Nach den von den Globalisierungsgegnern in den letzten Jahren organisierten Sozialforen gegen die neoliberale Ideologie und der Botschaft: "Eine andere Welt ist möglich" hat die wichtigste Gruppe, Attac, anlässlich der Wahlen in Frankreich 2007 ein Manifest veröffentlicht. Ähnlich den sieben Todsünden der katholischen Religion hat Attac "die sieben Pfeiler des Neoliberalismus ermittelt (…) die niedergeworfen werden müssen, um eine demokratische, solidarische und ökologische Welt zu errichten". Dieses ca. 100 Vorschläge umfassende Manifest beansprucht, eine "Anregung für die öffentliche Debatte" zu sein, eine Hilfe unter anderem für die "Wahl der Bürger".
Das Manifest ruft eingangs in Erinnerung, dass "Attac seit seiner Gründung 1998 die überall auf der Welt betriebene neoliberale Politik, insbesondere in Europa und Frankreich (egal, welche Regierungen an der Macht sind) als die Hauptursache der zunehmenden Ungleichheiten, des Auseinanderbrechens der Gesellschaft durch Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, der sozialen Unsicherheit und der Zunahme der militärischen Konflikte ansieht". Dieser zu Beginn der 1980er Jahre aufgekommene Neoliberalismus sei die Hauptursache all der Kalamitäten der Menschheit, denn "seine Methoden sind gut bekannt: Ausbreitung des Warenhandels, Handlungsfreiheit der Arbeitgeber und der Investoren, Ausdehnung der Jagdgründe der Multis auf den gesamten Planeten". Mit anderen Worten, wenn es uns gelingt, die Jäger zu vertreiben, d.h. diejenigen, die das Kapital in ihren Händen halten, könnten wir eine "solidarische Globalisierung gegen den Freihandel und die freien Kapitalströme" schaffen. Um dies zu verwirklichen, schlägt Attac eine Reihe von Maßnahmen zur Regelung des Welthandels vor: die Welthandelsorganisation unter die Kontrolle der UNO stellen, den IWF und die Weltbank reformieren, eine Weltumweltorganisation schaffen, die Handelsströme kontrollieren, die Kapitaltransfers gleichmäßig besteuern, die direkten Steuern wieder einführen, die Ungleichheiten durch "revolutionäre" Maßnahme abbauen, d.h. die "Festlegung einer Maximalspanne zwischen den Einkommen der Firmenmanager und den am wenigsten Bezahlten".
Gegen die Logik des Profits und des Konkurrenzkampfes, gegen die Politik der Regierungen im Dienste der Kapitalbesitzer vertritt das Manifest von Attac die Notwendigkeit der "Aufrechterhaltung der weltweit bestehenden öffentlichen Dienste" und "stellt die Grundprinzipien einer neuen Welt vor: die Menschenrechte und das Völkerrecht, die sozialen, ökologischen, ökonomischen, kulturellen und politischen Rechte". Mit anderen Worten: Aus der Sicht der Antiglobalisierer gibt es keine Wirtschaftskrise, sondern schlicht und einfach eine schlechte Politik, mit der die Kapitalisten, welche nur ans Geld denken, sich die Taschen füllen können. Wenn diese mit Hilfe der Bürger kontrolliert werde, d.h. wenn man alles reguliere, reformiere und besteuere, wenn die Staaten eine vernünftige Politik betrieben und die Grundprinzipien der Demokratie umsetzten, werde es uns allen besser gehen.
Tatsächlich spielt Attac eine Hauptrolle bei der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse, wenn sie uns eintrichtern will, dass es möglich sei, in einem "gerechteren" und "menschlicheren" Kapitalismus zu leben, der gar ohne Profite auskommen könne.
Im Gegensatz zu den Falschaussagen der Antiglobalisierer hat die kapitalistische Ausbeutung nicht erst Anfang der 1980er Jahre begonnen. Der Marxismus hat schon vor 150 Jahren aufgezeigt, dass das Profitstreben das Wesen dieses Systems ausmacht. Wie Rosa Luxemburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Schrift, die in Kontinuität mit Marx' Untersuchungen in "Das Kapital" steht, hervorhob:
"Der kapitalistische Produktionsprozess wird nur durch den Profit bestimmt. Für jeden Kapitalisten macht die Produktion nur Sinn, wenn er jedes Jahr einen Reingewinn einstreichen kann. Aber das grundlegende Gesetz der kapitalistischen Produktion im Unterschied zu anderen, sich auf Ausbeutung stützenden Wirtschaftsformen ist nicht nur die Verfolgung eines realisierbaren, sondern auch eines ständig wachsenden Profits". (Akkumulation des Kapitals - Antikritik). Die Aussagen von Attac bringen also nichts Neues. Man muss unterstreichen, dass die kapitalistische Ausbeutung und ihre Auswirkungen auf der Erde durch keine Änderung der Wirtschaftspolitik in Frage gestellt werden. Wie Rosa Luxemburg schrieb:
"Die kapitalistische Produktionsform hat das Besondere an sich, dass der Verbrauch der Menschen, der in allen früheren Wirtschaftsformen das Ziel war, nur ein Mittel im Dienste des eigentlichen Ziels ist - die kapitalistische Akkumulation (...) Das grundlegende Ziel aller gesellschaftlicher Produktionsformen - Unterhalt der Gesellschaft durch Arbeit, Befriedigung der Bedürfnisse - erscheint hier als auf den Kopf gestellt, denn die Produktion für den Profit und nicht für den Menschen wird zum überall auf der Welt geltenden Gesetz, und die Unterkonsumtion, die ständige Unsicherheit des Konsums und zeitweise der mangelnde Konsum der großen Mehrheit der Menschheit werden zur Regel" (Einführung in die Nationalökonomie).
Dieses eherne Gesetz, diese unveränderliche Regel stellt das Wesen des Kapitalismus dar. Wenn man von den Kapitalisten und ihren jeweiligen Staaten verlangt, die Profite gerecht zu verteilen, hieße das eigentlich von ihnen zu verlangen, sich umzubringen. Deshalb überrascht es nicht, wenn Unternehmen und Nationalstaaten aufgrund der immer heftigeren Konkurrenz unter den Staaten immer schärfere und räuberischere Maßnahmen ergreifen, um ihr wachsendes Profitstreben zu befriedigen. Attac prangert dies wortgewaltig als "Neoliberalismus" an, obwohl es sich eigentlich um die ganz normale Funktionsweise der kapitalistischen Produktionsweise handelt. Und ihre Profitgier ist um so größer, je mehr sich die Wirtschaftskrise zuspitzt, weil die Akkumulationsbedingungen des Kapitals immer ungewisser werden. Deshalb verschärfen sich die Ausbeutungsbedingungen der Arbeiter überall auf der Welt.
In Anbetracht der überall festzustellenden Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen fehlt es Attac nicht an Vorschlägen und Lösungen. Aber bei der Aufzählung all der Mittel, die eingesetzt werden müssten, um "die Welt zu ändern", handelt es sich in Wirklichkeit um eine Reihe von Maßnahmen, die alle die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen. Abgesehen von einigen frommen Wünschen beinhalten all diese Lösungsvorschläge einen Hilferuf an den Staat.
Attac will uns damit vergessen machen, dass der Staat die kapitalistische Wirtschaft bestimmt und als Garant dafür eintritt, dass das kapitalistische Räderwerk Profite machen kann. Attac verteidigt den Staat als das beste Mittel des Kampfes gegen den Profit und zur Verbesserung der Lage der Arbeiter und der Bevölkerung, wo doch gerade der Staat der Hauptdrahtzieher bei den meisten Angriffen gegen die Arbeiter ist. Der Staat ist nämlich kein neutrales, über den Klassen stehendes Organ und auch kein Garant der sozialen Gerechtigkeit. Im Gegenteil: Schon Engels schrieb im 19. Jahrhundert von einer "... mit den Namen Staat bezeichneten politischen Organisation, einer Organisation, deren Hauptzweck von jeher war, durch bewaffnete Gewalt, die ökonomische Unterdrückung der arbeitenden Mehrzahl durch die begüterte Minderzahl sicherzustellen" (Engels an von Patten, 18.4.1883, MEW, Bd. 36).
Attac prangert ebenso die Multis und die Privatwirtschaft an, die sich die Profite auf Kosten der Bevölkerung unter den Nagel rissen. Indem Attac diese Sündenböcke präsentiert, sollen wir glauben, dass der Staat die Aufgabe hat, den Reichtum der Nation gerecht zu verteilen. Der Staat sei irgendwie Garant des Kommunismus. Aber diese Multis vertreten nicht ausschließlich die Interessen von Privatkapitalisten, sie sind nicht sozusagen "staatenlos". Oft handelt es sich bei ihnen nämlich um Großkonzerne, die mit den mächtigsten Staaten verbunden sind; manchmal stehen sie gar direkt im Dienst der Handels-, politischen und militärischen Interessen dieser Staaten. Auch wenn es Divergenzen zwischen den Staaten und bestimmten Konzernen gibt, ändert dies nichts an der Tatsache, dass sie letztendlich gemeinsam vorgehen müssen bei der Verteidigung des nationalen Interesses und der Länder, von denen sie abhängig sind. Der Staat regelt die Preise, greift bei Tarifverhandlungen ein, beim Export, in der Wirtschaft überhaupt. Durch seine Steuer- und Finanzpolitik, durch die Festlegung der Zinsen usw. diktiert er die Bedingungen am "freien" Markt. Und der Staat und seine "respektabelsten" Institutionen werden zu wahren Croupiers einer Kasinowirtschaft, wenn sie die Agonie des Systems verwalten müssen. Schon seit dem Ende der 1960er Jahre war der Staat Architekt der großen Entlassungspläne im Namen der industriellen Umstrukturierung in der Stahlindustrie, im Bergbau, im Schiffsbau, in der Automobilwirtschaft - und der Aderlass geht heute weiter in der Luftfahrtindustrie, in der Telekommunikation, der Automobilindustrie.
Der Staat ist für die Tausenden von Stellenstreichungen bei der Post, der Bahn, im Gesundheitswesen, im Erziehungsbereich und in anderen Teilen des öffentlichen Dienstes verantwortlich. Er ist stets die treibende Kraft, um das Lebensniveau und die Sozialstandards zu senken, er ist mitverantwortlich für die Zunahme der Armut, der prekären Arbeitsbedingungen; er senkt die Sozialausgaben (Mietzuschüsse, Renten, Gesundheit, Erziehung usw.). Er ist der Hauptverantwortliche für die Verarmung von Tausenden von Arbeitern, die obdachlos sind und auf der Straße überleben müssen. Wenn man, wie Attac meint, das "liberale" Management in der Wirtschaft ‚überwinden' will, um zur dirigistischen Politik des "Wohlfahrtstaates" der 1970er Jahre und später zurückzukehren, verwischt man nur das wirkliche Verhältnis zwischen Staat und Privatwirtschaft.
Die "alternativen" Vorschläge dieses Manifest der Antiglobalisierer stellen für die herrschende Klasse überhaupt keine Gefahr dar, weil sie sich völlig innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesellschaft bewegen. In Wirklichkeit sind sie nur ein Mittel zur Verschleierung der einzigen Perspektive, die die kapitalistische Barbarei und Verarmung überwinden kann: die Überwindung des dahinsiechenden Kapitalismus durch die proletarische Revolution. Donald, 21.03.2007
(leicht gekürzter Artikel aus Révolution Internationale, März 2007, Zeitung der IKS in Frankreich)Der Operaismus steht wie jede andere politische Strömung, die die historische Krise des Kapitalismus als äußeren Beweggrund revolutionärer Klassenkämpfe leugnet, vor dem Dilemma, die Frage nach der materiellen Grundlage dieses Klassenkampfes zu beantworten, ohne im Voluntarismus Zuflucht zu suchen. Was - wenn nicht die schweren wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen des Kapitalismus - sollte unserer Klasse die Augen über die Vergänglichkeit, den Bankrott dieser Gesellschaftsform öffnen? Was - wenn nicht die immer offenkundigere Unfähigkeit der herrschenden Klasse, den Ausgebeuteten wenigstens ein bescheidenes Auskommen zu bieten - kann die ArbeiterInnen davon überzeugen, für die Abschaffung des Kapitalismus zu kämpfen?
Für große Teile des Operaismus reicht allem Anschein nach der schlichte Tatbestand der Ausbeutung. Nach dieser Auffassung ist es das täglich erfahrene Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis am Arbeitsplatz, dass die ArbeiterInnen radikalisiert. Je brutaler die Ausbeutung, so die simple Rechnung, desto radikaler und militanter die Beschäftigten. So lag es nahe, dass der Operaismus der sechziger Jahre das revolutionäre Potenzial der Klasse überwiegend im sog. Massenarbeiter lokalisierte, d.h. im Fließbandarbeiter, wie in der italienischen Automobilindustrie beispielsweise; denn die in der Fließbandarbeit besonders zugespitzte Entfremdung der Arbeiter einerseits und ihre zentrale Stellung in der Produktion andererseits prädestiniere die Massenarbeiter dazu, das kapitalistische System in Frage zu stellen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass das sog. Prekariat zur bevorzugten Klientel des heutigen Postoperaismus zählt.
Der "klassische" Operaismus, wie er von Quaderni Rossi, Classe Operaia, Primo Maggio, etc. verkörpert wird, hat eine recht schematische Vorstellung vom Klassenkampf, reduziert er ihn doch auf die rein ökonomischen Kämpfe in den Betrieben. Angefeuert vom Refrain: "Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will!", sucht er die Entscheidung im betrieblichen Kräftemessen. Ob nun die Automobilarbeiter bei FIAT mit ihrer Schlüsselstellung an den Fließbändern, die LKW-Fahrer, die "den gesamten Zyklus des Kapitals lahm legen" können, oder das technische Personal mit seiner Schlüsselrolle zwischen Arbeiter und Studenten - stets war der Operaismus auf der Suche nach der Schwachstelle im kapitalistischen Produktionsapparat. Es galt, "ein Segment der Klasse zu suchen, das sich dynamisch verhielt und zugleich in einem strategisch wichtigen Sektor beschäftigt war."
Doch abgesehen davon, dass sie dabei die Achillesferse des Kapitalismus schlechthin, seine historische Krise, übersehen, haben diese Operaisten auch nie begriffen, dass der Klassenkampf des Proletariats in erster Linie einen politischen Charakter trägt. Die Gretchenfrage bei jedem Streik, bei jeder wie auch immer gearteten Widerstandsaktion der Arbeiterklasse lautet nicht, wie die Operaisten allgemeinhin behaupten: Wie und wo ist es möglich, Sand ins Getriebe des kapitalistischen Produktionsapparates zu streuen und ihn hier und heute auszuhebeln? Sie lautet vielmehr: Hilft der jeweilige Kampf den ArbeiterInnen weiter in ihrem Bewusstwerdungs- und Vereinigungsprozess und trägt er somit zur Vorbereitung auf die künftige Entscheidungsschlacht zwischen Kapital und Arbeit, zur "Aushebelung" des kapitalistischen Machtapparates bei?
So gesehen, ist die klassische operaistische Strategie, den Kapitalismus zu stürzen, indem sein Produktionsapparat durch die Aktionen einer kleinen Elite von kämpferischen Arbeitern in Schlüsselpositionen lahmgelegt wird, genauso wenig hilfreich wie die Mittel der Bummelstreiks, der sog. Schachbrettstreiks, der Sabotage und des Krankfeierns, die von operaistischen Strömungen durchaus begrüßt werden. Das eine sind quasi-militärische Planspiele am pseudo-revolutionären Kartentisch, das andere isolierte Aktionen von vereinzelten Arbeitern oder Gruppen von Arbeitern, aus deren Not eine Tugend gemacht werden soll. Beides widerspricht dem kollektiven Charakter des proletarischen Klassenkampfes und Klassenbewusstseins.
Doch neben dem operaistischen Mainstream entstanden Ende der sechziger Jahre, unter dem Eindruck des angeblichen Scheiterns der "klassischen" Arbeiterschichten und des Auftretens der Studentenschaft im sog. Heißen Herbst 1969 in Italien, auch Strömungen im italienischen Operaismus, die das Klischee des "Arbeiters im Blaumann" nicht mehr teilten. Operaisten wie z.B. Sergio Bologna entdeckten nun auch Schichten außerhalb der unmittelbaren Produktionssphäre als relevant für den Klassenkampf. Sie erkannten, dass der ständige Zwang des Kapitals, seine organische Zusammensetzung zugunsten des konstanten Kapitals zu verändern, auch zu einem entgegengesetzten Prozess führt, nämlich zu einer wachsenden Qualifizierung von Beschäftigten. Nun rückten beispielsweise Techniker in den Mittelpunkt des Interesses eines Teils der Operaisten.
Unter diesen Strömungen war es vor allem Potere Operaio, einer aus dem Heißen Herbst 1969 in Italien hervorgegangenen operaistischen Organisation, und insbesondere ihrem linken Flügel, der POv-e (1), vorbehalten, die alten operaistischen Modelle der Klassenzusammensetzung kritisch zu beleuchten. So war es mit Toni Negri ein Mitglied des Veneter Flügels von PO, der mit seinem Begriff des "gesellschaftlichen Arbeiters" die heilige Kuh des Massenarbeiters schlachtete und den Begriff der Arbeiterklasse von der Ebene der unmittelbaren Produktion auf den Bereich der Reproduktion (der sog. tertiäre Sektor) ausdehnte. Darüber hinaus stellte Potere Operaio eine weitere Säule des damaligen Operaismus in Frage: die "zwangsläufige Beziehung zwischen Arbeitsprozess und Klassenverhalten". PO stellte zudem fest, dass die ökonomischen Kämpfe der Klasse rein defensiven Charakter tragen und allein die Verteidigung oder gar Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiterklasse zum Inhalt haben, dass nur die Politisierung des Klassenkampfes die kapitalistischen Produktionsverhältnisse an sich in Frage stellen kann.
Doch wer oder was soll diese Politisierung des Arbeiterkampfes bewerkstelligen? Die Antwort von Potere Operaio: Sie schloss kategorisch jegliche Verbindung zwischen dem ökonomischen und dem politischen Kampf aus und erteilte allein der "Partei" das Mandat für die politischen Kämpfe - einer Partei allerdings, die "außerhalb, aber nicht abseits" der Arbeiterklasse stehe. Für PO, aber auch für andere Operaisten besitzt die Arbeiterklasse nur ein ökonomisches Klassenbewusstsein. Das politische Bewusstsein, meinte Romano Alquati - einer der Väter des Operaismus - ganz im Sinne Lenins, müsse von außen an die Klasse herangetragen werden. Hier wird das ganze Dilemma des Operaismus deutlich. Einerseits hat er sich die "Autonomie" der Arbeiterklasse gegenüber der Gewerkschafts- und Parteibürokratie auf die Fahnen geschrieben. Andererseits veranlasst ihn seine ökonomistische Vorgehensweise, seine einseitige, mechanische und simple Verknüpfung des - wie er es nennt - "Klassenverhaltens" mit der Produktionssphäre dazu, in Fragen des Verhältnisses zwischen dem ökonomischen und dem politischen Kampf, zwischen der Arbeiterklasse und ihren politischen Organisationen auf ebenso alte wie überholte Konzepte des Substitutionismus zurückzugreifen.
Ein weiteres Merkmal des operaistischen Phänomens ist sein Versuch, den Marxismus mit der modernen Soziologie zu vereinen, was sich insbesondere auf seine Annäherungsweise gegenüber der Arbeiterklasse auswirkt. Um dem Rätsel der "neuen" Arbeiterklasse nach dem II. Weltkrieg auf die Schliche zu kommen, reichte dem Operaismus die Erkenntnisse des Marxismus nicht mehr aus. Er vermeinte stattdessen auf die Erkenntnisse der neuen "radikalen" Sozialwissenschaften und der neu aufkommenden sog. Industriesoziologie zurückgreifen zu müssen, wobei sich operaistische Vordenker wie Panzieri von modernistischen Strömungen wie die Frankfurter Schule, insbesondere aber von Adorno inspirieren ließen.
In diesem Zusammenhang führte Quaderni Rossi sog. Arbeiteruntersuchungen ein, d.h. Interviews mit einzelnen Arbeitern, um auf diese Weise Zugang zur "proletarischen Erfahrung" zu erhalten und zu einem "bessere(n) Verständnis der Realität der modernen Arbeiterklasse" zu gelangen. Doch oftmals musste man feststellen, dass die Aussagen der interviewten Arbeiter nicht mit ihrem Handeln übereinstimmten. In der Tat sind solche "Untersuchungen" genauso wertlos wie jede x-beliebige Erhebung durch die bürgerliche Soziologie. Dennoch erfreuen sie sich noch heute großer Beliebtheit unter den postoperaistischen Gruppen.
Die soziologische Handschrift des Operaismus wird sowohl in seinen Theorien über den Klassenkampf als auch in seinen Definitionen der Arbeiterklasse deutlich. So wie seine Theorien über die Klassenzusammensetzung allein die Veränderungen in der Klassenstruktur, sprich: Soziologie des Proletariats im Auge haben, so verlässt sich der Operaismus bei der Suche nach dem revolutionären Objekt allzusehr auf soziologische Kriterien wie die spezifische Stellung im Produktionsprozess. Er betrachtet den Arbeiter in seinem Einzelschicksal, und er studiert ihn überwiegend außerhalb des Kampfes, im Status quo der täglichen Ausbeutung. Damit verlässt der Operaismus das Terrain des historischen Materialismus und verirrt sich in den Gefilden des Empirizismus - einer Methode, deren Momentaufnahmen nicht nur jede Bewegung des untersuchten Objekts gleichsam einfrieren und ihre ganze Dynamik unkenntlich machen, sondern darüber hinaus blind sind für die unterirdischen Prozesse der Bewusstseinsbildung in unserer Klasse.
Es wäre aufschlussreich zu erfahren, welchen Klassenbegriff der Operaismus hat. Der Marxismus jedenfalls, wie wir ihn verstehen, verbindet mit dem Terminus "Arbeiterklasse" mehr als die bloße Summe aller Arbeiter und Arbeiterinnen. Für ihn ist die Arbeiterklasse nicht wegen ihrer "strategischen" Stellung in der Produktion revolutionär, sondern weil sie die erste gesellschaftlich produzierende Klasse in der Geschichte ist, deren wichtigster Trumpf nicht die Eroberung vermeintlich wichtiger Positionen im kapitalistischen Produktionsapparat ist, sondern die Erlangung eines Bewusstseins über ihre eigene Identität und Stärke, ja letztendlich über ihre historische Mission. Denn ohne ein solches Klassenbewusstsein ist jede noch so günstige "Klassenzusammensetzung", jede Schlüsselstellung von Teilen der Klasse in der Produktion ein Muster ohne Wert.
In diesem Sinne sollte uns weniger das passive Verharren der Arbeiterklasse in Zeiten der Friedhofsruhe als ihr dynamischer Wandel in den Episoden offener Klassenkonfrontationen interessieren. Unser Hauptaugenmerk sollte nicht den Modalitäten der Ausbeutung und ihren Auswirkungen auf die Stellung der Arbeiter gelten, sondern dem Kampf der Klasse, in dem sich der einzelne Arbeiter wenigstens zeitweise von der herrschenden Ideologie befreit, über sich hinauswächst und gemeinsam mit seinen Leidensgenossen neue Maßstäbe setzt. Es war der bereits zitierte Tronti, der in seltener Klarheit das Dilemma der Operaisten bei dem Versuch, der Arbeiterklasse mit soziologischen Mitteln auf die Spur zu kommen, auf den Punkt brachte: Man kann "nicht verstehen, was die Arbeiterklasse ist, wenn man nicht sieht, wie sie kämpft."
(1) Das Kürzel "v-e" steht für "veneto-emiliano".
Zehntausende Menschen aus allen Erdteilen kommen nach Heiligendamm, um gegen den empörenden Zustand unserer Welt zu protestieren. Anlass: der so genannte G8 bzw. Weltwirtschaftsgipfel, wo die Führer der sieben führenden Industriestaaten plus Russland sich treffen, um ihre menschenverachtende Politik auf Kosten der Interessen der menschlichen Gattung abzusprechen. Turnusgemäß findet das Treffen diesmal in Deutschland statt. Um die Ruhe und Sicherheit der Staatschefs zu garantieren, werden auch diesmal Sperrzonen festgelegt, Sicherheitszäune hochgezogen, Demonstrationsverbote verhängt, Razzien durchgeführt, Menschen verprügelt oder in Beugehaft genommen. Diese Heerschau der bewaffneten Staatsmacht wird diesmal nicht vom russischen Geheimdienst- und Polizeistaat veranstaltet, sondern von der zur Musterdemokratie mutierten Bundesrepublik Deutschland. Die Spezialkräfte der Polizei, welche die Demonstranten einschüchtern sollen, werden von der christdemokratischen und sozialdemokratischen Bundesregierung in Berlin bzw. von der aus SPD und Linkspartei bestehenden Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern befehligt. Diese Aufmärsche des Staates sind keine Überschreitungen der bürgerlich-demokratischen Kultur, sondern sind Teil dieser von Blut und Schmutz durchtränkten Unkultur. „Die von der Dominanz der G8 geprägte Welt ist eine Welt der Kriege, des Hungers, der sozialen Spaltung, der Umweltzerstörung und der Mauern gegen Migrantinnen und Flüchtlinge“ schreibt einer der Demonstrationsaufrufe.
Eine notwendige Suche nach Antworten
Wie der wahnwitzigen Spirale der Ausbeutung, Verarmung und Zerstörung Einhalt gebieten? Wie die Auflösung der menschlichen Gesellschaft durch ungezügelten Individualismus und ungezügeltes Profitstreben umkehren? Wie die Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlage, wie die Schändung unseres herrlichen Planeten durch eine außer Kontrolle geratene Wirtschaftsmaschinerie aufhalten, bevor es zu spät ist? Es gibt keine Fragen, vor denen die Menschheit steht, die wichtiger wären als diese – oder dringlicher.
Das Zusammenkommen so vieler Menschen aus aller Herren Länder, um ihre Stimmen dagegen zu erheben, dass unsere Gesellschaft sehenden Auges gegen die Wand gefahren wird, muss uns Anlass sein, um miteinander zu debattieren. Ein solcher internationaler Dialog wäre bereits ein erster und sehr wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Schließlich liegt es auf der Hand, dass nicht mal eine einzige der großen Menschheitsfragen der Gegenwart anders als auf Weltebene angegangen und gelöst werden kann.
Eins ist klar: Die Zusammenkünfte der Regierenden können kein anderes Ergebnis haben als die Fortsetzung und Verschärfung der bereits bestehenden Barbarei. Was wir brauchen ist ein globaler Austausch unter den Betroffenen aller Länder, damit wir gemeinsam und von „unten“ die Verantwortung für unsere Welt kämpfend in die eigenen Hände nehmen können.
Nicht allein die Proteste gegen G8, sondern die Dringlichkeit der Aufgaben sind Anlass genug, nicht nur um über echte, realistische Alternativen zur bestehenden Weltordnung nachzudenken, sondern um mit der gebührenden Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit der Frage nachzugehen, welche Kräfte oder Kampfmethoden gegenüber den gestellten Aufgaben Aussicht auf Erfolg haben können?
Handeln ist dringlich: Aber wie?
Unter den „Protestierenden“ gibt es bei jedem Weltwirtschaftsgipfel viele, welche in Wahrheit zur Erhöhung des Glanzes dieser Zusammenkünfte beitragen. Sie gehören zum Gipfeltross dazu wie die polizeilichen Aufmärsche oder das festliche Staatsbankett am Abend. So etwa die superreichen Clowns der Musikindustrie und die anderen Bittsteller, die gute Taten von Bush, Putin und Merkel verlangen. So die kritischen Intellektuellen und linken Politiker, welche über die Staatschefs herziehen, aber selbst Mitglied derselben politischen Parteien sind wie diese, oder ihnen auf andere Weise dienen. Aber es gibt auch viele, die, ohne persönliche Interessen zu verfolgen, aus ehrlicher Empörung heraus anreisen.
Die „Gipfelgegner“, wie man sieht, stellen keine geschlossene und handlungsfähige Gruppe dar. Das wissen selbstverständlich auch die Regierungen der G8. In der Öffentlichkeit wird zwischen Friedlichen und Gewalttätern unterschieden. Im Vorfeld des Gipfels haben die deutschen Sicherheitsbehörden dieser Unterscheidung Ausdruck verliehen, indem sie erklärten: Das Recht auf friedlichen Protest werden wir nicht nur gewähren, sondern – wenn nötig mit Waffengewalt – schützen. Die Gewalttäter hingegen werden wir unerbittlich verfolgen, ihre Anreise aus dem Ausland bereits an der Grenze beenden bzw. sie unverzüglich des Landes verweisen (so viel zu Europa ohne Grenzen!) Die anderen sind am ehesten in Beugehaft zu nehmen und bei Auseinandersetzungen wie Terroristen zu behandeln.
Allerdings ist diese Unterteilung in die guten, weil friedlichen, und die bösen, weil gewalttätigen Protestierenden, aus dem Munde der Staatgewalt wenig überzeugend, ja geradezu verdächtig. Schließlich ist die nackte, militärische Gewalt wie auch die indirekte, ökonomische Gewalt das Alltagsgeschäft der Herrschenden. Diese Unterteilung dient dazu, diejenigen zu kriminalisieren und einzuschüchtern, die eine radikale Infragestellung des Systems anstreben. Zugleich wird damit der Anschein geweckt, dass es die Gewalt ist, vor der sich die Herrschenden fürchten. So wird dafür gesorgt, dass auch auf der anderen Seite des Sicherheitszauns nur ein Spektakel stattfindet: Musikkonzerte, Gottesdienste und lammfromme Kundgebungen, aber auch Auseinandersetzungen mit der Polizei. Alles, was man will, nur eins nicht: Dass Teilnehmer aus den verschiedenen Erdteilen miteinander die Möglichkeit einer weltweiten Umwälzung erörtern, welche das Herrschaftssystem wirklich zum Einsturz bringen könnte.
Nachdenken, miteinander diskutieren – haben wir dazu überhaupt noch Zeit? Und beim Gipfel erst! Sollte die Losung da nicht heißen: Protestieren statt Palavern?
Andererseits: Ist das Kennzeichen jeder aussichtsreichen menschlichen Tätigkeit nicht deren Zielgerichtetheit? Und bedingen sich nicht das Ziel einer Handlung und die entsprechenden Mittel dazu nicht gegenseitig? Mit einem Wort: Müssen Mittel und Ziel nicht miteinander übereinstimmen?
Was sind aber die Ziele der Protestierenden gegen G8? Oder andersrum gefragt: Welche Selbstverständnis über die Ziele und über das Wesen des Problems drücken sich aus durch diese Art des Kampfes zur Lösung der Probleme der Welt, die darin besteht, sich dort protestierend zu sammeln, wo die Staatschefs sich versammeln?
Die Lösung der Gipfelgegner lautet seit langem: Eine andere Welt ist möglich. Was aber zumeist darunter verstanden wird, ist: Eine andere Politik ist möglich. Es geht also darum, die versammelten Politiker durch öffentlichen Druck zu zwingen, einen Politikwechsel zu betreiben. Ansonsten ergäbe es auch keinen Sinn, den Politikern von Gipfel zu Gipfel hinterher zu jagen.
Welche andere Politik verlangt wird, ist auch bekannt: Die Politik der neoliberalen Globalisierung, welche die Wirtschaftspolitik an den Renditen-Interessen internationaler Finanzanleger und Konzerne ausrichtet, soll abgelöst werden durch eine Rückkehr zur Politik des Wohlfahrtsstaates, wie sie nach dem 2. Weltkrieg in den westlichen Industriestaaten praktiziert wurde. Man verspricht sich davon, die globale Verarmung und die globalen Verheerungen der letzten Jahrzehnte rückgängig machen oder ihnen zumindest Einhalt gebieten zu können.
Die Organisatoren der Gipfelproteste rühmen sich, nicht nur radikal, ja antikapitalistisch zu sein, sondern auch knallhart realistisch. Anstatt träumerischen Utopien nachzuhängen wollen sie konkrete Reformen, welche dem Großkapital wehtun und der arbeitenden Bevölkerung handfeste Vorteile bescheren. Zwar teilen sich die Gipfelstürmer in „gemäßigte“ und „radikale“ Fraktionen. Aber diese Auseinandersetzungen beschränken sich auf die Frage, welche Mittel des Protestes eingesetzt werden sollen, stellen also die allgemeine Zielsetzung einer Reform des Kapitalismus nicht in Frage.
Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat?
Viele Gipfelgegner, die durchaus gegen den Kapitalismus eingestellt sind, stimmen dieser Zielsetzung zu, denn unter Rückkehr zum Wohlfahrtstaat verstehen sie v.a. Aufrechterhaltung und Verbesserung der Gesundheitsfürsorge oder der Bildung, Bekämpfung der Armut usw. Jedoch muss die Frage zur Diskussion gestellt werden, ob diese Ziele durch eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat überhaupt erreichbar sind! Wie realistisch sind eigentlich die „handfesten“ Reformvorhaben der Gipfelgegner?
Das, was man Wohlfahrtsstaat nennt, war übrigens keine Erfindung des Nachkriegsstaates. In Deutschland z.B. wurden Elemente davon bereits unter Bismarck eingeführt (um die revolutionäre Arbeiterbewegung zu bekämpfen), oder unter Hitler (als Teil der Kriegswirtschaft). Aber als der „Welfare State“ keynesianischer Prägung nach dem 2. Weltkrieg in allen westlichen Industriestaaten ausgebaut wurde, geschah dies in einem ganz konkreten geschichtlichen Rahmen. Das kapitalistische System war zwar am Anfang des 20. Jahrhunderts in seine Niedergangsphase getreten, in die Epoche der Kriege und Revolutionen (Die beiden Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, aber auch die sozialistische Arbeiterrevolution, welche am Ende des 1. Weltkriegs in Russland für sehr kurze Zeit siegte, aber in Deutschland scheiterte, machen das deutlich.). Dennoch gab es nach 1945 viel mehr Möglichkeiten für die Herrschenden, das System zu stabilisieren als heute. Das Regulierungsinstrument dieser Stabilisierung war der Staat.
Die „Globalisierungskritiker“ (die dazu neigen, den Staat zu beschönigen) behaupten, dass die „Globalisierung“ ein Produkt der neoliberalen Politik der letzten 30 Jahre sei, und die die Welt in die Händen der internationalen Konzern gelegt und damit undemokratisch gemacht habe. Der Wohlfahrtsstaat nach 1945 hingegen sei auf nationale Interessen ausgerichtet und somit demokratischer gewesen und habe mehr den Interessen der Gesamtbevölkerung gedient. Sie vergessen dabei, dass die Hauptzielscheiben ihrer Kritik – Weltbank und Internationaler Währungsfond – keine Schöpfungen der neoliberalen Zeit waren, sondern nach dem 2. Weltkrieg von den „keynesianisch“ geprägten Nationalstaaten des Westens geschaffen wurden. Im Rahmen des damals prägenden Ostwestkonflikts war nämlich erstmals eine internationale Koordinierung der Wirtschaftspolitik der westlichen Konkurrenten möglich geworden u.a. mit dem Ziel, sich der Ressourcen der sog. Dritten Welt systematischer zu bedienen. Das Ziel: Die Stabilisierung der Herzländer des Kapitalismus. Eines der tragischsten Ergebnisse dieser Politik war denn auch die Verbreitung von Armut und Hunger in weiten Teilen der Welt in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß. Das geschah wohlgemerkt unter dem Leitstern nicht von Milton Friedman und der Chicago Boys, sondern von Keynes!
Was den Wohlfahrtsstaat selbst betrifft, war er keineswegs als Wohltat für die Armen gedacht. Er war zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit für das kapitalistische System geworden. Während der „Wirtschaftswunderzeit“ herrschte zunehmend Arbeitskräftemangel. Da wurde es dringend, das angeschlagene „Humankapital“ schnell zu „reparieren“ (Gesundheitswesen), die Frauen für den Arbeitsmarkt zu mobilisieren (Kindergeld, Krippenplätze) oder den rar gewordenen Arbeitskräften Mut zu machen, flexibler zu werden und eine neue Stelle zu suchen (Arbeitslosenversicherung).
Die Klasse der Kapitalisten begann erst dann, den Wohlfahrtsstaat in Frage zu stellen (die Ideologie des Neoliberalismus), als in Folge der Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit dieser Einrichtung der wirtschaftliche Sinn abhanden gekommen war. Warum das „Humankapital“ am Leben erhalten und „reparieren“, wenn es im Überfluss vorhanden ist? Dennoch wurde der Wohlfahrtsstaat nicht sofort zerschlagen, sondern zunächst nur eingeschränkt. Dies nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Erwägungen. Denn die Massenarbeitslosigkeit offenbart das Wesen der Lohnarbeit als Grundlage des Kapitalismus: Die Unsicherheit der Lebenslage. Hält diese Unsicherheit zu lange an, überschreitet sie einen gewissen Intensitätsgrad, wird sie kaum noch zu vereinbaren sein mit der menschlichen Natur. Da kann es passieren, dass die Menschen, deren Arbeitskraft zur Ware degradiert worden ist, dass die Lohnsklaven gegen diese absolute Unsicherheit, gegen den Kapitalismus aufstehen, um ihre eigene Menschlichkeit zu verteidigen.
Weltreform oder Weltrevolution?
Was bedeutet, wenn heute der „Neoliberalismus“ weltweite Triumphe feiert. Es bedeutet, dass der Kapitalismus aufgrund der Tiefe der geschichtlichen Krise des allgemeinen Warensystems es sich wirtschaftlich nicht mehr leisten kann, diese Krise in dem Maße durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen politisch abzufedern wie zuvor.
Das sind die Ideen, die wir anlässlich der G8 Gipfelproteste gerne zur Debatte stellen möchten. Wir meinen, dass das Projekt einer Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit eine reaktionäre Utopie darstellt. Utopisch, weil die Krise des Kapitalismus selbst den Wohlfahrtsstaat unmöglich gemacht hat. Reaktionär, weil die Weltordnung des Wohlfahrtsstaats nicht minder barbarisch war als die heutige. Die Krise der Gegenwart ist eine Krise des Lohnsystems, eine Krise der verallgemeinerten Warenwirtschaft, des Kapitalismus, welcher die menschlichen und natürlichen Grundlagen unserer Gesellschaft immer mehr zerstört. Eine Lösung kann es nur auf Weltebene geben. Aber diese Lösung kann nicht eine Reform der Welt sein, weil der Kapitalismus nicht reformierbar ist. Die Lösung kann nur in einer Weltrevolution liegen. Da diese Revolution sich gegen das Lohnsystem selbst richten muss, kann sie nur von den Lohnsklaven angeführt werden. Eine proletarische Revolution für eine Welt ohne Waren und ohne Ausbeutung: Das ist es, was wir zur Debatte stellen möchten.
Eine andere Welt ist möglich.
23.05.07Vor mehr als hundert Jahren sagte Engels voraus, dass die kapitalistische Gesellschaft, sich selber überlassen, die Menschheit in die Barbarei stürzen würde. Und tatsächlich, in den letzten hundert Jahren haben imperialistische Kriege nicht aufgehört, auf immer abstoßendere Weise diese Voraussage zu bestätigen. Heute hat die kapitalistische Welt eine neue Türe zur Apokalypse geöffnet, zu der von Menschenhand geschaffenen ökologischen Katastrophe, welche in wenigen Generationen den Planeten Erde zu einem unwirtlichen Ort wie den Planeten Mars machen könnte. Obwohl sich die Verteidiger der kapitalistischen Ordnung dieser Perspektive bewusst sind, können sie rein gar nichts dagegen tun, denn es ist ihre eigene Produktionsweise, welche die imperialistischen Kriege wie auch die ökologische Katastrophen hervorruft.
Das blutige Fiasko des Irakfeldzuges der 2003 von den USA angeführten Koalition stellt ein schicksalhaftes Moment in der Entwicklung der imperialistischen Kriege auf dem Weg der Zerstörung der Gesellschaft selber dar. Vier Jahre nach der Invasion ist der Irak weit davon entfernt, "befreit" zu sein, und hat sich in das verwandelt, was die bürgerliche Presse vorsichtig als einen "gescheiterten Staat" definiert; dieses Land, dessen Bevölkerung die Massaker von 1991 über sich ergehen lassen musste, danach während eines Jahrzehnts durch die Wirtschaftssanktionen ausgeblutet wurde und nun täglich durch Selbstmordattentate, Pogromen der verschiedenen "Aufständischen", von den Todesschwadronen des Innenministeriums oder durch willkürliche Hinrichtungen durch die Besatzungstruppen aufgerieben wird. Die Situation im Irak ist nichts anderes als das Epizentrum eines Prozesses des Zerfalls und des militärische Chaos, welches sich über Palästina, Somalia, den Sudan, den Libanon und Afghanistan ausbreitet und immer neue Regionen zu befallen droht. Die kapitalistischen Metropolen sind nicht davon ausgenommen, wie die Anschläge in New York, Madrid oder London im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts zeigen. Weit davon entfernt, eine neue Ordnung im Nahen und Mittleren Osten aufzubauen, hat die amerikanische Militärmacht das Chaos nur vergrößert.
In diesem Sinn gibt es nichts Neues an diesem Massaker. Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 war ein erster Schritt zu einer barbarischen "Zukunft". Das Gemetzel von Millionen junger Arbeiter, welche die jeweiligen imperialistischen Herrscher in die Schützengräben geschickt hatten, wurde abgelöst durch die Pandemie der "spanischen Grippe", welche weitere Millionen von Opfern forderte. Die mächtigsten europäischen Nationen befanden sich am Ende des Krieges ökonomisch am Boden. Nach der Niederlage der Oktoberrevolution von 1917 und der verschiedenen Arbeiterrevolutionen, die im Laufe der 20er Jahren unter diesem Einfluss ausbrachen, war der Weg zu einem noch katastrophaleren Krieg geebnet, zum Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945. Hier wurde die wehrlose Zivilbevölkerung das Hauptziel eines systematischen Massakers durch die Luftstreitkräfte; ein Völkermord im Herzen der europäischen Zivilisation forderte Millionen von Menschenleben.
Während des Kalten Krieges von 1947 bis 1989 gab es eine ganze Reihe von zerstörerischen Kriegen, in Korea, Vietnam, Kambodscha und quer durch ganz Afrika, während der Antagonismus zwischen den USA und der UdSSR die Welt dauernd mit der weltweiten nuklearen Apokalypse bedrohte.
Was heute am imperialistischen Krieg neu ist, ist nicht das absolute Ausmaß der Zerstörung, obwohl die Zerstörungskraft mindestens der USA sehr viel größer ist als je zuvor, denn die jüngeren militärischen Konflikte haben noch nicht die wesentlichen Bevölkerungskonzentrationen im Herzen des Kapitalismus in den Abgrund geführt, wie dies während des Ersten und Zweiten Weltkriegs der Fall war. 1918 verglich Rosa Luxemburg die Barbarei des Ersten Weltkrieges mit dem Niedergang des Alten Roms und der düsteren Zeit, die darauf folgte. Heute scheint selbst dieser dramatische Vergleich unangemessen, wenn man den grenzenlosen Schrecken beschreiben will, den uns der Kapitalismus bietet. Trotz der Brutalität und dem Chaos der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts gab es dabei immer noch eine Perspektive - wenn auch eine illusorische - eines Wiederaufbaus einer gesellschaftlichen Ordnung im Interesse der herrschenden imperialistischen Mächte. Die Spannungsfelder unserer Zeit bieten hingegen keine andere Perspektive als diejenige des immer tieferen Versinkens im gesellschaftlichen Auseinanderdriften auf allen Ebenen, im Zerfall jeglicher sozialen Ordnung, in einem endlosen Chaos.
Ein ganz großer Teil der US-amerikanischen Bourgeoisie ist gezwungen worden zu anerkennen, dass die Strategie des Unilateralismus bei ihren weltweiten Hegemonialansprüchen sowohl auf der diplomatischen als auch auf der militärischen und der ideologischen Ebene gescheitert ist. Der Bericht der Irak-Studiengruppe (Irak Study Group, ISG), der dem amerikanischen Kongress vorgelegt worden ist, verheimlicht diese offensichtliche Tatsache nicht. Statt das Ansehen der USA zu stärken, hat die Besetzung des Iraks ihr Prestige in praktisch allen Bereichen geschwächt. Aber welche Alternative schlagen die härtesten Kritiker der Bush-Administration innerhalb der herrschenden Klasse der USA vor? Der Rückzug der Truppen ist nicht möglich, ohne die amerikanische Hegemonie weiter zu schwächen und das Chaos zu beschleunigen. Eine Teilung des Iraks in ethnische Zonen hätte den gleichen Effekt. Einige schlagen eine Politik der Eindämmung vor wie während der Zeit des Kalten Krieges, aber es ist klar, dass man nicht zur Politik der zwei imperialistischen Blöcke zurückkehren kann. Außerdem ist das Versagen der US-Truppen im Irak viel schlimmer als dasjenige in Vietnam, denn im Gegensatz zu Vietnam geht es für die USA im Irak darum, die ganze restliche Welt in die Schranken zu weisen, und nicht mehr bloß den seinerzeit rivalisierenden Block der UdSSR.
Trotz der harschen Kritik der ISG und der durch die demokratische Partei errungenen Kontrolle über den Kongress wurde Bush ermächtigt, die Zahl der Soldaten im Irak um 20´000 zu erhöhen. Gleichzeitig begann eine Politik der militärischen und diplomatischen Drohung gegenüber dem Iran. Welches die alternativen Strategien der herrschenden Klasse der USA auch immer sind, wird sie früher oder später gezwungen sein, einen weiteren blutigen Beweis für ihren Status als Supermacht zu liefern mit noch widerwärtigeren Konsequenzen für die Menschen der ganzen Welt, was einmal mehr die Ausbreitung der Barbarei beschleunigen wird.
Das ist weder das Resultat der Inkompetenz noch der Arroganz der republikanischen Administration unter Bush und der Neokonservativen, wie dies die Bourgeoisien der anderen imperialistischen Mächte unaufhörlich wiederholen. Sich auf die UNO und den Multilateralismus abzustützen, ist keine wirkliche Friedensoption, entgegen den Empfehlungen dieser Bourgeoisien und der Pazifisten jeder Couleur. Seit 1989 hat Washington sehr gut verstanden, dass die UNO eine Tribüne geworden ist, auf der die Rivalen der USA die amerikanischen Pläne durchkreuzen können: ein Ort, wo ihre weniger mächtigen Rivalen die amerikanische Politik verzögern und verwässern oder gar mit einem Veto verhindern können, um der Schwächung ihrer eigenen Position entgegen zu wirken. Indem Frankreich, Deutschland und die anderen die USA als die einzigen Verantwortlichen für Chaos und Krieg darstellen, offenbaren sie lediglich, dass sie selber ihren vollen Anteil an der zerstörerischen Logik des Kapitalismus haben: einer Logik, nach der jeder für sich selber spielt und sich gegen alle anderen durchsetzen muss.
Es überrascht nicht, dass die regelmäßigen Antikriegsdemonstrationen in großen Städten der wichtigen Metropolen im allgemeinen laut die kleinen imperialistischen Mächte des Nahen und Mittleren Ostens unterstützen, wie beispielsweise die Aufständischen im Irak oder die Hisbollah im Libanon, welche die USA bekämpfen. Das zeigt, dass dem Imperialismus eine Logik innewohnt, der sich keine Nation entziehen kann, und dass der Krieg nicht nur das Resultat der Aggressionen der Großmächte ist.
Andere verkünden dauernd wider besseres Wissen, dass das Abenteuer der USA im Irak ein "Krieg ums Öl" sei. Dabei werden die Gefahren ihrer grundlegenden geostrategischen Ziele völlig außer acht gelassen. Dies ist eine grobe Unterschätzung der aktuellen Lage. Die Situation, in der sich die USA im Irak befinden, ist nur der Ausdruck der weltweiten Sackgasse, in der die ganze kapitalistische Gesellschaft steckt. George Bush senior proklamierte seinerzeit, dass mit dem Wegfall des Ostblocks eine Zeit des Friedens und der Stabilität begonnen habe, eine "neue Weltordnung". Schon schnell sollte die Realität diese Vorhersage Lügen strafen, zunächst mit dem ersten Irakkrieg, dann mit dem barbarischen Konflikt in Jugoslawien, einem Krieg im Herzen Europas. Die 90er Jahre waren keineswegs Jahre der Ordnung, sondern des zunehmenden militärischen Chaos. Ironischerweise ist George Bush junior die Rolle zugefallen, einen weiteren entscheidenden Schritt hin zu diesem unumkehrbaren Chaos zu tun.
Gleichzeitig zur Verschärfung seines imperialistischen Kurses hin zu einer immer sichtbareren Barbarei, verstärkt der zerfallende Kapitalismus seine Attacke gegen die Biosphäre in einem solchen Ausmaß, dass ein künstlicher klimatischer Holocaust die Zivilisation und die Menschen zu verstören droht. Laut den Erkenntnissen, zu denen die Umweltwissenschaftler im Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaveränderung (IPCC) gekommen sind, wird bestätigt, dass die Theorie über die Klimaerwärmung durch hohe Kohlendioxid-Werte in der Atmosphäre, verursacht durch die massenhafte Verbrennung fossiler Brennstoffe, nicht nur eine simple Hypothese, sondern "Wahrscheinlichkeit" sei. Das Kohlendioxid in der Atmosphäre hält die von der Erdoberfläche und der Umgebungsluft abgestrahlte Sonnenwärme zurück und führt zu einem "Treibhauseffekt". Dieser Prozess hat um 1750 begonnen, zur Zeit der kapitalistischen industriellen Revolution, und seither haben die Kohlendioxid-Emissionen und die Erderwärmung stetig zugenommen. Seit 1950 hat sich dies ständig beschleunigt, und während des letzten Jahrzehnts wurden jedes Jahr neue Temperaturrekorde gemessen. Die Konsequenzen dieser Erderwärmung haben bereits alarmierende Ausmaße angenommen: Die Klimaveränderung führt zu wiederkehrenden Dürren und riesigen Überschwemmungen, zu tödlichen Hitzewellen in Nordeuropa und Klimabedingungen mit einer großen Zerstörungskraft. Sie führt zur Verschärfung der Hungersnöte und der Krankheiten in der Dritten Welt und selbst zum Ruin von Städten wie New Orleans nach dem Hurrikan Katrina.
Sicher, man darf nicht den Kapitalismus anklagen, damit begonnen zu haben, fossile Brennstoffe zu verbrennen, oder mit der Umwelt in gefährlicher und zerstörerischer Weise umzugehen. Dies war schon zu Beginn der menschlichen Zivilisation der Fall:
"Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, dass sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirges so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, dass sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzeln abgruben; sie ahnten noch weniger, dass sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütender Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wussten nicht, dass sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und dass unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können." (Friedrich Engels, Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen in Dialektik der Natur)
Doch der Kapitalismus ist verantwortlich für die enorme Zunahme dieser Umweltzerstörung. Dies nicht wegen der Industrialisierung an sich, sondern wegen seiner Jagd nach einem maximalen Profit und seiner Blindheit gegenüber den ökologischen und menschlichen Bedürfnissen, außer wenn sie zufällig mit dem Ziel der Anhäufung von Reichtum zusammenfallen. Die kapitalistische Produktionsweise hat aber noch andere Charakteristiken, welche zur ungebremsten Zerstörung der Umwelt führen. Die gnadenlose Konkurrenz unter den Kapitalisten, vor allem unter den verschiedenen Nationalstaaten, verhindert schlussendlich jegliche Kooperation auf Weltebene. Und verbunden mit dieser Charakteristik die Tendenz des Kapitalismus zur Überproduktion, in seiner unersättlichen Suche nach Profit.
Im dekadenten Kapitalismus, in seiner Periode der permanenten Krise, wird diese Tendenz zur Überproduktion chronisch. Dies ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges besonders deutlich geworden, da die Erweiterung der kapitalistischen Wirtschaft auf einer künstlichen Basis vorangetrieben wird, vor allem durch die Politik der Finanzierung über Defizite und die enorme Zunahme der Verschuldung in der Wirtschaft. All dies hat nicht zur Befriedigung der Bedürfnisse der Masse der arbeitenden Bevölkerung geführt, welche weiterhin im Morast der Armut steckt, sondern zu einer enormen Vergeudung, zu Bergen von unverkauften Gütern; zur Verschleuderung von Millionen Tonnen von Lebensmitteln; wegen fehlender Planung der Produktion zu immensen Mengen von überschüssigen Gütern; vom Auto bis zum Computer zu Produkten, die schnell wieder auf den Müll geworfen werden; zu einer gigantischen Masse von identischen Produkten aus der Produktion der verschiedenen Konkurrenten für denselben Markt.
Während der Rhythmus der technologischen Entwicklung und Spezialisierung in der Dekadenz des Kapitalismus zunimmt, werden die daraus resultierenden Innovationen vor allem durch den militärischen Sektor angeregt, dies im Gegensatz zur Zeit des aufsteigenden Kapitalismus. Auf der Ebene der Infrastruktur: Gebäude, sanitäre Einrichtungen, Energieproduktion, Transportwesen, sind wir aber keineswegs Zeugen von revolutionären Entwicklungen, welche mit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise vergleichbar wären. In der Phase des Zerfalls des Kapitalismus, der letzten Phase der Dekadenz, herrscht eine andere Tendenz vor: das Herunterschrauben der Kosten für die Aufrechterhaltung selbst der alten Infrastruktur, in der Hoffnung auf kurzfristige Profite. Man kann eine Karikatur dieses Prozesses in der Entwicklung der Produktion in China und Indien beobachten, wo die industrielle Infrastruktur größtenteils fehlt. Anstatt dem Kapitalismus einen neuen Lebenselan einzuhauchen, führt diese Entwicklung zu grausamsten Verschmutzungen: zur Zerstörung der Flüsse, enormen Smog-Decken, die ganze Länder überdecken, usw.
Dieser lange Prozess des Niedergangs und Zerfalls der kapitalistischen Produktionsweise liefert eine Erklärung, weshalb es eine dermaßen dramatische Zunahme der Kohlendioxid-Verschmutzung und der Erwärmung des Planeten in den letzten Jahrzehnten gibt. Er lässt auch begreifen, weshalb gegenüber einer solchen wirtschaftlichen und klimatischen Entwicklung der Kapitalismus und seine "Machthaber" unfähig sind, die katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung zu bekämpfen.
Die apokalyptischen Szenarien, welche zur Zerstörung der Menschheit führen können, werden in einem gewissen Sinne durch die Sprecher und Medien der Regierungen aller kapitalistischer Länder anerkannt und öffentlich dargestellt. Die Tatsache, dass sie zahllose Heilmittel anpreisen, um diese Auswirkungen zu vermeiden, heißt noch lange nicht, dass nur ein Einziger von ihnen eine realistische Alternative gegenüber der barbarischen Perspektive anzubieten hätte. Ganz im Gegenteil. Angesichts des ökologischen Desasters ist der Kapitalismus, gleich wie gegenüber der imperialistischen Barbarei, absolut hilflos.
Die Regierungen der ganzen Welt finanzieren seit 1990 über die Vereinten Nationen großzügig die Forschung des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderung, und ihre Medien haben die kürzlich gezogenen, schrecklichen Schlussfolgerungen breit gewalzt.
Die wichtigsten politischen Parteien der Bourgeoisie aller Länder stellen sich alle als Variationen von Ökologen dar. Aber wenn man genauer hinschaut, verschleiert die "grüne" Politik dieser Parteien, wie radikal sie auch erscheinen mögen, vorsätzlich den Ernst des Problems, denn die einzige Erfolg versprechende Lösung würde gerade das System in Frage stellen, dessen Lob sie singen. Der gemeinsame Nenner all dieser "grünen" Kampagnen besteht darin, die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins in einer Bevölkerung zu verhindern, die zu Recht über die klimatische Erwärmung entsetzt ist. Die ständig wiederholte ökologische Botschaft der Regierungen lautet, dass "den Planeten zu retten die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen" sei, während die überwiegende Mehrheit keinerlei wirtschaftliche oder politische Macht hat und von jeder Kontrolle über die Produktion und den Konsum ausgeschlossen ist. Und die Bourgeoisie, die diese Entscheidungsmacht hat, beabsichtigt in keiner Weise, ihre Profite den allgemeinen ökologischen und menschlichen Bedürfnissen zu opfern.
Al Gore, der im Jahre 2000 beinahe demokratischer Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre, stellte sich mit seinem Film "Eine unbequeme Wahrheit" an die Spitze einer internationalen Kampagne gegen den Kohlendioxidausstoß. Der Film gewann in Hollywood einen Oscar für die lebendige Art und Weise, mit der er die Gefahr des globalen Temperaturanstiegs, des Schmelzens der Polarkappen, des Anstiegs der Meere und aller Zerstörungen behandelt, die sich daraus ergeben. Aber der Film ist auch eine Wahlplattform für Al Gore selbst. Er ist nicht der einzige alte Politiker, der auf die Idee kommt, die gerechtfertigte Angst der Bevölkerung vor der ökologischen Katastrophe für die Jagd aufs Präsidentenamt auszunutzen, die das demokratische Spiel der großen kapitalistischen Länder ausmacht. In Frankreich haben alle Präsidentschaftskandidaten den "ökologischen Pakt" des Journalisten Nicolas Hulot unterzeichnet. In Großbritannien rivalisieren die politischen Hauptparteien darum, wer der "grünste" sei. Der von Gordon Brown und seiner New Labour in Auftrag gegebene Stern-Bericht hat mehrere Regierungsinitiativen nach sich gezogen, die die CO2-Emissionen reduzieren sollen. David Cameron, Chef der konservativen Opposition, geht mit dem Fahrrad zum Parlament (während seine Entourage im Mercedes folgt).
Es reicht, die Ergebnisse der früheren Regierungsstrategien anzuschauen, die angeblich den Zweck hatten, den Kohlendioxidausstoß zu reduzieren, um die Unfähigkeit der Staaten festzustellen, den Beweis irgendeiner Wirksamkeit ihrer Politik zu erbringen. Statt die Emission von Gasen mit Treibhauseffekt bis ins Jahr 2000 auf dem Stand von 1990 zu stabilisieren, wie sich die Unterzeichner des Kyoto-Protokolls im Jahre 1997 bescheiden verpflichteten, gab es in Tat und Wahrheit bis Ende des Jahrhunderts in den wichtigsten Industrieländern eine Erhöhung des Ausstoßes um 10,1%, und die Voraussage lautet, dass diese Umweltverschmutzung bis ins Jahr 2010 noch um 25,3% steigen wird! (Deutsche Umwelthilfe)
Es genügt auch, die grobe Fahrlässigkeit der kapitalistischen Staaten bei den Unglücken festzustellen, die sich bereits wegen der Klimaänderung ereignet haben, um sich ein Urteil über die Aufrichtigkeit der zahllosen Erklärungen guter Absichten zu machen.
Es gibt natürlich diejenigen, die erkennen, dass das Interesse an der Profitmaximierung einen mächtigen Faktor darstellt, welcher der wirksamen Begrenzung der Umweltverschmutzung entgegenwirkt; sie glauben, dass man das Problem lösen könne, indem man die liberale Politik durch Lösungen ersetze, die der Staat organisiere. Aber er ist insbesondere auf internationaler Ebene klar, dass die kapitalistischen Staaten, selbst wenn sie innenpolitisch etwas umsetzen würden, unfähig sind, untereinander in dieser Frage zusammenzuarbeiten, denn jeder müsste wirtschaftliche Opfer bringen. Kapitalismus heißt Konkurrenz, und er ist heute mehr denn je durch das Jeder-für-sich beherrscht.
Die kapitalistische Welt ist unfähig, sich für ein gemeinsames Vorhaben zusammenzuschließen, das so massiv und kostspielig wäre wie eine vollständige Umstrukturierung der Industrie und des Verkehrs, die nötig wäre, um eine drastische Reduzierung der Erzeugung von Energie zu erreichen, die Kohlenstoff verbrennt. Vielmehr besteht das Hauptanliegen aller kapitalistischen Nationen darin zu versuchen, dieses Problem zu benutzen, um ihren eigenen widerwärtigen Ehrgeiz zu befriedigen. Wie auf der imperialistischen und militärischen Ebene ist der Kapitalismus auch auf der ökologischen Ebene von unüberwindbaren nationalen Grenzen durchzogen und kann deshalb nicht einmal auf die dringendsten Bedürfnisse der Menschheit eingehen.
Aber es wäre falsch, einfach zu resignieren und zu meinen, der Untergang in der Barbarei sei aufgrund der mächtigen Tendenzen - des Imperialismus und der ökologischen Zerstörung - unvermeidlich. Angesichts der Selbstgefälligkeit aller halben Maßnahmen, die der Kapitalismus uns vorschlägt, um den Frieden und die Harmonie mit der Natur herzustellen, ist der Fatalismus eine gleichermaßen falsche Einstellung wie der naive Glauben an die Wirksamkeit kosmetischer Mittel.
Während der Kapitalismus alles dem Kampf um den Profit und der Konkurrenz opfert, hat er gleichzeitig die Elemente geschaffen, die seine Überwindung als Ausbeutungsweise erlauben. Er hat die technologischen und kulturellen Mittel entwickelt, die für ein weltweites Produktionssystem nötig sind, das als Gesamtheit und nach einem Plan funktioniert und in Einklang mit den Bedürfnissen der Menschheit und der Natur steht. Er hat eine Klasse hervorgebracht, das Proletariat, die aus nationalen Vorurteilen oder Konkurrenzdenken allgemein keinen Vorteil schöpft und jedes Interesse an der Entwicklung der internationalen Solidarität hat. Die Arbeiterklasse hat kein Interesse an der gierigen Jagd nach Profit. Mit anderen Worten hat der Kapitalismus die Grundlagen für eine höhere Gesellschaftsordnung, für seine Überwindung durch den Sozialismus gelegt. Der Kapitalismus hat die Mittel entwickelt, die menschliche Gesellschaft zu zerstören, aber er hat auch ihren eigenen Totengräber, die Arbeiterklasse, geschaffen, die diese menschliche Gesellschaft erhalten und sie einen entscheidenden Schritt in ihrer Entfaltung weiter bringen kann.
Der Kapitalismus hat die Schaffung einer Wissenschaftskultur erlaubt, die fähig ist, unsichtbare Gase wie Kohlendioxid zu erkennen und seine Konzentration sowohl in der Atmosphäre von heute als auch in jener von vor 10'000 Jahren zu messen. Die Wissenschaftler können die spezifischen Isotope von Kohlendioxid erfassen, die durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern produziert wurden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft war fähig, die Hypothese des "Treibhauseffektes" zu prüfen und zu bestätigen. Jedoch sind die Zeiten längst vorbei, zu denen der Kapitalismus als Gesellschaftssystem fähig war, die wissenschaftliche Methode und ihre Ergebnisse im Interesse des Fortschritts der Menschheit zu nutzen. Der größte Teil der Forschungsarbeiten und der wissenschaftlichen Entdeckungen von heute wird der Zerstörung gewidmet, der Entwicklung immer raffinierterer Methoden der Massentötung. Nur eine neue Gesellschaftsordnung, eine kommunistische Gesellschaft, kann die Wissenschaft in den Dienst der Menschheit stellen.
Trotz der hundert letzten Jahre des Niedergangs und der Fäulnis des Kapitalismus und der ernsthaften Niederlagen, welche die Arbeiterklasse eingesteckt hat, ist die notwendige Grundlage für eine neue Gesellschaft immer noch vorhanden.
Dass das Proletariat nach 1968 weltweit wieder auf der Bühne erschienen ist, belegt diese Ausgangslage. Die Entwicklung seines Klassenkampfes gegen den konstanten Druck auf den Lebensstandard der Proletarier während der Jahrzehnte, die auf 1968 gefolgt sind, hat den barbarischen Ausgang verhindert, der durch den Kalten Krieg vorgezeichnet war: den vernichtende Zusammenstoß zwischen den imperialistischen Blöcken. Seit 1989 jedoch und dem Verschwinden der Blöcke hat die defensive Haltung der Arbeiterklasse nicht ausgereicht, eine Abfolge entsetzlicher lokaler Kriege zu verhindern, die drohen, sich außerhalb jeder Kontrolle zu beschleunigen und immer mehr Regionen des Planeten in Mitleidenschaft zu ziehen. In dieser kapitalistischen Zerfallsperiode läuft dem Proletariat die Zeit davon, und dies umso mehr als noch eine drohende ökologische Katastrophe in die historische Gleichung aufgenommen werden muss.
Aber es ist noch nicht so weit, dass wir sagen müssten, der Niedergang und der Zerfall des Kapitalismus hätten einen Punkt erreicht, wo es kein Zurück mehr gibt - einen Punkt, von dem an seine Barbarei nicht mehr aufzuhalten wäre.
Seit 2003 beginnt die Arbeiterklasse, den Kampf mit einer neu gewonnenen Kraft wieder aufzunehmen, nachdem der Zusammenbruch des Ostblocks für eine gewisse Zeit den 1968 begonnenen Aufbruch gestoppt hat.
Unter diesen Bedingungen der Entwicklung des Vertrauens in der Klasse können die wachsenden Gefahren, die der imperialistische Krieg und die ökologische Katastrophe darstellen, statt Ohnmachts- und Fatalismusgefühle hervorzurufen auch zu einem vertieften politischen Nachdenken und zu einem stärkeren Bewusstsein darüber führen, was weltweit auf dem Spiel steht, zu einem Bewusstsein über die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist die Verantwortung der Revolutionäre, aktiv an dieser Bewusstseinsbildung teilzunehmen.
Como, 3/04/2007
"Kommunismus? Ach ja, so wie damals in Russland? Wo der Staat die ganze Wirtschaft kontrollierte? Wo - abgesehen von einer kleinen Zahl von Apparatschiks, die alle Entscheidungen trafen - jeder den gleichen niedrigen Lohn erhielt? Die Leute besaßen nicht einmal die Freiheit, das Land zu verlassen!"
Nein! Das ist nicht der Kommunismus von Marx, der auf die Abschaffung des Lohnsystems, die Überwindung des Staates sowie der nationalen Grenzen und auf eine Gesellschaft frei assoziierter Produzenten abzielt.
"Oh, dieser Kommunismus! Eine wundervolle Utopie! Eine schöne Idee, die jedoch nie funktioniert… Es ist besser, das zu tun, was wir schaffen können, nämlich den Kapitalismus menschlicher zu gestalten".
Aber was nicht funktioniert, ist der Kapitalismus, der schon seit langem überlebt ist und die Menschheit in den Horror des ökonomischen Zusammenbruchs, des Krieges und der Umweltvernichtung treibt. Der Kommunismus ist eine Notwendigkeit für das zukünftige Weiterleben der menschlichen Gattung. Zudem ist er keine Utopie. Er spiegelt die grundlegenden historischen Interessen der Arbeiterklasse wider.
Seit 1990 und dem Zusammenbruch des "Realsozialismus" - in Wirklichkeit war dieser eine Form des Staatskapitalismus - hat die Internationale Kommunistische Strömung eine Reihe von Artikel über den Kommunismus in ihrer theoretischen Zeitschrift Internationale Revue veröffentlicht. Ursprünglich war dieses Projekt als eine Reihe von vier oder fünf Artikel verfasst worden mit dem Ziel, die wirkliche Bedeutung des Kommunismus gegen die bürgerliche Gleichsetzung von Stalinismus und Kommunismus klarzustellen. Doch bei dem Versuch, die historische Methode so sorgfältig wie möglich anzuwenden, ist diese Serie herangewachsen zu einer tieferen Untersuchung der Geschichte des kommunistischen Programms, das durch die Schlüsselerfahrungen der Klasse insgesamt und durch die Beiträge und Debatten revolutionärer Minderheiten bereichert wurde. Der erste Band dieser Reihe ist jetzt in Buchform veröffentlicht worden.
Obgleich die meisten Kapitel in diesem Buch sich notwendigerweise mit politischen Grundsatzfragen befassen - da der erste Schritt zur Errichtung des Kommunismus die Etablierung der Diktatur des Proletariats ist -, ist es eine Prämisse des Buches, dass der Kommunismus die Menschheit über den Bereich der Politik hinaustragen und ihr wahres gesellschaftliches Wesen freisetzen wird. Deshalb wirft das Buch die Fragen marxistischer Anthropologie und andere Fragen auf, die im Verständnis der Menschheit als Gattung verwurzelt sind. Die Vernetzung zwischen der politischen und "anthropologischen" Dimension dieser Serie war in der Tat eines der Leitmotive. Deshalb fängt der erste Band mit dem primitiven Kommunismus und den utopischen Sozialisten an, mit der grandiosen Vorstellung des jungen Marx von der menschlichen Entfremdung und den Endzielen des Kommunismus. Es endet mit den Ereignissen am Vorabend der Massenstreiks von 1905, die den Eintritt des Kapitalismus in eine neue Epoche ankündigten, in der die kommunistische Revolution von einer allgemeinen Perspektive der Arbeiterbewegung zu einer geschichtlichen Notwendigkeit herangereift war.
Der zweite Band des Buches befasst sich mit der Zeit von den Massenstreiks 1905 bis zum Ende der ersten großen revolutionären Welle von Kämpfen, die im Anschluss zum Ersten Weltkrieg stattfanden. Ein dritter Band ist in Vorbereitung; wir arbeiten darauf hin, die beiden Bände als Ergänzungsliteratur zu dem jüngst veröffentlichen Buch herauszugeben.
Der Haß der Weltbourgeoisie auf die Russische Revolution, auf die Machtübernahme durch die Arbeitermassen, die im Oktober 1917 in ihren Arbeiterräten organisiert waren, entsprach der gewaltigen Hoffnung und dem Echo, das dieses grandiose Ereignis in der Weltarbeiterklasse hervorgerufen hat. Deshalb versuchen seit nunmehr 80 Jahren die Vertreter der herrschenden Klasse, ihre Historiker und Ideologen besessen die wirkliche Bedeutung dieser ersten bewußten Revolution der Geschichte der Menschheit zu entstellen.
Wir haben schon in unserer Presse über die verschiedenen Etappen des revolutionären Prozesses berichtet, der Anfang Februar 1917 in Rußland anfing.(1) Infolge der schrecklichen Leiden, den der imperialistische Weltkrieg seit mehr als zweieinhalb Jahren den ärmsten Schichten der Bevölkerung auferlegte, nämlich der Bauernschaft und der Arbeiterklasse, infolge der Massaker, zu deren Zielscheibe sie an der Front geworden waren, hatte der Aufstand der Arbeiter und Soldaten in Petrograd innerhalb von wenigen Tagen das Zarenregime beiseitegefegt. Aber weder die Organisation noch das Bewußtsein der Arbeiterklasse noch der Grad der politischen Schwächung der Bourgeoisie reichten aus, dem Proletariat die Macht zu übertragen. Die Macht war von 'demokratischen' und 'liberalen' Teilen der Bourgeoisie an sich gerissen worden, mit der 'provisorischen Regierung' an ihrer Spitze, die für die Fortsetzung des imperialistischen Krieges durch Rußland eintrat und sich eifrig an ihm beteiligte. Mehrere Monate lang herrschten innerhalb der Arbeiterklasse und auch innerhalb der Bolschewistischen Partei Illusionen über diese Regierung vor, die die Erarbeitung klarer Perspektiven über den weiter einzuschlagenden Weg verhinderten. Erst von April an, nachdem Lenin seine Thesen 'Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution' (2) vorgelegt hatte, wurde diese Perspektive von den Bolschewiki aufgezeigt: der Sturz der provisorischen Regierung, Übernahme der Macht durch die Arbeiterräte als erster Schritt der proletarischen Weltrevolution. Zu diesem Zeitpunkt vertraten nur die am meisten fortgeschrittenen Teile der Klasse solch eine Perspektive. Die neue, am 18. Juni von der provisorischen Regierung eingeleitete militärische Offensive verschärfte die Wut der in den Arbeiterräten der Hauptstadt organisierten Massen und führte zu den aufständischen Tagen des Juli 1917. Aber dieser verfrühte Aufstand in Petrograd war eine von der Bourgeoisie gestellte Falle. Die Bourgeoisie versuchte das Proletariat der Hauptstadt für das Scheitern der militärischen Offensive verantwortlich zu machen, um militärisch gegen die Arbeiter und die Bolschewiki vorzugehen, während die Bedingungen für die Revolution in den anderen Landesteilen noch nicht reif waren. Gegenüber dieser mächtigen Bewegung schafften es die Bolschewiki, die sich ihres verfrühten Charakters bewußt waren, deren Spitze zu übernehmen, und einen verfrühten Aufstand zu verhindern, der für den weiteren Fortschritt des revolutionären Prozesses fatal gewesen wäre. Dennoch folgte eine brutale Repression, die trotz alledem relativ begrenzt war; die Bolschewiki wurden für illegal erklärt, Lenin beschuldigt, im Dienste der deutschen Regierung zu stehen, womit man den Ruf der Bolschewiki in den Augen der Arbeiterklasse schädigen wollte.(3)
Die Juli-Niederlage trieb die Bourgeoisie zwischen August und September dazu, dem 'revolutionären Schreckgespenst' den Garaus zu machen. Sie teilte sich diese Drecksarbeit auf zwischen dem 'demokratischen' Block um Kerenski und dem offen reaktionären Block um Kornilow, dem Armeechef. Sie organisierte dessen Staatsstreich, bei dem Kosakenregimenter und Truppen aus dem Kaukasus mitwirkten, die der bürgerlichen Macht noch treu geblieben zu sein schienen und die gegen Petrograd geschickt werden sollten. Die Mobilisierung der Arbeitermassen, die Weigerung der Soldaten, Kornilows Anweisungen zu folgen, führte zum Scheitern dieses Putsches. 'Der verfehlte Staatsstreich Kornilows bewirkte eine neue Mobilisierung des Proletariats; die Lage spitzte sich weiter zu, bis sie gar für die Arbeiterklasse wegen der immer größeren Entbehrungen immer verzweifelter wurde. Auch für die Bauern spitzte sich die Lage zu, denn die von den an der Macht befindlichen Sozialrevolutionären versprochene Agrarrevolution wurde immer wieder verschoben. Sie spitzte sich schließlich in der Armee und in der Flotte zu, die im Dienste der Feindesklasse einen aussichtslosen Krieg fortsetzen sollten.' (Victor Serge, Das Jahr Eins der Russischen Revolution) Dieses Wiedererstarken der Arbeitermobilisierung seit Mitte August drehte sich um die Erneuerung der Sowjets, die von den bürgerlichen Kräften der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre verzerrt und untergraben worden waren. Die Arbeiter waren immer mehr überzeugt, daß sie nicht mehr ihren Interessen entsprachen. Eine intensive Aktivität entfaltete sich in den Arbeitermassen und in den Sowjets, Resolutionen wurden verabschiedet, die zur Wahl von revolutionären Mehrheiten führten, die aus bolschewistischen Delegierten, internationalistischen Menschewiki, linken Sozialrevolutionären (in Helsingfor, Ural, Kronstadt, Reval, der Ostseeflotte usw.) bestanden. Am 31. August in Petrograd und Anfang September in Moskau verbuchten die Anträge der Bolschewiki zum ersten Mal eine Mehrheit. Die Bedingungen für die Revolution waren gereift. Von Mitte September an wurden immer mehr Resolutionen von den örtlichen oder regionalen Sowjets (Kronstadt, Jekaterinburg usw.) verabschiedet, die die Machtübernahme forderten. Von seinem Versteck in Finnland aus rief Lenin das Zentralkomitee der Bolschewiki dazu auf, sofort alles auf die Vorbereitung der Räte für den Aufstand auszurichten, bevor es der Bourgeoisie gelingen sollte, sich wieder zusammenzufinden und eine neue Konteroffensive im Stile der Kornilowschen zu starten. Trotz eines anfänglich starken Widerstandes innerhalb des Zentralkomitees der Bolschewiki wurde am 10. Oktober eine Resolution zur unmittelbaren Vorbereitung des Aufstands verabschiedet. Von diesem Zeitpunkt an wurde eine systematische Agitation zugunsten des Aufstands in den Fabriken, den Kasernen, den Versammlungen, den Sowjettreffen betrieben. Am Vorabend, am 9. Oktober, war das MRK (Militärisches Revolutionskomitee) des Petrograder Sowjets mit Trotzki an seiner Spitze gebildet worden, dessen Aufgabe in der 'Verteidigung der Hauptstadt mit aktiver Unterstützung der Arbeiter bestand.'
Im Gegensatz zu den heimtückischen Bezichtigungen der verschiedensten Teile der Bourgeoisie bezüglich eines sogenannten Komplotts und Putsches, unterstreichen wir den massiven, offenen und kollektiven Entscheidungsprozeß und den Willen der Arbeiter, die mit den Bolschewiki in ihren Reihen den Aufstand in Angriff genommen haben. Dies bringt die schöpferische Initiative der Massen zum Ausdruck, die angetrieben wurden durch die bewußte Verzögerungstaktik der provisorischen Regierung gegenüber ihren nie eingehaltenen Versprechungen, durch die nie dagewesene Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter und Bauernmassen. Die Revolten der Bauern im September waren ein wichtiger Schritt der revolutionären Reifung und ließen sie auf die Seite der Arbeiter überwechseln. Die ganze Reifung war möglich dank einer einfachen und bewundernswerten Organisation, dank Diskussionen und Debatten, die Resolutionen hervorbrachten, in denen das von den Massen erreichte Bewußtsein zusammengefaßt wurde. Dabei wurde nicht mit Zwang und Druck, sondern mit Überzeugung gearbeitet. Die kurz bevorstehende Auslösung des Aufstands war ein offenes Geheimnis für jeden: der Kongreß der Sowjets der nördlichen Region, der vom 11.-13. Oktober zusammentrat, rief offen zum Aufstand auf, ebenso in Minsk, der sich gleichermaßen äußerte.
Am 22. Oktober war die 'Tagung des Petrograder Sowjets' vorgesehen. Bei diesem Anlaß strömten gewaltige Arbeiter- und Soldatenmassen an verschiedenen öffentlichen Plätzen zusammen, um sich an Versammlungen zu beteiligen, wo die am meisten aufgestellten Forderungen lauteten: 'Nieder mit der Kerenski-Regierung', 'Nieder mit dem Krieg', 'Alle Macht den Räten'. Es war ein gigantischer Aufmarsch, wo Arbeiter, Beschäftigte, Soldaten, Frauen, Kinder offen ihre Bereitschaft zum Aufstand äußerten. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre und die anderen bürgerlichen Kräfte täuschten sich nicht bei der Unvermeidbarkeit der Endphase der Revolution, die die Machtübernahme durch die Arbeiterräte darstellte. Ein letztes Mal schafften sie es, die Abhaltung des 2. Allrussischen Sowjetkongresses, dessen Tagung anfänglich für den 15. Oktober vorgesehen war, auf den 25. Oktober zu verschieben, d.h. ein Aufschub um 10 Tage. 'Damit legen Sie das Datum der Revolution fest' - sagten die Menschewiki den Bolschewiki, was die ungeheure Lüge eines angeblich geheim vorbereiteten Putsches aufgedeckt! Schließlich überschlugen sich die Ereignisse: am 23. Oktober setzte das Militärische Revolutionskomitee (MRK) zur Eroberung der noch zögernden Truppen an, insbesondere der Truppen der Peter-Paul-Festung; am 24. Oktober wurden die entscheidenden Positionen der Macht (die Telefonzentrale, die Staatsbank usw.) übernommen. Schließlich wurde wie vorgesehen am 25. Oktober die Provisorische Regierung im Winterpalast umzingelt, womit der 2. Sowjetkongreß die Macht übernehmen konnte. Im Gegensatz zu den Behauptungen der Bourgeoisie ergriffen die Bolschewiki nicht die Macht im Rücken des Sowjetkongresses und sie stellten ihn auch nicht vor vollendete Tatsachen. Wie wir in der Internationalen Revue Nr. 15 schrieben: 'So schuf das Proletariat selbst die Kraft, die Mittel - die allgemeine Bewaffnung der Arbeiter, die Bildung des MRK, der Aufstand - damit der Sowjetkongreß wirklich die Macht übernehmen könnte. Hätte der Kongreß der Sowjets entschieden, die 'Macht zu übernehmen', ohne vorher diese Maßnahmen durchzuführen, wäre dies nur eine leere, inhaltslose Geste geblieben, die leicht durch die Feinde der Revolution hätte zerschlagen werden können. Es ist nicht möglich, den Aufstand als eine isolierte, formale Handlung zu betrachten. Er muß als Teil einer umfassenden Dynamik der ganzen Klasse gesehen werden, konkret in einem Prozeß auf internationaler Ebene, auf der sich die Bedingungen für die Revolution entwickelten. Aber auch in Rußland, wo unzählige örtliche Sowjets die Machtergreifung forderten: die Sowjets von Petrograd, Moskau, Tula, im Ural, in Sibirien, in Jukow - führten sie den siegreichen Aufstand gemeinsam durch.' (Internationale Revue Nr. 15, S. 9)
Während der Aufstand das Werk der Sowjets war, hätten sie diesen nie erfolgreich durchführen können, wenn die Bolschewistische Partei nicht eine entscheidende Rolle gespielt hätte, denn während des ganzen revolutionären Prozesses hat diese in Symbiose mit der ganzen Klasse gehandelt. Ihr Handeln richtete sich vor allem aus auf die zentrale Achse der Entwicklung des Klassenbewußtseins: 'ein geduldiges Bestreben der Klärung des Bewußtseinsprozesses des Proletariats und des Zusammengehens der Arbeiter in den Städten mit den Arbeitern vom Land.' Gleichzeitig vertrauten sie der Fähigkeit des Proletariats sich zusammenzuschließen und sich selbst zu organisieren. 'Glaubt nicht an Worte. Laßt euch nicht von Versprechungen ködern. Überschätzt eure Kräfte nicht. Organisiert euch in jedem Betrieb, in jedem Regiment, in jeder Kompanie, in jedem Häuserblock. Arbeitet täglich und stündlich an der Organisation, arbeitet daran selber, diese Arbeit darf man niemand anderem anvertrauen.' (Lenin, Einleitung zu den Resolutionen der 7. Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR, Bd. 2, S. 156)
Der Sieg der Revolution ist darauf zurückzuführen, daß die Bolschewiki die Interessen der Arbeiterklasse erkannt und aufgegriffen hatten. Im Gegensatz zur Bourgeoisie und deren spezifischem Platz in der Gesellschaft besitzt das Proletariat keine ökonomischen oder politischen Machtbasen in der Gesellschaft. Seine einzigen Waffen sind sein Bewußtsein (die das Ergebnis der Lehren sind, die aus seiner historischen Erfahrung des Kampfes gegen den Kapitalismus hervorgehen und als aktiver Faktor in diesem Kampf wirken) und seine Organisation (einerseits seine Einheitsorgane, die Arbeiterräte, und andererseits seine politischen Organisationen, die Partei, die die bewußtesten Elemente zusammenfaßt). Die später eintretende Niederlage der in Rußland begonnenen Revolution ist in erster Linie auf die Niederlage der Weltrevolution (hauptsächlich das Scheitern der Revolution in Deutschland) zurückzuführen und auf die Isolierung der ersten proletarischen Bastion. Hinsichtlich der Kunst des Aufstandes sagte Lenin.
'Um erfolgreich zu sein, darf sich der Aufstand nicht auf eine Verschwörung, nicht auf eine Partei stützen; er muß sich auf die fortgeschrittenste Klasse stützen. Dies zum ersten. Der Aufstand muß sich auf den revolutionären Aufschwung des Volkes stützen. Dies zum zweiten. Der Aufstand muß sich auf einen solchen Wendepunkt in der Geschichte der anwachsenden Revolution stützen, wo die Aktivität der vordersten Reihen des Volkes am größten ist, wo die Schwankungen in den Reihen der Feinde und in den Reihen der schwachen, halben, unentschlossenen Freunde der Revolution am stärksten sind. Dies zum dritten. Durch diese drei Bedingungen eben unterscheidet sich der Marxismus in der Behandlung der Frage des Aufstands vom Blanquismus.' Lenin, Marxismus und Aufstand, Ges. Werke, Bd. 26, S.5, 13.Sept. 1917) In dieser Hinsicht lebt der proletarische Oktober weiterhin durch das Beispiel, das er uns durch die Notwendigkeit, die Möglichkeit und die Mittel liefert, um die kommunistische Weltrevolution zu verwirklichen.
Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 hat die Entfaltung der Lügen über die proletarische Oktoberrevolution von 1917 verstärkt. Die heimtückischste dieser Lügen ist, daß der Zusammenbruch der Regime im Ostblock, dieses endgültige Scheitern des Stalinismus, das Scheitern der Oktoberrevolution von 1917 gewesen wäre. 'Der Kommunismus ist tot' - wiederholen sie unaufhörlich. Indem sie den Kommunismus mit dem Stalinismus gleichsetzen, wobei der Stalinismus doch nur der Totengräber der Revolution war und eine besonders dekadente Form des Kapitalismus, blasen die Demokraten und Stalinisten sowie die trotzkistischen Gruppen unabhängig von ihren jeweiligen Gegensätzen ins gleiche Horn und bilden somit eine heilige Allianz, um den Arbeitern einzubleuen, daß trotz all seiner Entartungen der Sozialismus in Osteuropa geherrscht habe. Die Bourgeoisie versucht deshalb mit allen Mitteln heute diese unglaubliche Lüge aufrechtzuerhalten. Sie muß den Arbeitern unbedingt eintrichtern, daß es außerhalb des Kapitalismus keine Lösung geben kann. Wenn der bürgerlichen Propaganda zufolge Revolution gleich Gulag bedeutet, dann weil der Oktober 1917 nichts anderes als ein Staatsstreich war, der von den 'bösen Bolschewiki' angezettelt wurde. Diese zynische Verfälschung zeigt auf, in welchem Maße die Weltbourgeoisie vor allem die Wiederholung des Oktobers fürchtet, wo Millionen von Proletarier und in ihrem Fahrwasser alle anderen ausgebeuteten Schichten der Gesellschaft, es schafften, sich zu bewußt zu vereinigen und gemeinsam zu handeln, um Meister ihres eigenen Schicksals zu werden. Tatsächlich bleibt die Oktoberrevolution von 1917 in Rußland und die ihre nachfolgende weltweite revolutionäre Welle Anfang der 20er Jahre bis heute der einzige Zeitpunkt der Geschichte, wo die bürgerliche Herrschaft von der Arbeiterklasse gestürzt wurde (in Rußland 1917) oder von ihr wirklich bedroht wurde (wie in Deutschland 1919). SB
Mitte Mai nahmen Zehntausende bei der Deutschen Telekom einen Arbeitskampf auf. Sie wehren sich gegen das Vorhaben der Konzernleitung, 50.000 Beschäftigte im Rahmen einer „Ausgliederung“ vier Stunden die Woche länger arbeiten zu lassen für zwölf Prozent weniger Lohn.
Der Streik bei der Telekom ist von großer Bedeutung, nicht allein für die unmittelbar Betroffenen, sondern für alle Lohnabhängigen. Zum ersten Mal in der jüngsten Geschichte Deutschlands kämpfen viele Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter gemeinsam gegen den radikalen Lohnraub und die dramatische Intensivierung der Ausbeutung, welche heute immer mehr das Los aller Lohnabhängigen wird. Noch nie haben in den letzten Jahren in der Bundesrepublik so viele Beschäftigte auf die offenen Erpressungen der Kapitalseite statt mit Nachgeben mit offener Kampfansage geantwortet. Dabei fühlen sich die Streikenden offenbar selbst als Vorreiter eines notwendigen, allgemeineren Kampfes. So sieht man auf den Straßendemonstrationen und Kundgebungen neben den von der Gewerkschaft Ver.di angefertigten Transparenten - welche brav und bieder „gutes Geld für gute Arbeit“ fordern, oder geschäftstüchtig die Kunden der Telekom Liebe und Treue schwören lassen! - immer mehr selbst gebastelte Plakate, worauf schlicht geschrieben steht: heute wir, morgen ihr!
So ist es auch. Zwar blieb der Streik bisher auf die Deutsche Telekom beschränkt. Selbst innerhalb des Konzerns wurden bis jetzt nur die unmittelbar von den Ausgliederungen ins Visier Genommenen am Streik beteiligt. Außerdem bleibt die Streikleitung zunächst unangefochten in den Händen der Gewerkschaft Ver.di, welche von Anfang an bemüht war, einen Streik abzuwenden und das Vorhaben des Konzerns „verantwortungsvoll“ zu begleiten. Aber dieser Verlauf des Streiks entspricht weder den wirklichen Interessen der Arbeiterklasse, noch der langsam keimenden Erkenntnis, dass der Streik bei der Telekom uns alle was angeht, die durch Verkauf ihrer Arbeitskraft zu überleben versuchen müssen.
Auch wenn es noch keine Versuche der Streikenden bei der Telekom gegeben haben mag, ihren Kampf auf andere Sektoren auszudehnen und auch keine direkten Solidaritätsaktionen anderer Arbeiter mit den Opfer der Sanierung des einstigen Staatskonzerns, so ist sicher, dass die Augen vieler von brutalen Angriffen selbst betroffener Lohnabhängiger auf diesem Arbeitskampf ruhen.
Und das ist der Grund, weshalb der Arbeitskampf bei der Telekom den Herrschenden ein Dorn im Auge ist, und diesen Damen- und Herrschaften einige Kopfzerbrechen noch bereiten wird. Denn diese Auseinandersetzung, solange sie andauert, erinnert die Bevölkerung an die bitteren Realitäten für die Arbeiterklasse, welche hinter dem „Aufschwung“ und dem viel gepriesenen „Beschäftigungsboom“ stecken: immer länger für immer weniger Geld arbeiten bei einer stetig wachsenden Unsicherheit der Beschäftigung und der Lebenslage. Sollten die Kapitalisten aber unter dem Druck des Streiks auch nur teilweise nachgeben – indem sie etwa die Lohnkürzungen geringer ausfallen lassen als geplant, riskieren sie damit, auch anderen Betroffenen Mut zu machen, sich ebenfalls zu Wehr zu setzen. Die Vorkämpfer bei der Telekom könnten umso leichter Nachahmer finden, da ihr Streik zu umfangreich ist und sich in einem zu zentralen Bereich der Wirtschaft abspielt, als dass deren Ergebnisse in der Öffentlichkeit verschwiegen werden könnten.
Bereits die Tatsache, dass es der Arbeiterklasse im Fall der Telekom gelungen ist, die Angriffe des Kapitals nicht kampflos hinzunehmen, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Der Kampf lohnt sich. Dass das Kapital nur eine sich wehrende Arbeiterklasse fürchtet, dass dieser Streik den Herrschenden überhaupt nicht in den Kram passt, beweist schon die Beflissenheit, mit der die gewerkschaftlichen Sozialpartner von vorn herein auf eine gütliche Einigung ohne Arbeitskampf setzten. Auf Ausgliederung, Lohnraub und die Arbeitszeitverlängerung reagierte Ver.di mit der Forderung nach Ausgleich, etwa durch eine mehrjährige Arbeitsplatzgarantie. Dass solche Garantien nicht mal das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen, haben die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit bei Siemens, Daimler oder Volkswagen hinlänglich bewiesen. Vor allem lief die Verhandlungsstrategie der Gewerkschaft darauf hinaus, die Ausgliederung von vorn herein zu akzeptieren. Das Gerede von einem „gerechten Ausgleich“ dafür war nichts als Augenwischerei, um die Beschäftigten zu verwirren und gefügig zu machen.
Aber die Beschäftigten ließen sich nicht täuschen. Bei den Warnstreiks und Protestaktionen, welche die Sondierungen und Verhandlungen der Gewerkschaft begleiteten, sprachen sich die Betroffenen selbst massiv gegen die Hinnahme des „Sanierungsprogramms“ der Telekom aus. Ver.di sah sich gezwungen, die Verhandlungen abzubrechen, die Urabstimmung einzuleiten, und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Über 96% der Abstimmenden sprachen sich für einen Streik aus: Ein in dieser Deutlichkeit einmaliges Ergebnis, wenn man bedenkt, in welcher Zwangslage die Betroffenen stecken bzw. welches Erpressungspotenzial heute den Kapitalisten zur Verfügung steht.
Es waren die Betroffenen selbst, welche diesen Streik erzwungen haben, allen Drohungen der Konzernleitung, allen „Vernunftappelle“ der Politiker, allen Schikanen der Gewerkschaften zum Trotz. Dies ist der erste Sieg der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Der Streik bei der Telekom ist die Fortsetzung des Kampfes, welcher beispielsweise in Deutschland 2004 in einigen der größten Werke der Automobilindustrie oder 2006 in Frankreich von Millionen von Studenten und Schülern geführt wurde. Zwar unterscheidet sich der Arbeitskampf bei der Telekom in mancher Hinsicht von den eben erwähnten Arbeitskämpfen. So brachen die Streiks bei Daimler in Stuttgart und Bremen, bei Opel in Bochum, wie auch die Proteste in Frankreich spontan aus, während der Telekom-Streik sich im gewerkschaftlichen Rahmen abspielt. Außerdem richteten sich die Kämpfe von 2004 oder 2006 mehr oder weniger direkt gegen Arbeitslosigkeit oder dessen Folgen, gegen Personalabbau, Werksschließung, oder wie in Frankreich gegen die Abschaffung des Kündigungsschutzes für junge Menschen. Jedoch sind diese Unterschiede unwesentlich. In allen Fällen ging die Initiative von den Betroffenen selbst aus; musste der Kampf gegen den Widerstand der Gewerkschaften ausgefochten werden. Außerdem richtet sich auch der Telekom-Streik nicht zuletzt gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit. Denn Letzteres bedeutet nicht nur Beschäftigungslosigkeit und sozialer Absturz der Erwerbslosen, sondern Erpressbarkeit aller Beschäftigten. Es ist in erster Linie die Möglichkeit, fast jeden Lohnabhängigen durch einen anderen, auf Beschäftigung dringend Angewiesenen ersetzen zu können, welche Lohnkürzungen oder die Ausdehnung der Arbeitszeit in dem heute zu beobachtenden Umfang durchsetzbar machen.
Indem sie die Konkurrenz unter den Arbeitsuchenden ungeheuer erhöht, und damit die ökonomische Macht des Kapitals gegenüber der Lohnarbeit noch vergrößert, zeigt die Arbeitslosigkeit andererseits die Notwendigkeit des Arbeiterkampfes auf. Zwar stimmt es, dass es für die Kernbereiche der Beschäftigten in den Industriestaaten Westeuropas heute noch nicht um das nackte Überleben geht. Aber um die Existenzen, welche die Beschäftigten bei der Telekom in den letzten Jahren versucht haben aufzubauen, darum geht es heute schon. So werden Tausende, die Bankkredite aufgenommen haben, um Wohnungen oder Einfamilienhäuser abzubezahlen, zahlungsunfähig werden, wenn die Lohnkürzungen bei der Telekom Realität werden. Nicht erst wenn man entlassen wird und in den Würgegriff von Hartz IV und Minijobs gerät, droht heute der Absturz in die Armut. Dieses Schicksal droht heute 50.000 Menschen, welche in der „Zukunftsbranche“ Telekommunikation vom größten Konzern der Branche in ganz Europa beschäftigt werden.
In dieser Hinsicht trägt der Konflikt bei der Telekom dazu bei, auf eine Entwicklung aufmerksam zu machen, welche die gesamte Arbeiterklasse immer mehr berührt. Es handelt sich um ein Phänomen, welches Karl Marx in seinem bekannten Werk "Das Kapital" untersuchte und das Gesetz der absoluten Verelendung des Proletariats nannte. Es handelt sich darum, dass die Klasse der Lohnarbeit nicht nur im Vergleich zur Kapitalseite verhältnismäßig immer ärmer und wirtschaftlich betrachtet stets ohnmächtiger wird, sondern dass sich deren Lage auch absolut verschlechtert. Diese absolute Verelendung erfolgt vornehmlich durch Reallohnsenkungen und die Verlängerung der Arbeitszeit. Seitdem behaupten die Verteidiger des kapitalistischen Systems, dass diese Tendenz zur absoluten Verelendung nur für den Frühkapitalismus gilt, und in allen entwickelten kapitalistischen Staaten längst und zwar endgültig überwunden worden ist. Marx hingegen stellte die These auf, dass diese absolute Verelendung zwar eine Tendenz ist - und als solche auch Gegentendenzen kennt, welche sie abmildern oder zeitweise sogar außer Kraft setzen können - dass diese Tendenz sich aber mit umso größerer Notwendigkeit durchsetzen muss, je mehr das Kapital den gesamten Erdball durchdringt und beherrscht. Die schrecklichen Folgen dieser „absoluten Verelendung“ haben sich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in England bemerkbar gemacht. Sie wurden nicht nur von Sozialisten wie Friedrich Engels (siehe sein Buch: „Die Lage der Arbeiterklasse in England“) beschrieben, sondern auch von großen Romanschriftstellern wie Charles Dickens. Diese ersten schrecklichen Erfahrungen mit dem Frühkapitalismus sind in das kollektive Gedächtnis des Proletariats eingebrannt. Sie sind Teil unseres geschichtlich gewachsenen Bewusstseins geworden.
Die Brisanz der Kämpfe bei Telekom jetzt liegt nicht zuletzt darin, dass sie dazu beitragen können, deutlich zu machen, dass die Tendenz zur absoluten Verelendung sich weltweit durchzusetzen beginnt - selbst in den alten Industriestaaten, von wo aus das Profitsystem seinen Siegeszug begann. Ganz allmählich beginnt es zu dämmern, dass den Lohnsklaven keine andere Wahl mehr bleibt als gemeinsam um die eigene Existenz zu kämpfen.
Wäre dieses Bewusstsein bereits weiter verbreitet, so bräuchten jetzt unsere Klassenschwestern und Brüder bei der Telekom nicht allein gegen die geballte Macht des Kapitals anzukämpfen. Sollten die Kapitalisten erfolgreich sein bei der Durchsetzung von Lohnraub und längeren Ausbeutungszeiten, so wird dies in erster Linie der Isolation der Streikenden zu verdanken sein. Bereits heute gibt es genügend Mitbetroffene, die für einen gemeinsamen Kampf zu gewinnen wären. Man denke bloß an die Beschäftigten von Arcor, eine Konkurrenzfirma von Telekom, welche zur selben Zeit Warnstreiks durchführen mussten. Man denke an die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen bei der Post, von denen 30.000 Mitte Mai auf dem Potsdamer Platz in Berlin gegen drohende Verschlechterungen protestierten. Man denke an die von Entlassungen bedrohten Mitarbeiter von Siemens-Nokia, welche zur selben Zeit in München (aber auch in Finnland) dagegen demonstrierten. Dass aus dieser Gleichzeitigkeit noch nicht eine aktive Solidarität wird, ist in erster Linie der alten Mentalität des gewerkschaftlichen Kampfes zu verdanken, wo jede Berufsgruppe und jeder Teilbereich für sich kämpft. Diese Kampfesmethode war in der Jugendzeit des Kapitalismus aussichtsreich, als die Arbeiter noch Einzelkapitalisten gegenüberstanden. Heute aber, wo auf Weltebene die arbeitende Klasse dem Joch des Kapitals unterworfen und einer weltweiten Verelendung ausgesetzt wird, bietet nur der gemeinsame und solidarische Kampf aller Lohnsklaven eine Perspektive und einen Ausweg. Unsere mutigen Vorkämpfer bei der Telekom haben mehr als recht, uns das Signal zum Kampf zu geben: Heute wir, morgen ihr! 23.05.07
In Worldrevolution 302 haben wir über eine Streikwelle berichtet, die zu Jahresbeginn über zahlreiche Sektoren in Ägypten schwappte: In Zement- und Geflügelbetrieben, in Bergwerken, bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben wie Bus und Bahn, im Reinigungssektor und vor allem in der Textilindustrie setzten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter mit einer Serie von illegalen Streiks gegen das massive Senken des realen Lohns und die enormen Kürzungen der Zulagen zur Wehr. Einen Einblick in das kämpferische und spontane Wesen dieser Kämpfe kann man durch den unten stehenden Bericht erhalten, der schildert, wie im letzten Dezember der Streik in dem großen Spinnerei-und Weberei-Komplex von Mahalla al-Kubra Misr nördlich von Kairo ausbrach. Dieser Komplex bildete das Epizentrum der Kämpfe. Der Auszug entstammt dem von Joel Beinin und Hossam el-Hamamawy verfassten Bericht "Ägyptische TextilarbeiterInnen konfrontieren die neue wirtschaftliche Ordnung", der im Internet auf Middle East Report Online und auf libcom.org veröffentlicht wurde. Er basiert auf Interviews mit zwei Arbeitern der Fabrik, Muhammed ´Attar und Sayyid Habib.
"Die 24.000 Arbeiterinnen und Arbeiter des Spinnerei-und-Weberei-Komplexes von Mahalla al-Kubra Misr waren begeistert, als sie am 3. März 2006 die Nachricht erhielten, dass der Premierminister Ahmad Nazif einen Anstieg der jährlichen Zulagen für alle gewerblichen Beschäftigten im staatlichen Sektor von den gegenwärtigen 100 Ägyptischen Pfund (17$) auf zwei Monatslöhne verordnet hatte. Die jährlichen Zulagen waren zuletzt 1984 angehoben worden, damals von 75 auf 100 Pfund.
‚Wir lasen die Verordnung und begannen unverzüglich diese Neuigkeit im Betrieb zu verbreiten,' sagt ´Attar. ‚Ironischerweise veröffentlichten sogar die regierungsfreundlichen Gewerkschaftsfunktionäre diese Nachricht als eine ihrer Errungenschaften.' Und er fährt fort: ‚Als der Dezember kam (in dem die jährlichen Zulagen ausbezahlt werden), waren alle gespannt. Dann entdeckten wir, dass man uns hintergangen hatte. Sie boten uns nur die gleichen alten 100 Pfund. Genau genommen waren es sogar nur 89 Pfund, denn die Abzüge [für Steuern] fallen ja noch an.'
Ein kämpferischer Geist lag in der Luft. In den nächsten zwei Tagen verweigerten ganze Gruppen von Arbeiterinnen aus Protest die Annahme ihrer Löhne. Dann, am 7. Dezember 2006, begannen die Arbeiterinnen der Frühschicht sich auf Mahallas Tal`at Harb-Platz zu versammeln, der vor dem Fabrikeingang liegt. Das Arbeitstempo war zwar bereits verlangsamt worden, aber die Produktion kam erst zum Stillstand, als etwa 3.000 Arbeiterinnen der Bekleidungsindustrie ihre Betriebe verließen und zu den Spinnerei- und Webereibetrieben herübermarschierten, wo ihre Kollegen die Maschinen noch nicht abgeschaltet hatten. Die Arbeiterinnen stürmten hinein und riefen: ‚Wo sind die Männer? Hier sind die Frauen!' Beschämt schlossen sich die Männer dem Streik an.
Nun versammelten sich etwa 10.000 ArbeiterInnen auf dem Platz und skandierten: ‚Zwei Monate! Zwei Monate!', um ihrem Anspruch auf die versprochenen Zulagen Nachdruck zu verleihen. Die schwarz gekleideten Sondereinheiten der Polizei wurden rasch um die Fabrik und in der ganzen Stadt aufgestellt, aber sie taten nichts, um den Protest niederzuschlagen. ‚Sie waren zu schockiert, als sie sahen, wie viele wir waren', sagt `Attar. ‚Sie hatten die Hoffnung, dass wir uns bis Einbruch der Nacht oder spätestens bis zum nächsten Tag auflösen würden.' Auf Anregung des Staatsschutzes bot das Management schließlich eine Zulage von 21 Tagen Lohn an. ‚Aber', wie sich `Attar sich lachend erinnert, ‚die Arbeiterinnen rissen jeden Vertreter vom Management, der zum Verhandeln kam, beinahe in Stücke.'
‚Als die Nacht hereinbrach', sagt Sayyid Habib, ‚hatten die Arbeiter Schwierigkeiten, die Arbeiterinnen davon zu überzeugen, heimzugehen. Letztere wollten bleiben und in der Fabrik übernachten. Erst nach Stunden gelang es uns, sie davon zu überzeugen, zu ihren Familien nach Hause zu gehen und am folgenden Tagen wiederzukommen.' Breit grinsend fügt `Attar hinzu: ‚Die Frauen waren viel kämpferischer als die Männer. Obwohl sie Einschüchterungsversuchen und Drohungen ausgesetzt waren, hielten sie allem stand.'
Noch vor den Morgengebeten drang das Sonderkommando der Polizei in die Fabrik ein. 70 Arbeiter, unter ihnen auch `Attar und Habib, schliefen noch in der Fabrik, wo sie sich eingeschlossen hatten. ‚Die Staatssicherheitleute sagten uns, wir seien nur wenige, und dass wir uns besser ergeben sollten', sagte `Attar. ‚Tatsächlich aber wussten sie nicht, wie viele von uns drinnen waren. Wir logen und behaupteten, wir seien Tausende. `Attar und Habib weckten schnell ihre Kollegen und gemeinsam begannen die Arbeiter dann so laut es ging, gegen die Eisentonnen zu hämmern. ‚So weckten wir alle in der Firma, aber auch in der Stadt. Bald hatten wir kein Guthaben mehr auf unseren Handys, weil wir alle unsere Familien und Freunde draußen anriefen und baten, sie sollten ihre Fenster öffnen und so den Staatsschutz wissen lassen, dass er beobachtet wird. Zudem riefen wir alle ArbeiterInnen, die wir kannten, dazu auf, so schnell wie möglich zur Fabrik zu kommen.'
Bis dahin hatte die Polizei bereits das Wasser und den Strom in der Fabrik abgeschaltet. Staatliche Agenten hasteten zu den Bahnhöfen, um den aus der Stadt kommenden ArbeiterInnen zu erzählen, dass die Fabrik auf Grund eines elektrischen Kurzschlusses geschlossen worden sei. Diese List schlug jedoch fehl.
‚Mehr als 20.000 ArbeiterInnen erschienen', sagt `Attar. ‚Wir organisierten eine riesige Demonstration und inszenierten Scheinbeerdigungen für unsere Chefs. Die Frauen brachten uns Essen und Zigaretten und schlossen sich dem Demonstrationszug an. Die Sicherheitskräfte wagten es nicht einzugreifen. Schülerinnen und Schüler von den nahe gelegenen Grundschulen und weiterführenden Schulen gingen ebenfalls auf die Straße, um die Streikenden zu unterstützen.' Am vierten Tag der Werksbesetzung boten die inzwischen panischen Regierungsvertreter den Streikenden eine Zulage in Höhe von 45 Tageslöhnen an und versicherten, dass der Betrieb nicht privatisiert werde. Der Streik wurde nun ausgesetzt, nachdem die von der Regierung kontrollierte Gewerkschaftsföderation durch den Erfolg der nicht autorisierten Aktionen der ArbeiterInnen der Misr-Spinnerei und Weberei gedemütigt worden war."
Der Sieg bei Mahalla inspirierte auch zahlreiche andere Sektoren, in den Streik einzutreten, und bis heute ist die Bewegung weit entfernt davon nachzulassen. Im April brach erneut eine Auseinandersetzung zwischen den Mahalla-ArbeiterInnen und dem Staat aus. Die ArbeiterInnen hatten nämlich beschlossen, eine große Delegation nach Kairo zu entsenden, um mit der Zentrale der Allgemeinen Förderation der Gewerkschaften über Lohnforderungen zu verhandeln (!) und um die Anschuldigungen gegen das Gewerkschaftskommitee der Mahalla-Fabrik weiter aufrechtzuerhalten, da dieses während des Dezemberstreiks die Firmenchefs unterstützt hatte. Die Antwort des Staatsschutzes war die Umstellung der Fabrik. Daraufhin traten die ArbeiterInnen aus Protest in den Streik und zwei weitere große Textilfabriken erklärten ihre Solidarität mit Mahalla: Ghazl Shebeen und Kafr el-Dawwar. Das Solidaritätsschreiben Letzterer war besonders beeindruckend und klar:
"Wir, die ArbeiterInnen von Kafr el-Dawwar, verkünden unsere ganze Solidarität mit euch; au, dass ihr eure gerechtfertigten Forderungen durchsetzt, welche die gleichen sind wie die unsrigen. Wir verurteilen aufs Schärfste die Sicherheitsoffensive, welche die ArbeiterInnendelegation von Mahalla daran hinderte, zu Verhandlungen mit der Allgemeinen Föderation der Gewerkschaften in Kairo anzureisen. Außerdem verurteilen wir die Stellungnahme von Said el-Gohary an Al-Masry Al-Youm vom letzten Sonntag, wo er euren Schritt als ‚Unsinn' bezeichnete. Wir verfolgen mit großer Anteilnahme, was euch widerfährt, und verkünden unsere Solidarität mit dem Streik der ArbeiterInnen der Bekleidungsindustrie vorgestern und dem Streik in Teilen der Seidenfabrik.
Uns ist wichtig, dass ihr wisst, dass wir ArbeiterInnen von Kafr el-Dawwar und ihr, die ArbeiterInnen von Mahalla, zusammenstehen und einen gemeinsamen Feind haben. Wir unterstützen euren Kampf, weil wir die gleichen Forderungen haben. Seit dem Ende eures Streiks in der ersten Februarwoche hat die Betriebsabteilung der Gewerkschaft nichts getan, um unsere Forderungen durchzusetzen, die wir in unserem Streik vorgebracht haben. Im Gegenteil, sie haben unseren Interessen geschadet (…) Wir wollen unsere Unterstützung für eure Forderungen nach Reformierung der Löhne zum Ausdruck bringen. Wir, ebenso wie ihr, sind schon gespannt, ob Ende April die Arbeitsministerin unsere diesbezüglichen Forderungen in die Tat umsetzen wird oder nicht. Allerdings setzen wir nicht viele Hoffnungen in die Ministerin, da wir weder von ihr noch von der Betriebsabteilung der Gewerkschaft irgendeine Regung gesehen haben. Wir werden uns nur auf uns selbst verlassen können, um unsere Forderungen durchzusetzen.
Daher betonen wir:
1) Wir sitzen im gleichen Boot mit euch und werden zur gleichen Reise mit euch aufbrechen
2) Wir erklären unsere volle Solidarität mit euren Forderungen und bekräftigen, dass wir bereit stehen, solidarische Aktionen auszuführen, solltet ihr euch zum Arbeitskampf entschließen
3) Wir werden die ArbeiterInnen von Artificial Silk, El-Beida Dyes und Misr Chemicals über euren Kampf informieren, um so Brückenköpfe zur Ausweitung unserer solidarischen Front zu errichten. Alle ArbeiterInnen sind in Zeiten des Kampfes Brüder und Schwestern.
4) Wir müssen eine breite Front errichten, um eine Entscheidung in unserem Kampf gegen die staatlichen Gewerkschaften zu unseren Gunsten zu erreichen. Wie müssen diese Gewerkschaften heute überwinden und nicht erst morgen." (Übersetzung von der Arabawy Webseite und auf Englisch zuerst veröffentlicht bei libcom.org)
Dies ist eine exzellente Stellungnahme, denn sie verdeutlicht die grundlegende Basis jeglicher wirklichen Klassensolidarität über alle Berufs- und Betriebsgrenzen hinweg - das Bewusstsein, derselben Klasse anzugehören und den gleichen Feind zu bekämpfen. Zudem ist diese Stellungnahme beeindruckend klar hinsichtlich der Notwendigkeit, den Kampf gegen die staatlichen Gewerkschaften aufzunehmen.
Auch anderswo brachen in dieser Zeit Kämpfe aus: So stürmten etwa die Müllarbeiter in Giza aus Protest die Firmenzentrale, da ihre Löhne nicht ausgezahlt worden waren; 2.700 TextilarbeiterInnen besetzten eine Textilfabrik in Monofiya; 4.000 TextilarbeiterInnen streikten ein zweites Mal, nachdem das Management versucht hatte, die Lohnauszahlungen wegen des ersten Streiks zu kürzen. Auch dies waren illegale, inoffizielle Streiks.
Zudem hat es auch andere Versuche gegeben, Arbeitskämpfe mittels Gewalt zu brechen. Die Sicherheitspolizei schloss oder drohte mit der Schließung von ‚Zentren der Gewerkschaften und der Arbeiterdienste' in Nagas Hammadi, Helwan und Mahalla. Den Zentren wurde vorgeworfen, "eine Kultur des Streiks" zu pflegen.
Die Existenz solcher Zentren deutet bereits an, dass es klare Anstrengungen gibt, neue Gewerkschaften aufzubauen. Es wird sich wohl kaum vermeiden lassen, dass in einem Land wie Ägypten, wo die ArbeiterInnen bisher nur mit Gewerkschaften konfrontiert waren, die offen als Polizei im Betrieb auftreten, die besonders kämpferischen Arbeiterinnen und Arbeiter für die Idee zugänglich sein werden, dass die Antwort auf ihre Probleme in der Gründung wirklich "unabhängiger" Gewerkschaften liege; ähnlich, wie es damals, 1980-81, die polnischen ArbeiterInnen dachten. Die Art und Weise, wie der Streik bei Mahalla organisiert wurde (d.h. spontane Demonstrationsmärsche, massive Delegationen und Versammlungen an den Werkstoren), macht jedoch deutlich, dass die ArbeiterInnen am stärksten sind, wenn sie ihre Interessen selbst in die Hände nehmen, statt ihre Macht an einen neuen Gewerkschaftsapparat zu übergeben.
In Ägypten zeigten sich bereits deutlich die Keime des Massenstreiks, nicht nur durch die Fähigkeit der ArbeiterInnen, sich massenhaft und spontan zu organisieren, sondern auch durch das hohe Niveau des Klassenbewusstseins, wie es in dem Solidaritätsschreiben von Kafr el-Dawwar zum Ausdruck kommt.
Bis jetzt ist noch keine bewusste Verknüpfung zwischen diesen Ereignissen und anderen Kämpfen auf den verschiedenen Seiten der imperialistischen Spannungslinien des Nahen Ostens erkennbar. So gab es Streiks von Hafenarbeitern und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Israel und kürzlich auch unter Lehrern für Lohnerhöhungen, wie auch von Studenten, welche in Demonstrationszügen gegen die Erhöhung der Studiengebühren die Polizei konfrontierten. Des Weiteren unterbrachen Tausende von Arbeitern die offiziellen, staatlich organisierten 1.Mai-Kundgebungen im Iran, indem sie regierungskritische Losungen anstimmten sowie an nicht genehmigten Kundgebungen teilnahmen und sich daher bald massiver Polizeirepression ausgesetzt sahen. Die Gleichzeitigkeit dieser Bewegungen jedoch entspringt in jedem Fall der gleichen Quelle - dem Drang des Kapitalismus, die Arbeiterklasse weltweit in großes Elend zu stürzen. In diesem Sinne tragen alle diese Kämpfe die Keime für die zukünftige internationalistische Einheit der Arbeiterklasse in der ganzen Welt in sich, durch welche alle Mauern des Nationalismus, der Religionen und der imperialistischen Kriege eingerissen werden. (aus Worldrevolution, IKS-Zeitung in GB; Mai 2007)