und gibt mir den Optimismus und das Wissen, dass die Arbeiterklasse nicht tot ist. Außerdem war es unser persönliches Anliegen, den StudentInnen, SchülerInnen und ArbeiterInnen unsere internationalistische Haltung zu zeigen und unsere uneingeschränkte Solidarität zu versichern. Wir appellierten an sie, den aufgenommenen Weg nicht zu verlassen, sich weiter gemeinsam zu treffen, weiter zu diskutieren und weiter zu kämpfen.

*Wir wollten die Situation vor Ort kennen und einschätzen lernen. Wir wollten hören, was die StudentInnen und GenossInnen berichten, die an den Kämpfen teilgenommen haben. Wir konnten wieder einmal feststellen, wie wichtig Debatten untereinander sind. Weil wir mit unserer politischen Überzeugung in unserem Alltag so oft isoliert sind und stets gegen den Strom schwimmen müssen, hat uns in Paris ganz besonders beeindruckt, eine Atmosphäre zu erleben, wo so viele ArbeiterInnen und StudentInnen zusammen kommen und lebhaft diskutieren.

Wie wurdet Ihr aufgenommen? Auf welche Stimmung seid Ihr getroffen?

*Wir sind herzlich aufgenommen worden, die GenossInnen haben sich große Mühe gemacht und uns die ganze Diskussion übersetzt. Es wurde auch von den TeilnehmerInnen begrüßt, dass wir in Deutschland verfolgen, was in Frankreich in der Arbeiterklasse passiert und dass wir durch unseren Besuch unsere Solidarität zum Ausdruck bringen.

*Ich kann den herzlichen Empfang durch die GenossInnen nur bestätigen. Wir wurden als gleichberechtigte Teilnehmerinnen dazu eingeladen und aufgefordert, rege und offen mitzudiskutieren. Das Bemühen und Interesse der GenossInnen, uns die Diskussionsinhalte durch Übersetzung möglichst genau rüberzubringen, war für uns sehr hilfreich und angenehm und untermauerte gleichzeitig den solidarischen Charakter der Debatte.

Anstatt einer von Euphorie und Siegestaumel geprägten Stimmung erlebten wir eine ernsthafte, sachliche Veranstaltung, in der alle Beteiligten um eine klare Analyse der Ereignisse bemüht waren. Die Diskussion gestaltete sich sehr lebendig unter Einhaltung und Respekt des Diskussionsstils der IKS. Jede/r TeilnehmerIn, welche/r sprechen wollte, kam zu Wort. Jeder Beitrag wurde ernst genommen und alle hatten die Möglichkeit, Fragen zu stellen und aktiv daran mitzuwirken, aufkommende Fragen gründlich zu beantworten.

Fragen über die Bewegung selbst:

 

War die Bewegung der StudentInnen spontan oder durch irgendwelche Organisationen (Studentenorganisationen oder Gewerkschaften) ins Leben gerufen worden? Was wollte man erreichen und was hat man erreicht?

*Die Bewegung der StudentInnen war  spontan. Die StudentInnen haben sich gegen den Gesetzentwurf (CPE), welcher grundlose, fristlose Entlassungen junger ArbeiterInnen unter 26 Jahren ermöglicht, gewehrt. Sie haben in ihrem Kampf spezifische studentische Forderungen hinten angestellt und haben dem Angriff der Bourgeoisie, der gegen die gesamte Klasse gerichtet war, den Kampf angesagt. So konnten sie die Solidarität der ganzen Klasse gewinnen und die ArbeiterInnen davon überzeugen, mit ihnen zusammen zu kämpfen. Was die ArbeiterInnen in Frankreich dann auch taten. Sie nahmen zu Hunderttausenden an den Demonstrationen am 18. und 19. März teil. Der proletarische Teil der StudentInnen stellte eine neue unerschrockene Generation der Arbeiterklasse dar. Die Staatsmacht konnte sie nicht in Angst und Schrecken versetzen. Gerade hier ist das Geheimnis für den Erfolg dieses Kampfes. Die StudentInnen haben sich als einen Teil der Klasse verstanden, da sie ja schon oft während des Studiums als Proletarier gearbeitet haben und so wissen, welche Zukunft auf sie wartet. Sie haben ein tiefes Bewusstsein darüber, dass sie dem Proletariat angehören werden. Es ist eine Solidarität und eine Einheit der Klasse zum Ausdruck gekommen, die die Bourgeoisie zum Nachgeben gezwungen hat. Der Gesetzentwurf wurde am 10. April zurückgenommen.

Welche Solidarität und Unterstützung kam von den ArbeiterInnen in den Betrieben?

*Es wurde berichtet, dass die Bewegung eine breite Unterstützung durch die ArbeiterInnen erfuhr. Wie durch das Referat der IKS schon dargestellt, bestätigten auch andere TeilnehmerInnen, dass sich die ArbeiterInnen in Demonstrationen und Streiks spontan der Bewegung angeschlossen haben. Sie haben auf Initiative und Einladung der StudentInnen an deren Vollversammlungen teilgenommen, haben sich durch Diskussionsbeiträge inhaltlich mit eingebracht und offen ihre Solidarität mit den StudentInnen bekundet. Sie haben damit dazu beigetragen, dass sich die Bewegung zu einem gemeinsamen proletarischen Abwehrkampf entwickelte, gegen die sich ständig verschlechternden Arbeits- und Lebensbedingungen, die ihnen das kapitalistische System bietet. Allerdings sei es für die StudentInnen mitunter schwer gewesen, als einzelne Personen zu den ArbeiterInnen in die Fabrik zu gehen. Hier wurde von den TeilnehmerInnen eingebracht, dass es für zukünftige Bewegungen wichtig sei, dass massive Delegationen in die Fabriken gehen müssten, um dort geschlossen ihre Positionen und Meinungen zu vertreten, ohne sich dabei von den Ratschlägen der Gewerkschaften leiten zu lassen.

Wie war das Verhältnis zu den Älteren, Nichtstudierenden? Wurden ihre Kampferfahrungen aufgegriffen und schöpferisch angewandt?

*Die Vollversammlungen der StudentInnen wurden den verschiedenen Schichten der Arbeiterklasse und der Bevölkerung geöffnet (ArbeiterInnen, Rentnern, Eltern, Großeltern, Arbeitslosen). Alle wurden aufgefordert und ermuntert zu reden, Vorschläge zu machen und ihre Kampferfahrungen einzubringen. Die junge Generation hörte mit Aufmerksamkeit und großem Interesse zu. Dieser Austausch und Umgang stellte spontan eine solidarische Verbindung zwischen den Generationen von Kämpfenden her.

Warum geschah dies in Frankreich?  Wurden die Kämpfe in Frankreich in einen Zusammenhang gesetzt mit der international zunehmenden Bereitschaft der Arbeiterklasse, den Kampf gegen die Verschärfung der Krise aufzunehmen?

*Die Bourgeoisie ist weltweit bemüht, die Bedeutung dieser Bewegung herunterzuspielen und erklärt sie als etwas Besonderes für Frankreich. Dass die französische Bourgeoisie nicht gerade taktisch klug vorgegangen ist, als sie versucht hat, mit allen Mitteln dieses Gesetz durchzuboxen, mag zu einem Teil zu diesen Ereignissen beigetragen haben. Aber das Wichtigste ist doch, dass diese Bewegung nichts Spezielles für Frankreich ist, sondern ein Ausdruck der weltweiten unterirdischen Reifung in der Klasse ist. Durch die Zuspitzung der weltweiten Krise, in der das kapitalistische System seit nunmehr über 30 Jahren steckt, die immer schlimmer werdenden Lebensbedingungen für die Arbeiterklasse, werden die ArbeiterInnen gezwungen, über ihre Lage nachzudenken. Die StudentInnen erkennen, wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird, mit immer mehr unsicheren  Arbeitsverhältnissen. Kennzeichnend für die neuen Verteidigungskämpfe der Arbeiterklasse (wie der Kampf der StudentInnen in Frankreich) ist die Solidarität und das Einsehen, dass das, was einen Teil der Klasse betrifft, die ganze Klasse betrifft. Es geht hier nicht nur um StudentInnen in Frankreich. Dieser Kampf reiht sich an eine ganze Kette der Verteidigungskämpfe der ArbeiterInnen, ob es die U-BahnarbeiterInnen in New York oder die ArbeiterInnen am Heathrow Flughafen in London sind. Die Arbeiterklasse ist eine internationale Klasse, deshalb kann ihr Verteidigungskampf keine nationalen Grenzen gebrauchen. Daher ist es nicht so wichtig, in welchem Land diese Kämpfe stattfinden, sondern, dass sie stattfinden und von der Arbeiterklasse geführt werden.

*Die Kämpfe in Frankreich stehen nicht isoliert. In den USA, England, Deutschland, etc. hat es in der vergangenen Zeit eine Reihe von Kämpfen gegen die zunehmende Krise und ihre Abwälzung auf den Rücken der ArbeiterInnen gegeben. Deshalb wurde die Bewegung in Frankreich ausdrücklich in einen Zusammenhang gesetzt mit der international zunehmenden Bereitschaft der Arbeiterklasse, den Kampf gegen die Verschärfung der Krise aufzunehmen.

Die GenossInnen betonten, dass die Bewegung höchste Bedeutung für die internationale Arbeiterklasse besitzt, was die Bourgeoisie natürlich herunterspielen will. Dies zeigt neben den genannten Beispielen, dass die Arbeiterklasse bereit ist, den Kampf gegen die Verschärfung der Krise aufzunehmen. Dies bedeutet den Ausdruck der internationalen Solidarität für die folgenden Generationen mit der Message: Man kann kämpfen. Man kann gewinnen. Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnen.

Ist es gelungen, die jungen ArbeiterInnen und Arbeitslosen aus den Vorstädten in die Kämpfe einzubeziehen oder war es eher so, dass man sich von ihnen abgrenzen musste, da Teile von ihnen  mehrfach die Demonstrationen angegriffen haben und es ihnen hauptsächlich um die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht ging?

*Die Jugendlichen aus den Vorstädten sind nach Paris zu den Demos hauptsächlich gekommen, um sich mit der Polizei zu prügeln. Die Gewerkschaften haben sie in den Demos mit Knüppeln in die Hände der Polizei getrieben. Im Unterschied zu den Gewerkschaften haben die StudentInnen große Delegationen in die Vorstädte geschickt, um mit den Jugendlichen zu sprechen und um ihnen zu erklären, dass die StudentInnen nicht irgendwelche studentischen Sonderinteressen verteidigen, sondern allgemeine Forderungen der Arbeiterklasse aufgestellt haben, die auch im Interesse der Jugendlichen der Vorstädte sind. Dabei war es den StudentInnen wichtig, die Jugendlichen von der Sinnlosigkeit der Krawalle zu überzeugen und sich von der Art und Weise dieser Kämpfe abzugrenzen. Das Prinzip der Arbeiterklasse, keine Gewalt gegenüber der eigenen Klasse, haben die StudentInnen damit zum Ausdruck gebracht.  

Sind die Arbeitslosen dabei, sich zu organisieren?

*Es gibt keine Arbeitslosenorganisationen. Die Kontrolle über die Arbeitslosen liegt bei den Gewerkschaften. Wenn die Kämpfe der Arbeiterklasse weitergehen, werden die Arbeitslosen miteinbezogen. In der Tat werden die Arbeitslosen ein wichtiger Teil der Kämpfe sein. Sie sind keinem Betrieb verbunden, also können sie so der Spaltung der Klasse entgegen wirken. Da sie ihre Unterstützung direkt vom Staat erhalten, bekommt ihr Existenzkampf direkt einen politischen Charakter. Die Arbeitslosen werden durch ihre eigene Situation, die Perspektivlosigkeit in dem kapitalistischen System, sehr schnell auf die Wurzeln des kapitalistischen Übels stoßen. Der Kampf der Arbeitslosen wird dann eine Radikalisierung, eine weitere Ausdehnung und eine große Dynamik des Klassenkampfes bewirken.

Wie habt Ihr das Geschlechterverhältnis vor Ort erlebt? War es in diesen Kämpfen von Solidarität, Vertrauen und lebendiger, gegenseitiger Unterstützung oder eher von der bürgerlichen Rollenteilung auch in Fragen des Kampfes geprägt?

*Die Frauen haben sich aktiv und interessiert an der Diskussion beteiligt. In der Diskussion war weder eine besondere Hervorhebung der Rolle der Frau noch eine Herabsetzung derselben zum Ausdruck gekommen. Die Studentinnen haben sich an der Bewegung beteiligt. Sie haben besonders wichtige Beiträge geleistet, wo es um Überzeugungsarbeit mit Argumenten, Erklärungen, Organisation, Disziplin oder kollektive Reflektion ging. Weil die StudentInnen in den Demos, außer einigen Ausnahmen, trotz Provokationen der Polizei nicht Gewalt anwendeten, wurden die Frauen auch nicht in die Rolle der „Pflasterkleberinnen“  hineingedrängt, was für die Studentenbewegung 1968 noch sehr typisch war. Es waren vor allem die Frauen, die die Polizisten der französischen Bürgerkriegspolizei CSR agitierten und diese ganz schön verunsicherten. Dass die Frauen in diesen Kämpfen eine solch große Rolle spielten, zeugt von der Tiefe der Bewegung.

*In der Öffentlichen Veranstaltung der IKS habe ich eine ausgeglichene Geschlechterverteilung wahrgenommen, wobei ich beide Geschlechter insgesamt als selbstverständlich gleichberechtigt erlebt habe. Die Diskussion war, wie auch aus den Kämpfen beschrieben, von Solidarität, Vertrauen und lebendiger gegenseitiger Unterstützung geprägt. Ich selbst war besonders davon begeistert, wie ernsthaft, engagiert und aktiv sich gerade auch die Frauen in den Kämpfen und  Diskussionen eingebracht haben.

Fragen zur Rolle der Gewerkschaften und intervenierender Organisationen vor Ort:

Wie hat die IKS als revolutionäre Organisation in der Bewegung interveniert? Wie hat sie den Kampf eingeschätzt und unterstützt?

*Die GenossInnen der IKS waren von Beginn an bei der Bewegung dabei, bei den Demos, auch bei denen, die durch die Gewerkschaft organisiert waren. Sie haben ihre Presse verteilt und intervenierten auf den verschiedenen Diskussionen mit vielen interessierten StudentInnen und ArbeiterInnen. Diese zeigten in immer stärkerem Maße reges Interesse und wirkliche Sympathie mit dieser revolutionären Organisation. Die IKS hatte sich in ihrer Unterstützung zwei wesentliche Aufgaben gestellt. Zunächst ging es darum, die Politik des Schweigens und der Lügen über das Wesen der Diskussionen in den Vollversammlungen zu brechen. Und weiterhin sollte eine genaue Analyse der Bewegung dazu führen, die Hauptlehren aus den wichtigen Erfahrungen für die Perspektiven zukünftiger Kämpfe zu ziehen. Die Methode und die Interventionen der IKS wurden von den Kämpfenden überwiegend sehr positiv auf- und angenommen. Einige TeilnehmerInnen berichteten von ihren Erfahrungen mit anderen Organisationen (z.B. Attac und die bürgerlichen Linken), von denen sie sich während der Bewegung abgewandt haben, weil sie von ihnen enttäuscht worden sind. So seien sie teilweise schockiert gewesen über deren Diskussionsstil und den Umgang miteinander, wo man sich z.B. gegenseitig das Wort abschnitt, Publikationen der IKS z.B. als uninteressant und unwichtig zur Seite legte und ignorierte. So verhinderten diese Organisationen notwendige ernsthafte proletarische Debatten unter den Arbeitern, die nach politischer Klärung suchten.

 

Was war die Rolle der Gewerkschaften?

 *Die öffentlichen Medien haben versucht es so darzustellen, dass die Gewerkschaften die Bewegung angeführt und kontrolliert hätten. Dies ist ihnen jedoch nicht gelungen, weil die StudentInnen verstanden haben, dass die Gewerkschaften ihre Interessen nicht vertreten.  Zwar gab es Sabotagemanöver z.B. der Studentengewerkschaft UNEF, die versucht hat, die Vollversammlungen abzuriegeln, sie nicht für alle Interessierte zu öffnen und bestimmten Organisationen (vor allem der IKS) das Wort zu verbieten. Dies Vorgehen hat vor allem die in keiner Gewerkschaft organisierten oder keiner politischen Organisation zugehörigen StudentInnen dazu gebracht, entschlossen diese Manöver zu verhindern. So haben die StudentInnen die Organisierung zum größten Teil dort, wo die StudentInnen am fortgeschrittensten waren, selbst in die Hand genommen.

Zu den Unterschieden zwischen der Studentenbewegung 1968 und 2006:

Was ist in der Studentenbewegung im Frühjahr 2006 anders als in der Studentenbewegung von 1968?

*1968 war ein Grund für die Proteste der StudentInnen eine stark autoritäre Atmosphäre in den Universitäten. Im Gegensatz zu früher, wo die Unis noch für eine kleine Minderheit der Gesellschaft, für eine Elite vorgesehen waren, gab es 1968 massenhaft StudentInnen. Die Strukturen und Praktiken in den Unis entsprachen aber noch den alten Zeiten. Am Ende des Studiums hatten die StudentInnen nicht mehr den gleichen gesellschaftlichen Status, wie die vorhergehende Generation von Uniabsolventen. 1968 war erst der Anfang der Weltwirtschaftskrise, es gab nicht so viel Arbeitslosigkeit, das Streiken war leichter. Die StudentInnen hatten 1968 eine kleinbürgerliche romantische Vorstellung von der Revolution. Sie fühlten sich als Revolutionäre und verachteten die Elterngeneration als Angepasste und Unterworfene des Kapitalismus. Die junge Generation lehnte die „Konsumgesellschaft„ ab, es gab Slogans, wie „nie mehr arbeiten“. Die ältere Generation, die für ihre Kinder geschuftet hatte, verstand die Jüngeren nicht mehr. Es gab eine Kluft zwischen den Generationen.

Heute haben die StudentInnen eine andere Situation, die Weltwirtschaftskrise dauert seit 40 Jahren an, es gibt Massenarbeitslosigkeit, das Streiken ist viel schwieriger als früher. Nach dem  Abschluss droht den StudentInnen Unsicherheit und Arbeitslosigkeit in ganz anderer Dimension als 1968. Oft haben sie schon während des Studiums als Proletarier gearbeitet. Sie wissen, welche Zukunft auf sie wartet, sie haben ein tiefes Bewusstsein darüber, dass sie dem Proletariat angehören werden. Aus diesem Grund ist die Bewegung heute tiefergehender als 1968, die StudentInnen heute fühlen sich nicht zuerst als Revolutionäre, aber sie wissen, dass sie zur gleichen Welt wie die ArbeiterInnen gehören, den gleichen Feind bekämpfen müssen, die Ausbeutung. Deshalb auch heute die Solidarität mit der Arbeiterklasse und die Öffnung gegenüber den älteren Generationen. 1968 gab es eher keine Solidarität zwischen den Generationen und die damaligen StudentInnen hatten oft eine herablassende Haltung gegenüber der Arbeiterklasse. 

Fragen zur Bedeutung der Bewegung für die Klasse

Ist der Kapitalismus in Frankreich mehr in die Sackgasse geraten als in Deutschland?

*Der Kapitalismus ist weltweit in die Sackgasse geraten. Die Industriekernländer sind zwar in der Lage, ihre Probleme teilweise auf die schwächeren Länder abzuschieben, aber die großen Widersprüche des Kapitalismus verschärfen sich ständig und erschüttern auch Länder wie Frankreich und Deutschland. Seit dem I. Weltkrieg hat der Kapitalismus die Stufe in seiner Entwicklung erreicht, dass die Märkte gesättigt sind. Seitdem haben wir die Situation, dass alles, was ein Kapitalist dazu gewinnt, von einem anderen Kapitalisten weggenommen werden muss. Die höchste Stufe dieser todbringenden Konkurrenz sind die imperialistischen Kriege, die heute alle Kriege sind, zwischen den Nationalstaaten. Kein Staat kann sich der Zwangslage der kapitalistischen Konkurrenz entziehen und ist mehr und mehr gezwungen, nur die Gesetze des Marktes gelten zu lassen. Das bedeutet für uns noch mehr Angriffe auf unsere Lebensbedingungen, noch mehr Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Verelendung, Hunger, Kriminalität, Umweltverschmutzung, Katastrophen.

Welche Rolle spielt die Illusion, dass diese kapitalistische Gesellschaft noch zu reformieren sei, oder weitergehend gefragt: Welche Rolle spielte die Frage der grundlegenden, revolutionären Veränderung der Gesellschaft gerade auf dem Hintergrund einer hauptsächlich sehr jungen und im Kampf unerfahrenen Generation?

*Viele TeilnehmerInnen, v. a. auch die StudentInnen, erkannten und betonten die Unmöglichkeit von Reformen und damit die Unmöglichkeit, innerhalb des kapitalistischen Systems etwas verändern zu können. Die StudentInnen betonten die Notwendigkeit grundlegender revolutionärer Veränderungen der Gesellschaft. Sie waren jedoch nicht der Illusion verfallen, dass dies in der nahen Zukunft möglich ist. Es gäbe viele Diskussionen über die Zukunft, es war eine Politisierung zu erkennen. Z.B. gab es ein Netz unter den Fakultäten, worüber ein Austausch über das Wissen und die Erfahrung mit Themen, die die menschliche Gesellschaft allgemein betreffen, stattfand. Diese wurden von verschiedenen Altersgruppen besucht. Die StudentInnen und alle anderen TeilnehmerInnen betrachteten es als außerordentlich wichtig, sich für die Lehren des Kampfes zu interessieren und hielten die politischen Diskussionen für sehr bedeutungsvoll. Sie wollten  hierdurch das „Nachdenken“ aufrechterhalten und sich durch neues Wissen und neue Erfahrungen über die gesellschaftlichen Zusammenhänge ein Bewusstsein schaffen, welches den Weg zu einer echten Alternative gegenüber dem menschenverachtenden kapitalistischen System bereitet. Weil sie hier während der Bewegung auch sehr positive Erfahrungen mit der IKS gemacht haben, sollte die Teilnahme an deren Veranstaltungen weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Diskussionen sein.

Was macht den proletarischen Charakter der Kämpfe aus?

*Es gibt verschiedene wichtige Aspekte in der Bewegung, die den proletarischen Charakter der Kämpfe verdeutlichen:

1. Wie schon oben erwähnt, haben die StudentInnen speziell studentische Forderungen aus ihrer Liste gestrichen. Die von ihnen aufgestellte Forderung, die Rücknahme des Gesetzesentwurfs, CPE genannt, betrifft die ganze Arbeiterklasse. Sie wollten nicht nur die Solidarität der gesamten Klasse suchen, sondern versuchen, die Klasse zum Eintritt in den Kampf zu bewegen.

2. Die StudentInnen haben ihre Kämpfe in Vollversammlungen organisiert. In diesen Vollversammlungen wurde diskutiert, was zu tun ist. Hier wurden die Entscheidungen getroffen. Alle, die eine besondere Aufgabe zu erfüllen hatten, waren den Vollversammlungen gegenüber verantwortlich. Hier liefen die Informationen zusammen. Das Präsidium wurde an manchen Unis jeden Tag neu gewählt, die Versammlungen waren auch anderen Teilen der Klasse offen und es wurde lebendig und aktiv diskutiert. Solche Vollversammlungen sind Vorformen der Arbeiterräte und sie sind das Mittel, mit dem die Arbeiterklasse ihren Kampf kollektiv organisiert und bestimmt.

3. Die StudentInnen waren bestrebt, das proletarische Prinzip „keine Gewalt innerhalb der Klasse“ anzuwenden. Als die StudentInnen von den Jugendlichen aus den Vorstädten in den Demos angegriffen wurden, verteidigten sie sich zwar, schlugen aber nicht in erster Linie zurück, sondern schickten aus den Vollversammlungen heraus große Delegationen in die Vorstädte, um ihnen zu sagen, dass der Kampf der StudentInnen auch ihr Kampf ist.

Auch ließen sie sich nicht von der Polizei zur Gewalt provozieren. Wenn die StudentInnen sich hätten provozieren lassen, hätten sie den Kürzeren gezogen. Die Stärke der Arbeiterklasse liegt im Bewusstsein und im Zusammenhalt.

Ist es so, dass die Kämpfe in Frankreich das Klassenbewusstsein hin zu einer autonomen Kampfführung geschärft haben?

*Die StudentInnen haben gekämpft, mutig und erfolgreich. Es ist natürlich so, dass die Kämpfe erst mal wieder zurückgehen, aber nicht um zu verschwinden, sondern, um irgendwo anders wieder aufzubrechen. Damit die Erfahrungen von diesen Kämpfen zur Schärfung des Klassenbewusstseins führen können, müssen sie von den Revolutionären und den bewusstesten Teilen der Klasse analysiert und als lebendiger Teil in den Klassenkampf integriert werden. Die proletarischen StudentInnen haben gezeigt, dass man den Klassenkampf in die eigenen Hände nehmen kann.

*Es wurde in der Diskussion betont, dass die Kämpfe in Frankreich zu bewerten sind als eine Etappe in der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse, die sich seit 2003 wieder mehr in Bewegung setzt. Die Arbeiterklasse muss erkennen, dass es möglich ist, sich zu bewegen. Die ArbeiterInnen müssen erkennen, dass es sie als Klasse noch gibt. Hierbei darf nicht erwartet werden, dass es schnell geht, man muss die Tiefe erkennen.

Ist der Kommunismus dabei, sich zu verstärken?

*Da es nirgendwo in der Welt den Kommunismus gibt, kann er auch nicht dabei sein, sich zu verstärken. Sehr wohl hat es aber Anläufe – der wichtigste am Ende des I. Weltkrieges - in der Welt  gegeben, um ein weltweites menschliches Gesellschaftssystem, den Kommunismus, errichten zu können. Weil diese Anläufe gescheitert sind, sind die Grundlagen, warum es dieses Bestreben gab, nicht aus der Welt. Die grundlegende Änderung der Gesellschaft ist heute notwendiger denn je. Die heutige Welt drängt immer mehr dazu, dass eine wirkliche Welteinheit, eine klassenlose Gesellschaft ohne die kapitalistische Konkurrenz hergestellt wird und dass die Staaten verschwinden. Was man heute sehen kann, ist, dass es eine internationale Klasse gibt, die Arbeiterklasse,  die mit ihrer wachsender Zunahme von Klassenbewusstsein, Solidarität und Einheit in ihren Kämpfen weltweit einen erneuten Anlauf hin zur Revolution nehmen kann.

Wie geht es weiter?

Wie geht es weiter, hat diese Bewegung eine Fortsetzung? Welche Perspektiven hat die

Bewegung?

*Wenn man die Studentenbewegung in Frankreich als das, was sie war, ein Teil des weltweiten Klassenkampfes des Proletariats, verstanden hat, liegt es ja auf der Hand, dass dieser Kampf weitergeht. Die unterirdische Reifung des Klassenbewusstseins wird weitergehen und bricht erneut irgendwo anders auf, es müssen nicht unbedingt wieder die StudentInnen in Frankreich sein.

*Die Frage nach den Perspektiven war für die TeilnehmerInnen der Diskussion von großer Bedeutung. Sie haben die Bewegung als eine Etappe der Bewusstseinsreifung des internationalen Proletariats verstanden. Es ist ihnen klar, dass es keine sofortige Revolution geben kann und wird. Vor uns ProletarierInnen steht ein Prozess mit ständigem Auf und Ab und immer wieder Lernen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, aus der Bewegung Bilanz zu ziehen und die Lehren heraus zu arbeiten, die zukünftigen Bewegungen noch mehr Reife und  Tiefe geben können. Es muss weiter diskutiert werden, damit Erklärungen dafür gegeben werden können, wohin die Welt heute steuert. Dafür sollte es weiterhin offene Diskussionen für alle Interessierten geben, zu denen auch die politischen Organisationen eingeladen sind, die die Bewegung unterstützt haben. So können die ArbeiterInnen ihren Widerstand gegen die wachsenden Angriffe des Kapitalismus intensivieren und die Überwindung dieses Systems vorbereiten.

Was waren die wichtigsten Ergebnisse/Erfahrungen der Bewegung? (Zentrale Aussage der ÖV)

*Ich fand es sehr gut, dass die GenossInnen am Ende der Veranstaltung noch einmal den Inhalt der Diskussion zusammen fassten und die Ergebnisse daraus zusammentrugen.

Die Diskussionsleitung bedankte sich bei allen TeilnehmerInnen für die rege Beteiligung an der Diskussion, für die eingebrachten Fragen und Beiträge. Es wurde festgestellt, dass die Veranstaltung gefüllt wurde durch ein breites Spektrum an Generationen der Teilnehmenden. Die Reife der Veranstaltung drückte sich neben den Beiträgen auch in dem internationalen Ausmaß der Diskussion aus, denn es beteiligten sich Genossen aus Frankreich, Italien, Belgien, der Niederlande, Deutschland und England. Gleichzeitig demonstrierte sie damit einmal mehr ein ganz wesentliches und wichtiges Element, welches die Bewegung charakterisierte und zum Erfolg führte und welches deshalb auch untrennbar zu den zukünftigen Bewegungen gehören muss -  die internationale Solidarität des Proletariats.

Weiterhin wurde an die teilnehmenden StudentInnen, ArbeiterInnen und GenossInnen appelliert, dass die Erlebnisse und Berichte über die Bewegung sehr wichtig seien und unbedingt weitergegeben werden müssen und dies über die Diskussionszirkel hinaus, damit die allgemeine Dynamik zukünftiger Bewegungen vorangetrieben wird. Außerdem sei es für alle, die ihren Beitrag in den Arbeiterbewegungen leisten wollen, notwendig, sich der Frage der Organisierung zu stellen. Hier war die Methode und Organisierung der StudentInnen, vor allem die Organisation und Durchführung von Vollversammlungen bewundernswert und beispielhaft.

Alles in allem zeigt und bestätigt sich die Tiefe der Bewegung, die im Vergleich zur Bewegung von 1968 auch eine wesentlich größere Reife besaß. Die Bewegung selbst zeigt eine unterirdische Bewusstseinsreifung der Arbeiterklasse, die von sehr großer Bedeutung ist. Trotzdem müssen wir ArbeiterInnen darüber hinaus erkennen und verstehen, dass dies keine klare, lineare Entwicklung bedeutet. Es wird auch in der Zukunft ein Vor- und Zurück, viele Etappen, Fehler und Lehren geben. Es wird dabei immer wichtig sein, wieder aufzusteigen und sich den Aufgaben zu stellen, die die internationale Arbeiterklasse vor sich hat.

Resümee

*Die Ereignisse in Frankreich und unser Besuch liegen jetzt schon eine Zeit zurück. Wir zählen die Bewegung zu den bedeutendsten der Arbeiterklasse seit 1968. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Bourgeoisie immer dann, wenn die Arbeiterklasse bedeutende Kämpfe geliefert hat, versucht, diese mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verschweigen oder herunter zu spielen. Gerade deshalb halten wir es auch jetzt noch für notwendig und wichtig, die gemachten Erfahrungen in Erinnerung zu rufen und in die Arbeiterklasse weiter zu tragen. Obwohl das, was sich die StudentInnen im Frühjahr 2006 vorgenommen hatten – miteinander zu diskutieren, Beteiligung an öffentlichen Diskussionsveranstaltungen der IKS – nicht weitergeführt worden ist, bleibt die Tatsache bestehen, dass die StudentInnen sich gewehrt und einen großartigen proletarischen Kampf geführt haben. Dieser Kampf  war ein Ausdruck der unterirdischen Bewusstseinsentwicklung der gesamten Klasse und er wird wieder aufbrechen, getragen von einem anderen Teil der Klasse.

*Insgesamt war der Besuch in Frankreich, der Austausch untereinander, die Teilnahme an der Öffentlichen Veranstaltung (ÖV) der IKS eine wichtige Erfahrung für uns. Sie hat uns zusammengeschlossen und uns lebendig gezeigt, wie viel Kraft, Entschlossenheit und Zuversicht in den Kämpfen der Klasse liegt, wenn sie sich erhebt und ihre Geschichte in die eigene Hand nimmt.

Flugblatt der IKS - Airbus - Wenn wir heute die Opfer hinnehmen, werden die Herrschenden morgen noch härter zuschlagen !

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Nach wochenlangen Verrenkungen seitens der Airbus-Spitze und nach einem Treffen zwischen Chirac-Merkel ist das Fallbeil niedergegangen: 10.000 Stellenstreichungen in Europa, Schließung oder Verkauf mehrerer Standorte. Die Geschäftsleitung beteuert: «Es wird keine harten Entlassungen geben», «Alles wird über Frühpensionierungen und freiwillige Kündigungen geregelt». Keine Entlassungen bei Airbus, aber hier handelt es sich nur um die Hälfte der Betroffenen. Die 5.000 Zeitarbeiter oder Beschäftigten der Zulieferer müssen woanders Arbeit suchen. Und die Airbus-Beschäftigten wissen selbst, was für sie «freiwilliges Ausscheiden» bedeutet: ständiges Mobbing durch die Vorgesetzen, um die Mitarbeiter heraus zu ekeln. Insgesamt wird es dabei noch mehr Arbeitslose vor allem unter den arbeitssuchenden Jugendlichen geben. Und für diejenigen, die ihren Job behalten, heißt dies - ein noch schlimmerer Arbeitsrhythmus, Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich etc.   

Wie die Bourgeoisie und die Gewerkschaften die Krise bei Airbus erklären

Um die Krise bei Airbus und die damit verbundenen Maßnahmen zu erklären, lenkt jeder auf seine Art von den wahren Ursachen ab. Gallois, Vorstandsvorsitzender von Airbus, zufolge, ist hauptsächlich der starke Euro schuld. Die Airbus-Flugzeuge seien daher zu teuer im Vergleich zu den von Boeing produzierten. Die Gewerkschaften wiederum sehen die Ursache allen Übels im schlechten Management oder in der Raffgier der Aktionäre. Für die Arbeitgeber jedoch ist der Staat der Schuldige, der sich zu sehr in die Industriepolitik eingemischt habe, denn dies sei auch gar nicht seine Aufgabe. Man müsse die Privatinvestoren alleine zurecht kommen lassen. Aber die linken Parteien nun werfen dem Staat vehement vor, seine Rolle als Aktionär nicht wahrgenommen zu haben. Für die französische Presse ist ganz klar der deutsche Staat schuld, denn der habe sich die besten Brocken in diesem Deal erhascht. Für die deutsche Presse wiederum  - mit der herrschenden Klasse auf ihrer Seite - ist es schwierig, dieses Argument ebenso nun der französischen Regierung vorzuwerfen, schließlich sind bei Bayer-Schering 6.100 Stellenstreichungen vorgesehen und dafür kann man dann wohl doch kaum Frankreich den schwarzen Peter zuschieben. Und bei Deutsche Telekom ist die Auslagerung von 50.000 Stellen vorgesehen, was nur der Vorbereitung späterer Entlassungen dient, sobald die Beschäftigten auf eine Vielzahl kleinerer Betriebe verteilt sind. Diejenigen, die bei der Telekom ihren Arbeitsplatz behalten, müssen ohne Lohnausgleich länger arbeiten. Mit Hilfe der Medien versucht die deutsche Bourgeoisie daher eher, die Beschäftigten zu beschwichtigen und behauptet, es hätte noch viel schlimmer kommen können, zudem habe es die Franzosen am härtesten getroffen. Der gleiche Ton ist in der spanischen Presse zu vernehmen: Für uns ist es nicht so schlimm gekommen, weil wir wettbewerbsfähiger sind. Und als Beilage bei diesen nationalistischen Tönen werden die Deutschen und Franzosen beschuldigt, jeweils in ihrer Ecke ihr eigenes Süppchen zu kochen, ohne die Spanier zu konsultieren. Was die britische Presse betrifft, wird die ganze Sache eher diskret behandelt, denn just in diesem Moment sollen Hunderttausende Beschäftigte im Gesundheitswesen eine Einfrierung ihrer ohnehin schon niedrigen Löhne hinnehmen. Was schlagen uns diejenigen vor, die die Entscheidungen von Airbus verwerfen?  Für die deutschen Gewerkschaften sind die Schwierigkeiten von Airbus lediglich ein Beispiel unter vielen für das schlechte Management der Arbeitgeber (so auch bei Deutsche Telekom und Bayer-Schering). Daher fordern sie mehr Mitbestimmung bei den Entscheidungsprozessen, obwohl sie praktisch schon über die Hälfte der Stimmen in den Aufsichtsräten verfügen und bereits bei allen Entscheidungen bei Airbus oder in anderen Firmen beteiligt wurden. In diesem Zusammenhang schlagen sie vor, dass die zur "Aufrechterhaltung der Zukunft von Airbus" erforderlichen Maßnahmen vor Ort, in den Betrieben, zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern diskutiert werden. Die französischen Gewerkschaften wiederum prangern auch das schlechte Management der gegenwärtigen Geschäftsleitung an und schlagen vor, dass der Staat sich mehr an der Verwaltung von Airbus beteilige. Dieser Vorschlag wird ebenfalls vom gegenwärtigen Premierminister und den Kandidaten der Rechten und des Zentrums bei den nächsten Präsidentenwahlen, Sarkozy und Bayrou unterstützt.  Die sozialistische Präsidentschaftskandidatin, Ségolène Royal, befürwortet zudem, dass die französischen Regionen Kapitalanteile erwerben und beim Management von Airbus einsteigen. Dies wäre also die gleiche Praxis, wie sie bereits in den Bundesländern Deutschlands gehandhabt wird, die schon Anteile von Airbus erworben haben. Man kann sehen, wohin dies geführt hat!   

Wir dürfen uns durch die kapitalistische Konkurrenz nicht spalten lassen!

Bei einigen dieser Erklärungen mag ein Körnchen Wahrheit dran sein. Es stimmt, dass der starke Euro eine Hürde für den Verkauf von in Europa hergestellten Flugzeugen gegenüber der Konkurrenz von Boeing ist. Es stimmt, dass es Managementprobleme bei Airbus gibt. Es stimmt insbesondere, dass die Konkurrenz zwischen dem deutschen und französischen Staat die Sache nicht leichter macht. Jeder mag bis zu einem gewissen Maße recht haben, aber sie alle verbreiten die gleiche Lüge: Die Arbeiter, die heute für die Schwierigkeiten von Airbus aufkommen sollen, hätten die gleichen Interessen wie ihre Arbeitgeber. Kurzum - sie sollten sich alle dem Ziel unterwerfen, auf das alle Anstrengungen bei Airbus ausgerichtet sind - die Konkurrenzfähigkeit von Airbus gegenüber Boeing zu unterstützen. Genau dasselbe sagen die amerikanischen Unternehmer ihren Beschäftigten; und aus demselben Grunde mussten diese in den letzten Jahren Zehntausende von Stellenstreichungen hinnehmen. Letztendlich laufen alle Aussagen der «Verantwortlichen», ob Regierung, Arbeitgeber oder Gewerkschaften, darauf hinaus, dass die amerikanischen Arbeiter die Gegner der europäischen Arbeiter seien, genau so wie die französischen, deutschen, englischen und spanischen Arbeiter auch jeweils untereinander Gegner seien. Im gegenwärtigen Handelskrieg wollen alle Teile der Kapitalistenklasse die Arbeiter der verschiedenen Länder gegeneinander hetzen, genau so wie sie es in den militärischen Kriegen tun. Sie sagen uns immer wieder, dass die kapitalistischen Staaten in Konkurrenz zueinander stehen - und dies trifft natürlich zu. Die Kriege des 20. Jahrhunderts aber beweisen, dass die Arbeiter am meisten im Konkurrenzkampf der kapitalistischen Nationen untereinander zu verlieren haben, und dass sie kein Interesse daran haben, sich den Befehlen und den Interessen ihrer jeweiligen nationalen Bourgeoisie zu unterwerfen. Der Logik des Kapitalismus zufolge müssen die Arbeiter Europas und Amerikas immer mehr Opfer bringen. Wenn Airbus gegenüber Boeing wieder rentabel wird, werden die Beschäftigten bei Boeing neuen Angriffen ausgesetzt (jetzt schon sind 7000 Stellenstreichungen bei Boeing geplant), und dann werden im Gegenzug wieder die europäischen Beschäftigten erpresst. Jedes Zurückweichen der Arbeiter vor den Forderungen der Kapitalisten führt nur dazu, dass überall neue, noch heftigere Angriffe gegen die Arbeiter beschlossen werden. Daher bleibt dem Kapitalismus keine andere Wahl, denn das System steckt tief in einer unüberwindbaren Krise -und die einzige "Lösung", die dem System übrig bleibt, sind immer mehr Stellenstreichungen und eine immer schrecklichere Ausbeutung der Arbeiter, die gegenwärtig noch das "Glück" haben, ihren Arbeitsplatz zu behalten.

Eine einzige Lösung : Einheit und Solidarität der ganzen Arbeiterklasse!

Den von den Sparmaßnahmen bei Airbus-Betroffenen bleibt heute nichts anderes übrig als zu kämpfen. In den Airbus-Werken haben sie dies sofort verstanden: Gleich nach der Verkündung der Firmenpläne haben mehr als 1000 Beschäftigte in Laupheim spontan die Arbeit niedergelegt, während gleichzeitig in Meault, in der Picardie, die Arbeit niedergelegt wurde. Erst nachdem die Gewerkschaften meldeten, dass das Werk nicht verkauft werden würde, haben die Arbeiter in Meault wieder die Arbeit aufgenommen. Aber die Zusage der Gewerkschaften war eine Lüge. Doch die Airbus-Beschäftigten sind nicht die einzig Betroffenen. Alle Ausgebeuteten müssen sich solidarisch fühlen gegenüber den Angriffen, denen heute die Beschäftigten des Flugzeugbaus ausgesetzt sind, denn morgen werden die gleichen Angriffe auf die Beschäftigten der Automobilindustrie, der Telekom, der Chemie und aller anderen Bereiche niederprasseln. Überall müssen die Arbeiter in souveränen Vollversammlungen zusammenkommen, in denen sie über die Ziele und die Mittel des Kampfes diskutieren und entscheiden können. Ihr Kampf ist nicht nur eine Angelegenheit der Arbeiter selbst. Nicht die Kandidaten bei den Präsidentenwahlen werden für die Beschäftigten handeln, denn ihre Versprechungen werden - sobald sie an der Macht sind - vergessen sein. Auch die Gewerkschaften verteidigen die Arbeiter nicht. Denn die sorgen nur für die Spaltung der Arbeiter, sei es in den Betrieben, sei es innerhalb der gleichen Produktionsabteilung (wie man heute in Toulouse sehen kann, wo die größte Gewerkschaft ‚Force Ouvrière' versucht, die "Blaumänner" und die  "Angestellten" der Airbus-Zentrale zu spalten, obwohl diese auch sehr stark von Stellenstreichungen betroffen sind). Auch die Beschäftigten der betroffenen Länder, versuchen sie zu spalten, denn sie schwingen als erste die Nationalfahne (die französischen Gewerkschaften, mit Force Ouvrière an der Spitze, behaupten, "man muss kämpfen", ja man müsse auch die Produktion lahm legen, um eine "bessere Verteilung der Opfer" zu erreichen, mit anderen Worten, man will erreichen, dass die Beschäftigten in Deutschland noch härter getroffen werden). Und selbst wenn eine Gewerkschaft wie die IG-Metall für Mitte März einen Aktionstag aller Länder mit Airbus-Standorten ankündigt, handelt es sich nur um ein Manöver, das dazu dienen soll, die Arbeiter von der Bewusstseinsentwicklung abzuhalten, dass ihre Interessen nicht mit denen des nationalen Kapitals übereinstimmen, während sie gleichzeitig Stellung gegen Streiks beziehen, weil man sich "verantwortlich" verhalten müsse. Aber die Gewerkschaften wollen auch eine "Solidarität" der europäischen Beschäftigten von Airbus gegen die amerikanischen Arbeiter  von Boeing herbeiführen, die sich im Herbst 2005 massiv mit Streiks gegen die Angriffe der Arbeitgeber gewehrt haben. Die notwendige Solidarität aller Beschäftigten zeigt sich ansatzweise insbesondere durch spontane Arbeitsniederlegungen in den etwas weniger hart betroffenen Standorten wie Bremen und Hamburg. Vor kurzem beteiligten sich die Beschäftigten von Airbus im Süden Spaniens, die heute ebenso angegriffen werden, an den Demonstrationen der Beschäftigten des Automobilzulieferers Delphi, der ein Werk in Puerto Real dicht machen will. Dies muss der Weg für alle Arbeiter sein. Während die Bosse dazu aufrufen, die Stellenstreichungen, die Lohnsenkungen und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hinzunehmen, müssen wir mit einer Stimme antworten: Wir weigern uns, diese Opfer zu bringen, die nur noch zu immer heftigeren Angriffen führen werden. Nur der Kampf lohnt sich!

Gegen die Spaltungsversuche der Beschäftigten der verschiedenen Betriebe oder Länder - Solidarität der ganzen Arbeiterklasse!

Gegen die Isolierung, die immer zu Niederlagen führt, müssen wir die Ausdehnung der Kämpfe durchsetzen. Die Vollversammlungen müssen massive Delegationen zu den anderen Betrieben schicken, damit alle Arbeiter sich an einer Solidarisierungsbewegung beteiligen können. 

Gegenüber einem kapitalistischen Weltsystem, das im Niedergang begriffen ist, und das nur noch zu immer heftigeren Angriffen gegen die Arbeiter in allen Branchen und allen Ländern in der Lage ist, haben die Arbeiter keine andere Wahl als immer entschlossener, immer solidarischer zu kämpfen und den Kampf stetig weiter auszudehnen. 

Dies ist das einzige Mittel aller Beschäftigten, um der Zuspitzung ihrer Ausbeutung, der Verschlechterung ihrer immer unmenschlicher werdenden Lebens- und Arbeitsbedingungen  entgegenzutreten, und auch um die Überwindung dieses Systems vorzubereiten, das Not und Elend, Krieg und Barbarei verbreitet.  5.3.07

Dieses Flugblatt wurde auf verschiedenen Demonstrationen in Deutschland und Frankreich verteilt.


Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/1391

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