Im ersten Teil dieser Serie untersuchten wir die Abfolge der Weltkriege, Revolutionen und globalen Wirtschaftskrisen, die den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsepoche im frühen 20. Jahrhundert ankündeten und die die Menschheit vor die historische Alternative stellen: Errichtung einer höheren Produktionsweise oder Rückfall in die Barbarei. Aber das Verständnis der Ursprünge und Ursachen der Krisen, denen sich die Menschheit gegenübersieht, bedarf einer Theorie, die die gesamte Bewegung der Geschichte umfasst. Allgemeine Geschichtstheorien sind nicht mehr angesagt unter den offiziellen Historikern, die mit Fortdauer der Niedergangsepoche des Kapitalismus zunehmend in Verlegenheit gerieten, irgendeinen Über- und einen wirklichen Einblick in die Quellen der Spirale von Katastrophen anzubieten, die diese Periode gekennzeichnet haben. Große historische Visionen sind nicht mehr in Mode; sie werden abgetan als Abkömmlinge des idealistischen deutschen Philosophen Hegel oder der allzu optimistischen englischen Liberalen, die auf dem gleichen Gebiet die Idee eines stetigen Fortschritts der Geschichte aus der Dunkelheit und Tyrannei zur wunderbaren Freiheit der Bürger im modernen Verfassungsstaat entwickelten.
In der Tat ist diese Unfähigkeit, die historische Bewegung in ihrer Gesamtheit zu sehen, kennzeichnend für eine Klasse, die nicht mehr für den historischen Fortschritt steht und deren Gesellschaftssystem der Menschheit keine Zukunft mehr anbieten kann. Als die Bourgeoisie noch davon überzeugt war, dass ihre Produktionsweise im Vergleich zu früheren Gesellschaftsformen einen fundamentalen Fortschritt für die Menschheit darstellte und als sie die Zukunft mit dem wachsenden Selbstvertrauen einer im Aufstieg befindlichen Klasse betrachten konnte, da konnte sie noch einen längeren Blick zurück, aber auch nach vorn wagen. Die Schrecken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versetzten diesem Vertrauen den Todesstoß. Nicht nur dass symbolische Ortsnamen wie die Somme oder Passchendaele, wo Zehntausende von jungen Eingezogenen im I. Weltkrieg abgeschlachtet wurden, oder Auschwitz und Hiroshima, synonym für den Massenmord an Zivilisten durch den Staat, oder gleichermaßen symbolische Daten wie 1914, 1929 und 1939 alle früheren Behauptungen über den Fortschritt in Frage stellen; sie legen auch auf alarmierende Weise nahe, dass die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht so ewig sein wird, wie es einst schien. Insgesamt ziehen es die bürgerlichen Geschichtsschreiber angesichts der Aussicht auf ihr eigenes Dahinscheiden - entweder durch den Kollaps ihrer Ordnung in eine Anarchie oder, was für die Bourgeoisie auf dasselbe hinausläuft, durch ihren Sturz durch die revolutionäre Arbeiterklasse - vor, Scheuklappen aufzusetzen und sich selbst in einem engstirnigen Kurzzeit-Empirismus zu verlieren - kurzzeitig und lokal - oder Theorien wie den Relativismus und Postmodernismus zu entwickeln, die jeglichen Begriff einer fortschrittlichen Bewegung von einer Epoche zur nächsten und jeglichen Versuch ablehnen, ein Entwicklungsmuster in der menschlichen Geschichte auszumachen. Darüber hinaus wird diese Unterdrückung des historischen Bewusstseins täglich im Bereich der Massenkultur verstärkt, intensiviert durch die verzweifelten Bedürfnisse des Marktes: Alles von Wert muss jetzt und neu sein, von nirgendwo kommend, ins Nirgendwo gehend.
Angesichts der Kleingeistigkeit eines großen Teils der etablierten Gelehrtheit ist es kein Wunder, dass so viele, die noch immer danach streben, den allgemeinen Sinn der Geschichte insgesamt zu verstehen, von den Verkäufern des Schlangengifts der Religion und des Okkultismus betört werden. Der Nazismus war eine frühe Manifestation dieses Trends - ein Kunterbunt von okkultistischen Theosophien, Pseudo-Darwinismus und rassistischen Verschwörungstheorien, die eine einfache Lösung all der Probleme der Welt anbieten und jede weitere Notwendigkeit des Denkens wirksam annullieren. Der islamische und christliche Fundamentalismus oder die zahllosen Verschwörungstheorien über die Geheimgesellschaften, die die Geschichte manipulieren, spielen heute dieselbe Rolle. Die offizielle bürgerliche Vernunft versagt nicht nur darin, auch nur eine bescheidene Antwort auf die Probleme im gesellschaftlichen Bereich anzubieten - sie hat es größtenteils aufgegeben, diese Fragen erst zu stellen, und überlässt somit der Unvernunft das Feld, die an ihren eigenen mythologischen Lösungen bastelt.
Die herrschende Weisheit ist sich in einem gewissen Sinn all dessen bewusst. Sie ist bereit, anzuerkennen, dass sie in der Tat einen Verlust ihres Selbstvertrauens erlitten hat. Statt positiv die Lobpreisungen des liberalen Kapitalismus als die feinsten Errungenschaften des menschlichen Geistes nachzubeten, neigt sie nun dazu, ihn als die beste unter den schlechten Lösungen zu porträtieren, sicherlich verunstaltet, aber allemal all den Formen des Fanatismus vorzuziehen, die allem Anschein gegen sie aufgeboten werden. Im Lager der Fanatiker äußert sich dies nicht nur im Faschismus oder im islamischen Terrorismus, sondern betrifft auch den Marxismus, der nun endgültig als ein Markenzeichen für utopischen Messianismus zurückgewiesen wird. Wie oft ist uns erzählt worden, üblicherweise von drittklassigen Denkern, die die Allüren haben, etwas Neues zu sagen: Die marxistische Geschichtsanschauung sei eine bloße Umkehrung des judäisch-christlichen Mythos von der Geschichte als eine Erlösungsgeschichte; der Urkommunismus sei der Garten Eden, der künftige Kommunismus das kommende Paradies; das Proletariat sei das auserwählte Volk oder der leidende Knecht Gottes, die Kommunisten seien die Propheten. Doch uns wird ebenfalls erzählt, dass diese religiösen Projektionen alles andere als harmlos seien: Die Realität der „marxistischen Herrschaft" habe gezeigt, wo solche Versuche, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, enden müssten - in der Tyrannei und in Arbeitslagern, in dem irrsinnigen Projekt, die unvollkommene Menschheit nach seiner Vision von Perfektion zu modellieren.
Und in der Tat wird diese Analyse vom Werdegang des Marxismus im 20. Jahrhundert allem Anschein nach bestätigt. Wer kann leugnen, dass Stalins GPU an die Heilige Inquisition erinnert oder dass Lenin, Stalin, Mao und andere Große Führer zu den neuen Göttern auserkoren wurden? Doch dieser Beweis ist zutiefst unsolide. Er beruht auf der größten Lüge des Jahrhunderts: dass Stalinismus gleich Kommunismus gewesen sei, wo er tatsächlich dessen totale Negation war. Wenn der Stalinismus in der Tat eine Form der kapitalistischen Konterrevolution war, wie wirklich revolutionäre Marxisten meinen, dann muss das Argument, dass die marxistische Theorie unvermeidlich zum Gulag führen musste, in Frage gestellt werden.
Und wir können auch so antworten, wie Engels dies in seinen Schriften über die Frühgeschichte des Christentums getan hatte, nämlich dass die Ähnlichkeiten zwischen den Ideen der modernen Arbeiterbewegung und den Worten der biblischen Propheten oder der frühen Christen nicht befremdlich sind, da auch Letztere das Streben der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen und ihre Hoffnungen auf eine Welt, die auf menschlicher Solidarität statt auf Klassenherrschaft beruht, repräsentierten. Wegen der Einschränkungen, die von den Gesellschaftssystemen erzwungen wurden, in welchen sie auftraten, konnten diese frühen Kommunisten nicht über die religiöse oder mystische Vision einer klassenlosen Gesellschaft hinausgehen. Heute ist dies nicht mehr der Fall, weil die historische Entwicklung die kommunistische Gesellschaft zu einer rationalen Möglichkeit sowie zu einer dringenden Notwendigkeit gemacht hat. Nur indem wir den modernen Kommunismus nicht im Lichte alter Mythen betrachten, können wir die alten Mythen im Lichte des modernen Kommunismus begreifen.
Für uns ist der Marxismus, der historische Materialismus nichts, wenn nicht der theoretische Ausblick einer Klasse, die eine neue und höhere gesellschaftliche Form in sich trägt. Ihre Bemühungen, ja ihr Bedürfnis, die Geschichte der Vergangenheit und die Perspektiven für die Zukunft zu untersuchen, sind somit nicht überschattet von den Vorurteilen einer herrschenden Klasse, die letztendlich stets dazu gezwungen ist, die Realität im Interesse ihres Ausbeutungssystems zu leugnen und zu vernebeln. Die marxistische Theorie basiert auch, im Gegensatz zu den romantischen Bestrebungen früherer ausgebeuteter Klassen, auf einer wissenschaftlichen Methode. Sie mag zwar keine exakte Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften sein, da sie die Menschheit und ihre höchst komplexe Geschichte nicht auf eine Reihe reproduzierbarer Laborexperimente reduzieren kann - aber diesen Gesetzmäßigkeiten ist auch die Evolutionstheorie unterworfen. Der Punkt ist, dass allein der Marxismus in der Lage ist, die wissenschaftliche Methode auf die Untersuchung der herrschenden Gesellschaftsordnung und auf die Gesellschaftsordnungen anzuwenden, die ihr vorausgingen, indem er rigoros die beste geisteswissenschaftliche Forschung nutzt, die die herrschende Klasse anbieten kann, und über sie hinausgeht sowie eine höhere Synthese skizziert.
1859 schrieb Marx, der über bis beide Ohren tief n der Arbeit zum späteren Kapital steckte, eine kurze Schrift, dei eine meisterhafte Zusammenfassung seiner gesamten historischen Methode wiedergibt. Es war die Schrift, die „Zur Kritik der politischen Ökonomie" genannt wurde, ein Text, der größtenteils verdrängt und überschattet wurde vom Erscheinen des Kapitals. Nachdem er uns einen komprimierten Bericht über seine Gedankengänge von seinen ersten Wertstudien bis zu seiner damaligen Hauptbeschäftigung, der politischen Ökonomie, gegeben hat, kommt Marx zum springenden Punkt - dem „Das allgemeine Resultat...meine(r) Studien zum Leitfaden diente". Hier wird die marxistische Geschichtstheorie mit meisterhafter Präzision und Klarheit zusammengefasst. Wir beabsichtigen daher, diese Zeilen so getreu wie möglich zu studieren, um die Grundlage für ein wirkliches Verständnis der Epoche zu legen, in der wir leben.
Wir haben die wichtigste Passage aus diesem Text in einem Anhang am Schluss dieses Artikels zusammengefasst, aber hier beabsichtigen wir, jeden seiner Bestandteile im Detail zu betrachten.
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt."
Der Marxismus wird häufig von seinen Kritikern, bürgerlich-konvertionell oder pseudoradikal, als eine mechanistische, „objektivistische" Theorie karikiert, die danach trachte, die Komplexität des historischen Prozesses auf eine Serie von ehernen Gesetzen zu reduzieren, über die die menschlichen Subjekte keine Kontrolle hätten und die sie wie ein Moloch zu einem schicksalhaften, determinierten äußersten Resultat trieben. Wenn uns nicht gar erzählt wird, dass er eine andere Form der Religion sei, dann wird zumindest gesagt, dass das marxistische Gedankengut ein typisches Produkt der unkritischen Anbetung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert und ihrer Illusionen in den Fortschritt sei, das danach strebe, die vorhersagbaren, verifizierbaren Gesetze der natürlichen Welt - physikalisch, chemisch, biologisch - auf die im wesentlichen unvorhersehbaren Muster im gesellschaftlichen Leben anzuwenden. Marx wird schließlich als Autor einer Theorie der unvermeidlichen und linearen Evolution von einer Produktionsweise zur nächsten porträtiert, die unaufhaltsam von der primitiven Gesellschaft über die Sklaverei, den Feudalismus und Kapitalismus zum Kommunismus führe. Und dieser ganze Prozess sei umso mehr vorbestimmt, als er angeblich von einer rein technischen Entwicklung der Produktivkräfte verursacht werde.
Wie alle Karikaturen enthält auch dieses Bild ein Körnchen Wahrheit. Es ist zum Beispiel wahr, dass es in der Periode der Zweiten Internationale, als es eine wachsende Tendenz zur „Institutionalisierung" der Arbeiterparteien gegeben hatte, einen äquivalenten Prozess auf der theoretischen Ebene gab, eine Widerstandslosigkeit gegenüber den vorherrschenden Fortschrittskonzeptionen und eine gewisse Neigung, „Wissenschaft" als ein Ding an sich zu betrachten, losgetrennt von den realen Klassenverhältnissen in der Gesellschaft. Kautskys Idee vom wissenschaftlichen Sozialismus, der durch die Intervention der Intellektuellen in die proletarischen Massen injiziert werden müsse, war ein Ausdruck dieser Tendenz. Dies war umso mehr der Fall, als im 20. Jahrhundert, nachdem so vieles von dem, was einst den Marxismus ausgemacht hatte, nun zu einer offenen Rechtfertigung für die kapitalistische Ordnung geworden war, mechanistische Visionen des historischen Fortschritts nun offiziell kodifiziert wurden. Es gibt keine deutlichere Demonstration dafür als Stalins Fibel des „Marxismus-Leninismus", die Geschichte der KPdSU (Kurzfassung), wo die Theorie des Primats der Produktivkräfte als die materialistische Geschichtsauffassung schlechthin vorgestellt wird:
„Die zweite Besonderheit der Produktion besteht darin, dass ihre Veränderungen und ihre Entwicklung mit Veränderungen und Entwicklungen der Produktivkräfte und vor allem der Produktionsmittel beginnen. Die Produktivkräfte sind deshalb das dynamischste und revolutionärste Element der Produktion. Zunächst verändern sich die Produktivkräfte der Gesellschaft selber und entwickeln sich; dann verändern sich im Verhältnis zu ihnen und in Übereinstimmung mit dieser Veränderung die Produktionsverhältnisse zwischen den Menschen, die wirtschaftlichen Verhältnisse."
Diese Konzeption des Primats der Produktivkräfte fiel nahtlos mit dem fundamentalen Projekt des Stalinismus zusammen: die „Entwicklung der Produktivkräfte" der UdSSR auf Kosten des Proletariats mit dem Ziel, Russland zu einer Hauptmacht auf der Welt zu machen. Es war vollkommen im Interesse des Stalinismus, die Anhäufung von Schwerindustriebetrieben in den 1930er Jahren als Einzelschritte zum Kommunismus darzustellen und jede Untersuchung der hinter dieser „Entwicklung" befindlichen gesellschaftlichen Verhältnisse zu verhindern - die brutale Ausbeutung der Klasse der LohnarbeiterInnen, mit anderen Worten: die Extraktion von Mehrwert mit dem Ziel der Akkumulation des Kapitals.
Marx hat diese ganze Herangehensweise in den ersten Zeilen des Kommunistischen Manifestes widerlegt, die den Klassenkampf als die dynamische Kraft in der historischen Evolution darstellen, mit anderen Worten: den Kampf zwischen verschiedenen Gesellschaftsklassen („Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener") um die Aneignung der Mehrarbeit. Sie wird nicht minder entschieden von den einleitenden Zeilen unseres Zitats aus dem Vorwort widerlegt: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein..." Es sind menschliche Wesen aus Fleisch und Blut, die „bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse" eingehen, die Geschichte machen, nicht „Produktivkräfte", nicht Maschinen, auch wenn es notwendigerweise eine enge Verknüpfung zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften, die sich für sie „eignen", gibt. Wie Marx es in einer anderen berühmten Stelle im 18. Brumaire des Louis Bonaparte formulierte: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."
Man beachte dabei: unter Bedingungen, die sie nicht selbst gewählt haben; die Menschen treten in „von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse". Bisher zumindest. Unter den Bedingungen, die in allen bis dahin existierenden Gesellschaftsformen vorgeherrscht hatten, waren die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen unter sich bilden, mehr oder weniger unklar für sie, mehr oder weniger überschattet von mythologischen und ideologischen Darstellungen; aus dem gleichen Grunde tendieren mit dem Aufkommen der Klassengesellschaft die Formen des Reichtums, den die Menschen durch diese Verhältnisse erzeugen, dazu, sich ihnen zu entziehen, zu einer fremden Kraft zu werden, die über ihnen steht. In dieser Sichtweise sind die Menschen keine passiven Produkte ihrer Umwelt oder die Werkzeuge, die sie produzieren, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, sie sind stattdessen noch nicht Meister ihrer eigenen gesellschaftlichen Kräfte oder der Produkte ihrer eigenen Arbeit.
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt (...) In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären."
Mit einem Wort, die Menschen machen Geschichte, aber noch nicht in vollem Bewusstsein dessen, was sie tun. Von nun an können wir uns, wenn wir den historischen Wandel untersuchen, nicht damit zufrieden geben, das Gedankengut und den Glauben einer Epoche zu studieren oder die Modifizierungen in den Regierungssystemen und Gesetzen zu prüfen. Um zu begreifen, wie diese Ideen und Systeme entstehen, ist es notwendig, auf die fundamentalen gesellschaftlichen Konflikte, die dahinter liegen, zurück zu gehen.
Noch einmal: diese Herangehensweise an die Geschichte missachtet nicht die aktive Rolle des Bewusstseins, des Glaubens und der legal-politischen Formationen, ihren realen Einfluss auf die Gesellschaftsverhältnisse und die Entwicklung der Produktivkräfte. Zum Beispiel war die Ideologie der Sklavenhalterklasse in der Antike eine Ideologie, die der Arbeit äußerste Geringschätzung entgegenbrachte. Diese Haltung spielte eine wichtige Rolle dabei, dass die Umsetzung der sehr beachtlichen wissenschaftlichen Fortschritte, die von den griechischen Denkern erzielt wurden, in eine praktische Entwicklung der Wissenschaft, in allgemeine Werkzeuge und Techniken, verhindert wurde, was die Arbeitsproduktivität erhöht hätte. Doch die zugrundeliegende Realität hinter dieser Barriere war die sklavische Produktionsweise an sich: Es war die Existenz der Sklaverei im Zentrum der Wohlstandsmehrung der klassischen Gesellschaft, die die Quelle der Geringschätzung der Arbeit durch die Sklavenhalter und ihrer Überzeugung war, dass man, wollte man das Mehrprodukt erhöhen, sich mehr Sklaven verschaffen musste.
In späteren Schriften mussten Marx und Engels ihre theoretische Herangehensweise sowohl gegen Kritiker als auch gegen fehlgeleitete Anhänger verteidigen, die das Diktum, dass es das gesellschaftliche Sein ist, welches das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt, auf die einfachst mögliche Art interpretierten, indem sie beispielsweise vorgaben, dass dies bedeute, dass alle Mitglieder der Bourgeoisie unvermeidlich dazu bestimmt seien, wegen ihrer ökonomischen Gesellschaftsstellung nur in eine Richtung denken, oder, noch absurder, dass alle Mitglieder des Proletariats unweigerlich ein klares Bewusstsein über ihre Klasseninteressen hätten, weil sie der Ausbeutung unterworfen seien. Es war genau solch eine reduktionistische Haltung, die Marx dazu veranlasste zu behaupten: „Ich bin kein Marxist." Es gibt zahllose Gründe, warum in der Arbeiterklasse, so wie sie existiert in der „Normalität" des Kapitalismus, lediglich eine Minderheit ihre reale Klassensituation erkennt: nicht nur Unterschiede in den individuellen Lebensgeschichten und Psychologien, sondern auch und besonders die aktive Rolle, die von der herrschenden Ideologie gespielt wird, um zu verhindern, dass die Beherrschten ihre eigenen Klasseninteressen begreifen - eine herrschende Ideologie, die eine viel längere Geschichte und Auswirkung hat als die unmittelbare Propaganda der herrschenden Klasse, da sie in den Köpfen der Unterdrückten tief verinnerlicht ist. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden", wie Marx es gleich nach der Passage aus dem 18. Brumaire über die Menschen formulierte, die Geschichte unter Bedingungen machen, die nicht ihre Wahl sind.
In der Tat zeigt Marx‘ Vergleich zwischen der Ideologie einer Epoche und dem, was ein Individuum über sich selbst denkt, weit entfernt davon, reduktionistisch zu sein, psychologische Tiefe: Es wäre ein schlechter Psychoanalytiker, der kein Interesse daran zeigt, was ein Patient ihm über seine Gefühle und Überzeugungen mitteilt, aber es wäre ein gleichfalls schlechter Analytiker, der kurz vor der Selbstbewusstwerdung des Patienten stoppt und die Komplexität der versteckten und unbewussten Elemente in seinem psychologischen Gesamtprofil ignoriert. Dasselbe trifft auch auf die Geschichte der Ideen und auf die „politische" Geschichte zu. Sie können uns viel darüber erzählen, was in einer vergangenen Epoche geschah, doch für sich genommen, geben sie nur eine verzerrte Widerspiegelung der Realität wider. Daher Marx‘ Ablehnung aller historischen Vorgehensweisen, die an der Oberfläche der Ereignisse bleiben:
„Die ganze bisherige Geschichtsauffassung hat diese wirkliche Basis der Geschichte entweder ganz und gar unberücksichtigt gelassen oder sie nur als eine Nebensache betrachtet, die mit dem geschichtlichen Verlauf außer allem Zusammenhang steht. Die Geschichte muss daher immer nach einem außer ihr liegenden Maßstab beschrieben werden; die wirkliche Lebensproduktion erscheint als Urgeschichtlich, während das Geschichtliche als das vom gemeinen Leben Getrennte, Extra-Überweltliche erscheint. Das Verhältnis der Menschen zur Natur ist hiermit von der Geschichte ausgeschlossen, wodurch der Gegensatz von Natur und Geschichte erzeugt wird. Sie hat daher in der Geschichte nur politische Haupt- und Staatsaktionen und religiöse und überhaupt theoretische Kämpfe sehen können und speziell bei jeder geschichtlichen Epoche die Illusion dieser Epoche teilen müssen. Z.B. bildet sich eine Epoche ein, durch rein ‚politische‘ oder ‚religiöse‘ Motive bestimmt zu werden, obgleich ‚Religion‘ und ‚Politik‘ nur Formen ihrer wirklichen Motive sind, so akzeptiert ihr Geschichtsschreiber diese Meinung. Die ‚Einbildung‘, die ‚Vorstellung‘ dieser bestimmten Menschen über ihre wirkliche Praxis wird in die einzig bestimmende und aktive Macht verwandelt, welche die Praxis dieser Menschen beherrscht und bestimmt. Wenn die rohe Praxis, in der die Teilung der Arbeit bei den Indern und Ägyptern vorkommt, das Kastenwesen bei diesen Völkern in ihrem Staat und ihrer Religion hervorruft, so glaubt der Historiker, das Kastenwesen sei die Macht, welche die rohe gesellschaftliche Form erzeugt habe."[1]
Wir kommen jetzt zur Passage aus dem Vorwort, die am deutlichsten zu einem Verständnis der gegenwärtigen historischen Phase im Leben des Kapitalismus führt: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein."
Auch hier zeigt Marx, dass das aktive Element im historischen Prozess die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in die sich die Menschen begeben, um das Lebensnotwendige herzustellen. Wenn wir zurückblicken auf die Bewegung von einer Gesellschaftsformation zur nächsten, wird es offensichtlich, dass es eine ständige Dialektik zwischen Perioden, in denen diese Verhältnisse zu einer wirklichen Weiterentwicklung der Produktivkräfte verhelfen, und jenen Perioden gibt, in denen dieselben Verhältnisse zu einer Barriere gegen die Weiterentwicklung werden. Im Kommunistischen Manifest zeigten Marx und Engels auf, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die aus der zerfallenden feudalen Gesellschaft aufgetaucht waren, als eine zutiefst revolutionäre Kraft agierten, indem sie alle stagnierenden, statischen Formen des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens hinwegfegten, die ihnen im Weg standen. Die Notwendigkeit, miteinander zu konkurrieren und so billig wie möglich zu produzieren, zwang die Bourgeoisie, die Produktivkräfte ständig zu revolutionieren. Die unaufhörliche Notwendigkeit, neue Märkte für ihre Waren zu finden, zwang sie, den gesamten Erdball einzunehmen und eine Welt nach ihrem eigenen Bilde zu schaffen.
1848 waren die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse eindeutig eine „Entwicklungsform" und hatten sich erst in einem oder zwei Ländern fest etabliert. Jedoch veranlasste die Gewaltsamkeit der Wirtschaftskrisen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts die Autoren des Manifests anfangs zur Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus bereits zu einer Fessel der Produktivkräfte geworden sei und die kommunistische Revolution (oder zumindest der schnelle Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution) auf der unmittelbaren Tagesordnung stünde.
„In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Zivilisation und der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen."[2]
Mit der Niederlage der Revolutionen von 1848 und der enormen Expansion des Weltkapitalismus, die in der folgenden Periode stattfand, sollten sie diese Ansicht revidieren, auch wenn sie noch immer ungeduldig auf die Ankunft des langersehnten Zeitalters der sozialen Revolution warteten, auf den Tag der Abrechnung mit der arroganten Herrschaft des Weltkapitals. Doch der Kern dieser Herangehensweise ist die grundlegende Methode: die Erkenntnis, dass eine Gesellschaftsordnung nicht weggefegt werden kann, ehe sie endgültig in Konflikt mit der Weiterentwicklung der Produktivkräfte getreten ist und die gesamte Gesellschaft in eine Krise gestürzt hat, die keine zeitweilige, keine Jugendkrise ist, sondern ein ganzes „Zeitalter" von Krisen, Erschütterungen, der sozialen Revolution, in einem Wort: eine Krise der Dekadenz.
1858 kehrte Marx erneut zu dieser Frage zurück: „Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluss von China und Japan zum Abschluss gebracht. Die schwierige Frage für uns ist die: auf dem Kontinent ist die Revolution imminent und wird sofort einen sozialistischen Charakter annehmen. Wird sie in diesem kleinen Winkel nicht notwendig unterdrückt werden, da auf viel größerem Terrain die Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft noch aufsteigend ist."[3]
Was an diesen Zeilen so interessant ist, das sind genau die Fragen, die sie stellen: Worin bestehen die historischen Kriterien zur Bestimmung des Wechsels zu einer Periode der Revolution im Kapitalismus? Kann es eine erfolgreiche kommunistische Revolution geben, solange der Kapitalismus noch immer ein global expandierendes System ist? Marx war voreilig, als er dachte, dass die Revolution in Europa anstünde. Tatsächlich schien er in einem Brief an Vera Sassulitsch über das russische Problem, 1881 geschrieben, auch hier seine Auffassung modifiziert zu haben, als er im zweiten Entwurf dazu meinte, dass „das kapitalistische System im Westen im Verblühen ist, und sich die Zeit nähert, da es nur noch eine „archaische" Formation sein wird"[4]. 20 Jahre nach 1858 „näherte" sich das System selbst in den fortgeschrittenen Ländern erst seinem „Verblühen". Erneut drückte dies die Schwierigkeiten aus, denen sich Marx angesichts der historischen Lage, in der er lebte, gegenübersah. Wie sich herausstellte, hatte der Kapitalismus noch eine letzte Phase realer globaler Entwicklung vor sich, die Phase des Imperialismus, die in eine Epoche der Erschütterungen auf Weltebene hineinführen sollte und der Indikator für die Tatsache war, dass das System in seiner Gesamtheit, und nicht nur ein Teil von ihm, in seine Senilitätskrise stürzte. Jedoch zeigen Marx‘ Äußerungen in diesen Briefen, wie ernst er das Problem nahm, eine revolutionäre Perspektive von der Entscheidung abhängig zu machen, ob der Kapitalismus diese Stufe erreicht hat oder nicht.
„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind."
In der nächsten Passage betont Marx weiterhin, wie wichtig es ist, eine Perspektive der sozialen Revolution nicht auf die rein moralische Abscheu zu basieren, die von einem Ausbeutungssystem ausgelöst wird, sondern auf dessen Unfähigkeit, die Arbeitsproduktivität und allgemein die Kapazitäten des menschlichen Wesens weiterzuentwickeln, seine materiellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Das Argument, dass eine Gesellschaft niemals ihr Leben aushaucht, ehe sie nicht alle Entwicklungskapazitäten ausgeschöpft hat, ist benutzt worden, um gegen die Idee zu argumentieren, dass der Kapitalismus seine Dekadenzperiode erreicht hat: Der Kapitalismus sei seit 1914 deutlich gewachsen; man könne nicht sagen, dass er dekadent sei, solange nicht sämtliches Wachstum stoppe. Es ist richtig, dass ein großer Teil der Konfusionen durch Theorien wie jene von Trotzki aus dem Jahr 1930 verursacht worden war. Eingedenk dessen, dass der Kapitalismus sich in den heftigsten Kämpfen seiner bis damals größten Depression befand, schien diese Ansicht plausibel; darüber hinaus kann der Gedanke, dass die Dekadenz durch einen vollständigen Stopp in der Entwicklung der Produktivkräfte gekennzeichnet sei, ja sogar durch eine Rückbildung, in einem gewissen Sinn auf die früheren Klassengesellschaften angewendet werden, wo die Krise stets das Resultat der Unterproduktion war, eine absolute Unfähigkeit, genug zu produzieren, um den Grundbedürfnissen der Gesellschaft nachzukommen (und selbst in jenen Gesellschaften lief der Prozess des „Abstiegs" niemals ohne Phasen der scheinbaren Wiedererholung und gar eines kräftigen Wachstums ab). Doch das Grundproblem dieser Ansicht ist, dass sie die fundamentale Realität des Kapitalismus ignoriert - die Notwendigkeit des Wachstums, der Akkumulation, der erweiterten Reproduktion von Werten. Wie wir sehen werden, kann dieser Notwendigkeit in der Dekadenz des Systems dadurch nachgekommen werden, indem immer mehr an den eigentlichen Gesetzen der kapitalistischen Produktion herumgepfuscht wird. Doch wie wir ebenfalls sehen werden, wird dieser Punkt, an dem die kapitalistische Akkumulation absolut unmöglich wird, wahrscheinlich niemals erreicht werden. Wie Rosa Luxemburg in der Antikritik hervorhob, war ein solcher Punkt „eine theoretische Fiktion, gerade weil die Akkumulation des Kapitals nicht bloß ökonomischer, sondern politischer Prozess ist"[5]. Darüber hinaus hatte Marx bereits den Begriff des Wachstums als Rückgang postuliert: „Die höchste Entwicklung dieser Basis selbst (die Blüte, worin sie sich verwandelt; es ist aber doch immer diese Basis, diese Pflanze als Blüte; daher Verwelken nach der Blüte und als Folge der Blüte) ist der Punkt, worin sie selbst zu der Form ausgearbeitet ist, worin sie mit der höchsten Entwicklung der Produktivkräfte vereinbar, daher auch der reichsten Entwicklung der Individuen. Sobald dieser Punkt erreicht ist, erscheint die weitre Entwicklung als Verfall und die neue Entwicklung beginnt von einer neuen Basis."
Der Kapitalismus hat sicherlich genügend Produktivkräfte für die Entstehung einer neuen und höheren Produktionsweise entwickelt. In der Tat tritt das System in dem Augenblick in den Niedergang, wenn die materiellen Bedingungen für den Kommunismus entwickelt sind. Durch die Schaffung einer Weltwirtschaft - für den Kommunismus fundamental - erreicht der Kapitalismus auch die Grenzen seiner gesunden Entwicklung. Die Dekadenz des Kapitalismus ist also nicht an einer kompletten Aussetzung der Produktion festzumachen, sondern zeichnet sich durch eine wachsende Reihe von Erschütterungen und Katastrophen aus, die die absolute Notwendigkeit für seine Überwindung demonstrieren.
Marx‘ Hauptpunkt ist hier die Notwendigkeit einer Dekadenzperiode. Die Menschen machen keine Revolution, weil es ihnen gefällt, sondern weil sie von der Notwendigkeit gezwungen werden, von dem unerträglichen Leid, das von der Krise eines Systems hervorgerufen wird. Aus dem gleichen Grund ist die Anhänglichkeit am Status quo tief in ihrem Bewusstsein verwurzelt, und es kann nur der wachsende Konflikt zwischen jener Ideologie und der materiellen Wirklichkeit, der sie sich gegenübersehen, sein, der die Menschen dazu bringt, das herrschende System herauszufordern. Dies trifft vor allem auf die proletarische Revolution zu, die das erste Mal in der Geschichte eine bewusste Umwandlung jedes Aspektes des Gesellschaftslebens erfordert.
Die Revolutionäre werden gelegentlich beschuldigt, der Idee: „Je schlechter, desto besser" anzuhängen, der Idee, dass je mehr die Massen leiden, desto wahrscheinlicher sie revolutionär werden. Doch es gibt keine mechanische Beziehung zwischen dem Leid und dem revolutionären Bewusstsein. Das Leid enthält eine Dynamik zum Nachdenken und zur Revolte, aber es enthält auch eine Dynamik zur Abnutzung und Erschöpfung der Fähigkeit zur Revolte. Es kann außerdem leicht zur Praktizierung völlig falscher Formen der Rebellion führen, wie das gegenwärtige Wachstum des islamischen Fundamentalismus zeigt. Die Dekadenzperiode ist notwendig, um die Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass sie eine neue Gesellschaft aufbauen muss, dass aber andererseits eine auf unbestimmte Zeit verlängerte Epoche der Dekadenz die eigentliche Möglichkeit der Revolution gefährden kann, indem sie die Welt in eine Spirale der Katastrophen drängt, die nur dazu dienen, die angehäuften Produktivkräfte und insbesondere die wichtigsten aller Produktivkräfte, das Proletariat, zu zerstören. Dies ist in der Tat die Gefahr, die sich in der finalen Phase der Dekadenz stellt, der Phase, die wir die Zerfallsphase nennen und die unserer Meinung nach bereits begonnen hat.
Dieses Problem einer am lebendigen Leib verfaulenden Gesellschaft ist im Kapitalismus besonders akut, weil im Gegensatz zu früheren Systemen die Reifung der materiellen Bedingungen für die neue Gesellschaft - den Kommunismus - nicht mit der Entwicklung neuer Wirtschaftsformen innerhalb der Hülle der alten Gesellschaftsordnung zusammenfällt. Im Niedergang der römischen Sklaverei war die Entwicklung feudaler Stände oftmals das Werk von Mitgliedern der alten sklavenhaltenden Klasse, die sich selbst vom Zentralstaat distanziert hatten, um den niederschmetternden Lasten ihrer Steuern zu entgehen. In der Periode der feudalen Dekadenz wuchs die neue Bourgeoisie in den Städten - die immer die kommerziellen Zentren des alten Systems gewesen waren - heran und nahm sich vor, die Fundamente einer neuen Wirtschaft zu legen, die auf den Manufakturen und dem Handel basierte. Das Aufkommen dieser neuen Formen war sowohl eine Antwort auf die Krise der alten Ordnung als auch ein Faktor, der sie mehr und mehr zu ihrem endgültigen Ableben trieb.
Mit dem Niedergang des Kapitalismus treten die Produktivkräfte, die er in Bewegung gesetzt hat, ganz sicher mit den Gesellschaftsverhältnissen, in denen sie wirken, in wachsendem Konflikt. Dies wird besonders durch den Kontrast zwischen den enormen Produktionskapazitäten des Kapitalismus und seiner Unfähigkeit, alle Waren, die sie produzieren, zu absorbieren, ausgedrückt - kurz: durch die Überproduktionskrise. Doch während diese Krise die Abschaffung der Warenverhältnisse immer dringender macht und das Wirken der Gesetze der Warenproduktion immer mehr entstellt, resultiert dies nicht in einem spontanen Auftreten kommunistischer Wirtschaftsformen. Anders als frühere revolutionäre Klassen ist die Arbeiterklasse eine eigentumslose, ausgebeutete Klasse und kann nicht ihre eigene Wirtschaftsordnung innerhalb des Rahmens der alten aufbauen. Der Kommunismus kann nur das Resultat eines allzeit bewussteren Kampfes gegen die alte Ordnung sein, der zur politischen Überwindung der Bourgeoisie als Voraussetzung für die kommunistische Transformation des wirtschaftlichen und sozialen Lebens führt. Wenn das Proletariat unfähig ist, seinen Kampf auf die notwendige Höhe des Bewusstseins und der Selbstorganisation zu heben, dann werden die Widersprüche des Kapitalismus nicht zur Ankunft einer höheren gesellschaftlichen Ordnung führen, sondern zum „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen".
Gerrard
Im Folgenden die vollständige Stelle aus dem Vorwort:
Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervor wachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.
[1] Kommunistisches Manifest, Kapitel 1, „Bourgeois und Proletarier". In: MEW, Bd. 4, S. 462 ff.
[2] Marx an Engels, 8. Oktober 1858. In: MEW, Bd. 29, S. 359
[3] K. Marx, Brief an V. I. Sassulitsch. Zweiter Entwurf. In: MEW, Bd. 19, S. 398.
[4] R. Luxemburg, Antikritik, Gesammelte Werke Bd. 5 S. 519
[5] Grundrisse, S. 439
Natürlich sieht die Wirklichkeit ganz anders aus.
In den letzten Monaten hat die Wirtschaftskrise die internationalen Spannungen stark angefacht. Zunächst ist die Versuchung des Protektionismus gestiegen. Jeder Staat neigt zunehmend dazu, einen Teil seiner Wirtschaft durch Subventionen und die Gewährung von Privilegien für einheimische Unternehmen gegen die ausländische Konkurrenz zu retten. Das war zum Beispiel beim Unterstützungsplan für die französische Automobilindustrie der Fall, der von Nicolas Sarkozy beschlossen wurde und der von seinen europäischen „Freunden" scharf kritisiert wurde. Schließlich gibt es eine wachsende Tendenz, ohne gemeinsame Absprachen Ankurbelungsprogramme zu verabschieden, insbesondere um den Finanzsektor zu retten. Dabei versuchen viele Konkurrenten, die missliche Lage der USA, dem Epizentrum des Finanzbebens und Schauplatz einer schlimmen Rezession, auszunutzen, um die wirtschaftliche Führungsrolle der USA weiter zu untergraben. Dies ist jedenfalls das Anliegen hinter den Aufrufen Frankreichs, Deutschlands, Chinas, der südamerikanischen Staaten zum „Multilateralismus" ...
Der Gipfel von London war von Spannungen überschattet, die Debatten müssen in der Tat sehr erregt gewesen sein. Aber man hat den Schein bewahren können. Die Herrschenden konnten das katastrophale Bild eines chaotischen Gipfels vermeiden. Die herrschende Klasse hat nicht vergessen, in welchem Maße mangelnde internationale Abstimmung und die Tendenz des „Jeder für sich" zum Desaster von 1929 beigetragen haben. Damals wurde der Kapitalismus von der ersten großen Wirtschaftskrise im Zeitalter seines Niedergangs erfasst[4]; die herrschende Klasse wusste noch nicht, wie sie reagieren sollte. Und so reagierten die Staaten zunächst überhaupt nicht. Von 1929 bis 1933 wurde fast keine Maßnahme ergriffen, während Tausende von Banken der Reihe nach Bankrott gingen. Der Welthandel brach buchstäblich zusammen. 1933 zeichneten sich erste Reaktionen ab - der New Deal Roosevelts[5] wurde beschlossen. Dieser Ankurbelungsplan umfasste eine Politik der großen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der staatlichen Verschuldung, aber auch ein protektionistisches Gesetz, den „Buy American Act"[6]. Damals stürzten sich alle Länder in ein protektionistisches Wettrennen. Der Welthandel, der bereits sehr stark geschrumpft war, erlitt einen weiteren Schock. So hat die herrschende Klasse in den 1930er Jahren durch ihre eigenen Maßnahmen die Weltwirtschaftskrise noch verschärft.
Heute also wollen alle Teile der herrschenden Klasse eine Wiederholung dieses Teufelskreises von Krise und Protektionismus verhindern. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie alles unternehmen müssen, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Es war unbedingt erforderlich, dass dieser Gipfel der G20 die Einheit der Großmächte gegenüber der Krise zur Schau stellt, insbesondere um das internationale Finanzsystem zu stützen. Der IWF hat dazu gar einen besonderen Punkt in seinem „Arbeitsdokument" zur Vorbereitung des Gipfels formuliert, um gegen diese Gefahr des „Jeder für sich" zu warnen.[7] Es handelt sich um den Punkt 13: „Das Gespenst des Handels- und Finanzprotektionismus stellt eine wachsende Sorge dar": „Ungeachtet der von den G20-Ländern (im November 2008) eingegangenen Verpflichtungen, nicht auf protektionistische Maßnahmen zurückzugreifen, ist es zu besorgniserregenden Entgleisungen gekommen. Es ist schwer, zwischen dem öffentlichen Eingreifen, das darauf abzielt, die Auswirkungen der Finanzkrise auf die in Schwierigkeiten geratenen Bereiche einzudämmen, und den nicht angebrachten Subventionen für die Industrien zu unterscheiden, deren langfristige Überlebensfähigkeit infrage gestellt werden muss. Bestimmte Unterstützungsmaßnahmen für den Finanzbereich verleiten auch die Banken dazu, Kredite in ihre Länder zu lenken. Gleichzeitig gibt es wachsende Risiken, dass bestimmte Schwellenländer, die mit einem von Außen kommenden Druck auf ihre Konten konfrontiert sind, danach streben, Kapitalkontrollen aufzuerlegen." Und der IWF war nicht der einzige, der solche Warnungen äußerte: „Ich befürchte, dass eine allgemeine Rückkehr des Protektionismus wahrscheinlich ist. Denn die defizitären Länder wie die USA glauben damit ein Mittel gefunden zu haben, die Binnennachfrage und die Beschäftigung anzukurbeln. [...] Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment. Wir müssen eine Wahl treffen zwischen einer Öffnung nach Außen oder einem Rückzug auf Lösungen ‚innerhalb‘ eines Landes. Wir haben diesen zweiten Lösungsansatz in den 1930er Jahren versucht. Dieses Mal müssen wir den ersten versuchen." (Martin Wolf, vor der Kommission auswärtiger Angelegenheit des US-Senats, am 25. 6.2009)[8].
Der Gipfel hat die Botschaft vernommen: Die Führer der Welt konnten das Bild einer scheinbaren Einheit bewahren und dieses in ihrer Abschlusserklärung schriftlich festhalten: „Wir werden die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen". Die Welt atmete auf. Wie die französische Wirtschaftszeitung „Les Echos" am 3. April schrieb: „Die erste Schlussfolgerung, die man nach dem gestrigen G20 von London ziehen kann, ist, dass er nicht gescheitert ist, und das ist schon viel wert. Nach den Spannungen der letzten Wochen haben die 20 größten Länder ihre Einheit gegenüber der Krise gezeigt."
Konkret haben sich die Länder verpflichtet, keine Handelsschranken zu errichten, auch nicht gegen Finanzströme. Die Welthandelsorganisation wurde beauftragt, sorgfältig darauf zu achten, dass diese Verpflichtungen eingehalten werden. Darüber hinaus wurden 250 Milliarden Dollar für die Unterstützung des Exports oder von Investitionen zugesagt, um den internationalen Handel wieder anzukurbeln. Aber vor allem haben die gestiegenen Spannungen die Atmosphäre auf diesem Gipfel nicht vergiften können, der sonst in einen offenen Faustkampf ausgeartet wäre. Der Schein bleibt also gewahrt. Dies ist der Erfolg des Gipfels der G20. Und dieser Erfolg ist sicherlich zeitlich beschränkt, denn der Stachel der Krise wird die internationalen Divergenzen und Spannungen weiter verschärfen.
Seit dem Sommer 2008 und der berühmten „Subprime"-Krise verabschiedeten die Regierungen wie entfesselt ein Konjunkturprogramm nach dem anderen. Nach der ersten Ankündigung von massiven Kapitalspritzen im Milliardenumfang kam vorübergehend Optimismus auf. Doch da sich die Krise unbeirrt weiter zuspitzte, wuchs mit jedem neuen Programm auch die Skepsis. Paul Jorion, ein auf den Wirtschaftsbereich spezialisierter Soziologe (er war zudem einer der ersten, die die gegenwärtige Krise ankündigten) macht sich lustig über dieses wiederholte Scheitern: „Wir sind unbemerkt von den kleinen Anschüben des Jahres 2007 im Umfang von einigen Milliarden Euro oder Dollar zu den großen Paketen von Anfang 2008 übergegangen, dann kamen schließlich die gewaltigen Pakete von Ende 2008, die mittlerweile Hunderte von Milliarden Euro oder Dollar umfassen. 2009 ist das Jahr der ‚kolossalen‘ Anschübe, die diesmal Summen von ‚Trillionen‘ Euro oder Dollar beinhalten. Und trotz pharaonischer Ambitionen gibt es noch immer nicht das geringste Licht am Ende des Tunnels"[9].
Und was schlägt der Gipfel vor? Man überbietet sich mit einer Reihe von Maßnahmen, von denen die eine noch unwirksamer ist als die andere! Bis Ende 2010 sollen 5.000 Milliarden Dollar in die Weltwirtschaft gepumpt werden[10]. Die Bourgeoisie verfügt über keine andere „Lösung"; sie offenbart damit ihre eigene Machtlosigkeit[11]. Die internationale Presse hat sich in dieser Hinsicht nicht geirrt. „Die Krise ist noch lange nicht vorüber, man muss naiv sein zu glauben, dass die Beschlüsse des G20 alles ändern werden" (La Libre Belgique), „Sie sind zu einem Zeitpunkt gescheitert, als die Weltwirtschaft dabei war zu implodieren" (New York Times).
Die Vorhersagen der OECD, die normalweise ziemlich optimistisch sind, lassen für 2009 keinen Zweifel daran aufkommen, was auf die Menschheit in den nächsten Monaten zukommen wird. Ihnen zufolge wird die Rezession in den USA zu einer Schrumpfung des Bruttoinlandprodukts von vier Prozent, in der Euro-Zone von 4.1 Prozent und in Japan von 6.6 Prozent führen. Die Weltbank prognostizierte am 30. März für das Jahr 2009 „einen Rückgang des Welt-BIP von 1.7 Prozent, was den stärksten, je registrierten Rückgang der globalen Produktion bedeutet". Die Lage wird sich also in den nächsten Monaten noch weiter zuspitzen, wobei die Krise bereits heute verheerendere Ausmaße als 1929 angenommen hat. Die Ökonomen Barry Eichengreen und Kevin O'Rourke haben errechnet, dass der Rückgang der Weltindustrieproduktion allein in den letzten neun Monaten schon so stark war wie 1929, die Aktienwerte zweimal so schnell verfielen und auch der Welthandel schneller schrumpft[12].
All diese Zahlen entsprechen einer sehr konkreten und dramatischen Wirklichkeit für Millionen von ArbeiterInnen auf der Welt. In den USA, der größten Wirtschaftsmacht der Erde, wurden allein im März 2009 663.000 Arbeitsplätze vernichtet, womit sich die Zahl der vernichteten Arbeitsplätze innerhalb der letzten beiden Jahre auf 5.1 Millionen erhöht hat. Heute werden alle Länder von der Krise brutal erfasst. So erwartet Spanien 2009 einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 17 Prozent.
Aber diese Politik ist heute nicht nur einfach unwirksam; sie bereitet auch noch gewaltigere Krisen in der Zukunft vor. Denn all diese Milliardenbeträge können nur dank massiver Verschuldung zur Verfügung gestellt werden. Doch eines Tages (und dieser Tag liegt nicht in der fernen Zukunft) müssen diese Schulden zurückgezahlt werden. Selbst die Bourgeois sagen: „Es liegt auf der Hand, die Folgen dieser Krise sind mit hohen Kosten verbunden. Die Menschen werden Reichtümer, Erbgüter, Einkommen, Ersparnisse, Arbeitsplätze verlieren. Es wäre demagogisch zu denken, dass irgendjemand davon verschont werden wird, alles oder einen Teil dieser Rechnung zu bezahlen" (Henri Guaino, Sonderberater des französischen Staatspräsidenten, 3.04.2009).[13] Durch die Anhäufung dieses Schuldenbergs ist letzten Endes die wirtschaftliche Zukunft des Kapitalismus mit einer gewaltigen Hypothek belastet.
Und was soll man zu all den Journalisten sagen, die sich darüber freuen, dass der IWF eine viel größere Bedeutung erlangt hat? Seine Finanzmittel sind in der Tat vom Gipfel verdreifacht worden; er verfügt nun über 750 Milliarden Dollar Mittel, hinzu kommen 250 Milliarden Dollar Sonderziehungsrechte.[14] IWF-Präsident Dominique Strauss-Kahn erklärte, dass es sich um den größten „jemals in der Geschichte beschlossenen koordinierten Ankurbelungsplan" handelt. Er wurde beauftragt, „den Schwächsten zu helfen", insbesondere den am Rande der Pleite stehenden osteuropäischen Staaten. Aber der IWF ist eine seltsame letzte Rettung. Denn diese Organisation ist zu Recht verrufen wegen der drakonischen Sparmaßnahmen, die sie in der Vergangenheit stets dann erzwungen hat, wenn ihre „Hilfe" gefordert wurde. Umstrukturierungen, Entlassungen, Arbeitslosigkeit, Abschaffung bzw. Kürzung von medizinischen Leistungen, Renten usw.- all das sind die Folgen der „Hilfe" des IWF. Diese Organisation hat - um nur ein Beispiel zu nennen - am vehementesten jene Maßnahmen vertreten, die Argentinien in den 1990er Jahren auferlegt wurden, bis dessen Wirtschaft 2001 kollabierte!
Der Gipfel der G20 hat also nicht nur den kapitalistischen Horizont nicht aufgehellt, sondern im Gegenteil bewirkt, dass noch dunklere Wolken aufziehen werden.
In Anbetracht der sattsam bekannten Unfähigkeit der G20, wirkliche Lösungen für die Zukunft anzubieten, fiel es den Bourgeois schwer, eine schnelle Rückkehr zum Wachstum und zu einer strahlenden Zukunft zu versprechen. Unter den Arbeitern breitet sich eine tiefe Verachtung gegen den Kapitalismus aus; immer mehr machen sich Gedanken über die Zukunft. Die herrschende Klasse ihrerseits ist eifrig darum bemüht, auf ihre Art auf diese Infragestellungen einzugehen. So hat denn auch dieser Gipfel mit großem Tamtam einen neuen Kapitalismus versprochen, der besser reguliert, moralischer, ökologischer sein werde...
Aber dieses Manöver ist so auffällig wie lächerlich. Um zu beweisen, wie ernst sie es mit einem „moralischeren" Kapitalismus meinen, haben die G20-Staaten ihren Zeigefinger gegen einige „Steuerparadiese" erhoben und mit eventuellen Sanktionen gedroht, über die man bis zum Ende des Jahres nachdenken werde (sic!), falls diese Länder keine Anstrengungen um größere „Transparenz" unternehmen. Insbesondere wurde auf vier Länder verwiesen, die nunmehr die berühmte „schwarze Liste" anführten: Costa Rica, Malaysia, die Philippinen, Uruguay. Auch anderen Ländern wurden Vorhaltungen gemacht; sie wurden auf eine „graue Liste" gesetzt. Unter anderem gehören Österreich, Belgien, Chile, Luxemburg, Singapur und die Schweiz dazu.
Die großen „Steuerparadiese" dagegen kommen allem Anschein nach ihren Pflichten nach. Die Kaiman-Inseln und ihre Hedgefonds, die von der britischen Krone abhängigen Territorien (Guernsey, Jersey, Ilse of Man), die Londoner City, die US-Bundesstaaten wie Delaware, Nevada oder Wyoming - all diese Gebiete sind offiziell weiß wie Schnee und gehören der weißen Liste an. Diese Klassifizierung der Steuerparadiese durch den Gipfel der G20 bedeutet, den Bock zum Gärtner zu machen.
Als Gipfel der Heuchelei kündigte nur wenige Tage nach dem Gipfel in London die OECD, die für diese Einstufungen verantwortlich ist, die Streichung der vier oben genannten Länder von der schwarzen Liste an, nachdem diese Anstrengungen zu mehr Transparenz angekündigt hatten!
All dies kann nicht überraschen. Wie könnte man von all diesen Verantwortlichen des Kapitalismus, die in Wirklichkeit Gangster ohne Gesetz und Glauben sind, eine „moralischere Haltung" erwarten?[15] Und wie kann ein System, das auf Ausbeutung und Profitstreben beruht, „moralischer" werden? Niemand erwartete übrigens von diesem Gipfel einen „menschlicheren Kapitalismus". Dieser existiert nicht, auch wenn die politischen Führer davon reden, wie Eltern ihren Kindern vom Weihnachtsmann erzählen. Diese Krisenzeiten enthüllen im Gegenteil noch deutlicher die unmenschliche Fratze dieses Systems. Vor fast 130 Jahren schrieb Paul Lafargue: „Die kapitalistische Moral [...] belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem feierlichen Bannfluch: Ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten (das heißt des wirklich Produzierenden) auf das geringste Minimum zu reduzieren, seine Genüsse und Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man ohne Rast und ohne Dank Arbeit nach Belieben herausschindet" (Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit, Vorwort). Wir könnten hinzufügen: Die einzig mögliche „Ruhe" ist die Arbeitslosigkeit und das Elend. Wenn die Krise zuschlägt, werden Beschäftigte entlassen und fliegen auf die Straße wie Ausschuss. Der Kapitalismus ist und bleibt stets ein brutales und barbarisches Ausbeutungssystem.
Aber das Manöver ist so offensichtlich wie entlarvend. Es zeigt, dass der Kapitalismus der Menschheit keinen Ausweg mehr anzubieten hat, außer noch mehr Verarmung und Leid. Die Aussichten auf einen „ökologischen" oder „moralischen" Kapitalismus sind genauso groß wie die Aussichten eines Alchimsten, Blei in Gold zu verwandeln.
Der Londoner Gipfel belegt jedenfalls eins: Eine andere kapitalistische Welt ist nicht möglich. Es ist wahrscheinlich, dass der Krisenverlauf Höhen und Tiefen durchschreiten wird, wobei es zeitweise auch zu einem Wachstum kommen kann. Aber im Wesentlichen wird der Kapitalismus weiter in der Krise versinken, noch mehr Armut und Kriege hervorrufen.
Von diesem System kann man nichts erwarten. Mit ihren internationalen Gipfeln und Konjunkturprogrammen stellt die herrschende Klasse keinen Teil der Lösung dar, sondern sie selbst ist das Problem. Nur die Arbeiterklasse kann die Welt umwälzen, dazu muss sie aber Vertrauen in die Gesellschaft entwickeln, die sie aufbauen muss: den Kommunismus!
Mehdi, 16.04.09
[1] Déclaration de Pascal Lamy, Erklärung des Generaldirektors der Welthandelsorganisation.
[2] Rapport intermédiaire - Zwischenbericht der OECD
[3] Der
G20 besteht aus den Mitgliedsländern des G8 (Deutschland, Frankreich, USA,
Japan, Kanada, Italien, Großbritannien, Russland), zu dem jetzt Südafrika,
Saudi-Arabien, Argentinien, Australien, Brasilien, China, Südkorea, Indien,
Indonesien, Mexiko, Türkei und schließlich die Europäische Union dazu gekommen
sind. Ein erster Gipfel hatte im November 2008 inmitten der
Finanzerschütterungen stattgefunden.
[4] Siehe unsere Artikelserie „Die Dekadenz des Kapitalismus begreifen"
[5] Weit verbreitet ist heute der Mythos, dass der New Deal von 1933 es der Weltwirtschaft ermöglicht habe, aus dem wirtschaftlichen Schlamassel herauszukommen. Daher die logische Schlussfolgerung, heute zu einem neuen „New Deal" aufzurufen. Aber in Wirklichkeit blieb die US-Wirtschaft zwischen 1933-38 besonders kraftlos. Erst der zweite New Deal, der 1938 beschlossen wurde, ermöglichte die Ankurbelung der Wirtschaft. Doch dieser zweite New Deal war nichts anderes als der Beginn der Kriegswirtschaft (die den 2. Weltkrieg vorbereitete). Es ist verständlich, dass diese Tatsache weitestgehend verschwiegen wird!
[6] Mit diesem Gesetz verpflichteten die US-Behörden zum Kauf von auf US-Märkten hergestellten Produktionsgütern.
[7] Quelle:
https://contreinfo.info/prnart.php3?id_article=2612 [5]
[8] Martin Wolf ist ein britischer Wirtschaftsjournalist. Er war assoziierter freischaffender Redakteur und Chef-Kommentator im Bereich Wirtschaftsfragen bei der Financial Times.
[9] „L'ère des ‘Kolossal' coups de pouce" (Die Ära der „kolossalen" Anschübe), veröffentlicht am 7 April 2009.
[10] Tatsächlich handelt es sich um 4.000 Milliarden Dollar, die von den USA als Rettungsmaßnahmen während der letzten Monate angekündigt wurden.
[11] In Japan wurde jüngst ein neues Konjunkturprogramm im Umfang von 15.400 Milliarden Yen (116 Milliarden Euro) beschlossen. Dies ist das vierte Programm, das innerhalb eines Jahres von Tokio beschlossen wurde!
[12] Quelle: www.voxeu.org [6]
[13] Zur Rolle der Verschuldung im Kapitalismus und zu seinen Krisen siehe den Artikel in dieser Ausgabe der Internationalen Revue Nr. 43, „Die schlimmste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus".
[14] Die Sonderziehungsrechte sind ein Währungskorb, der aus Dollar, Euro, Yen und britischen Pfund-Sterling besteht.
Insbesondere China hat auf diesen Sonderziehungsrechten bestanden. In den letzten Wochen hat das Reich der Mitte mehrere offizielle Erklärungen abgegeben und zur Schaffung einer internationalen Währung aufgerufen, die den Dollar ablösen soll. Zahlreiche Ökonomen auf der Welt haben diese Forderung aufgegriffen und vor dem unaufhaltsamen Verfall der US-Währung und den wirtschaftlichen Erschütterungen gewarnt, die daraus resultieren würden.
Es stimmt, dass die Schwächung des Dollars mit jedem weiteren Versinken der US-Wirtschaft in der Rezession eine echte Bedrohung für die Weltwirtschaft darstellt. Kurz vor Ende des II. Weltkrieges als internationale Leitwährung eingeführt, fungierte der Dollar seither als ein Stützpfeiler für die kapitalistische Stabilität. Dagegen ist die Einführung einer neuen Leitwährung (ob Euro, Yen, Britisches Pfund oder die Sonderziehungsrechte des IWF) vollkommen illusorisch. Keine Macht wird die USA ersetzen können, keine wird deren Rolle als internationaler ökonomischer Stabilitätsanker übernehmen können. Die Schwächung der US-Wirtschaft und ihrer Währung bedeutet somit wachsendes monetäres Chaos.
[15] Lenin bezeichnete den Völkerbund, eine andere internationale Institution, als „Räuberbande".
„In den Ländern der Dritten Welt dehnen sich die Hungersnöte aus, und sie werden auch bald aus den Ländern zu vermelden sein, die angeblich „sozialistisch" waren. Gleichzeitig vernichtet man in Westeuropa und in Nordamerika die landwirtschaftlichen Güter massenweise, und bezahlt den Bauern Gelder, damit weniger angebaut und geerntet wird. Sie werden bestraft, wenn sie mehr als die auferlegten Quoten produzieren. In Lateinamerika töten Epidemien wie die Cholera Tausende von Menschen, obgleich diese Geißel schon seit langem gebannt schien. Auch weiterhin fallen Zehntausende von Menschen binnen kürzester Zeit Überschwemmungen und Erdbeben zum Opfer, obgleich die Gesellschaft in der Lage wäre, Deiche und erdbebensichere Häuser zu bauen. Ganz zu schweigen von den Tücken oder „Fatalitäten" der Natur, wenn - wie in Tschernobyl 1986 - die Explosion eines AKW Hunderte (wenn nicht Tausende) Menschen tötet und noch viele mehr in anderen Regionen radioaktiv verstrahlt. Es ist bezeichnend, dass sich in den höchstentwickel-ten Ländern tödliche Unfälle häufen: 60 Tote in einem Pariser Bahnhof, 100 Tote bei einem Brand in der Londoner U-Bahn. Dieses System hat sich als unfähig erwiesen, der Zerstörung der Natur Einhalt zu gebieten, den sauren Regen, die Verschmutzungen jeder Art und insbeson-dere durch die Atomkraftwerke, den Treibhauseffekt, die zunehmende Verwüstung zu bekämpfen; d.h. alle Faktoren, die das Über-leben der Menschheit selbst bedrohen" (1991, Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit" Manifest des 9. Kongresses der IKS 1991).
Die Frage der Umwelt ist schon immer von der Propaganda der Revolutionäre aufgegriffen worden, von Marx und Engels, die die unerträglichen Lebensbedingungen im London des 19. Jahrhunderts bloßlegten, bis hin zu Bordiga und seinen Schriften über die Umweltzerstörungen infolge des unverantwortlichen Handelns des Kapitalismus. Heute ist diese Frage noch zentraler, und sie verlangt verstärkte Anstrengungen seitens der revolutionären Organisationen, um aufzuzeigen, dass die historische Alternative, vor der die Menschheit steht, die Perspektive des Sozialismus gegenüber einer Barbarei ist, die sich nicht nur in den lokalen und allgemeinen Kriegen ausdrückt, sondern auch die Gefahr einer ökologischen und Umweltkatastrophe heraufbeschwört, die sich immer deutlicher abzeichnet.
Mit dieser Artikelserie, möchte die IKS die Umweltfrage aufgreifen. Dabei werden wir auf die folgenden Aspekte eingehen:
Im ersten Artikel versuchen wir eine kurze Bestandsaufnahme der heutigen Lage zu machen und aufzuzeigen, vor welchem globalen Risiko die Menschheit heute steht, indem wir insbesondere auf die destruktivsten der weltweit anzutreffenden Phänomene eingehen wie:
- die Zunahme des Treibhauseffektes;
- die Müllentsorgung;
- die grenzenlose Ausbreitung von Giftstoffen und die damit verbundenen biologischen Prozesse;
- die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und/oder ihre Umwandlung durch Giftstoffe.
Im zweiten Artikel werden wir versuchen aufzuzeigen, dass die Umweltprobleme nicht auf die Verantwortlichkeit Einzelner zurückgeführt werden können (wenngleich es auch individuelle Verantwortung gibt), weil es der Kapitalismus an sich und seine Logik des Profitstrebens sind, die tatsächlich dafür verantwortlich zeichnen. So werden wir sehen, dass die Entwicklung der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Forschung keinem Zufall unterworfen ist, sondern den kapitalistischen Zwangsgesetzen des Höchstprofits unterliegt.
Im dritten Artikel werden wir auf die Lösungsansätze der verschiedenen Bewegungen der Grünen, Ökologen usw. eingehen, um aufzuzeigen, dass trotz ihren guten Absichten und dem guten Willen vieler ihrer Aktivisten diese Lösungsansätze nicht nur völlig wirkungslos sind, sondern die Illusionen über eine mögliche Lösung dieser Fragen innerhalb des Kapitalismus direkt verstärken, wo in Wirklichkeit die einzige Lösung in der internationalen kommunistischen Revolution besteht.
Man spricht immer häufiger über die Umweltprobleme, allein schon weil in der jüngsten Zeit in verschiedenen Ländern der Welt Parteien entstanden sind, die sich den Umweltschutz auf die Fahnen geschrieben haben. Ist das beruhigend? Überhaupt nicht! Wenn jetzt großes Aufheben um diese Frage gemacht wird, geht es nur darum, unsere Köpfe zu verwirren. Deshalb haben wir beschlossen, zunächst jene besonderen Phänomene zu beschreiben, die alle zusammengenommen die Gesellschaft immer mehr an den Rand einer Umweltkatastrophe drängen. Wie wir zeigen werden, ist die Lage im Gegensatz zu all den Beteuerungen in den Medien und insbesondere in den auf Hochglanzpapier gedruckten Fachzeitschriften noch viel schwerwiegender und bedrohlicher, als man sagt. Nicht dieser oder jener profitgierige und unverantwortliche Einzelkapitalist, nicht die Mafia oder Camorra ist für die Lage verantwortlich, sondern das kapitalistische System insgesamt.
Jedermann spricht von den Auswirkungen des Treibhauseffektes, aber meist beruht dies nicht auf einer wirklichen Sachkenntnis. Es ist wichtig hervorzuheben, dass der Treibhauseffekt für das Leben auf der Erde eine durchaus positive Funktion erfüllt - zumindest für die Art Leben, die wir kennen, weil er es ermöglicht, dass auf der Erdoberfläche eine Durchschnittstemperatur von ungefähr 15°C herrscht (dieser Durchschnitt berücksichtigt die vier Jahreszeiten und die verschiedenen Breitengrade) statt minus 17°C, d.h. der geschätzten Temperatur, wenn es den Treibhauseffekt nicht gäbe. Man stelle sich vor, wie die Welt aussehen würde, wenn die Temperaturen ständig unter Null lägen, Seen und Flüsse vereist wären... Worauf ist dieser „Überschuss" von mehr als 32°C zurückzuführen? Auf den Treibhauseffekt. Das Sonnenlicht dringt durch die niedrigsten Schichten der Atmosphäre, ohne absorbiert zu werden (die Sonne erwärmt nicht die Luft), und liefert der Erde die Energie. Die dabei entstehende Strahlung setzt sich (wie die von jedem Himmelskörper) hauptsächlich aus Infrarotstrahlen zusammen; sie wird durch einige Bestandteile der Luft, wie Kohlenstoffanhydrid, Wasserdampf, Methan und andere zusammengesetzte Teile wie Fluorchlorkohlenwasserstoff (Abkürzung FCKW), aufgefangen und absorbiert. Die in den unteren Schichten der Atmosphäre dabei entstehende Wärme kommt wiederum der thermischen Bilanz der Erde zugute, weil sie bewirkt, dass die Durchschnittstemperaturen auf der Erde um eben jene besagten 32°C höher ausfallen. Das Problem ist also nicht der Treibhauseffekt als solcher, sondern die Tatsache, dass mit der Entwicklung der Industriegesellschaft Substanzen in die Atmosphäre gelassen wurden, die einen zusätzlichen Treibhauseffekt bewirken und die bei zunehmender Konzentration eine deutliche Erderwärmung verursachen. Bei Untersuchungen von Bohrkernen aus 65.000 Jahre altem Polareis wurde nachgewiesen, dass die gegenwärtige Konzentration von Kohlendioxid (CO2) von 380 ppm (Milligramm pro Kubikdezimeter) in der Luft die höchste je gemessene und vielleicht sogar die höchste seit den letzten 20 Millionen Jahren ist. Die im 20. Jahrhundert ermittelten Temperaturen sind die höchsten seit den vergangenen 20.000 Jahren. Die wahnwitzige Verschwendung fossiler Brennstoffe als Energiequelle und die wachsende Abholzung der Wälder auf der Erde haben seit dem Industriezeitalter das natürliche Gleichgewicht und den Kohlenstoffhaushalt der Erdatmosphäre durcheinander gebracht. Dieses Gleichgewicht ist das Ergebnis der Freisetzung von CO2 in der Atmosphäre einerseits durch die Verbrennung und den Abbau organischer Stoffen, andererseits durch die Fixierung dieses CO2 in der Atmosphäre durch die Photosynthese. Bei diesem Prozess wird das CO2 in Kohlenhydrat und damit in einen komplexen organischen Stoff umgewandelt. Die Veränderung dieses Gleichgewichts zwischen Freisetzung (Verbrennung) und Fixierung (Photosynthese) von CO2 zugunsten der Freisetzung ist der Grund für die gegenwärtige Zuspitzung des Treibhauseffektes.
Wie oben angeführt, spielt nicht nur das Kohlendioxid, sondern auch Wasserdampf und Methan eine Rolle. Der Wasserdampf ist sowohl treibender Faktor als auch Ergebnis des Treibhauseffektes, denn je stärker die Temperatur steigt, desto mehr Wasserdampf entsteht. Die Zunahme von Methan in der Atmosphäre ist wiederum auf eine ganze Reihe von natürlichen Ursachen zurückzuführen, aber sie ist auch Ergebnis der zunehmenden Verwendung dieses Gases als Brennstoff und von Lecks in auf der ganzen Welt verlegten Gaspipelines. Methan, das auch „Moorgas" genannt wird, ist ein Gas, das aus der Gärung organischer Stoffe unter Ausschluss von Sauerstoff entsteht. Die Flutung von bewaldeten Tälern für den Bau von Dämmen für hydroelektrische Kraftwerke ist eine Ursache für die Zunahme der Methankonzentration. Aber das Problem des Methans, das gegenwärtig für ein Drittel der Zunahme des Treibhauseffektes verantwortlich ist, ist sehr viel größer, als es anhand der eben erwähnten Fakten erscheint. Zunächst kann das Methan 23-mal mehr Infrarotstrahlung aufnehmen als Kohlendioxid. Und das ist beträchtlich. Schlimmer noch! All die gegenwärtigen, ohnehin schon katastrophalen Prognosen berücksichtigen nicht das mögliche Szenario infolge der Freisetzung von Methan aus den gewaltigen natürlichen Methanreserven der Erde. Diese befinden sich in abgeschlossenen Gashüllen, bei ungefähr 0° C und einem geringen Atmosphärendruck in besonderen Eisformationen (hydratisierten Gasen). Ein Liter Eiskristall kann ca. 50 Liter Methangas binden. Solche Vorkommen findet man vor allem im Meer, entlang des Kontinentalabhangs und im Innern der Permafrostzone in verschiedenen Teilen Sibiriens, Alaskas und Nordeuropas. Experten in diesem Bereich meinen dazu Folgendes: „Wenn die globale Erwärmung gewisse Grenzen überschreitet (3 - 4°C) und wenn die Temperatur der Küstengewässer und des Permafrostgebietes ansteigen würde, könnte binnen kurzer Zeit (innerhalb von einigen Jahrzehnten) eine gewaltige Emission von freigesetztem Methan durch instabil gewordene Hydrate stattfinden, was zu einer katastrophalen Zunahme des Treibhauseffektes führen würde (...) Im letzten Jahr sind die Methanemissionen auf schwedischem Boden im Norden des Polarkreises um 60 Prozent gestiegen. Der Anstieg der Temperaturen während der letzten 15 Jahre ist im Durchschnitt relativ begrenzt geblieben, aber in dem nördlichen Teil Eurasiens und Amerikas war er sehr ausgeprägt (im Sommer ist die sagenumwobene Nord-Westpassage eisfrei, was eine Durchfahrt vom Atlantik zum Pazifik mit dem Schiff ermöglicht)" [1].
Aber selbst wenn wir diese besonders ernste Warnung einmal übergehen - international anerkannte Prognosen wie die des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der UNO und des MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston haben bereits für dieses Jahrhundert eine durchschnittliche Temperaturerhöhung von mindestens 0,5°C bis zu 4,5°C prognostiziert, ausgehend von der Annahme, dass sich nichts Wesentliches ändern wird. Dabei berücksichtigen solche Prognosen nicht einmal die Umwälzungen, die sich aus dem Auftauchen der beiden neuen Industriemächte China und Indien ergeben, die gefräßige Energieverbraucher sind.
Eine zusätzliche Erwärmung von wenigen Grad würde eine größere Verdampfung des Wassers der Weltmeere verursachen, doch exaktere Untersuchungen deuten darauf hin, dass es immer größere Unterschiede bei der geographischen Verteilung der Niederschlagsmengen geben wird. „Trockene Gebiete werden immer größer und noch trockener. Meeresgebiete mit Oberflächentemperaturen über 27°C, ein kritischer Wert für das Entstehen von Zyklonen, werden um 30 bis 40 Prozent weiter wachsen. Dies würde katastrophale meteorologische Folgen haben - und zu Überschwemmungen und immer neuen Zerstörungen führen. Das Schmelzen eines Großteils der antarktischen Gletscher und der Gletscher Grönlands, der Anstieg der Meereswassertemperaturen lässt den Meeresspiegel ansteigen () damit dringt Salzwasser in immer mehr fruchtbare Küstengebiete vor und überflutet sie (teilweise Bangladesh, viele Inseln in den Ozeanen)" [2].
Aus Platzgründen können wir nicht in die Details gehen, doch wollen wir an dieser Stelle wenigstens auf die katastrophalen Folgen hinweisen, die der durch den Treibhauseffekt bedingte Klimawandel auslösen wird. Um nur einige Beispiele zu nennen:
- Die meteorologischen Extreme werden sich intensivieren; fruchtbare Böden werden von immer stärkeren Regenfällen ausgewaschen, was dazu führt, dass die Erträge der Böden sinken. Auch in den gemäßigteren Klimazonen, wie zum Beispiel in Piemont (Italien), schreitet die Versteppung der Böden voran.
- Im Mittelmeer und in anderen einst mäßig warmen Meeren entstehen Bedingungen, die das Überleben von Lebewesen ermöglichen, die bislang nur in tropischen Gewässern existierten. Damit wird es zur „Einwanderung" von bislang nicht einheimischen Lebewesen kommen, was zu Störungen im ökologischen Gleichgewicht führt.
- Aufgrund der Ausbreitung von Klimabedingungen, die das Wachstum und die Verbreitung von Krankheitsträgern wie Mücken usw. begünstigen, kommt es zu einem Wiederaufleben alter, längst ausge-rotteter Krankheiten wie Malaria.
Ein zweites Problem, das typisch ist für diese Phase der kapitalistischen Gesellschaft, ist die exzessive Produktion von Abfällen und die daraus resultierende Schwierigkeit ihrer Entsorgung. Wenn in der letzten Zeit Meldungen über Müllberge in den Straßen Neapels und in Kampanien in den internationalen Medien auftauchten, ist das auch darauf zurückzuführen, dass dieser Teil der Welt noch immer als ein Teil der Industrieländer und damit als ein Teil der fortgeschrittenen Länder betrachtet wird. Dass die Peripherien vieler Großstädte in der Dritten Welt zu offenen Müllhalden geworden sind, ist mittlerweile sattsam bekannt und keine Rede mehr wert.
Diese unglaubliche Anhäufung von Müll ist der Logik der Funktionsweise des Kapitalismus geschuldet. Die Menschheit hat immer Unrat produziert, doch wurde dieser in der Vergangenheit stets verwertet und neu verwendet. Erst nach dem Einzug des Kapitalismus wird der Müll aufgrund der besonderen Funktionsweise dieser Gesellschaft zu einem Problem. Deren Mechanismen stützen sich sämtlichst auf ein grundlegendes Prinzip: Jedes Produkt menschlicher Aktivität wird als Ware betrachtet, d.h. als etwas, das verkauft werden muss, um auf einem Markt, auf dem gnadenlose Konkurrenz herrscht, ein Höchstmaß an Profit zu erzielen. Dies musste eine Reihe von verheerenden Konsequenzen nach sich ziehen:
1. Warenproduktion kann aufgrund der Konkurrenz unter den Kapitalisten weder mengenmäßig noch zeitlich geplant werden. Sie unterliegt einer irrationalen Logik, die dazu führt, dass jeder einzelne Kapitalist seine Produktion ausdehnt, um mit möglichst niedrigen Kosten zu verkaufen und seinen Profit zu realisieren. Dadurch stapeln sich Berge von unverkauften Waren. Gerade diese Notwendigkeit, den Konkurrenten niederzuringen und die Preise zu senken, zwingt die Produzenten dazu, die Qualität der hergestellten Waren zu senken. Dadurch sinkt ihre Haltbarkeit drastisch. Folge: die Produkte verschleißen viel schneller und wandern früher in die Mülltonne.
2. Es gibt eine irrsinnige Produktion von Verpackungen und Aufmachung aller Art, oft unter Verwendung giftiger Substanzen, die, obwohl sie nicht abbaubar sind, einfach auf den Müll landen und letztendlich in den natürlichen Kreislauf gelangen. Diese Verpackungen, die oft keinen Nutzen haben, außer die Produkte „ansehnlicher", für den Verkauf attraktiver zu machen, sind häufig schwerer und platzraubender als der Inhalt der verkauften Ware selbst. Man geht davon aus, dass gegenwärtig ein Müllsack, bei dem keine Abfalltrennung vorgenommen wurde, bis zur Hälfte mit Verpackungsmaterial vollgestopft ist.
3. Das Abfallaufkommen wird zudem noch durch die neuen Formen des „Lifestyle" verschärft, die dem „modernen Leben" innewohnen. In einem Selbstbedienungsrestaurant auf Plastiktellern essen und Mineralwasser aus Plastikflaschen trinken ist mittlerweile zum Alltag für Abermillionen Menschen auf der ganzen Welt geworden. Auch die Verwendung von Plastiktüten zum Einkauf ist eine „praktische Annehmlichkeit", die von vielen genutzt wird. All das ist umweltgefährdend - und nützt nur dem Besitzer des Schnellrestaurants, der das Reinigungspersonal einsparen kann, welches nötig ist, wenn man andere Verpackungsarten verwendet. Auch dem Betreiber des Supermarktes und gar dem Ladenbesitzer um die Ecke kommt dies zupass; der Kunde kann jederzeit spontan einkaufen und erhält für seine Waren eine Tragetüte. All das bewirkt eine ungeheure Steigerung der Produktion von Abfall und Verpackungsmüll; pro Kopf fällt fast ein Kilo Abfall und Verpackungen täglich an, d.h. insgesamt Millionen Tonnen verschiedenster Abfälle Tag für Tag.
Man geht davon aus, dass sich allein in einem Land wie Italien die Abfallmenge während der letzten 25 Jahre bei gleich bleibender Bevölkerungszahl mehr als verdoppelt hat.
Die Müllfrage ist eine der Fragen, welche die Politiker meinen lösen zu können, aber in Wirklichkeit stößt sie im Kapitalismus auf unüberwindbare Hürden. Diese Hürden sind nicht mangelnder Technologie geschuldet, sondern sind im Gegenteil das Ergebnis der Mechanismen, die diese Gesellschaft beherrschen. Denn auch der Umgang mit Müll, sei es um ihn zu entsorgen oder seinen Umfang zu reduzieren, ist den Regeln der Profitwirtschaft unterworfen. Selbst wenn Recycling und die Wiederverwendung von Material durch Mülltrennung usw. möglich sind, erfordert dies Mittel und eine gewisse politische Koordinierungsfähigkeit, welche im Allgemeinen in den schwächeren Wirtschaften fehlt. Deshalb stellt die Abfallentsorgung in den ärmeren Ländern oder dort, wo die Firmen in Anbetracht der sich beschleunigenden Krise während der letzten Jahrzehnte vor größeren Schwierigkeiten stehen, mehr als einen zusätzlichen Kostenfaktor dar.
Man mag einwenden, dass, wenn in den fortgeschrittenen Ländern die Müllentsorgung funktioniert, dies mithin bedeutet, dass es sich nur um eine Frage des guten Willens, des richtigen Bürgersinns und der rechten Betriebsleitung handelt. Das Problem sei, dass, wie in allen Bereichen der Produktion, die stärksten Länder einen Teil der Last der Abfallentsorgung auf die schwächeren Länder (oder innerhalb der stärksten Länder auf die schwächeren Regionen) abwälzen.
„Zwei amerikanische Umweltgruppen, Basel Action Network und Silicon Valley Toxics, haben neulich einen Bericht veröffentlicht, in dem behauptet wird, dass 50 - 80 Prozent der Elektronikabfälle der westlichen US-Bundesstaaten in Containern auf Schiffe verladen werden, die Richtung Asien (vor allem Indien und China) fahren, wo die Kosten für ihre Beseitigung wesentlich niedriger sind und die Umweltschutzauflagen viel lockerer. Es handelt sich nicht um Hilfsprojekte, sondern um einen Handel mit giftigen Rückständen, die Verbraucher weggeworfen haben. Der Bericht der beiden Umweltgruppen erwähnt zum Beispiel die Müllhalde von Guiyu, auf der vor allem Bildschirme und Drucker gelagert werden. Die Arbeiter von Guiyu benutzen nur sehr primitive Werkzeuge, um daraus Teile auszubauen, die weiter verkauft werden können. Eine enorme Menge an Elektronikschrott wird nicht recycelt, sondern liegt einfach auf den Feldern, an Flussufern, in Teichen und Sümpfen, Flüssen und Bewässerungskanälen herum. Ohne irgendwelchen Schutz arbeiten dort Frauen, Männer und Kinder" [3].
„In Italien (...) schätzt man, dass die Öko-Mafia einen Umsatz von 26 Milliarden Euro pro Jahr macht, davon 15 Mrd. für den illegalen Handel und die illegale Entsorgung von Müll (Bericht über die Ecomafia 2007, Umweltliga). (...) Der Zoll hat im Jahre 2006 286 Container mit mehr als 9000 Tonnen Müll beschlagnahmt. Die legale Entsorgung eines 15-Tonnen-Containers mit gefährlichem Sondermüll kostet ungefähr 60.000 Euro. Bei einer illegalen Entsorgung in Asien werden dafür nur 5000 Euro verlangt. Die Hauptabnehmer für illegalen Müllhandel sind asiatische Entwicklungsländer. Das dorthin exportierte Material wird zunächst verarbeitet, dann wieder nach Italien und andere Länder eingeführt, dieses Mal aber als ein Produkt, das aus dem Müll gewonnen wurde und nun insbesondere Kunststoff verarbeitenden Fabriken zugeführt wird.
Im Juni 1992 hat die FAO (Food and Agricultural Organisation) angekündigt, dass die Entwicklungsländer, vor allem die afrikanischen Staaten, zu einer „Mülltonne" geworden sind, die dem Westen zur Verfügung steht. Somalia scheint heute einer der am meisten gefährdeten afrikanischen Staaten zu sein, ein wahrer Dreh- und Angelpunkt für den Mülltourismus. Im jüngsten Bericht der UNEP (United Nations Environment Programme) wird auf die ständig steigende Zahl von verschmutzten Grundwasservorkommen in Somalia hingewiesen, was unheilbare Erkrankungen verursacht. Der Hafen von Lagos, Nigeria, ist der wichtigste Umschlagplatz für den illegalen Handel von Technikschrott, der nach Afrika verschifft wird.
Jedes Jahr sammeln sich auf der Welt ca. 20 - 50 Millionen Tonnen „Elektroschrott" an. In Europa spricht man von elf Millionen Tonnen, davon landen 80 Prozent auf dem Müll. Man geht davon aus, dass es 2008 mindestens eine Milliarde Computer (einen für jeden sechsten Erdbewohner) geben wird; gegen 2015 wird es mehr als zwei Milliarden PCs geben. Diese Zahlen bergen neue große Gefahren in sich, wenn es darum gehen wird, den alten Elektroschrott zu entsorgen" [4].
Wie oben erwähnt, wird das Müllproblem aber auch auf die weniger entwickelten Regionen innerhalb eines Landes verlagert. Das trifft in Italien insbesondere auf Kampanien zu, das aufgrund seiner Müllberge, die monatelang auf den Straßen herumlagen, international von sich reden machte. Aber wenige wissen, dass Kampanien - so wie international China, Indien oder Nordafrika -, das „Auffangbecken" für reichlich Giftmüll aus den Industriegebieten des Nordens ist. Dadurch wurden fruchtbare landwirtschaftliche Böden wie die um Caserta zu den am meisten verschmutzten Böden der Erde. Trotz wiederholt eingeleiteter strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen geht die Vernichtung der Böden weiter. Es sind aber nicht die Camorra, die Mafia, die Unterwelt, die diese Schäden verursachen, die Logik des Kapitalismus ist dafür verantwortlich. Während für die vorschriftsmäßige Entsorgung von Giftmüll oft mehr als 60 Cent pro Kilo veranschlagt werden müssen, kostet die illegale Entsorgung nur etwas mehr als zehn Cent. So wird jedes Jahr jede verlassene Höhle zu einer offenen Müllkippe. In einem kleinen Dorf Kampaniens, wo eine Müllverbrennungsanlage gebaut werden soll, wurde giftiges Material zur Vertuschung des Giftbestandes mit Erde vermischt und dann beim Straßenbau verwendet. Dort hat man es als untere Schicht für eine lange Straße mit gestampftem Boden benutzt. Wie Saviano in seinem Buch, das mittlerweile in Italien zu einem Kultbuch geworden ist, schrieb: „Wenn die illegalen Müllberge, die die Camorra „entsorgt" hat, auf einem Haufen zusammengetragen werden würden, würde dieser eine Höhe von 14.600 Meter auf einer Fläche von drei Hektar erreichen, das wäre höher als jeder Berg auf der Erde" [5].
Wie wir im nächsten Artikel näher ausführen werden, ist das Problem des Abfalls vor allem mit der Produktionsform verbunden, die die kapitalistische Gesellschaft auszeichnet. Abgesehen von dem Teil, der „weggeworfen" wird, sind die Probleme oft auf die Zusammensetzung und das Material zurückzuführen, die bei der Produktion verwendet werden. Die Verwendung von synthetischen Stoffen, insbesondere von Kunststoffen, die praktisch unzerstörbar sind, birgt gewaltige Probleme für die zukünftigen Generationen. Und hier geht es nicht um reiche oder arme Länder, weil Kunststoff nirgendwo auf der Welt abbaubar ist, wie der Auszug aus folgendem Artikel belegt: „Man nennt sie „Trash Vortex", die Müllinsel im Pazifischen Ozean, die einen Durchmesser von ca. 25.000 km umfasst, ca. 30 Meter tief ist und zu ca. 80 Prozent aus Plastik besteht, die restlichen 20 Prozent sind anderer Müll, der dort gelandet ist. Es ist, als ob es inmitten des Pazifiks eine gigantische Insel gäbe, die nicht aus Felsen, sondern aus Müll besteht. In den letzten Wochen hat die Dichte dieses Materials solche Werte erreicht, dass das Gesamtgewicht dieser ‘Müllinsel' ca. 3,5 Millionen Tonnen umfasst, erklärte Chris Parry von der Kalifornischen Küstenwacht in San Francisco (...) Diese unglaubliche, wenig bekannte Abfallmenge, ist seit den 1950er Jahren entstanden, aufgrund eines subtropischen Wirbels im Nordpazifik. Es handelt sich um eine langsame Strömung im Ozean, die sich im Uhrzeigersinn und spiralenförmig dreht, angetrieben von Hochdruckströmungen. (...) Der größte Teil dieses Plastiks, ca. 80 Prozent, wurde von den Kontinenten angeschwemmt. Nur der Rest stammt von Schiffen (private, Handels- oder Fischfangbooten). Jedes Jahr werden auf der Welt ca. 100 Milliarden Kilo Kunststoffe produziert, davon landet ca. 10 Prozent im Meer. 70 Prozent dieser Kunststoffe versinkt auf den Meeresboden und schädigt somit die Lebewesen am Meeresgrund. Der Rest schwimmt an der Meeresoberfläche. Der Großteil dieser Kunststoffe ist wenig biologisch abbaubar und zerfällt letztendlich in winzige Partikel, die wiederum im Magen vieler Meerestiere landen und deren Tod verursachen. Was übrig bleibt, wird erst im Laufe von mehreren hundert Jahren verfallen; solange wird es aber weiterhin großen Schaden in den Meeren anrichten" [6].
Solch eine Müllmenge auf einer Fläche, die zweimal größer ist als die USA, soll wirklich erst jetzt entdeckt worden sein? Mitnichten! Sie wurde 1997 von einem Kapitän eines Schiffs, das im Dienste der Meeresforschung steht, erstmals gesichtet. Der Kapitän befand sich auf der Rückkehr von einem Segelwettbewerb. Heute ist bekannt, dass die UNO in einem Bericht von 2006 davon ausging, „dass eine Million Meeresvögel und mehr als 100.000 Fische und Meeressäugetiere jedes Jahr aufgrund des Plastikmülls sterben und dass jede Seemeile des Ozeans mindestens ungefähr 46.000 Stücke schwimmenden Plastiks enthält[7].
Aber was wurde während der letzten zehn Jahre von jenen unternommen, die am Hebel der Macht sitzen? Absolut gar nichts! Ähnliche Verhältnisse, auch wenn sie nicht so dramatisch sind, sind auch im Mittelmeer zu beobachten, in dessen Gewässer jedes Jahr 6,5 Millionen Tonnen. Abfall geschmissen werden, von denen 80 Prozent Kunststoffe sind. Auf dem Boden des Mittelmeeres findet man stellenweise bis zu 2.000 Kunststoffpartikel pro Quadratkilometer [8].
Und dabei gäbe es Lösungen. Kunststoff, der aus mindestens 85 Prozent Maisstärke besteht, ist vollständig biologisch abbaubar. Heute schon gibt es Tüten, Stifte und andere aus diesem Material bestehende Gegenstände. Aber im Kapitalismus schlägt die Industrie ungern einen Weg ein, der nicht höchste Profite verspricht. Und da Kunststoff auf der Grundlage von Maisstärke teurer ist, will niemand diese Kosten für die teurere Herstellung des biologisch abbaubaren Materials übernehmen, ohne vom Markt verdrängt zu werden [9]. Das Problem ist, dass die Kapitalisten die Gewohnheit haben, Wirtschaftsbilanzen zu erstellen, die systematisch all das ausschließen, was nicht zahlenmäßig erfasst werden kann, weil man es weder kaufen noch verkaufen kann, auch nicht, wenn es sich um die Gesundheit der Menschen und die Umwelt handelt. Jedes Mal, wenn ein Industrieller einen Stoff herstellen lässt, der am Ende seiner Lebensdauer zu Müll wird, werden die Kosten für die Entsorgung des Mülls praktisch nie einkalkuliert; vor allem wird nie berücksichtigt, welche Kosten und Schäden daraus entstehen, dass dieses Material irgendwo auf der Erde unabgebaut liegen bleibt.
Man muss hinsichtlich des Müllproblems noch hinzufügen: Der Unterhalt von Müllhalden oder auch von Verbrennungsanlagen stellt eine Verschwendung des ganzen Energiewertes und der nützlichen Bestandteile dieses Mülls dar. Es ist beispielsweise Fakt, dass die Herstellung bzw. Verarbeitung von Kupfer und Aluminium mit Hilfe von recyceltem Material Kostenersparnisse bis zu 90 Prozent ermöglichen könnte. In den peripheren Ländern sind die Müllhalden zu einer wahren Quelle von Subsistenzmitteln für Abertausende von Menschen geworden, die, vom Land gekommen, in der Stadt keine Arbeit finden. Müllsammler suchen auf den Müllhalden nach Wiederverwertbarem.
„Richtige „Müllstädte" sind entstanden. In Afrika handelt es sich um Korogocha in Nairobi. Pater Zanotelli hat die Verhältnisse dort mehrmals beschrieben; weniger bekannt ist Kigali in Ruanda, aber die in Sambia sind auch berühmt. Dort wird 90 Prozent des Mülls nicht eingesammelt. Er verfault auf der Straße, während die Müllhalde von Olososua in Nigeria jeden Tag von mehr als 1.000 LKW angefahren wird. In Asien hat Payatas in Quezon City in der Nähe von Manila traurige Berühmtheit erlangt. Diese Slums, wo mehr als 25.000 Menschen leben, sind am Abhang eines Müllbergs entstanden. Man nennt ihn den „stinkenden Berg", wo sich Kinder und Erwachsene um das Material streiten, das sie weiterverkaufen können. Dann gibt es noch Paradise Village, das kein Touristendorf ist, sondern ein Slum, der auf einem Sumpfgebiet entstanden ist, wo es immer wieder zu Überschwemmungen und starken Monsunregenfällen kommt. Schließlich Dumpsite Catmon, die Müllhalde, auf der die Slums stehen, die Paradise Village überragen. In Peking, China, leben Tausende von Menschen auf den Müllhalden, die verbotene, weil gefährliche Stoffe recyceln, während es in Indien die meisten „Überlebenden" unter jenen gibt, die sich dank der Müllhalden „ernähren" können."[10]
Giftstoffe sind natürliche oder synthetische Substanzen, die für den Menschen und/oder andere Lebewesen giftig sind. Neben Stoffen, die es immer schon auf unserem Planeten gegeben hat und die von der industriellen Technologie auf verschiedenste Art verwendet werden - wie zum Beispiel Schwermetalle, Asbest usw., hat die chemische Industrie Zehntausende anderer Stoffe massenweise produziert. Mangelnde Kenntnis der Gefahren einer Reihe von Stoffen und vor allem der Zynismus des Kapitalismus haben unvorstellbare Schäden angerichtet. Es sind dadurch Umweltzerstörungen ausgelöst worden, die man nur sehr schwer wieder beheben kann, wenn einst die gegenwärtig herrschende Klasse gestürzt sein wird.
Eine der größten Katastrophen der chemischen Industrie ist sicherlich die von Bophal, Indien, die am 2. und 3. Dezember 1984 in dem Werk des amerikanischen Chemie-Multis Union Carbide stattfand. Eine Giftwolke von 40 Tonnen Pestiziden tötete entweder sofort oder in den darauffolgenden Jahren mindestens 16.000 Menschen. Überlebende klagen seitdem über unheilbare körperliche Schäden. Später eingeleitete Untersuchungen haben zutage gebracht, dass im Gegensatz zu einem vergleichbaren Werk in Virginia, USA, das Werk in Bophal über keine drucktechnischen Überwachungsanlagen und Kühlsysteme verfügte. Der Kühlturm war vorübergehend außer Betrieb genommen worden; die Sicherheitssysteme entsprachen überhaupt nicht dem Ausmaß der Werksanlage. In Wirklichkeit stellte die indische Fabrik mit ihren billigen Arbeitskräften für die amerikanischen Besitzer eine sehr lukrative Einnahmequelle dar, die nur sehr geringe Investitionen in variables und fixes Kapital erforderte.
Ein anderes historisches Beispiel war schließlich der Vorfall im Atomkraftwerk von Tschernobyl 1986. „Man hat geschätzt, dass die radioaktiven Strahlen des Reaktors 4 von Tschernobyl ungefähr 200-mal höher lagen als die Explosionen der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammengenommen. Auf einem Gebiet zwischen Russland, der Ukraine und Weißrussland, in dem ungefähr neun Millionen Menschen leben, hat man eine große Verseuchung festgestellt. 30 Prozent des Gebietes ist durch Cäsium 137 verseucht. In den drei Ländern mussten ca. 400.000 Menschen evakuiert werden, während weitere 270.000 Menschen in Gebieten leben, in denen der Konsum von örtlichen landwirtschaftlichen Produkten nur eingeschränkt erlaubt ist." [11]
Es gibt natürlich noch unzählige andere Umweltkatastrophen infolge schlampiger Betriebsleitung oder der vielen Meeresverschmutzungen durch Ölteppiche wie jenen, den der Öltanker Exxon Valdez am 24. März 1989 anrichtete, als bei seinem Untergang vor der Küste Alaskas mindestens 30.000 Tonnen Öl ins Meer liefen, oder auch infolge des ersten Golfkriegs, als viele Ölplattformen in Brand geschossen wurden und sich eine Ökokatastrophe in einem bislang noch nie da gewesenen Ausmaß im Persischen Golf abspielte. Schätzungen der US-amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften zufolge werden jedes Jahr durchschnittlich zwischen drei bis vier Millionen Tonnen Kohlenwasserstoffe ins Meer geleitet, Tendenz steigend - trotz der verschiedenen Schutzmaßnahmen, denn die Nachfrage nach diesen Produkten wächst.
Neben den Auswirkungen dieser Verschmutzungen, die bei hoher Dosierung größere Vergiftungen hervorrufen, gibt es einen anderen Vergiftungsmechanismus, der langsamer, diskreter wirkt - die chronische Vergiftung. Wenn eine giftige Substanz langsam und in geringen Dosen aufgenommen wird und chemisch stabil ist, kann sie sich in den Organen und den Geweben der Lebewesen absetzen und soweit anhäufen, bis tödliche Konzentrationen erreicht werden. Dies nennt man aus der Sicht der Ökotoxikologie Bioakkumulation. Ein weiterer Mechanismus betrifft giftige Substanzen, die in die Lebensmittelkette eindringen (das trophische Netz). Sie gelangen von einer niedrigen zu einer höheren Stufe der trophischen Stadien, mit jeweiliger Verdoppelung bzw. Verdreifachung der Konzentration. Um es deutlicher zu machen, nehmen wir ein konkretes Beispiel aus dem Jahre 1953 in Minamata in Japan. In der Bucht Minamata lebten viele arme Fischer, die sich im Wesentlichen von ihrem Fischfang ernährten. In der Nähe dieser Bucht befand sich ein Industriekomplex, der Acetaldehyd verwendete, einen chemischen Stoff, eine Synthese, deren Zubereitung ein Quecksilberderivat erfordert. Die ins Meer als Abfall eingeleiteten Stoffe waren leicht mit Quecksilber vergiftet. Die Konzentration betrug jedoch nur 0.1 Mikrogramm pro Liter Meerwasser, d.h. eine Konzentration, die selbst mit den heute verfügbaren genaueren Messgeräten immer noch schwierig zu ermitteln ist. Welche Konsequenzen ergaben sich aus dieser kaum wahrnehmbaren Verschmutzung? 48 Menschen starben innerhalb weniger Tage, 156 litten unter Vergiftungen mit schwerwiegenden Folgen, und selbst die Katzen der Fischer, die sich ständig von Fischresten ernährten, wurden „irrsinnig", brachten sich schließlich selbst im Meer um, ein für ein Raubtier völlig unübliches Verhalten. Was war passiert? Das im Meerwasser vorhandene Quecksilber war durch das Phytoplankton aufgenommen und fixiert worden, war dann von diesem zum Zooplankton gewandert, schließlich zu den kleinen Mollusken (Weichtieren), und schlussendlich zu den kleineren und mittelgroßen Fischen. Der Vorgang erfasste die ganze trophische Kette. Dabei wurde der gleiche Schadstoff, der chemisch unzerstörbar ist, auf einen neuen ‚Gastgeber' übertragen, und zwar mit wachsender Konzentration, d.h. umgekehrt proportional im Verhältnis zur Größe des Jägers und der Masse der während seines Lebens aufgenommenen Nahrung. So hat man festgestellt, dass bei Fischen das Metall eine Konzentration von 50 mg/Kilo erreicht hatte, was einer 500.000-fachen Konzentration entspricht. Bei einigen Fischern mit dem „Minamata-Syndrom" wurden erhöhte Metallwerte in ihren Organen, insbesondere in ihren Haaren nachgewiesen, die mehr als ein halbes Gramm pro Kilo Körpergewicht betrugen.
Obgleich sich Anfang der 1960er Jahre die Wissenschaftler dessen bewusst waren, dass es bei giftigen Substanzen nicht ausreicht, Methoden der natürlichen Auflösung zu benutzen, da biologische Mechanismen in der Lage sind, das zu konzentrieren, was der Mensch verstreut, hat die chemische Industrie unseren Planeten weiterhin massiv verpestet - ohne dieses Mal den Vorwand auftischen zu können, von nichts gewusst zu haben. So ist es jüngst zu einem zweiten Minamata in Priolo (Sizilien) gekommen, wo auf einer Fläche von wenigen Quadratkilometern mindestens fünf Raffinerien, darunter Enichem, illegal Quecksilber aus einer Chlor- und Schwefelfabrik auf den Feldern entsorgten. Zwischen 1991 und 2001 sind ca. 1.000 Kinder mit großen geistigen Behinderungen und ernsthaften Missbildungen sowohl am Herzen als auch am Genitaltrakt geboren worden. Ganze Familien leiden unter Tumoren, und viele verzweifelte Frauen sahen sich zu Abtreibungen gezwungen, weil sie verkrüppelten Nachwuchs erwarteten. Dabei hatte der Vorfall von Minamata schon all die Risiken von Quecksilber für die menschliche Gesundheit aufgezeigt. Priolo ist also kein unvorhersehbares Ereignis, kein tragischer Fehler, sondern eine pure verbrecherische Tat, die vom italienischen Kapitalismus und noch dazu von seinem staatskapitalistischen Regime, das viele Leute als „links" vom „privaten Sektor" betrachten, verübt wurde. In Wirklichkeit hat man feststellen müssen, dass die Führung von Enichem sich schlimmer als die Ökomafia verhalten hat: Um Kosten bei der „Dekontaminierung" (man spricht von mehreren Millionen eingesparten Euros) zu sparen, wurden die mit Quecksilber verseuchten Abfälle mit anderem Schmutzwasser vermischt und im Meer entsorgt. Es wurden falsche Bescheinigungen ausgestellt, Tankwagen mit doppeltem Boden benutzt, um den Handel mit giftigen Substanzen zu verheimlichen - all das in Übereinstimmung mit den verantwortlichen Behörden. Als die Justiz sich schließlich rührte und die führenden Köpfe der Industrie verhaftete, war die Verantwortung dermaßen unleugbar, dass Enichem die Auszahlung eines Schmerzensgeldes von 11.000 Euro pro Familie beschloss, d.h. einen Betrag, den das Unternehmen auch im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung durch das Gericht hätte bezahlen müssen.
Neben den Ursachen für Umweltverschmutzungen, die auf Unfälle zurückzuführen sind, produziert die ganze Gesellschaft aufgrund ihrer Funktionsweise ständig umweltgefährdende Stoffe, die sich in der Luft, im Wasser und am Boden sammeln - und wie schon erwähnt - in der Biosphäre, einschließlich des Menschen. Der massive Einsatz von Reinigungsmitteln und anderen Produkten dieser Art hat zum Phänomen der Eutrophierung (Nährstoffanreicherung) der Flüsse, Seen und Meere geführt. In den 1990er Jahren wurden 6.000 - 11.000 Tonnen Blei, 22.000 - 28.000 Tonnen Zink, 4200 Tonnen Chrom, 4.000 Tonnen Kupfer, 1450 Tonnen Nickel, 530 Tonnen Kadmium, 1,5 Millionen Tonnen Stickstoffe und ca. 100.000 Tonnen Phosphate in die Nordsee eingeleitet. Dieser Giftmüll ist besonders gefährlich für jene Meere, die flächenmäßig groß, aber nicht sehr tief sind, wie die Nordsee, die Ostsee, die südliche Adria, das Schwarze Meer. Weil in diesen Meeren nicht soviel Tiefenwasser vorhanden und die Vermischung zwischen Süßwasser aus den Flüssen und dichterem Salzwasser schwierig ist, können die Giftstoffe sich nicht zersetzen.
Synthetische Produkte wie das berühmt-berüchtigte Pflanzenschutzmittel DDT, das seit 30 Jahren in den Industriestaaten verboten ist, oder auch PCB (chlorierte Biphenyle), die einst in der elektrischen Industrie verwendet, aber mittlerweile wegen bekannt gewordener Gefahren ebenfalls verboten wurden, besitzen alle eine unbeschreibliche chemische Haltbarkeit. Sie sind in unveränderten Zustand überall vorhanden, im Wasser, in den Böden, in den Zellen der Lebewesen. Aufgrund der Bioakkumulation sind diese Stoffe in einigen Lebewesen in gefährlichen Konzentrationen zu finden, was zu deren Tod oder zu Störungen bei der Reproduktion führt und einen Rückgang der jeweiligen Populationen bewirkt. So richtet der Müllhandel, bei dem oft Giftmüll noch irgendwo ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen zwischengelagert wird, unkalkulierbare Schäden im Ökosystem und für die ganze Bevölkerung an.
Bevor wir diesen Punkt hier abschließen - obwohl noch Hunderte von Beispielen aus der ganzen Welt geliefert werden könnten -, wollen wir noch daran erinnern, dass gerade diese Bodenverseuchung für ein neues und dramatisches Phänomen verantwortlich ist: die Entstehung von „Todeszonen" - wie zum Beispiel das Dreieck Priolo, Mellili und Augusta in Sizilien - wo der Prozentsatz von Neugeborenen mit Fehlbildungen viermal höher ist als im nationalen Durchschnitt, oder auch das andere Todesdreieck in der Nähe von Neapel zwischen Giuliano, Qualiano und Villaricca, wo die Zahl der Tumorerkrankungen weit über dem nationalen Durchschnitt liegt.
Das letzte Beispiel des globalen Phänomens, das die Welt in eine Katastrophe führt, ist die Verknappung und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen oder deren Bedrohung durch Umweltverschmutzung. Bevor wir näher auf dieses Phänomen eingehen, wollen wir darauf hinweisen, dass die Menschengattung schon früher - wenn auch in einem geringeren Maße - mit solchen Problemen zu tun hatte, Probleme, die schon damals katastrophale Konsequenzen hatten. Damals waren jedoch nur kleinere, beschränkte Regionen der Erde betroffen. Wir wollen aus dem Buch von Jared Diamond, „Kollaps" zitieren, das sich mit der Geschichte Rapa Nui's auf der Osterinsel befasst, die wegen ihrer großen Steinstatuen bekannt ist. Man weiß, dass die Insel vom holländischen Forscher Jacob Roggeveen Ostern 1772 entdeckt wurde (daher ihr Name), und es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass die Insel „von einem dichten subtropischen Wald bedeckt war, der viele große Bäume aufwies". Auch gab es dort viele Vögel und wilde Tiere. Doch bei Ankunft der Kolonisatoren verbreitete die Insel einen anderen Eindruck:
„So war es auch für Rogeveen ein Rätsel, wie die Inselbewohner ihre Statuen aufgerichtet hatten. Um noch einmal aus seinem Tagebuch zu zitieren: ‚Die steinernen Bildsäulen sorgten zuerst dafür, dass wir starr vor Erstaunen waren, denn wir konnten nicht verstehen, wie es möglich war, dass diese Menschen, die weder über dicke Holzbalken zur Herstellung irgendwelcher Maschinen noch über kräftige Seile verfügten, dennoch solche Bildsäulen aufrichten konnten, welche volle neun Meter hoch und in ihren Abmessungen sehr dick waren (...). Ursprünglich, aus größerer Entfernung, hatten wir besagte Osterinsel für sandig gehalten, und zwar aus dem Grund, dass wir das verwelkte Gras, Heu und andere versengte und verbrannte Vegetation als Sand angesehen hatten, weil ihr verwüstetes Aussehen uns keinen anderen Eindruck vermitteln konnte als den einer einzigartigen Armut und Öde. Was war aus den vielen Bäumen geworden, die früher dort gestanden haben müssen? Um die Bearbeitung, den Transport und die Errichtung der Statuen zu organisieren, bedurfte es einer komplexen, vielköpfigen Gesellschaft, die von ihrer Umwelt leben konnte". (Diamond, S. 105) [12]‘ "
„Insgesamt ergibt sich für die Osterinsel ein Bild, das im gesamten Pazifikraum einen Extremfall der Waldzerstörung darstellt und in dieser Hinsicht auch in der ganzen Welt kaum seinesgleichen hat. Der Wald verschwand vollständig, und seine Baumarten starben ausnahmslos aus." (Diamond, S. 138)
„Dies alles lässt darauf schließen, dass die Abholzung der Wälder kurz nach dem Eintreffen der ersten Menschen begann, um 1400 ihren Höhepunkt erreichte und je nach Ort zwischen dem frühen 15. und dem 17. Jahrhundert praktisch abgeschlossen war. Für die Inselbewohner ergab sich daraus die unmittelbare Folge, dass Rohstoffe und wild wachsende Nahrungsmittel fehlten, und auch die Erträge der Nutzpflanzen gingen zurück (...) Da es auch keine seetüchtigen Kanus mehr gab, verschwanden die Knochen der Delphine, die in den ersten Jahrhunderten die wichtigsten Fleischlieferanten der Inselbewohner gewesen waren, um 1500 praktisch völlig aus den Abfallhaufen; und das Gleiche galt für Thunfische und andere Fischarten aus dem offenen Meer. (...) Weiter geschädigt wurde der Boden durch Austrocknung und Auswaschung von Nährstoffen, auch sie eine Folge der Waldzerstörung, die zu einem Rückgang des Pflanzenertrages führte. Darüber hinaus standen die Blätter, Früchte und Zweige wilder Pflanzen, die den Bauern zuvor als Kompost gedient hatten, nicht mehr zur Verfügung. (...) Im weiteren Verlauf kam es dann zu einer Hungersnot, einem Zusammenbruch der Bevölkerung und einem Niedergang bis hin zum Kannibalismus (...) In der mündlichen Überlieferung der Inselbewohner nimmt der Kannibalismus breiten Raum ein; die schrecklichste Beschimpfung, die man einem Feind entgegenschleudern konnte, lautete: „Das Fleisch deiner Mutter hängt zwischen meinen Zähnen." (S. 138)
„Wegen ihrer isolierten Lage ist die Osterinsel das eindeutigste Beispiel für eine Gesellschaft, die sich durch übermäßige Ausbeutung ihrer eigenen Ressourcen selbst zerstört hat (...) Die Parallelen zwischen der Osterinsel und der ganzen heutigen Welt liegen beängstigend klar auf der Hand. Durch Globalisierung, internationalen Handel, Flugverkehr und Internet teilen sich heute alle Staaten der Erde die Ressourcen, und alle beeinflussen einander genau wie die zwölf Sippen auf der Osterinsel. Die Osterinsel war im Pazifik ebenso isoliert wie die Erde im Weltraum. Wenn ihre Bewohner in Schwierigkeiten gerieten, konnten sie nirgendwohin flüchten, und sie konnten niemanden um Hilfe bitten; ebenso können wir modernen Erdbewohner nirgendwo Unterschlupf finden, wenn unsere Probleme zunehmen. Aus diesen Gründen erkennen viele Menschen im Zusammenbruch der Osterinsel eine Metapher, ein schlimmstmögliches Szenario für das, was uns selbst in Zukunft vielleicht noch bevorsteht." (S. 152) [13]
Diese Beobachtungen, die alle aus dem Buch von Diamond stammen, warnen uns davor zu glauben, dass das Ökosystem der Erde grenzenlos ist, und sie zeigen, dass das, was auf der Osterinsel passierte, auch die Menschheit insgesamt treffen kann, falls diese nicht entsprechend behutsam mit den Ressourcen des Planeten umgeht.
Man ist versucht, eine Parallele zum Abholzen der Wälder zu ziehen, das seit dem Anfang der Urhorde bis heute vor sich geht und heute so systematisch weiterbetrieben wird, dass auch die letzten grünen Lungen der Erde wie der Regenwald des Amazonas zerstört werden.
Wie schon erwähnt, kennt die herrschende Klasse sehr wohl die Risiken, wie die edle Intervention eines Wissenschaftlers des 19. Jahrhunderts, Rudolf Julius Emmanuel Clausius, belegt, der sich zur Frage der Energie und der Ressourcen schon lange vor all den Sonntagsreden zum Naturschutz sehr deutlich äußerte: „In der Wirtschaft einer Nation ist ein Gesetz immer gültig: Man darf während eines gewissen Zeitraums nicht mehr konsumieren als das, was in diesem Zeitraum produziert wurde. Deshalb dürfen wir nur soviel Brennstoffe verbrauchen, wie es möglich ist, diese dank des Wachstums der Bäume wiederherzustellen." [14]
Doch wenn man die heutigen Verhältnisse betrachtet, muss man schlussfolgern, dass genau das Gegenteil passiert, was Clausius empfohlen hatte. Man schlägt direkt den gleichen fatalen Weg ein wie die Osterinsulaner.
Um dem Problem der Ressourcen adäquat entgegenzutreten, muss man auch eine andere grundlegende Variable berücksichtigen: die Schwankungen der Weltbevölkerung.
„Bis 1600 war das Wachstum der Weltbevölkerung noch sehr langsam; sie nahm lediglich zwischen zwei bis drei Prozent pro Jahrhundert zu. 16 Jahrhunderte vergingen, bevor die Einwohnerzahl von ca. 250 Millionen Menschen zur Zeit des Beginns des christlichen Zeitalters auf 500 Millionen Menschen gestiegen war. Von diesem Zeitpunkt an nahm der Zeitraum bis zur nächsten Verdoppelung der Bevölkerung ständig ab, so dass in einigen Ländern der Welt heute die so genannte ‘biologische Grenze' des Bevölkerungswachstums erreicht wird (drei bis vier Prozent). UNO-Schätzungen zufolge werden im Jahr 2025 ca. acht Milliarden Menschen leben. (...) Es gibt große Unterschiede zwischen den entwickelten Ländern, die nahezu ein Nullwachstum erreicht haben, und den Entwicklungsländern, die bis zu 90 Prozent zum gegenwärtigen demographischen Wachstum beitragen. (...) Im Jahre 2025 wird zum Beispiel Nigeria UN-Schätzungen zufolge eine größere Bevölkerungszahl als die USA haben, und in Afrika werden dreimal so viel Menschen leben wie in Europa. Überbevölkerung, verbunden mit Rückständigkeit, Analphabetentum und ein Mangel an Hygiene und Gesundheitseinrichtungen stellen sicher ein großes Problem dar, das nicht nur Afrika bedroht, sondern die ganze Welt beeinflussen wird. Insofern scheint es ein großes Ungleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot an verfügbaren Ressourcen zu geben, das auch auf die Verwendung von ca. 80 Prozent der Energieressourcen der Welt durch die Industriestaaten zurückzuführen ist.
Die Überbevölkerung bringt einen starken Rückgang der Qualität der Lebensbedingungen mit sich, weil sie die Produktivität eines Arbeiters senkt und auch die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, Trinkwasser, Gesundheitsleistungen und Medikamenten pro Kopf einschränkt. Der starke, von Menschen gegenwärtig verursachte Druck führt zu einer Schädigung der Umwelt, die sich unvermeidbar auf die Gleichgewichte des Systems Erde auswirken wird.
Die Ungleichgewichte haben sich in den letzten Jahren verstärkt: Die Bevölkerung wächst nicht nur in einem Maße, das keineswegs homogen ist, sondern sie nimmt vor allem in den städtischen Ballungsräumen sehr stark zu." [15]
Das starke Bevölkerungswachstum verschärft das Problem der Erschöpfung der Ressourcen also noch mehr, zumal der Mangel an natürlichen Ressourcen vor allem da anzutreffen ist, wo die Bevölkerungsexplosion am stärksten ist, was für die Zukunft noch größere Probleme erahnen lässt, von denen immer mehr Menschen betroffen sein werden.
Untersuchen wir die erste Quelle der Natur, Wasser, ein auf der ganzen Welt notwendiges Gut, das heute durch das unverantwortliche Vorgehen des Kapitalismus stark bedroht ist.
Wasser ist ein Gut, das auf der Erdoberfläche in großen Mengen vorhanden ist (die Ozeane, Grundwasser und die Polkappen), aber nur ein kleiner Teil davon ist als Trinkwasser nutzbar, d.h. jener Teil, der in den Polkappen und in den wenigen noch nicht vergifteten Flüssen zur Verfügung steht. Die Entwicklung der industriellen Aktivitäten, die die Bedürfnisse der Umwelt völlig außer Acht lässt, und die völlig willkürliche Ablagerung und Entsorgung des städtischen Mülls haben einen Großteil des Grundwassers verseucht, das die natürliche Trinkwasserreserve des Gemeinwesens ist. Dies hat mit zur Verbreitung von Krebs und anderen Krankheiten in der Bevölkerung beigetragen; andererseits ist das Wasser zu einem knappen und kostbaren Gut in vielen Ländern geworden.
„Mitte des 21. Jahrhunderts werden den pessimistischen Prognosen zufolge ca. sieben Milliarden Menschen in 60 Ländern nicht mehr über ausreichend Wasser verfügen. Im besten Fall würden „nur" zwei Milliarden Menschen in 48 Ländern an Wassermangel leiden (...) Aber die besorgniserregendsten Angaben in dem Dokument der UNO ist die aufgrund der Wasserschmutzung und der schlechten Hygienebedingungen prognostizierte Zahl der Todesopfer: 2,2 Millionen pro Jahr. Darüber hinaus ist Wasser Träger zahlreicher Krankheiten, unter ihnen Malaria, wodurch jedes Jahr ca. eine Million Menschen sterben" [16]. (Das blaue Gold des dritten Jahrtausends)
Die englische Wissenschaftszeitung New Scientist schrieb in ihrer Schlussfolgerung anlässlich des Wassersymposiums im Sommer 2004 in Stockholm: „In der Vergangenheit wurden mehrere Millionen Brunnen errichtet, meistens ohne irgendwelche Kontrolle, und die Wassermengen, die durch gigantische elektrische Wasserpumpen gefördert werden, übersteigen bei weitem den Umfang der Regenwassermengen, die das Grundwasser wieder mit neuem Wasser versorgen (...) Wasser dem Erdreich zu entnehmen, ermöglicht vielen Ländern reichhaltige Reis- und Zuckerrohrernten (diese Pflanzen benötigen viel Wasser), doch lange wird der Boom nicht dauern. (...) Indien ist ein Zentrum der Revolution des Bohrens nach unterirdischem Wasser. Mithilfe von Technologien aus der Ölindustrie haben die kleinen Bauern 21 Millionen kleine Brunnen auf ihren Feldern errichtet, und jedes Jahr kommen noch mal eine Million Brunnen hinzu. (...) In den nördlichen Ebenen Chinas, wo die meisten landwirtschaftlichen Produkte geerntet werden, entnehmen die Bauern der Erde jedes Jahr 30 Kubikkilometer Wasser mehr, als durch den Regen zugeführt wird (...). In Vietnam wurde in den letzten Jahren die Zahl der Brunnen vervierfacht (...) In Punjab, wo 90 Prozent der Lebensmittel Pakistans herstammen, fangen die Grundwasserreserven langsam an auszutrocknen" [17].
Während die Lage allgemein schon schlimm genug ist, ist die Situation in den Schwellenländern Indien und China geradezu katastrophal.
„Die Dürre in der Provinz Sechuan und in Chongqing hat ca. 9,9 Milliarden Yuan Schäden verursacht. Einschränkungen beim Wasserverbrauch für mehr als zehn Millionen Menschen wurden veranlasst, während im ganzen Land ca. 18 Millionen Menschen an Wasserknappheit leiden." [18]
„China wurde von den schlimmsten Überschwemmungen in den letzten Jahren heimgesucht, mit mehr als 60 Millionen betroffenen Menschen in Zentral- und Südchina, mindestens 360 Toten und großen ökonomischen Schäden, die schon 7,4 Milliarden Yuan übersteigen. 200.000 Häuser sind zerstört oder beschädigt, 528.000 Hektar landwirtschaftlich bebaute Fläche sind zerstört und 1,8 Million überflutet. Gleichzeitig schreitet die Verwüstung schnell voran. Bislang wurde ein Fünftel des Territoriums in Mitleidenschaft gezogen. Dies hat Sandstürme hervorgerufen, von denen manche gar bis Japan ziehen (...) Während Zentral- und Südchina unter Überschwemmungen leidet, dehnt sich die Wüste im Norden weiter aus. Mittlerweile ist davon mehr als ein Fünftel des Gebietes entlang des Gelben Flusses, der Hochebene Qinghai-Tibets und eines Teils der Inneren Mongolei und Gansus betroffen. Die Bevölkerung Chinas umfasst ca. 20 Prozent der Weltbevölkerung, aber sie verfügt nur über sieben Prozent der verfügbaren landwirtschaftlichen Anbaufläche.
Wang Tao, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Lanzhu, zufolge hat die Desertifikation in China während des letzten Jahrzehnts jedes Jahr um 950 Quadratkilometer zugenommen. Alljährlich im Frühjahr wird Peking und ganz Nordchina von Sandstürmen heimgesucht, mit Auswirkungen bis nach Südkorea und in Japan" [19].
All das muss uns zum Nachdenken über die so viel gepriesene starke Leistungsfähigkeit des chinesischen Kapitalismus veranlassen. Die jüngste Entwicklung der chinesischen Wirtschaft kann dem niedergehenden Weltkapitalismus kein neues Leben einhauchen; stattdessen zeigt sie den ganzen Schrecken der Agonie dieses Systems auf: Städte im Smog (auch die jüngst stattgefundenen Olympischen Sommerspiele können nicht darüber hinwegtäuschen), austrocknende Flüsse und jedes Jahr Zehntausende Arbeiter, die bei Arbeitsunfällen in den Bergwerken oder anderswo aufgrund der furchtbaren Arbeitsbedingungen und der mangelnden Sicherheitsbestimmungen sterben.
Natürlich werden auch viele andere Ressourcen immer knapper. Aus Platzgründen können wir hier nur kurz auf zwei eingehen.
Die erste Ressource ist natürlich das Erdöl. Bekanntlich spricht man seit dem Ende der 1970er Jahre von der Erschöpfung der natürlichen Ölquellen, doch in diesem Jahr, 2008, scheint man tatsächlich den Gipfelpunkt der Förderung (er wird Hubbert-Gipfel genannt) erreicht zu haben, d.h. jenen Punkt, an dem verschiedenen geologischen Hochrechnungen zufolge die Hälfte der natürlichen Ressourcen bereits erschöpft ist. Öl stellt heute ca. 40 Prozent der Basisenergie dar und ungefähr 90 Prozent der im Verkehr eingesetzten Energie. Auch in der chemischen Industrie ist es ein wichtiger Grundstoff, insbesondere bei der Herstellung von Düngemitteln in der Landwirtschaft, Kunststoffen, Klebstoffen und Lacken, Schmier- und Reinigungsmitteln. All das ist möglich, weil das Öl bislang ein relativ billiger Stoff und scheinbar grenzenlos verfügbar war. Allein dass diese Perspektiven sich nun geändert haben, trägt schon jetzt zu Preiserhöhungen bei. Die kapitalistische Welt hört auch heute nicht auf die Empfehlung Clausius, innerhalb einer Generation nicht mehr zu verbrauchen, als die Natur in dieser Zeit liefern kann. Stattdessen hat sich die kapitalistische Welt in eine verrückte Jagd nach Energie gestürzt. Dabei sind China und Indien an die führende Stelle getreten, was den Energiekonsum betrifft. Sie verbrennen alles, was man verbrennen kann, greifen sogar auf giftige fossile Kohlenstoffe zur Energiegewinnung zurück und haben damit bislang nie da gewesene Umweltprobleme geschaffen.
Natürlich hat sich der wundersame Ausweg mittels der sog. Biokraftstoffe als Flop, weil völlig unzureichend, erwiesen. Die Herstellung von Brennstoff auf der Grundlage der alkoholischen Gärung von Maisstärke oder von Pflanzenölen reicht keineswegs aus, um die gegenwärtigen Bedürfnisse des Marktes nach Brennstoffen zu befriedigen. Im Gegenteil, auf diese Weise werden die Preise für Nahrungsmittel nur weiter in die Höhe getrieben, wodurch der Hunger unter den ärmsten Bevölkerungsteilen zunimmt. Auch hier werden kapitalistische Unternehmen wie die Nahrungsmittelhersteller begünstigt, die zu Verkäufern von Biokraftstoffen geworden sind. Aber für die einfachen Sterblichen bedeutet dies, dass große Waldgebiete abgeholzt werden, um dort Plantagen zu errichten (Millionen Hektar Wald sind geopfert worden). Die Herstellung von Biodiesel verlangt in der Tat den Einsatz von großen Flächen. Um sich eine konkretere Vorstellung davon zu machen: ein Hektar Raps, Sonnenblumen oder andere Ölpflanzen entspricht etwa 1.000 Liter Biodiesel, womit ein PKW ca. 10.000 Kilometer zurücklegen kann. Wenn man davon ausgeht, dass ein PKW durchschnittlich im Jahr ca. 10.000 Kilometer zurücklegen, verbraucht jedes Fahrzeug also Biodiesel in Höhe eines Hektars Anbaufläche. Für ein Land wie Italien, wo ca. 34 Millionen PKW angemeldet sind, würde dies bedeuten, dass man eine Anbaufläche von ca. 34 Millionen Hektar benötigen würde. Wenn man den PKW noch die ca. vier Millionen LKW hinzufügt, deren Verbrauch noch höher liegt, würde sich der Verbrauch verdoppeln, und es würde eine Anbaufläche von mindestens 70 Millionen Hektar erforderlich machen. Dies entspricht dem Doppelten der Fläche Italiens, Berge, Städte usw. eingeschlossen.
Obgleich davon kaum die Rede ist, stellt sich ein ähnliches Problem wie bei den fossilen Brennstoffen natürlich auch bei anderen Ressourcen mineralischer Art, wie beispielsweise bei den Mineralien, aus denen Metall gewonnen wird. Es trifft sicherlich zu, dass Metall nicht durch seine eigentliche Verwendung zerstört wird wie im Fall des Öls oder des Methangases, aber die Nachlässigkeit der kapitalistischen Produktion läuft darauf hinaus, dass große Mengen Metall auf Müllhalden und anderswo verrotten, so dass die Versorgung mit Metall früher oder später auch nicht mehr ausreichen wird. Die Verwendung bestimmter vielschichtiger Legierungen lässt den eventuellen Versuch der Rückgewinnung eines „reinen" Materials als schwierig erscheinen.
Das Ausmaß des Problems wurde anhand von Schätzungen deutlich, denen zufolge innerhalb weniger Jahrzehnte folgende Rohstoffe erschöpft sein werden: Uran, Platin, Gold, Silber, Kobalt, Blei, Mangan, Quecksilber, Molybdän, Nickel, Zinn, Wolfram und Zink. Dies sind für die moderne Industrie praktisch unabdingbare Stoffe, und ihr Mangel bzw. ihre Erschöpfung wird eine sehr schwere Last in der Zukunft darstellen. Aber auch andere Stoffe sind nicht unerschöpflich. Man hat errechnet, dass noch ca. 30 Milliarden Tonnen Eisen, 220 Millionen Tonnen Kupfer, 85 Millionen Tonnen Zink zur Verfügung stehen (in dem Sinne, dass es noch wirtschaftlich möglich sein wird, sie zu fördern). Um sich auszumalen, um welche Mengen es sich handelt, muss man wissen, dass, um die ärmsten Länder auf das Niveau der reichsten Länder zu bringen, man 30 Milliarden Tonnen Eisen, 500 Millionen Tonnen Kupfer, 300 Millionen Tonnen Zink benötigt, d.h. viel mehr, als der ganze Planet Erde anzubieten hat.
In Anbetracht dieser angekündigten Katastrophe muss man sich fragen, ob Fortschritt und Entwicklung notwendigerweise mit Umweltverschmutzung und Zerstörung des Ökosystems verbunden sein müssen. Man muss sich fragen, ob solche Desaster auf die unzureichende Bildung der Menschen oder auf etwas Anderes zurückzuführen sind. Das werden wir im nächsten Artikel untersuchen.
Ezechiele, August 2008
[1] G. Barone et al., Il metano e il futuro del clima, in Biologi Italiani, n° 8 de 2005. („Methan und die Zukunft des Klimas").
[2] Ebenda.
[3] G. Pellegri, Terzo mondo, nuova pattumiera creata dal buonismo tecnologico, siehe http:/www.caritas-ticino.ch/rivista/elenco%20rivista/riv_0203/08%20-%20Terzo%m... [10]
[4] Vivere di rifiuti, (Von Abfällen leben) http:/www.scuolevi-net:scuolevi/valdagno [11] /marzotto/mediateca.nsf/9bc8ecfl790d17ffc1256f6f0065149d/7f0bceed3ddef3b4c12574620055b62d/Body/M2/Vivere%20di%rifiuti.pdf ?OpenElement
[5] Roberto Saviano, Gomorra, Viaggio nell'impero economico e nel sogno di dominio della camorra, (Reise in das Reich der Wirtschaft und in die Träume der Herrschaft der Camorra), Arnoldo Montaldi, 2006.
[6] La Republica on-line, 29/10/2007
[7] La Republica, 6/02/2008. Allein in den USA werden mehr als 100 Milliarden Plastiktüten verwendet. 1.9 Milliarden Tonnen Öl sind für deren Herstellung erforderlich, wobei die meisten von ihnen auf dem Müll landen und Jahrzehnte bis zu ihrer Zersetzung brauchen. Für die Herstellung mehrerer Dutzend Milliarden Plastiktüten müssen allein 15 Millionen Bäume gefällt werden.
[8] Siehe den Artikel „Das Mittelmeer, ein Plastikmeer" in La Republica du 19 Juli 2007.
[9] Man kann natürlich nicht ausschließen, dass der schwindelerregende Preisanstieg des Öls zwischen 2007-2008 die Verwendung dieses Rohstoffs für die Produktion von Kunststoffen infragestellt, wodurch es in absehbarer Zukunft zu einer Kehrtwende unter wachsamen Unternehmern kommen könnte, die aber nur auf die Verteidigung ihrer Interessen achten.
[10] R. Troisi : la discarica del mondo luogo di miseria e di speranza nel ventunesimo secolo. (Die Müllentsorgung der Erde - Misere und Hoffnung des 21. Jahrhunderts) - https://villadelchancho.splinder.com/tag/discariche+del+mondo [12]
[11] Siehe den Artikel: „Einige Kollateralschäden der Industrie - Chemie, und Atomkraft" Alcuni effetti collaterali dell'industria, La chimica, la diga e il nucleare.
[12] Jared Diamond, Collasso, edizione Einaudi.
[13] ebenda.
[14] R. J. E Clausius (1885), geboren 1822 in Koslin (damals Preußen, heute Polen) und 1888 gestorben in Bonn.
[15]
Vereinigung Geographielehrer Italiens - „Das Bevölkerungswachstum", La crescita
della popolazione.
https://www.aiig.it/UnProzent20quadernoProzent20perProzentl'ambiente/off... [13]
[16] G. Carchella, Acqua : l'oro blu del terzo millenario, su „Lettera 22, associazione indipendente di giornalisti". https://www.lettera22.it/showart.php?id=296&rubrica=9 [14] Wasser - Das blaue Gold des 21. Jahrhunderts in Brief 22, Unabhängige Vereinigung der Journalisten
[17] Asian Farmers sucking the continent dry, Newscientist, https://www.newscientist.com/article/dn6321-asian [15] farmers-sucking the continent-dry.html Asiatische Bauern trocknen den Kontinent aus, 28. August 2004
[18]
PB, Asianews, China: Noch 10 Millionen Menschen dursten nach Trockenheit
https://www.asianews.it/index.php?l=it&art=6977 [16]
[19] Asianews, China - eingeklemmt zwischen Überschwemmungen und dem Vormarsch der Wüsten https://www.asiannews.it/index.php?l=it&art=9807 [17]
, Asianews, La Cina stretta tra le inondazioni e il deserto che avanza, 18/08/2006
Die herrschende Klasse ist in Angst und Schrecken versetzt worden. Von August bis Oktober gab es eine richtige Panik in der Weltwirtschaft. Die Aufsehen erregenden Erklärungen von Politikern und Ökonomen verdeutlichen dies: „Die Welt am Rand des Abgrunds". „Ein ökonomisches Pearl Harbour", ein „auf uns zurollender Tsunami", „ein 11. September der Finanzen".[1] Nur der Anspielung auf die Titanic fehlte noch. Die herrschende Klasse ist in Angst und Schrecken versetzt worden. Von August bis Oktober gab es eine richtige Panik in der Weltwirtschaft. Die Aufsehen erregenden Erklärungen von Politikern und Ökonomen verdeutlichen dies: „Die Welt am Rand des Abgrunds". „Ein ökonomisches Pearl Harbour", ein „auf uns zurollender Tsunami", „ein 11. September der Finanzen".[1] Nur die Anspielung auf die Titanic fehlte noch.
Es stimmt, die größten Banken der Welt gerieten eine nach der anderen in Konkurs, die Börse stürzte in den Keller. Seit Januar 2008 wurden 32.000 Milliarden Dollar verbraten, d.h. soviel wie zwei Jahre Gesamtproduktion der USA. Die Börse Islands fiel um 94%, die Moskaus um 71%.
Schließlich ist es den Herrschenden gelungen, mit Hilfe eines „Rettungsplans" und eines „Ankurbelungsplans" nach dem anderen die totale Erstarrung der Wirtschaft zu vermeiden. Heißt dies aber, das Schlimmste sei jetzt hinter uns? Sicher nicht! Die Rezession, die gerade erst angefangen hat, wird wohl die zerstörerischste sein seit der Großen Depression von 1929.
Die Ökonomen gestehen es offen sein: „die gegenwärtige Konjunktur ist seit Jahrzehnten nicht mehr so angeschlagen", meldet die HSBC, „die größte Bank der Welt" am 4. August 2008.[2] « Wir befinden uns in einem ökonomischen und politisch-monetären Umfeld, das noch nie so schwierig war », legte der Präsident der US-FED am 22.8. noch einen drauf.[3]
Die internationale Presse täuschte sich nicht, als sie die gegenwärtige Zeit mit der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre verglich, wie z.B. das Titelblatt von Time ankündigte: „The New Hard Times" (neue harte Zeiten) mit einem Photo von Arbeitern, die 1929 für eine kostenlose Suppe in einer Armenküche anstanden. Tatsächlich sieht man solche Bilder heute immer mehr. Die Wohltätigkeitsorganisationen, die Essen verteilen, sind völlig überfordert, während gleichzeitig die Warteschlagen Hunderttausender neuer Arbeitsloser vor den Arbeitsämtern jeden Tag länger werden.
Am 24. September verkündete der damalige US-Präsident George W. Bush noch : „Wir stecken mitten in einer schweren Finanzkrise (...) Unsere ganze Wirtschaft ist in Gefahr. (...) Schlüsselbereiche des Finanzsystems stehen vor der Gefahr des Zusammenbruchs. (...) Amerika könnte einer Finanzpanik verfallen, und das würde uns in ein eine furchtbare Lage treiben. Weitere Banken würden Pleite machen (...) Die Börse würde noch mehr zusammenbrechen, wodurch Ihre Anlagen noch mehr schrumpfen würden. Der Wert Ihrer Häuser würde sinken, noch mehr Zwangsversteigerungen. (...) Zahlreiche Betriebe müssten schließen, und Millionen Amerikaner würden ihre Stelle verlieren. (...) Schlussendlich würde unser Land in einer langen und schmerzhaften Rezession versinken."
Nun wird die „lange und schmerzhafte Rezession" Wirklichkeit; nicht nur « das amerikanische Volk », sondern die Arbeiter auf der ganzen Welt sind nun betroffen.
Seit der nunmehr berühmt gewordenen 'subprime' Krise vom Sommer 2007 hört man jeden Tag mehr schlechte Nachrichten aus der Wirtschaft.
Allein das ‚Blutbad' im Bankensektor im Jahre 2008 war beeindruckend. Entweder wurden durch einen Konkurrenten aufgekauft oder durch eine Zentralbank gestützt oder einfach verstaatlicht: Northern Rock (die achtgrößte englische Bank), Bear Stearns (die fünfte Bank an der Wall Street), Freddie Mac und Fannie Mae (zwei Finanzinstitute zur Finanzierung von US-Hypotheken mit einem Geschäftsvolumen von ca. 850 Milliarden Dollar), Merrill Lynch (eine einstige weitere US-Großbank), HBOS (zweitgrößte Bank Schottlands), AIG (American International Group, einer der größten Versicherer der Welt) und Dexia (Finanzinstitut aus Luxemburg, Belgien und Frankreich). Des Weiteren kam es auch zu historischen und Aufsehen erregenden Pleiten. Im Juni wurde Indymac, einer der größten US-Hypothekenfinanzierer unter US-Staatsaufsicht gestellt. Dies war der größte Bankrott im US-Bankenwesen seit 24 Jahren. Aber dieser Rekord hielt nicht lange. Nur wenige Tage später musste die viertgrößte US-Bank, Lehman Brothers, Bankrott anmelden. Die Gesamtsumme ihrer Schulden betrug 613 Milliarden Dollar. Ein weiterer Rekord gebrochen. Bei dem größten Bankenbankrott bis zum damaligen Zeitpunkt war 1984 die Continental Illinois mit 40 Milliarden Dollar Pleite gegangen (d.h. eine 16 mal geringere Summe). Aber nur zwei Wochen später ein neuer Rekord. Die Washington Mutual (WaMu), die größte Sparkasse der USA, meldete ihrerseits Insolvenz an.
Nach dieser Art Infarkt des Herzens des kapitalistischen Systems, dem Bankenwesen, ist jetzt der gesamte Körper in Mitleidenschaft gezogen und geht danieder. „Die reale Wirtschaft" wird nun brutal erfasst. Dem NBER (National Bureau of Economic Research) stecken die USA seit Dezember 2007 offiziell in einer Rezession. Der am meisten anerkannte Ökonom an der Wall Street, Nouriel Roubini, geht gar davon aus, dass eine Schrumpfung der US-Wirtschaft um 5% im Jahre 2009 und erneut um 5% in 2010 wahrscheinlich sei![4] Wir können nicht wissen, ob dies tatsächlich der Fall sein wird, aber die Tatsache, dass einer der berühmtesten Ökonomen der Welt solch ein katastrophales Szenario ins Auge fassen kann, zeigt die wirkliche Besorgnis der Herrschenden. Die OECD erwartet eine Rezession für die gesamte Europäische Union in 2009. Die Deutsche Bank erwartet für Deutschland ein Schrumpfen des BIP um bis zu 4%![5] Um sich ein Bild davon zu machen, wie weitreichend solch eine Rezession sein könnte, muss man wissen, dass das schlimmste Jahr seit dem 2. Weltkrieg bislang 1975 war, als das deutsche BIP „nur" um 0.9% geschrumpft war. Kein Kontinent bleibt ausgespart. Japan steckt schon in der Rezession, und selbst in China, diesem ‚kapitalistischen Wunderland', verlangsamt sich das Wachstum brutal. Die Folge: Die Nachfrage ist dermaßen zusammengebrochen, dass alle Preise, auch die Ölpreise, sinken. Kurzum - der Weltwirtschaft geht es sehr schlecht.
Das erste Opfer dieser Krise ist natürlich die Arbeiterklasse. In den USA ist die Verschlechterung der Lebensbedingungen besonders spektakulär. Seit dem Sommer 2007 sind ca. 2.8 Mio. Arbeiter auf der Straße gelandet, weil sie nicht mehr ihre Schulden zurückzahlen können. Dem Verband der Hypothekenbanken MBA zufolge ist heute jeder Zehnte Schuldner in den USA von Zwangsräumung bedroht. Und dieser Trend erfasst nunmehr auch Europa, insbesondere Spanien und Großbritannien.
Auch die Massenentlassungen nehmen zu. In Japan hat Sony einen Plan bislang nie da gewesenen Ausmaßes verkündet: 16.000 Stellen sollen gestrichen werden, darunter 8.000 Beschäftigte der Stammbelegschaft. Dieser japanische Standartenträger hatte zuvor nie Beschäftigten der Stammbelegschaft gekündigt. In Anbetracht der Immobilienkrise leidet die Bauwirtschaft schwer. In Spanien wird bis 2010 mit einer Zunahme der Zahl der Arbeitslosen um 900.000 gerechnet. In den Banken brechen die Arbeitsplätze reihenweise weg. Citigroup, eine der größten Banken der Welt, wird ca. 50.000 Stellen streichen, nachdem die Gruppe seit Anfang 2008 schon 23.000 Stellen gestrichen hatte. 2008 sind alleine 260.000 Jobs im Bankensektor in den USA und in Großbritannien weggefallen. Dabei sollen an einer Stelle im Bankenwesen im Durchschnitt vier weitere Stellen hängen. Der Zusammenbruch der Finanzinstitutionen wird somit Arbeitslosigkeit für Hunderttausende Arbeiterfamilien mit sich bringen. Auch der Automobilsektor ist besonders hart getroffen. Um mehr als 30% sind die Autoverkäufe seit dem letzten Herbst zurückgegangen. Seit Mitte November hat z.B. Renault, der größte Autohersteller Frankreichs, seine Automobilproduktion eingestellt. Kein Auto ist mehr vom Band gelaufen; dabei betrug die Kapazitätsauslastung seit Monaten nur ca. 54%. Toyota wird ca. 3.000 Zeitarbeiter von 6.000 (d.h. 50%) in seinen japanischen Werken entlassen. Aber erneut kommen die besorgniserregendsten Zahlen aus den USA: die berühmten großen Drei aus Detroit (General Motors, Ford und Chrysler) stehen am Rande des Bankrotts. Das erste Rettungspaket des US-Staates von 15 Mrd. Dollar wird ihnen nicht dauerhaft weiterhelfen [6] (die Big Three forderten übrigens mindestens 34 Mrd. Dollar). In den nächsten Monaten ist mit großen Umstrukturierungen zu rechnen. Zwischen 2.3 und 3 Millionen Jobs stehen auf der Abschussliste. Und damit werden die entlassenen Arbeiter nicht nur ihre Arbeit verlieren, sondern auch ihre Krankenversicherung und ihre Rente!
Die unvermeidbare Konsequenz dieses massiven Arbeitsplatzverlustes ist natürlich die explosive Zunahme der Arbeitslosigkeit. In Irland, dem „Wirtschaftsmodell des letzten Jahrzehnts" hat sich die Zahl der Arbeitslosen innerhalb eines Jahres verdoppelt; dies ist der stärkste je registrierte Anstieg. In Spanien gab es Ende 2008 mehr als 3.13 Mio. Arbeitslose, d.h. ca. eine Million mehr als 2007.[7] In den USA wurden 2008 2.6 Mio. Stellen gestrichen - ein Rekord seit 1945.[8] Das Jahresende war besonders verheerend, da allein im November und Dezember mehr als 1.1 Millionen Beschäftigte ihre Stelle verloren. Wenn die Dinge so weitergehen, könnte es noch mehr als 3-4 Millionen zusätzliche Arbeitslose bis zum Sommeranfang 2009 geben.
Und diejenigen, die noch ihren Job behalten haben, werden damit konfrontiert, „viel mehr arbeiten zu müssen, um viel weniger zu verdienen".[9] So berichtete der letzte Bericht des Bureau international du Travail (BIT) in seinem « Bericht über die Löhne auf der Welt 2008/09", „Auf die 1.5 Milliarden Beschäftigten auf der Welt kommen schwierige Zeiten zu", „die Weltwirtschaftskrise wird zu schwerwiegenden und schmerzhaften Lohneinbußen führen".
Natürlich wird es infolge all dieser Angriffe zu einer enormen Zunahme der Verarmung kommen. Von Europa bis zu den USA haben alle karitativen Organisationen in den letzten Monaten mindestens 10% mehr Empfänger von Armensuppen registriert. Diese Welle von Verarmung bedeutet, dass es immer schwieriger sein wird, eine Wohnung zu finden, medizinische Versorgung zu erhalten und sich zu ernähren. Und für die Jugend von heute heißt dies auch, dass der Kapitalismus ihnen keine Zukunft mehr anzubieten hat.
Die wirtschaftlichen Mechanismen, welche die gegenwärtige Rezession hervorgerufen haben, sind mittlerweile gut bekannt. In Fernsehsendungen wurde immer wieder über die so genannten Hintergründe der Entwicklung berichtet. Vereinfacht gesagt, wurden die Ausgaben der „amerikanischen Haushalte" (m.a. W. die Arbeiterfamilien) künstlich durch alle möglichen Kreditformen aufrechterhalten, insbesondere durch einen Kredit mit tollem Erfolg: risikobehaftete oder „subprime" Immobilienkredite. Die Banken, Finanzinstitute, Pensionsfonds ... sie alle bewilligten Kredite ohne auf die wirkliche Zahlungsfähigkeit dieser Beschäftigten zu achten (daher ‚risikobehaftet'), da man ihnen unbedingt eine Immobilie verkaufen wollte. Im schlimmsten Fall, meinten sie, würden sie entschädigt durch den Verkauf der Häuser, welche die Schuldner ihnen bei Zahlungsunfähigkeit als Pfand hinterlassen müssten. Dies sorgte für einen Schneeballeffekt: Je mehr die Beschäftigten Schulden machten, insbesondere zum Erwerb einer Immobilie, umso mehr stieg der Wert einer Immobilie. Je teurer eine Immobilie wurde, desto mehr konnten die Beschäftigten sich verschulden. Alle Spekulanten auf der Erde haben sich an diesem Treiben beteiligt: Auch sie haben Immobilien erworben, um sie wieder teurer zu verkaufen; und vor allem haben sie sich gegenseitig diese berühmten subprimes mittels Finanztiteln verkauft (d.h. die Umwandlung von Schuldscheinen in Immobilienwerte, die auf dem Weltmarkt wie jede andere Aktie oder Obligation veräußert werden konnte). Innerhalb eines Jahrzehnts ist die Spekulationsblase enorm angewachsen. Alle Finanzinstitute der Welt haben sich an diesen Transaktionen in Milliardenumfang beteiligt. Mit anderen Worten, Haushalte, von denen man wusste, dass sie nicht zahlungsfähig waren, wurde zu Hühnern, die für die Weltwirtschaft goldene Eier legten.
Natürlich hat die ‘wirkliche Wirtschaft' diese Traumwelt auf den harten Boden der Realität zurückgeholt. Im ‚wahren Leben' mussten all diese hoch verschuldeten Beschäftigten auch die Folgen der Preisseigerungen und der Lohnstops, der Entlassungen, der Kürzungen der Arbeitslosengelder usw. erleben. Kurzum, auf der einen Seite kam es zu einer beträchtlichen Verarmung, auf der anderen Seite konnten immer weniger ihre Schulden begleichen. Die Kapitalisten haben daraufhin die zahlungsunfähigen Immobilienbesitzer vor die Tür gesetzt, aber die Zahl der so auf die Verkaufsliste gesetzten Häuser war so groß,[10] dass die Preise purzelten und ...bums... schmolz im Sommer 2007 der größte Schneeball der Welt schnell dahin. Die Banken standen vor Hunderttausenden zahlungsunfähiger Schuldner; der Wertverfall der Häuser war ungeheuerlich. Es kam zum Krach.
All das mag absurd erscheinen. Leuten Geld zu leihen, die nicht dazu in der Lage sind, zurückzuzahlen, richtet sich eigentlich gegen den kapitalistischen ‚Menschenverstand'. Und dennoch hat sich der größte Anteil des Wachstums der Weltwirtschaft während des letzten Jahrzehnts auf solch einen Schwindel gestützt. Die Frage steht im Raum, warum dies geschah? Warum solch ein Wahnsinn? Die Antwort der Journalisten, Politiker, Ökonomen ist einfach und einstimmig: „Die Spekulanten sind schuld". „Die Habsucht der Abzocker", die „unverantwortlichen Banker". Heute stimmen alle in den Chor der traditionellen Beschuldigung der Linken und der extremen Linken hinsichtlich der Auswirkungen der „Deregulierung" und des „Neoliberalismus" (eine Art grenzenloser Liberalismus), und rufen zu einer Rückkehr des Staates auf, was übrigens das wahre Wesen der „antikapitalistischen" Forderungen der Linken und extremen Linken offenbart. So forderte der französische Präsident Sarkozy „der Kapitalismus muss auf ethischen Grundlagen neu gegründet werden". Frau Merkel beschimpfte Spekulanten. Der spanische Premier Zapatero wiederum klagte die „Fundamentalisten des Marktes" an. Und Chavez, der illustre Paladin des « Sozialismus des 21. Jahrhunderts » kommentierte die in Windeseile beschlossenen Verstaatlichungen durch die Bush-Regierung: „Genosse Bush ist dabei, einige Maßnahmen zu ergreifen, die für den Genossen Lenin typisch waren".[11] Alle versichern uns, unsere Hoffnung müsse sich auf einen « anderen Kapitalismus » richten, welcher menschlicher, moralischer sein müsse und ... mehr Staat bedeute. All das sind Lügen! All das, was diese Politiker sagen, ist falsch; angefangen mit ihrer angeblichen Erklärung der Rezession.
In Wirklichkeit hat der Staat selbst als allererster diese generalisierte Verschuldung der Haushalte organisiert. Um die Wirtschaftlich künstlich zu stützen, haben die Staaten überall die Kredithähne geöffnet, indem sie die Leitzinsen der Zentralbanken senkten. Indem diese Staatsbanken Kredite zu Niedrigstzinsen, manchmal zu weniger als 1% Zinsen, anboten, wurde massenhaft Geld in Umlauf gebracht. Die weltweite Verschuldung war also das Ergebnis einer freien Entscheidung der Herrschenden und nicht das Ergebnis irgendeiner „Deregulierung". Wie kann man sonst die Erklärung von G.W. Bush nach dem 11. September 2001 verstehen, der damals zu Beginn der Rezession die Beschäftigten dazu aufrief: „Seid gute Patrioten, konsumiert, kauft!" Der amerikanische Präsident lieferte somit der ganzen Finanzwelt eine klare Botschaft: multipliziert die Verbraucherkredite, sonst wird die Wirtschaft zusammenbrechen![12]
Tatsächlich überlebt der Kapitalismus seit Jahrzehnten mit Hilfe des Kredites. Die nachfolgende Grafik (Grafik 1),[13] stellt die Entwicklung der gesamten US-Verschuldung seit 1920 dar (d.h. der Staatsverschuldung, Verschuldung der Unternehmen und Haushalte). Sie ist selbstredend. Um die Wurzel dieses Phänomens zu begreifen und über die vereinfachenden und verfälschenden des „Wahnsinns der Banker, Spekulanten und Unternehmer" zu entblößen, muss man das „große Geheimnis der modernen Gesellschaft, die Mehrwertproduktion",[14] so Marx, gelüftet werden.
Der Kapitalismus leidet seit seiner Entstehung an einer angeborenen Krankheit. Er bringt ständig einen Giftstoff hervor, den sein Körper nicht eliminieren kann - die „Überproduktion". Er stellt mehr Waren her als sein Markt aufnehmen kann. Warum? Nehmen wir ein theoretisches Beispiel: ein Fließbandarbeiter oder ein Beschäftigter, der mit einem Computer arbeitet, erhält am Ende des Monats einen Lohn von 800 Euro. Er hat aber nicht für den Wert von 800 Euro produziert (sein Lohn), sondern für den Wert von 1.200 Euro. Er hat unbezahlte Arbeit geleistet, mit anderen Worten einen Mehrwert geschaffen. Was macht der Kapitalist mit den 400 Euro, die er dem Arbeiter gestohlen hat (vorausgesetzt, es gelingt ihm die Waren abzusetzen)? Er steckt davon einen Teil in seine Tasche, nehmen wir an 150 Euro, und die verbleibenden 250 Euro investiert er wiederum in das Kapital seines Unternehmens, meistens indem er neue, modernere Maschinen kauft usw. Aber warum macht der Kapitalist dies? Weil er keine andere Wahl hat. Der Kapitalismus ist ein Konkurrenzsystem. Die Kapitalisten müssen die Waren billiger verkaufen als die Konkurrenten, welche die gleichen Waren anbieten. Deshalb muss der Unternehmer nicht nur seine Herstellungskosten senken, d.h. die Löhne,[15] sondern er muss auch einen wachsenden Teil der unbezahlten Arbeit dazu verwenden, prioritär in leistungsfähigere Maschinen zu investieren, um die Produktivität zu erhöhen.[16] Wenn er dies nicht tut, kann er nicht modernisieren, und früher oder später wird sein Konkurrent günstiger verkaufen und den Markt beherrschen können. Somit wird das kapitalistische System durch ein widersprüchliches Phänomen beherrscht: Indem die Arbeiter nicht für das entlohnt werden, was sie tatsächlich hergestellt haben, und indem die Unternehmer gezwungen werden, darauf zu verzichten, einen größeren Teil des so erzielten Profites zu verbrauchen, stellt das System mehr her als es absetzen kann. Niemals können Arbeiter und Kapitalisten zusammengenommen allein alle hergestellten Waren konsumieren. Wer wird aber den Warenüberschuss verbrauchen? Dazu muss das System zwangsweise neue Märkte außerhalb des Rahmens der kapitalistischen Produktionsweise finden. Diese nennt man außerkapitalistische Märkte (d.h. außerhalb des Kapitalismus, wo nicht nach kapitalistischen Prinzipien produziert wird).
Deshalb trat der Kapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert die Eroberung der Welt an. Er musste ständig neue Märkte in Asien, Afrika, Südamerika finden, um dort seine überschüssigen Waren profitabel abzusetzen, wenn er nicht der Gefahr ausgesetzt sein wollte, gelähmt zu werden. Aber dies trat übrigens regelmäßig ein, als es ihm nicht gelang, möglichst schnell neue Märkte zu erobern. Das Kommunistische Manifest von 1848 beschrieb diesen Krisentyp sehr anschaulich und bestechend. „In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt." [Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, S. 50. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 2628 (vgl. MEW Bd. 4, S. 468)]
Weil der Kapitalismus noch in seiner Wachstumsphase steckte, konnte dieser damals jedoch noch neue Territorien erobern; jede Krise mündete danach in eine neue Phase des blühenden Wachstums. „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen...Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbsteinzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde." [Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, S. 47. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 2625 (vgl. MEW Bd. 4, S. 466)]
Aber damals schon erkannte Marx in diesen periodischen Krisen etwas mehr als nur einen einfach ewigen Zyklus, der immer wieder zu einer neuen Blütephase führen würde. Er entdeckte viel mehr die tiefgreifenden Widersprüche des Kapitalismus. „...durch die Eroberung neuer Märkte [und] Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert." [Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, S. 50. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 2628 (vgl. MEW Bd. 4, S. 468)] Und zu den Krisen meinte Marx in „Lohnarbeit und Kapital": „Sie werden häufiger und heftiger schon deswegen, weil in demselben Maß, worin die Produktenmasse, also das Bedürfnis nach ausgedehnten Märkten wächst, der Weltmarkt immer mehr sich zusammenzieht, immer weniger Märkte zur Exploitation übrigbleiben, da jede vorhergehende Krise einen bisher uneroberten oder vom Handel nur oberflächlich ausgebeuteten Markt dem Welthandel unterworfen hat." [Marx: Lohnarbeit und Kapital, S. 52. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 2739 (vgl. MEW Bd. 6, S. 423)]
Im 18. und 19. Jahrhundert lieferten sich die größten kapitalistischen Mächte einen wahren Wettlauf bei der Eroberung der Welt. Sie teilten schrittweise den Erdball untereinander auf und bildeten richtige Reiche. Von Zeit zu Zeit traten sie sich gegenüber und schielten gemeinsam auf dasselbe Territorium; ein kurzer Krieg wurde ausgelöst, und der Unterlegene begab sich schnell auf die Suche nach einem anderen zu erobernden Teil der Erde. Aber nachdem sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Großmächte die Herrschaft über die Welt aufgeteilt hatten, ging es nun nicht mehr darum, in Afrika, Asien oder Amerika auf Jagd nach Kolonien zu gehen, sondern in einen unnachgiebigen Krieg zur Verteidigung ihrer Einflussgebiete einzutreten und sich mit Waffengewalt der Einflussgebiete der imperialistischen Konkurrenten zu bemächtigen. Dabei handelte sich es um einen wahren Überlebenskampf für die kapitalistischen Nationen. Sie mussten unbedingt ihre Überproduktion auf den nicht-kapitalistischen Märkten absetzen. Es war also kein Zufall, dass Deutschland, das über sehr wenig Kolonien verfügte und von der Zustimmung des britischen Reiches zum Handel auf seinen Territorien abhing (für eine nationale Bourgeoisie eine unhaltbare Situation), am aggressivsten vorging und 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste. In diesem Krieg kamen mehr als 11 Millionen Menschen um; er rief ungeheure Leiden hervor sowie ein moralisches und psychologisches Trauma für ganze Generationen. Dieser Horror kündigte den Anbruch einer neuen Epoche an, die die barbarischste Epoche in der Geschichte wurde. Der Kapitalismus hatte seinen Höhepunkt überschritten; er trat in seine Niedergangsphase ein. Der Krach von 1929 war ein schlagender Beweis dafür.
Und dennoch, nach mehr als einhundert Jahren langsamer Agonie hält sich das System noch immer aufrecht, schwankend, angeschlagen, aber immer noch aufrecht. Wie konnte es überleben? Warum ist sein Körper noch nicht völlig durch das Gift der Überproduktion gelähmt? Hier kommt der Rückgriff auf die Verschuldung ins Spiel. Der Weltwirtschaft ist es gelungen, einen spektakulären Zusammenbruch zu vermeiden, indem immer massiver auf die Verschuldung zurückgegriffen wurde.
Wie die Grafik 1 zeigt, nahm die US-Gesamtverschuldung seit Anfang des 20. Jahrhunderts enorm zu, um förmlich in den 1920er Jahren zu explodieren. Die Haushalte, Unternehmen und Banken erstickten geradezu unter dem Gewicht der Schulden. Und der rapide Rückgang der Verschuldungskurve in den 1930er und 1940er Jahren war in Wirklichkeit irreführend. Die große Depression der 1930er Jahre stellte die erste große Wirtschaftskrise in der Dekadenz dar. Die herrschende Klasse war damals noch nicht auf solchen Schock vorbereitet. Zunächst reagierte sie nicht oder schlecht. Indem die Grenzen dicht gemacht wurden (Protektionismus), wurde die Überproduktion nur noch verschärft. Das Gift wirkte verheerend. Zwischen 1929-1933 sank die US-amerikanische Industrieproduktion um die Hälfte;[17] 13 Millionen Arbeitslose wurden registriert. Zwei Millionen Amerikaner waren obdachlos, eine gewaltige Verarmung breitete sich aus.[18] Anfangs eilte die herrschende Klasse dem Finanzsektor nicht zu Hilfe: von den 29.000 Banken, die 1921 gezählt worden waren, blieben Ende März 1933 nur 12.000 übrig. Und dieses ‚Bankengemetzel' ging noch bis 1939 weiter.[19] All diese Bankrotte bedeuteten einfach das Verschwinden eines gigantischen Schuldenberges.[20] Aber in der Grafik erscheint nicht das Wachstum der öffentlichen Verschuldung. Nach vier Jahren des Abwartens ergriff der US-amerikanische Staat schließlich Maßnahmen: Roosevelts New Deal wurde beschlossen. Aber woraus bestand dieser Plan, von dem man heute so viel spricht? Es handelt sich um eine Politik der Großprojekte, die sich auf eine massive und nie da gewesene Verschuldung des Staates stützte (1929 betrug die öffentliche Verschuldung 17 Milliarden Dollar, 1939 erreichte sie 40 Milliarden Dollar).[21]
Später hat die bürgerliche Klasse die Lehren aus diesem gescheiterten Erlebnis gezogen. Am Ende des 2. Weltkriegs schuft sie auf internationale Ebene Währungs- und Finanzinstanzen (mit Hilfe des Bretton Wood Abkommens), und vor allem erfolgte nunmehr systematisch der Rückgriff auf Kredite. Nachdem ein Tiefstand 1953-54 erreicht wurde und trotz der kurzen Beruhigung in den 1950er und 1960er Jahren,[22] nahm die US-Gesamtverschuldung langsam aber unwiderruflich von Mitte der 1950er Jahre an zu. Und als die Krise 1967 wieder ausbrach, wartete die herrschende Klasse dieses mal keine vier Jahre um zu reagieren. Sie griff sofort wieder zu Krediten. Die letzten 40 Jahre können in der Tat zusammengefasst werden als eine einzige Abfolge von Krisen und eine unglaubliche Steigerung des weltweiten Schuldenbergs. In den USA gab es offiziell in den Jahren 1969, 1973, 1980, 1981, 1990 und 2001 eine Rezession.[23] Der von der bürgerlichen Klasse in den USA eingeschlagene Weg zur Überwindung dieser Schwierigkeiten wird anhand der Grafik ersichtlich: Die Verschuldung stieg stark ab 1973 und erhöhte sich über alle Maßen in den 1990er Jahren. Die ganze bürgerliche Klasse hat überall auf der Welt so reagiert.
Aber die Verschuldung ist keine magische Lösung. Die 2. Statistik [24] zeigt, dass seit 1966 die Verschuldung immer weniger wirksam ist, um das Wachstum anzukurbeln.[25] Es handelt sich hier um einen Teufelskreis. Die Kapitalisten produzieren mehr Waren als der Markt normalerweise aufsaugen kann. Dann schafft der Kredit einen künstlichen Markt. Die Kapitalisten verkaufen somit ihre Waren und investieren ihren Profit in der Produktion .... Womit wir wieder beim Ausgangspunkt sind, denn neue Kredite werden benötigt, um die neuen Waren zu verkaufen. Nicht nur häufen sich jeweils die Schuldenberge, sondern bei jedem neuen Zyklus müssen die Schuldenberge weit höher sein, um die gleiche Wachstumsrate zu erhalten (da die Produktion erweitert werden muss). Zudem wird ein immer größerer Teil der Kredite nie dem Produktionsprozess zugeführt, sondern er verschwindet alsbald in dem Abgrund der Defizite. Überschuldete Haushalte nehmen oft neue Kredite auf, um ihre Altschulden zu begleichen. Die Staaten, Unternehmen und Banken funktionieren auf die gleiche Art und Weise. Schließlich haben während der letzten 20 Jahre, als die ‚reelle Wirtschaft' ständig in der Krise steckte, große, wachsende Mengen von Geld, das in dieser Form geschaffen wurde, nur die Spekulationsblasen mit angefacht (Internet, Telekom, Immobilienblase usw.).[26] Es war in der Tat rentabler und schließlich weniger risikoreich an der Börse zu spekulieren als in die Produktion von Waren zu investieren, die auf große Absatzschwierigkeiten stoßen. Heute gibt es 50 mal mehr Geld im Umlauf an den Börsen als in der Produktion.[27]
Aber diese Flucht nach vorn in die Verschuldung ist nicht nur immer weniger wirksam, sie verschärft vor allem unausweichlich und systematisch die verheerende Wirtschaftskrise. Das Kapital kann nicht endlos lange Geld aus seinem Hut zaubern. Das ABC der Wirtschaft besagt, dass jede Schuld eines Tages zurückgezahlt werden muss, weil sonst für den Gläubiger große Schwierigkeiten entstehen können, die bis hin zum Bankrott reichen. Wir kommen also gewissermaßen zum Ausgangspunkt zurück. Eigentlich hat das Kapital gegenüber seiner historischen Krise nur Zeit gewonnen. Schlimmer noch. Indem so die Auswirkungen der Krise auf morgen verschoben werden, werden dadurch nur noch heftigere wirtschaftliche Erschütterungen vorbereitet. Und genau das passiert im Kapitalismus heute!
Wenn ein Einzelner Pleite geht, verliert er alles und fliegt auf die Straße. Ein Unternehmer muss Konkurs anmelden. Aber ein Staat? Kann ein Staat bankrott gehen? Bislang haben wir noch nie gesehen, dass ein Staat « Konkurs anmeldet ». Aber das stimmt nicht genau. Zahlungsunfähig werden, ja das kann er!
1982 mussten 14 hochverschuldete afrikanische Staaten offiziell Zahlungsunfähigkeit anmelden. In den 1990er Jahren wurden südamerikanische Staaten und Russland zahlungsunfähig. Und neulich ist Argentinien 2001 unter dem Schuldenberg zusammengebrochen. Konkret haben diese Staaten nicht zu existieren aufgehört, und die jeweilige Volkswirtschaft ist nicht zum Stillstand gekommen. Aber jedes Mal ist eine Art ökonomisches Beben eingetreten: Der Wert der Landeswährung ist gesunken, die Geldgeber (in der Regel andere Staaten) haben alles oder einen Teil ihrer Investitionen verloren, und vor allem hat der Staat seine Ausgaben drastisch gekürzt, indem ein Großteil seiner Beamten entlassen wurde und eine Zeitlang den verbliebenen Beschäftigen kein Gehalt gezahlt wurde.
Heute steht eine Vielzahl von Ländern am Rand des Abgrundes: Ecuador, Island, Ukraine, Serbien, Estland... Aber wie steht es um die Großmächte? Der Gouverneur von Kalifornien, Arnold Schwarzenegger, erklärte Ende Dezember, sein Bundesstaat müsse den „finanziellen Notstand" ausrufen. Der reichste US-Bundessstaat, der „Golden State", schickt sich an, einen großen Teil seiner 235.000 Beschäftigten (die Verbleibenden müssen ab dem 1. Februar 2009 pro Monat zwei Tage unbezahlten ‚Urlaub' nehmen) zu entlassen! Bei der Vorstellung des neuen Jahreshaushaltes warnte der ehemalige Hollywood-Star, „jeder müsse Zugeständnisse machen". Dies ist ein klares Symbol der tiefgreifenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der ersten Weltmacht. Wir sind noch weit von einer Zahlungsunfähigkeit des US-Staates entfernt, aber das Beispiel zeigt deutlich, dass die finanziellen Spielräume gegenwärtig bei allen Großmächten sehr eng geworden sind. Die weltweite Verschuldung scheint an ihre Grenzen zu stoßen (sie betrug 2007 60.000 Milliarden Dollar und ist seitdem um mehrere Tausende Milliarden Dollar weiter angewachsen). Weil sie gezwungen ist, diesen Weg weiter zu beschreiten, wird die bürgerliche Klasse nur noch weitere verheerende wirtschaftliche Erschütterungen verursachen. Die amerikanische FED hat zum ersten Mal seit ihrer Gründung im Jahre 1913 ihre Leitzinsen für das Jahr 2009 auf 0.25% gesenkt. Der amerikanische Staat verleiht also nahezu kostenlos Geld (und dies geschieht eigentlich sogar mit Verlust, wenn man die Inflation mit berücksichtigt). Alle Ökonomen der Welt rufen nach einem „neuen New Deal". Sie träumen davon, in Obama einen neuen Roosevelt zu sehen, der dazu in der Lage wäre, die Wirtschaft wie 1933 durch einen gewaltigen Plan öffentlicher Arbeiten, die durch ... Schulden finanziert wurden, wieder anzukurbeln.[28] Aber die Herrschenden haben seit 1967 regelmäßig die Staatsverschuldung in einem noch viel größeren Umfang als zur Zeit des New Deal erhöht, bislang jedoch ohne wirklichen Erfolg. Das Problem ist, dass solch eine Politik der Flucht nach vorn den Zusammenbruch des Dollars herbeiführen kann. Immer mehr Länder zweifeln mittlerweile die Fähigkeit der USA an, ihre Schulden zurückzuzahlen und sie sind deshalb geneigt, ihre Investitionen zurückzuziehen. Das trifft z.B. auf China zu, das Ende 2008 in diplomatischer Sprache Uncle Sam drohte, die Unterstützung der US-Wirtschaft durch den Kauf von Staatsanleihen einzustellen: „Jeder Fehler hinsichtlich der Tragweite der Krise wird sowohl für die Gläubiger als auch für die Schuldner Schwierigkeiten verursachen. Der scheinbar wachsende Appetit des Landes für US-amerikanische Staatsanleihen bedeutet nicht, dass diese langfristig eine rentable Investitionen bleiben werden oder dass die amerikanische Regierung weiterhin von ausländischem Kapital abhängig sein wird." So droht also China dem amerikanischen Staat, die seit Jahren betriebene Unterstützung der US-Wirtschaft einzustellen. Wenn China seine Drohung wahr machen würde,[29] würde das daraus entstehende internationale währungspolitische Chaos apokalyptische Ausmaße annehmen und die Auswirkungen für die Arbeiterklasse wären gewaltig. Aber nicht nur das Reich der Mitte hat angefangen, Zweifel zu äußern. Am Mittwoch, den 10. Dezember 2008, hatte der US-Staat zum ersten Mal in der Geschichte große Schwierigkeiten, für eine Staatsanleihe von 28 Milliarden Dollar Käufer zu finden. Und weil bei allen Großmächten die Kassen leer sind, und sich überall die Rechnungen für die riesigen Schuldenberge anhäufen und die Wirtschaft sich in einem schlechteren Zustand befindet, musste der deutsche Staat am gleichen Tag das gleiche erleben: Auch er hatte zum ersten Mal seit den 1920er Jahren Schwierigkeiten Käufer für seine Staatsanleihen im Umfang von 7 Milliarden Euro zu finden.
Offensichtlich ist die Verschuldung, ob die der Privathaushalte, der Unternehmen oder der Staaten, nur ein ‚Schmerzmittel'. Sie kann die Krankheit des Kapitalismus - die Überproduktion - nicht heilen. Dadurch kann allerhöchstens nur vorübergehend eine Erleichterung verschafft werden, aber gleichzeitig werden dadurch nur noch größere Beben vorbereitet. Und dennoch muss die herrschende Klasse diese verzweifelte Politik fortführen, denn sie hat keine andere Wahl, wie die Erklärung Angela Merkels am 8. November 2008 auf der Internationalen Konferenz in Paris belegt: „Es gibt keine andere Möglichkeit des Kampfes gegen die Krise als die Anhäufung von Schuldenbergen", oder auch die Wortmeldung des Chefökonomen des IWF, Olivier Blanchard: „Wir stehen vor einer Krise mit einem außergewöhnlichen Ausmaß, deren Hauptcharakteristik ein Zusammenbruch der Nachfrage ist (...) Wir müssen unbedingt die private Nachfrage wieder ankurbeln, wenn wir vermeiden wollen, dass die Rezession in eine große Depression mündet. Wie? - Durch die Erhöhung der öffentlichen Ausgaben".
Aber abgesehen von den Konjunkturprogrammen kann der Staat nicht wenigsten DER Retter sein, indem er einen Großteil der Wirtschaft verstaatlicht, insbesondere die Banken und die Automobilbranche? Nein, auch das wirkt nicht! Im Gegensatz zu den traditionellen Lügen der Linken und der Extremen Linken brachten die Verstaatlichungen nie eine Verbesserung für die Arbeiterklasse. Nach dem 2. Weltkrieg diente die große Verstaatlichungswelle dazu, einen zerstörten Produktionsapparat wieder auf die Beine zu stellen, indem der Arbeitsrhythmus intensiviert wurde. Wir dürfen nicht vergessen, was damals Thorez, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs und damals Vizepräsident der von De Gaulle geführten Regierung war, insbesondere an die Adresse der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sagte: „Wenn ein Arbeiter bei der Arbeit stirbt, müssen die Frauen ihn ersetzen", oder „Krempelt die Ärmel auf für den nationalen Wiederaufbau" oder „Streiks sind die Waffen der Trusts". Willkommen in der wunderbaren Welt der verstaatlichten Betriebe. Das verwundert alles nicht. Die revolutionären Kommunisten haben immer seit der Gründung der Pariser Kommune 1871 die arbeiterfeindliche Rolle des Staates aufgezeigt: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der Ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben."[Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. 506. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 8142 (vgl. MEW Bd. 20, S. 260)] [30]
Die neue Welle von Verstaatlichungen wird also der Arbeiterklasse nichts Gutes bringen. Und sie wird es den Herrschenden auch nicht ermöglichen, ein dauerhaftes Wachstum anzustoßen. Im Gegenteil! Diese Verstaatlichungen kündigen noch gewalttätigere wirtschaftliche Stürme an. 1929 haben die pleite gegangenen US-Banken die Guthaben eines Großteils der US-Bevölkerung mit vernichtet und damit Millionen Arbeiter in die Armut gestürzt. Um die Wiederholung solch eines Debakels zu verhindern, war das Bankensystem in zwei Teile aufgeteilt worden: einerseits die Geschäftsbanken, die Unternehmen finanzieren und in allen möglichen Finanzbereichen tätig sind; anderseits Gläubigerbanken, die das Geld von den Einlegern bekommen und es für relativ sichere Anlagen benutzen. Aber von der Pleitewelle im Jahre 2008 weggespült, gibt es nun diese amerikanischen Geschäftsbanken nicht mehr. Das amerikanische Finanzsystem befindet sich jetzt wieder in dem gleichen Zustand wie vor dem 24. Oktober 1929. Beim nächsten Sturm laufen alle bislang dank der völligen oder teilweisen Verstaatlichung „geretteten" Banken ihrerseits Gefahr zu verschwinden, aber dabei werden sie die knappen Ersparnisse und die Löhne von zahlreichen Arbeiterfamilien mit zerstören. Wenn die Herrschenden heute Verstaatlichungen vornehmen, wollen sie damit nicht irgendein Konjunkturprogramm anleiern, sondern es geht darum, die unmittelbare Zahlungsunfähigkeit der großen Finanzhäuser oder Industriekonzerne zu vermeiden. Es geht darum, das Schlimmste zu vermeiden.[31]
Der in den letzten vier Jahrzehnten angehäufte Schuldenberg ist zu einem wahren Mount Everest geworden, und niemand kann heute den Bergrutsch verhindern. Der Zustand der Wirtschaft ist wirklich katastrophal. Aber man darf deshalb nicht glauben, dass der Kapitalismus durch einen Schlag verschwinden wird. Die Bürgerlichen werden IHRE Welt nicht untergehen lassen ohne zu reagieren. Sie werden verzweifelt und mit allen Mitteln versuchen, die Agonie ihres Systems zu verlängern, ohne dabei auf die furchtbaren Konsequenzen, die sich dabei für die Menschheit ergeben, zu achten. Ihre wahnsinnige Flucht nach vorne in noch mehr Verschuldung wird weitergehen. Selbst wenn es in Zukunft hier und da kurze Augenblicke von Wachstum geben wird, steht fest, dass die historische Krise des Kapitalismus jetzt ihren Rhythmus geändert hat. Nach 40 Jahren langsamen Abstiegs in die Hölle, stehen wir jetzt vor gewalttätigen Erschütterungen, mit immer wieder auftretenden ökonomischen Beben, die nicht nur die Staaten der Dritten Welt sondern auch die USA, Europa, Asien erfassen werden.[32]
Die Devise der Kommunistischen Internationale 1919 « Damit die Menschheit überleben kann, muss der Kapitalismus überwunden werden/sterben » ist mehr denn je aktuell.
Mehdi, 10.01.2009
[1] Jeweils : Paul Krugman (letzter Nobelpreis für Wirtschaft), Warren Buffet (US-Investor, genannt das ‘Orakel von Omaha', so stark wird die Meinung des Milliardärs der kleinen US-Stadt in Nebraska in der Finanzwelt geachtet), Jacques Attali (Ökonom und Berater von Mitterrand und Sarkozy) und Laurence Parisot (Präsidentin des französischen Unternehmerverbandes).
[2] Libération, 4.08.08
[3] Le Monde, 22.08.08.
[4] Quelle : www.contreinfo.info [25]
[5] Les Echos, 05.12.08
[6] Dieses Geld wurde in den Kassen des Paulson Plans gefunden, welcher schon nicht für den Bankensektor ausreicht. Die herrschende Klasse in den USA muss „Paul ausziehen, um Jack anzuziehen", was ein entsprechendes Licht auf den desaströsen Zustand der Finanzen der ersten Macht der Erde wirft.
[7] Les Echos, 08.01.09
[8] nach dem Bericht, der am 9.01.09 vom US-Arbeitsministerium veröffentlicht wurde (Les Echos, 09.01.09)
[9] In Frankreich hatte Präsident Nicolas Sarkozy gar 2007 eine Kampagne 2007 mit dem Hauptslogan „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen" (sic !) betrieben.
[10] 2007 waren mehr als drei Millionen US-Haushalte zahlungsunfähig (in Subprime Mortgage Foreclosures by the Numbers). www.americanprogress.org/issues/2007/03/foreclosures_numbers.html [26].
[11] In diesem Fall stimmen wir mit Chavez überein. Bush ist in der Tat sein Genosse. Auch wenn sie sich bei dem Kampf zwischen zwei imperialistischen Nationen gegenüberstehen, sind sie dennoch Kampfgefährten bei der Verteidigung des Kapitalismus und der Privilegien ihrer Klasse ... die Bourgeoisie.
[12] Heute wird Alan Greenspan, der ehemalige Präsident der FED und der Orchesterchef dieser Schuldenwirtschaft wird heute von allen Ökonomen und anderen Doktoren der Ökonomie gelyncht. All diese Leute haben ein kurzes Gedächtnis, sie vergessen, dass sie ihn vor kurzem noch in den Himmel lobten. Er wurde gar als der « Finanzguru » gepriesen.
[13] Quelle : eco.rue89.com/explicateur/2008/10/09/lendettement-peut-il-financer-leconomie-americaine
[14] Le Capital, Livre 1, p725, La Pléiade.
[15] oder anders gesagt das variable Kapital
[16] das fixe Kapital.
[17] A. Kaspi, Franklin Roosevelt, Paris, Fayard, 1988, p.20
[18] Diese Zahlen sind umso wichtiger, da die US-Bevölkerung damals nur 120 Mio. betrug. Quelle : Lester V. Chandler, America's Greatest Depression 1929-1941, New York, Harper and Row, 1970, p.24. et sq.
[19] Gemäß Frédéric Valloire, in Valeurs Actuelles 15.02.2008.
[20] Der Vollständigkeit halber soll ergänz werden, dass dieser Rückgang der Gesamtschuld auch durch einen komplexen ökonomischen Mechanismus erklärt wird: die Geldschöpfung. Der New Deal wurde nicht ganz durch Schulden finanziert, sondern auch durch reine Geldschöpfung. So wurde am 12. Mai 1933 der US-Präsident dazu ermächtigt, die Schulden der Zentralbank um 3 Milliarden Dollar zu erhöhen und Geldnoten im Umfang von 3 Milliarden $ ohne Gegenwert zu drucken Am 22. Oktober desselben Jahres wurde der Dollar gegenüber dem Gold um 50% abgewertet. All dies erklärt die relative Beschränkung der Verschuldungsquoten.
[21] Quelle : www.treasurydirect.gov/govt/reports/pd/histdebt/histdebt_histo3.htm [27]
[22] Von 1950 bis 1967 durchlief der Kapitalismus eine Wachstumsphase, die « 30 glorreiche Jahre » oder « goldene Jahre » genannt wurden. Das Ziel dieses Artikels besteht nicht darin, die Ursachen dieses kurzen Zeitraums innerhalb der wirtschaftlichen Flaute des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. In der IKS findet gegenwärtig eine Debatte statt, um besser den Hintergrund dieses kurzen Zeitraums zu begreifen. Wir haben angefangen, diese Debatte in unserer Presse zu veröffentlichen (siehe dazu « Interne Debatte der IKS : Die Ursachen der Blütephase nach dem 2. Weltkrieg", Internationale Revue Nr. 42). Wir ermuntern alle unsere Leser/Innen sich an diesen Debatten in unseren Veranstaltungen oder auch per Post oder per E-mail zu beteiligen
[23] Quelle : www.nber.org/research/business-cycle-dating [28].
[24] Quelle : eco.rue89.com/explicateur/2008/10/09/lendettement-peut-il-financer-leconomie-americaine
[25] 1996 schuft ein Dollar zusätzlicher Verschuldung 0.80 Dollar zusätzlichen Reichtum, während 2007 ein Dollar zusätzlicher Verschuldung lediglich 0.20 Dollar BIP schuf.
[26] Aktiva und Immobilien werden im BIP nicht aufgeführt.
[27] Im Gegensatz zu all dem, was uns Journalisten, Ökonomen und andere Lügenverbreiter sagen, ist dieser „spekulative Wahnsinn" doch das Ergebnis der Krise und nicht umgekehrt.
[28] Nach Beendigung dieses Artikels hat Obama seinen lang erwarteten Ankurbelungsplan vorgestellt, der selbst den Ökonomen zufolge « ziemlich enttäuschend » ist. 775 Milliarden Dollar werden locker gemacht, um den US-Haushalten 1000 Dollar zusätzliche Kaufkraft « zur Anregung des Konsums » zur Verfügung zu stellen (in diesen Genuss werden 75% der Haushalte kommen). Gleichzeitig soll ein Programm öffentlicher Ausgaben im Bereich Energie, Infrastruktur und Bildung erfolgen. Dieser Plan sollte Obama zufolge drei Millionen Arbeitsplätze « in den nächsten Jahren » schaffen. Gegenwärtig verlieren monatlich ca. 500.000 Beschäftigte ihren Job ; dieser neue New Deal (selbst wenn er die erhoffte Wirkung zeigen würde, was wenig wahrscheinlich ist) wird also bei weitem nicht reichen.
[29] Diese Bedrohung zeigt gleichzeitig die Sackgasse und die Widersprüche, in welcher die US-Wirtschaft steckt. Wenn China massiv Dollars verkaufen würde, hieße dies, sich den Ast abzusägen, auf dem es selbst sitzt, da die USA Hauptabsatzmarkt seiner Waren sind. Deshalb hat China bislang meist die US-Wirtschaft unterstützt. Aber gleichzeitig weiß China, dass dieser Ast morsch, von Würmern zerfressen ist, und es will dann nicht mehr auf dem Ast sitzen, wenn er abbricht.
[30] In « Anti-Dühring », Ed.Sociales 1963, p.318.
[31] Damit schafft er aber einen günstigeren Boden für die Entwicklung der Kämpfe. Indem der Staat wieder ihr offizieller Arbeitgeber werden wird, werden die Beschäftigten bei ihren Kämpfen alle direkt dem Staat gegenüberstehen. In den 1980er Jahren hatte die große Privatisierungswelle (z.B. unter Thatcher in England) eine zusätzliche Schwierigkeit im Klassenkampf bedeutet. Nicht nur wurden die Arbeiter durch die Gewerkschaften dazu aufgerufen, um die Betriebe des öffentlichen Dienstes zu retten, oder um anders gesagt, eher durch einen Arbeitgeber (den Staat) als durch einen anderen (privaten) ausgebeutet zu werden. So standen sie nicht mehr lediglich dem gleichen Arbeitgeber (dem Staat), sondern eine Reihe verschiedener privater Arbeitgeber gegenüber. Ihre Kämpfe wurden dadurch oft zerstreut und somit machtlos. In der Zukunft werden dagegen günstigere Bedingungen für einen einheitlichen Kampf gegen den Staat vorhanden sein.
[32] Die Wirtschaft ist sozusagen ein „besonders stark vermintes Gelände", deshalb ist es schwierig vorherzusagen, welche Mine als nächstes hochgehen wird. Aber in den Publikationen der Wirtschaftswissenschaftlicher taucht immer mehr ein Name auf, der den Experten Angst macht: die CDS. Ein CDS (credit default swap) ist eine Art Versicherung, mit Hilfe dessen ein Finanzinstitut sich gegen Zahlungsausfälle durch die Zahlung einer Prämie versichert. Der Gesamtumfang der CDS wurde für das Jahr 2008 auf 60 000 Milliarden Dollars hochgerechnet. D.h. wenn eine Krise der CDS ähnlich verlaufen würde wie die Krise der subprimes wäre dies unglaublich verheerend. Damit würden die ganzen amerikanischen Rentenfonds und damit die Renten der US-Arbeitnehmer überhaupt dahinschmelzen.
Der Ausbruch der Wut und der Revolte der jungen Arbeitergenerationen in Griechenland ist kein isoliertes oder besonderes Phänomen. Ihre Wurzeln liegen in der Weltwirtschaftskrise des Kapitalismus. Der Zusammenstoß der Protestierenden mit dem gewalttätigen Unterdrückungsapparat entblößt das wahre Gesicht der bürgerlichen Herrschaft und des Staatsterrors. Es ist eine direkte Fortsetzung der Mobilisierung der Jugendlichen auf einem Klassenterrain wie in Frankreich im Zusammenhang mit dem CPE-Gesetz im Frühjahr 2006 und dem LRU 2007, als die Studenten und Gymnasiasten sich vor allem als zukünftige Beschäftigte sahen, die gegen ihre künftigen Ausbeutungsbedingungen protestierten. Alle Herrschenden der wichtigsten europäischen Länder haben dies auch so verstanden, denn sie haben ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht, dass ähnliche soziale Explosionen aus Widerstand gegen die Zuspitzung der Krise auch woanders ausbrechen. So hat bezeichnenderweise die herrschende Klasse in Frankreich einen Rückzieher gemacht, indem sie ganz überstürzt ihr Programm zur Reformierung der Gymnasien (siehe dazu den Artikel auf unserer französischsprachigen Website) vorläufig auf Eis gelegt hat. Der internationale Charakter der Proteste und die wachsende Kampfbereitschaft der Studenten und vor allem der Schüler ist schon deutlich zu spüren.
In Italien fanden am 25. Oktober und am 14. November massive Demonstrationen unter dem Motto „Wir wollen nicht für die Krise blechen" gegen die Regierungsverordnung von Gelmini statt, die zahlreiche Einschnitte im Erziehungswesen mit drastischen Konsequenzen anstrebt: So sollen zum Beispiel die Zeitverträge von 87.000 Lehrern und 45.000 anderen Beschäftigten des Erziehungswesens nicht verlängert werden. Gleichzeitig sollen umfangreiche Kürzungen in den Universitäten vorgenommen werden.
In Deutschland sind am 12. November ca. 120.000 Schüler in den meisten Großstädten des Landes auf die Straße gegangen und haben zum Teil Parolen gerufen wie „Der Kapitalismus ist die Krise" (Berlin) oder das Landesparlament in Hannover belagert.
In Spanien sind am 13. November Hunderttausende Studenten in mehr als 70 Städten auf die Straße gegangen, um gegen die neuen, europaweit gültigen Bologna-Bestimmungen der Bildungsreform und der Universitäten zu protestieren, in denen u.a. die Privatisierung der Universitäten und immer mehr Praktika in den Unternehmen vorgesehen sind.
Die Revolte der Jugend gegen die Krise und die Verschlechterung der Lebensbedingungen breitete sich auf andere Länder aus: alleine im Januar 2009 brachen Bewegungen und Konfrontationen in Vilnius (Litauen), Riga (Lettland) und Sofia (Bulgarien) aus. Sie wurden mit einer harten Polizeirepression konfrontiert. In Kegoudou, 700 Kilometer südöstlich von Dakar in Senegal, ereigneten sich im Dezember 2008 gewalttätige Konfrontationen während Demonstrationen gegen die Armut. Die Demonstranten hatten mehr Lohn bei der Arbeit in den Minen von ArcelorMittal gefordert. 2 Personen wurden dabei getötet. Schon Anfangs Mai 2008 gab es einen Aufstand von 4000 Studenten in Marrakesch (Marokko), nachdem 22 von ihnen durch das Essen in der Universitätskantine eine Vergiftung erlitten hatten. Die Bewegung wurde brutal niedergeknüppelt und es folgten Festnahmen, lange Gefängnisstrafen und Folter.
Viele von ihnen identifizieren sich mit dem Kampf der griechischen Studenten. In vielen Ländern sind zahlreiche Kundgebungen und Solidaritätsveranstaltungen gegen die Repression, unter der die griechischen Studenten leiden, organisiert worden, wobei die Polizei auch sehr oft gewaltsam dagegen vorgegangen ist.
Das Ausmaß der Mobilisierung gegen diese gleichen, staatlichen Maßnahmen überrascht keineswegs. Die europaweite Reform des Bildungswesens dient der Anpassung der jungen Arbeitergeneration an eine perspektivlose Zukunft und die Generalisierung prekärer Arbeitsbedingungen sowie der Arbeitslosigkeit.
Der Widerstand und die Revolte der neuen Generationen von Schülern, die die zukünftigen Beschäftigten stellen werden, gegen die Arbeitslosigkeit und dieses ganze Ausmaß an Prekarisierung lässt überall ein Gefühl der Sympathie unter den ArbeiterInnen aufkommen, das bei allen Generationen zu spüren ist.
Die in den Diensten der Lügenpropaganda des Kapitals stehenden Medien haben permanent versucht, die Wirklichkeit der Ereignisse in Griechenland seit der Ermordung des 15jährigen Alexis Andreas Grigoropoulos am 6. Dezember zu verzerren. Sie stellen die Zusammenstöße mit der Polizei entweder als das Werk einer Handvoll autonomer Anarchisten und linksextremer Studenten aus einem wohlbetuchten Milieu dar oder als das Vorgehen von Schlägern aus Randgruppen. Ständig werden in den Medien Bilder von gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei gesendet. Vor allem erscheinen Bilder von Jugendlichen, die Autos anstecken, Schaufenster von Geschäften und Banken zerschlagen, oder Bilder von Plünderungen von Geschäften.
Das ist die gleiche Fälschungsmethode, die 2006 gegen die Proteste gegen den CPE in Frankreich angewandt wurde, als die Proteste der Studenten mit den Aufständen in den Vorstädten von Paris im Herbst 2005 in den gleichen Topf geworfen wurden. Es ist das gleiche Vorgehen wie bei den Protesten gegen den LRU 2007 in Frankreich, als die Demonstranten als „Terroristen" oder „Rote Khmer" beschimpft wurden.
Aber auch wenn das Zentrum der Zusammenstöße im griechischen „Quartier Latin", in Exarchia, lag, kann man heute solche Lügen nur viel schwerer verbreiten. Wie könnten diese aufständischen Erhebungen das Werk von Randalierern oder anarchistischen Aktivisten sein, da sie sich doch lawinenartig auf alle Städte das Landes und selbst bis auf die Inseln (Chios, Samos) und bis in die großen Touristenhochburgen wie Korfu oder Kreta oder Heraklion ausgedehnt haben?
Alle Ingredienzien waren vorhanden, damit die Unzufriedenheit eines Großteils der jungen Arbeitergeneration sich ein Ventil sucht. Diese Generation hat Angst vor der Zukunft, die ihnen der Kapitalismus bietet. Griechenland verdeut-licht die Sackgasse, in welcher der Kapitalismus steckt und die auf alle Jugendlichen zukommen wird. Wenn diejenigen, die die „Generation der 600 Euro-Jobber" genannt werden
, auf dem Arbeitsmarkt auftauchen, haben sie den Eindruck, verarscht zu werden. Die meisten Studenten können ihr Studium nur finanzieren und überleben, indem sie in zwei Jobs schuften. Sie müssen kleine Jobs, meist unterbezahlte Schwarzarbeit, annehmen. Selbst in besser bezahlten Jobs wird ein Großteil des Lohns nicht versteuert, wodurch der Anspruch auf Sozialleistungen geschmälert wird. Insbesondere gelangen sie nicht in den Genuss der Sozialversicherung. Überstunden werden ebensowenig bezahlt. Oft können sie bis Mitte 30 nicht von zu Hause ausziehen, weil sie keine Miete zahlen können. 23 Prozent der Arbeitslosen in Griechenland sind Jugendliche (die Jugendarbeitslosigkeit der 15- bis 24-jährigen beträgt offiziell 25,2 Prozent). Wie eine französische Zeitung schrieb: „Diese Studenten fühlen sich durch niemanden mehr geschützt: Die Polizei schlägt auf sie ein bzw. schießt auf sie; durch das Bildungswesen stecken sie in einer Sackgasse, einen Job kriegen sie nicht, die Regierung belügt sie."[1] Die Jugendarbeitslosigkeit und ihre Schwierigkeiten in der Arbeitswelt haben somit ein Klima der allgemeinen Verunsicherung, der Wut und der Angst geschaffen. Die Weltwirtschaftskrise löst immer neue Wellen von Entlassungen aus. 2009 erwartet man allein in Griechenland den Abbau von mehr als 100.000 Arbeitsplätzen; dies allein würde fünf Prozent mehr Arbeitslose bedeuten. Gleichzeitig verdienen mehr als 40 Prozent der Beschäftigten weniger als 1100 Euro brutto im Monat. In Griechenland gibt es die meisten Niedriglöhner unter den 27 Staaten der EU: 14 Prozent.
Aber nicht nur die Jugendlichen sind auf die Straße gegangen, sondern auch die schlecht bezahlten Lehrer und viele Beschäftigte, die den gleichen Problemen, der gleichen Armut gegenüberstehen und von dem gleichen Gefühl der Revolte angetrieben werden. Die brutale Repression gegen die Bewegung, bei der der Mord an dem 15-jährigen Jugendlichen nur die dramatischste Episode war, hat dieses Gefühl der Solidarität nur noch gestärkt. Die soziale Unzufriedenheit bricht sich immer stärker Bahn. Wie ein Student berichtete, waren auch viele Eltern zutiefst schockiert über die Ereignisse: „Unsere Eltern haben festgestellt, dass ihre Kinder durch die Schüsse eines Polizisten ums Leben kommen"[2]. Sie haben den Fäulnisprozess einer Gesellschaft gerochen, in der ihre Kinder nicht den gleichen Lebensstandard erreichen werden wie sie. Auf zahlreichen Demonstrationen haben sie mit eigenen Augen das gewalttätige Vorgehen der Polizei, die brutalen Verhaftungen, den Einsatz von Schusswaffen durch die Ordnungskräfte und das harte Eingreifen der Bereitschaftspolizei (MAT) beobachten können.
Nicht nur die Besetzer der Polytechnischen Hochschule, das Zentrum der Studentenproteste, prangern den Staatsterror an. Diese Wut über die polizeiliche Repression trifft man auch auf allen Demonstrationen an, wo Parolen gerufen werden wie: „Kugeln gegen die Jugendlichen, Geld für die Banken". Noch deutlicher war ein Teilnehmer der Bewegung, der erklärte: „Wir haben keine Arbeit, kein Geld; der Staat ist wegen der Krise pleite, und die einzige Reaktion, die wir sehen, ist, dass man der Polizei noch mehr Waffen gibt"[3].
Diese Wut ist nicht neu. Schon im Juni 2006 waren die Studenten gegen die Universitätsreform auf die Straße gegangen, da die Privatisierung der Unis den weniger wohlhabenden Studenten den Zugang zur Uni verwehrte. Die Bevölkerung hat auch gegen die Schlamperei der Regierung während der Waldbrände im Sommer 2007 protestiert, als 67 Menschen zu Tode gekommen waren. Die Regierung hat bis heute noch nicht jene Menschen entschädigt, die ihre Häuser, ihr Hab und Gut verloren hatten. Aber vor allem die Beschäftigten waren massiv gegen die Regierungspläne einer „Rentenreform" auf den Plan getreten; Anfang 2008 fand zweimal innerhalb von zwei Monaten ein Generalstreik mit hoher Beteiligung statt. Damals beteiligten sich mehr als eine Millionen Menschen an den Demonstrationen gegen die Abschaffung des Vorruhestands für Schwerabeiter und die Aufkündigung der Vorruhestandsregelung für über 50-jährige Arbeiterinnen.
Angesichts der Wut der Beschäftigten sollte der Generalstreik vom 10. Dezember, der von den Gewerkschaften kontrolliert wurde, als Ablenkungsmanöver gegen die Bewegung dienen. Die Gewerkschaften forderten, mit der SP und der KP an der Spitze, den Rücktritt der gegenwärtigen Regierung und vorgezogene Neuwahlen. Allerdings konnten die Wut und die Bewegung nicht eingedämmt werden - trotz der verschiedenen Manöver der Linksparteien und der Gewerkschaften, um die Dynamik bei der Ausdehnung des Kampfes zu hemmen, und trotz all der Anstrengungen der herrschenden Klasse und ihrer Medien zur Isolierung der Jugendlichen gegenüber den anderen Generationen und der gesamten Arbeiterklasse, indem man versuchte, diese in sinnlose Zusammenstöße mit der Polizei zu treiben. Die ganze Zeit über gab es immer wieder Zusammenstöße: gewaltsames Vorgehen der Polizei mit Gummiknüppel und Tränengaseinsätzen, Verhaftungen und Verprügeln von Dutzenden von Protestierenden.
Die jungen Arbeitergenerationen bringen am klarsten das Gefühl der Desillusionierung und der Abscheu gegenüber einem total korrupten politischen Apparat zum Ausdruck. Seit dem Krieg teilen sich drei Familien die Macht und seit mehr als 30 Jahren herrschen in ständigem Wechsel die beiden Dynastien Karamanlis (auf dem rechten Flügel) und Papandreou (auf dem linken Flügel) - begleitet jeweils von großen Bestechungsaffären und Skandalen. Die Konservativen haben 2004, nach großen Skandalen der Sozialisten in den Jahren zuvor, die Macht übernommen. Viele lehnen mittlerweile den ganzen politischen und gewerkschaftlichen Apparat ab, der immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert. „Der Geldfetisch beherrscht die Gesellschaft immer mehr. Die Jugendlichen wollen mit dieser seelenlosen und visionslosen Gesellschaft brechen."[4] Vor dem Hintergrund der Krise hat diese Generation von Arbeitern nicht nur ihr Bewusstsein über eine kapitalistische Ausbeutung weiterentwickelt, die sie an ihrem eigenen Leib spürt, sondern sie bringt auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes zum Ausdruck, indem sie spontan die Methoden der Arbeiterklasse anwendet und ihre Solidarität sucht. Anstatt der Hoffnungslosigkeit zu verfallen, gewinnt sie ihr Selbstvertrauen aus der Tatsache, dass sie die Trägerin einer neuen Zukunft ist; sie setzt sich mit aller Macht gegen den Fäulnisprozess der Gesellschaft zu Wehr, in der sie lebt. So haben die Demonstranten ihren Stolz zum Ausdruck gebracht, als sie riefen: „Wir stellen ein Bild der Zukunft gegenüber einer sehr düsteren Vergangenheit dar".
Die Lage erinnert an die Verhältnisse im Mai 1968, aber das Bewusstsein dessen, was heute auf dem Spiel steht, geht viel weiter.
Am 16. Dezember besetzten Studenten wenige Minuten lang die Studios des Regierungsenders NET und rollten vor den Kameras ein Spruchband aus: „Hört auf, fern zu sehen. Kommt alle auf die Straße!". Und sie riefen dazu auf: „Der Staat tötet. Euer Schweigen ist seine Waffe. Besetzen wir alle öffentlichen Gebäude!" Der Sitz der Bürgerkriegspolizei Athens wurde angegriffen und ein Fahrzeug dieser Polizeitruppen angezündet. Diese Aktionen wurden daraufhin sofort von der Regierung als „Versuch des Umsturzes der Demokratie" gebrandmarkt und auch von der KP Griechenlands (KKE) verurteilt.
In Thessaloniki versuchten die lokalen Strukturen der Gewerkschaften GSEE und ADEDY (die Vereinigung der Staatsangestellten) die Streikenden mit einer Versammlung vor dem Arbeitsamt festzubinden. Doch Gymnasiasten und Studenten luden die Streikenden mit Erfolg dazu ein sich ihrer Demonstration anzuschliessen: 4000 Arbeiter und Studenten formierten einen Demonstrationszug durch die Straßen den Stadt. Am 11. Dezember versuchten Mitglieder der stalinistischen Sudentenorganisation PKS Versammlungen zu blockieren, um Besetzungen zu verhindern (an der Pantheon Universität, der Schule für Philosophie der Athener Uni). Doch ihr Plan scheiterte und die Bestzungen fanden statt. Im Ayios Dimitrios Quartier wurde die Stadthalle besetzt, um eine Vollversammlung abzuhalten, an der mehr als 300 Leute aller Generationen teilnahmen.
Am 17. Dezember wurde das Gebäude der größten Gewerkschaft Griechenlands GSEE (Allgemeiner Gewerkschaftsbund Griechenlands) in Athen von Beschäftigten besetzt, die die ArbeiterInnen dazu aufriefen, an diesem Ort zusammenzukommen, um Vollversammlungen abzuhalten, die allen Beschäftigten, allen StudentInnen und den Arbeitslosen offen stehen.
Eine ähnliche Situation mit Vollversammlungen und Besetzungen, die für alle offen waren, ereignete sich an der Athener Wirtschaftsuniversität und der Polytechnischen Schule.
Wir veröffentlichen hier ihre Erklärung, um das Schweigen und Verfälschen der Medien zu brechen, welche die Ereignisse als Straßenschlachten präsentierten, die von einigen Anarchisten zur Terrorisierung der Bevölkerung verursacht worden seien. Die Erklärung zeigt im Gegenteil, wie das solidarische Gefühl der Arbeiterklasse diese Bewegung auszeichnet und somit auch die verschiedenen Generationen der Proletarier verbindet:
Wir, Handarbeiter, Angestellte, Erwerbslose, Zeitarbeiter, ob hier geboren oder eingewandert - wir sind keine passiven Fernsehkonsumenten. Seit dem Mord an Alexandros Grigoropoulos Samstagnacht nehmen wir an den Demonstrationen teil, an den Zusammenstößen mit der Polizei, den Besetzungen der Innenstadt oder der Wohnviertel. Immer wieder haben wir unsere Arbeit und unsere täglichen Verpflichtungen fallen gelassen, um mit den Schülern, Studenten und den anderen kämpfenden Proletariern auf die Straße zu gehen.
Wir haben entschieden, das Gebäude der GSEE zu besetzen:
- um es in einen Ort des freien Meinungsaustausches und in einen Treffpunkt für ArbeiterInnen zu verwandeln;
- um den von den Medien verbreiteten Irrglauben, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen nicht an den Zusammenstößen der letzten Tage beteiligt waren, dass die um sich greifende Wut die Sache von 500 „Vermummten", „Hooligans" sei, sowie andere Ammenmärchen, die verbreitet werden, zu widerlegen. Auf den Fernsehschirmen werden die ArbeiterInnen als Opfer der Unruhen dargestellt, während gleichzeitig die unzähligen Entlassungen infolge der kapitalistischen Krise in Griechenland und der restlichen Welt von den Medien und ihren Managern als „Naturereignisse" betrachtet werden;
- um die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie bei der Untergrabung des Aufstandes - und nicht nur dort - aufzudecken. Die GSEE und der ganze seit Jahrzehnten dahintersteckende gewerkschaftliche Apparat untergraben die Kämpfe, handeln Brosamen für unsere Arbeitskraft aus und verewigen das System der Ausbeutung und der Lohnsklaverei. Das Vorgehen der GSEE am letzten Mittwoch (dem Tag des Generalstreiks) ist ziemlich erhellend: Die GSEE sagte eine vorgesehene Demonstration der streikenden ArbeiterInnen ab, stattdessen gab es eine kurze Kundgebung am Syntagma-Platz, bei der Erstere aus Furcht davor, dass sie vom Virus des Aufstandes angesteckt werden, dafür sorgte, dass die Leute in aller Eile den Platz verließen;
- um diesen Ort, der durch unsere Beiträge errichtet wurde, von dem wir aber ausgeschlossen waren, zum ersten Mal zu einem offenen Ort zu machen. Einem offenen Ort, der die gesellschaftliche Öffnung, die der Aufstand hervorgebracht hat, fortsetzt. All die vielen Jahre haben wir schicksalhaft allen möglichen Heilsverkündern geglaubt und dabei unsere Würde verloren. Als Arbeiter und Arbeiterinnen müssen wir unsere Sache selbst in die Hand nehmen und Schluss damit machen, auf kluge Anführer oder „fähige" Vertreter zu hoffen. Wir müssen unsere Stimme gegen die ständigen Angriffe erheben, uns treffen, miteinander reden, zusammen entscheiden und handeln. Gegen die allgemeinen Angriffe einen langen Kampf führen. Die Entwicklung eines kollektiven Widerstandes an der Basis ist der einzige Weg dazu;
- um die Idee der Selbstorganisation und Solidarität an den Arbeitsplätzen, der Kampfkomitees und des kollektiven Handelns der Basis zu verbreiten und dadurch die Gewerkschaftsbürokratien abzuschaffen.
All die Jahre haben wir das Elend hinuntergeschluckt, die Ausnutzung der Situation der Schwächeren, die Gewalt auf der Arbeit. Wir haben uns daran gewöhnt, die Verkrüppelten und die Toten - die so genannten „Arbeitsunfälle" - einfach nur noch zu zählen. Wir haben uns daran gewöhnt, zu ignorieren, dass die Migranten, unsere Klassenbrüder- und Schwestern, getötet werden. Wir haben die Schnauze voll davon, mit der Angst um unseren Lohn und in Aussicht auf eine Rente zu leben, die sich mittlerweile wie ein in die Ferne entrückter Traum anfühlt.
So wie wir darum kämpfen, unser Leben nicht für die Bosse und die Gewerkschaftsvertreter zu vergeuden, so werden wir auch keinen der verhafteten Aufständischen allein lassen, die sich in den Händen des Staates und der Justizmaschine befinden.
Sofortige Freilassung der Festgenommenen!
Keine Strafe für die Verhafteten!
Selbstorganisation der Arbeiter und Arbeiterinnen!w
Generalstreik!
Die Arbeiter-Versammlung im „befreiten" Gebäude der GSEE
Mittwoch, 17. Dezember 2008, 18:00 Uhr.
Die Vollversammlung der aufständischen ArbeiterInnen
Am Abend versuchten ca. 50 Gewerkschaftsbon-zen und deren Führer, die Gewerkschaftszentrale zurückzuerobern, mussten aber vor den Studenten, die schnell Verstärkung erhielten, die Flucht ergreifen. Diese Verstärkung kam vor allem von meist anarchistischen Studenten der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, die ebenfalls besetzt und in einen Ort der Versammlungen und Diskussionen umgewandelt worden war, der auch allen Beschäftigen offen stand. Man eilte den Besetzern zur Hilfe und rief: „Solidarität". Der Verband albanischer Migranten verbreitete u.a. einen Text, in dem er seine Solidarität mit der Bewegung bekundete: „Diese Tage sind auch unsere Tage"!
Bezeichnenderweise veröffentlichte eine kleine Minderheit der Besetzer des Gewerkschaftshauptsitzes folgende Erklärung:
Panagopoulos, der Generalsekretär der GSEE, hat erklärt wir seien nicht Arbeiter, denn Arbeiter seine an der Arbeit. Unter Anderem verrät dies viel über die Wirklichkeit der „Arbeit" von Panagopoulos. Seine „Arbeit" besteht darin zu garantieren, dass die Arbeiter wirklich an der Arbeit sind und alles zu tun, um sie zur Arbeit zu bewegen. Doch in den letzten zehn Tagen waren die Arbeiter nicht an der Arbeit, sie waren draussen auf der Straße. Dies ist die Realität, die kein Panagopoulos auf der ganzen Welt verschweigen kann... Wir sind Leute, die arbeiten, wir sind auch Arbeitslose (die mit dem Verlust unserer Arbeitsplätze für die Beteiligung an den Streiks, welche von der GSEE ausgerufen werden gestraft werden, währen die Vertreter der Gewerkschaften mit Beförderungen belohnt werden), wir arbeiten mit unsicheren Arbeitverträgen in einem Job nach dem anderen, wir arbeiten ohne Sicherheiten in Trainingskursen und Arbeitslosenprogrammen, um die offiziellen Arbeitslosenzahlen tief zu halten. Wir sind ein Teil dieser Welt und wir sind hier.
Wir sind aufrührerische Arbeiter. Unsere Löhne haben wir mit unserem Blut und Schweiss bezahlt, mit Gewalt am Arbeitsplatz, mit Köpfen, Knien, Händen die durch Arbeitsunfälle gebrochen wurden.
Die ganze Welt ist von uns Arbeitern gemacht worden...
Arbeiter des befreiten Gebäudes der GSEE
Immer lauter wurde zu einem unbefristeten Generalstreik aufgerufen. Die Gewerkschaften sahen sich gezwungen, am 18. Dezember zu einem dreistündigen Generalstreik im öffentlichen Dienst aufzurufen.
Am Morgen des 18. Dezember wurde ein weiterer Schüler, 16 Jahre alt, der sich an einem Sit-in in der Nähe seiner Schule in einem Athener Vorort beteiligte, von einer Kugel verletzt. Am gleichen Tag wurden mehrere Radio- und Fernsehstudios durch Demonstranten besetzt, insbesondere in Tripoli, Chania und Thessaloniki. Das Gebäude der Handelskammer in Patras wurde besetzt, wo es erneut zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Die gigantische Demonstration in Athen wurde gewaltsam angegriffen. Dabei setzte die Aufstandsbekämpfungspolizei neue Waffen ein: lähmende Gase und ohrenbetäubende Granaten. Ein Flugblatt, das sich gegen den Staatsterror richtete, wurde von „revoltierenden Schülerinnen" unterzeichnet und in der Wirtschaftswissenschaftlichen Universität verteilt. Die Bewegung spürte ganz vage ihre eigenen geographischen Grenzen. Deshalb nahm sie mit Enthusiasmus die internationalen Solidaritätsdemonstrationen in Frankreich, Berlin, Rom, Moskau, Montreal oder in New York auf. Die Rückmeldung lautete: „Diese Unterstützung ist für uns sehr wichtig". Die Besetzer der Polytechnischen Hochschule riefen zu einem „internationalen Aktionstag gegen die staatlichen Tötungen" am 20. Dezember auf. Der einzige Weg, die Isolierung dieses proletarischen Widerstandes in Griechenland zu überwinden, besteht darin, die Solidarität und den Klassenkampf, die heute als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise immer deutlicher in Erscheinung treten, international zu entfalten.
Am 20. Dezember kam es zu heftigen Zusammenstössen auf der Straße. Sie konzentrierten sich vor allem um die von der Polizei belagerte Polytechnische Hochschule, welche die Polizei stürmen wollte. Das besetzte Gebäude der Gewerkschaft GSEE wurde dieser am 21. Dezember in Folge eines Entscheides des Besetzungskomitees, über den in der Vollversammlung abgestimmt wurde, zurückgegeben. Das Besetzungskomitee der Athener Polytechnischen Hochschule veröffentlichte am 22. Dezember folgende Stellungnahme: „Wir sind für die Emanzipation, die menschliche Würde und die Freiheit. Es ist nicht nötig, uns mit Tränengas zu bekämpfen, wir weinen schon selber genug."
Mit viel Reife und einem Beschluss der Vollversammlung an der Ökonomischen Universität folgend, benutzten die Besetzer dieser Universität den Aufruf zu einer Demonstration am 24. Dezember gegen die polizeiliche Repression und für die Solidarität mit gefangenen Mitstreitern als günstigen Moment zur sicheren und gemeinsamen Evakuierung der Gebäudes: „Es scheint einen Konsens über die Notwendigkeit des Verlassens der Universität zu geben und die Anliegen der Revolte in der ganzen Gesellschaft zu verbreiten." Diesem Beispiel folgten Vollversammlungen an anderen besetzten Universitäten, um nicht in die Falle der Isolierung und direkten Konfrontation mit der Polizei zu geraten. Ein Blutbad und eine noch gewalttätigere Repression wurden damit verhindert. Gleichzeitig verurteilten die Vollversammlungen den Gebrauch von Handfeuerwaffen einer angeblichen Gruppe „Volksaktion" gegen ein Polizeiauto als Provokationsversuch der Polizei.
Das Besetzungskomitee der Polytechnischen Hochschule räumte die letzte Bastion in Athen symbolisch am 24. Dezember um Mitternacht. „Die Vollversammlung, und nur diese alleine, entscheidet, ob und wann wir die Universität verlassen werden (...) Der entscheidende Punkt ist, dass es die Leute sind, die das Gebäude besetzen, die über die Räumung entscheiden, und nicht die Polizei."
Zuvor hatte das Besetzungskomitee eine Erklärung veröffentlicht: „Indem wir unsere Besetzung der Polytechnischen Hochschule nach 18 Tagen beenden, senden wir allen Leuten, die an dieser Bewegung in irgendeiner Art teilgenommen haben, unsere herzlichste „Solidaritätsgrüße". Dies nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Ländern Europas, Amerikas, Asiens und Australiens. Für Alle, die wir angetroffen haben und mit denen wir weitergehen werden im Kampf für die Befreiung der Gefangenen dieser Bewegung und für deren Weiterführung bis zur sozialen Befreiung der Welt."
In einigen Quartieren hatten sich Einwohner der Lautsprecheranlagen die von der Verwaltung für das Abspielen von Weihnachtsleidern installiert worden waren, bemächtigt um darüber die sofortige Freilassung der Gefangenen, die Entwaffnung der Polizei, die Auflösung der Aufstandbekämpfungs-Sondereinheiten und die Abschaffung der Antiterrorgesetze zu fordern. In Volos wurden die Sendestation des lokalen Radios und die Büros der Lokalzeitung besetzt, um darin über die Ereignisse und ihre Auswirkungen zu berichten. In Lesvos hatten Demonstranten Lautsprecher im Stadtzentrum aufgestellt und darüber Nachrichten verbreitet. In Ptolemaida und Ioannina wurde ein Weihnachtsbaum mit Fotos des ermordeten Schülers und der Demonstrationen und mit Forderungen der Bewegung dekoriert.
Das Gefühl der Solidarität drückte sich spontan und mächtig am 23. Dezember erneut aus, nachdem eine Angestellte der Reinigungsfirma Oikomet, die für die Athener Metro arbeitet, attackiert worden war. Auf ihrem Nachhauseweg von der Arbeit war ihr Essigsäure ins Gesicht geschüttet worden. Solidaritätsdemonstrationen fanden statt und das Verwaltungsgebäude der Athener Metro wurde am 27. Dezember besetzt. In Thessaloniki wurde das Hauptquartier der Gewerkschaft GSEE besetzt. Aus diesen zwei Besetzungen wurden mehrere Demonstrationen, Solidaritätskonzerte und „Gegeninformations"-Veranstaltungen organisiert (so wurden z.B. die Lautsprecher der Metro verwendet, um Erklärungen zu verlesen).
Die Vollversammlung in Athen erklärte in einem Text: „Wenn sie einen von uns angreifen, dann greifen sie uns alle an!
Heute haben wir die Büros der ISAP (Metro von Athen) besetzt, als eine erste Antwort auf die mörderische Essigsäureattacke gegen Konstantina Kuneva, als sie am 23. Dezember von der Arbeite nach Hause ging. Konstantina befindet sich auf der Intensivpflegestation des Spitals. In der vorangegangnen Woche befand sie sich in einem Streit mit der Firma, um eine volle Entlöhnung der Weihnachtstage für sich und ihre Arbeitskollegen zu erhalten und sie denunzierte dabei die illegalen Praktiken der Bosse. Zuvor wurde ihre Mutter von derselben Firma entlassen. Sie selbst wurde an einen weit weg gelegenen Arbeitsplatz versetzt. Das sind sehr verbreitete Praktiken in den Reinigungsunternehmen, die sehr prekäre Arbeitsplätze haben. Der Besitzer von Oikomet ist ein Mitglied der PASOK (der Griechischen Sozialistischen Partei). Sie beschäftigen offiziell 800 Angestellte (doch die Angestellten sagten, es sei das Doppelte, denn während der letzten 3 Jahre hatten dort mehr als 3000 Leute gearbeitet). Das illegale mafiöse Vorgehen der Bosse dieser Firma ist Alltag. So sind die Angestellten gezwungen, illegale Verträge zu unterschreiben (bei denen die Bedingungen erst nachher von den Bossen eingetragen werden) und sie haben keine Möglichkeit, dies zu widerrufen. Sie arbeiten 6 Stunden, werden aber nur für 4.5 Stunden bezahlt (Nettolohn), so dass sie niemals 30 Stunden pro Woche überschreiten (denn sonst müssten sie in einer höheren Risikoklasse eingestuft werden). Die Bosse terrorisieren sie, versetzen sie, schmeissen sie raus oder drängen sie zu Kündigungen. Der Kampf um die WÜRDE und SOLIDARITÄT ist UNSER Kampf."
Parallel dazu veröffentlichte die Vollversammlung der Besetzer der GSEE in Thessaloniki folgenden Text: „Heute haben wir den Hauptsitz der Gewerkschaften in Thessaloniki besetzt, um gegen die Unterdrückung zu protestieren, die die Form von Mord und Terrorismus gegen die Arbeiter annimmt (...) Wir rufen alle Arbeiter auf, sich diesem gemeinsamen Kampf anzuschließen (...) Die offene Versammlung derjenigen, die den Hauptsitz der Gewerkschaft besetzen, Leute von verschiedenen politischen Richtungen, Mitglieder der Gewerkschaften, Studenten, Immigranten und Freunde die vom Ausland kommen und hinter diesen gemeinsamen Forderungen stehen, haben einen Beschluss gefasst:
- Fortführung der Besetzung;
- Die Organisierung einer Vollversammlung in Solidarität mit Konstantina Kuneva;
- Das Organisieren von Aktionen, um Informationen und Aufmerksamkeit in der Stadt zu verbreiten;
- Das Durchführen eines Konzertes im Stadtzentrum, um Geld für Konstantina zu sammeln."
Diese Versammlung erklärte ebenfalls: „In den Grundsatzpapieren der Gewerkschaften werden nirgends die Ungleichheit, Armut und die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft in Frage gestellt (...) Die Gewerkschaftsbünde und Führungen der Gewerkschaften in Griechenland sind ein fester Bestandteil des Regimes, welches an der Macht ist. Ihre Basismitglieder sollten ihnen den Rücken kehren (...) und für einen selbständigen Pol des Kampfes, den sie selber bestimmen, eintreten (...) Wenn die Arbeiter ihren Kampf in die eigenen Hände nehmen und mit der Logik brechen, sich von den Komplizen der Bosse vertreten zu lassen, dann werden sie ihr Selbstbewusstsein wieder finden und Tausende werden in den nächsten Streiks auf die Straßen strömen. Der Staat und seine Handlanger sind Mörder.
Selbstorganisierung! Kampf zur Verteidigung der sozialen Interessen! Solidarität mit den Immigranten und mit Konstantina Kuneva!"
Anfangs Januar 2009 fanden immer noch Demonstrationen im ganzen Land statt, um die Solidarität mit den Gefangenen auszudrücken. 246 Leute waren verhaftet worden und 66 wurden in Präventivhaft genommen. In Athen wurden in den ersten drei Tagen der Bewegung 50 Immigranten festgenommen, in Prozessen ohne Anwalt bis zu maximal 18 Monaten Haft verurteilt und alle mit der Ausweisung bestraft.
Am 9. Januar ereigneten sich nach einem Protestmarsch von 3000 Lehrern, Studenten und Kindern erneut Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und der Polizei. Sie trugen Slogans mit sich wie: „Geld für die Ausbildung, nicht für die Banker", „Nieder mit der Regierung der Mörder und der Armut". Polizei-Sondereinheiten versuchten, sie immer wieder zu verjagen, und machten zahlreiche Festnahmen.
In Griechenland, wie überall sonst auch, hat der kapitalistische Staat angesichts der Prekarisierung, Arbeitslosigkeit und Armut, die durch die weltweite Krise verstärkt werden, nur mehr Polizei und Repression anzubieten. Nur die internationale Entwicklung des Kampfes, die Solidarität zwischen Industriearbeitern und Büroangestellten, zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten, Schülern, Studenten, Arbeitslosen, Rentnern - über alle Generationen hinweg - kann den Weg zur Überwindung dieses Ausbeutungssystems und zu einer neuen Perspektive öffnen.
W., 18.1. 2009
[1] Marianne Nr. 608, 13. Dezember 2008 : „Grèce : les leçons d'une émeute".
[2] Libération, 12. Dezember 2008.
[3] Le Monde , 10. Dezember 2008.
[4] Marianne, s.o.
Dieser Beitrag unterstützt die in Nr. 42 vorgestellte These unter dem Titel „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" und schreibt die Schaffung einer zahlungsfähigen Nachfrage während des Nachkriegsbooms im wesentlichen den keynesianischen Mechanismen zu, die von der Bourgeoisie installiert worden waren. In den folgenden Ausgaben der Revue werden wir Artikel veröffentlichen, die andere Positionen in der Debatte vertreten und auf diese Position antworten, insbesondere bezüglich des Charakters der kapitalistischen Akkumulation und der Faktoren, die den Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Phase bestimmen.
1952 beendeten unsere Vorgänger in der GCI[1] die Aktivitäten ihrer Gruppe, weil das „Verschwinden der außerkapitalistischen Märkte (...) zu einer permanenten Krise des Kapitalismus führt (...) Wir können hier die ins Auge fallende Bestätigung von Rosa Luxemburgs Theorie sehen (...) In der Tat sind die Kolonien nicht mehr ein außerkapitalistischer Markt für das koloniale Mutterland (...) Wir leben in einem Zustand des drohenden Krieges..."[2] Geschrieben am Vorabend des Nachkriegsbooms, enthüllen diese wiederholten Fehler die Notwendigkeit, über die „ins Auge fallende Bestätigung von Rosa Luxemburgs Theorie" hinauszugehen und zu einem kohärenteren Verständnis der Funktionsweise und Grenzen des Kapitalismus zurückzukehren. Dies ist das Ziel dieses Artikels.
Die Aneignung von Mehrarbeit ist fundamental für das Überleben des Kapitalismus.[3] Anders als die vorhergehenden Gesellschaften besitzt die kapitalistische Aneignung ihre eigene, eingebaute, permanente Dynamik in Richtung Expansion des Produktionsumfangs, die weit über die einfache Reproduktion hinausgeht. Sie erzeugt eine wachsende gesellschaftliche Nachfrage durch die Beschäftigung von neuen Arbeitern und die Investition in zusätzliche Produktions- und Konsumtionsmittel: „Diese Grenzen der Konsumtion werden erweitert durch die Anspannung des Reproduktionsprozesses selbst; einerseits vermehrt sie den Verzehr von Revenue durch Arbeiter und Kapitalisten, andrerseits ist sie identisch mit Anspannung der produktiven Konsumtion."[4] Diese Ausbreitungsdynamik nimmt die Form einer Abfolge von Zyklen an, in denen, grob gesagt alle zehn Jahre die periodische Zunahme des fixen Kapitals dazu tendiert, die Profitrate zu verringern und Krisen hervorzurufen.[5] Während dieser Krisen schaffen Bankrotte und Wertminderung des Kapitals die Bedingungen für eine Erholung, die die Märkte und das Produktionspotenzial erweitert: „Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen (...) Die eingetretne Stockung der Produktion hätte eine spätere Erweiterung der Produktion - innerhalb der kapitalistischen Grenzen - vorbereitet. Und so würde der Zirkel von neuem durchlaufen. Ein Teil des Kapitals, das durch Funktionsstockung entwertet war, würde seinen alten Wert wiedergewinnen. Im übrigen würde mit erweiterten Produktionsbedingungen, mit einem erweitertem Markt und mit erhöhter Produktivkraft derselbe fehlerhafte Kreislauf wieder durchgemacht werden."[6] Die Graphik Nr. 1 veranschaulicht treffend all die Elemente dieses theoretischen Rahmens, der von Marx herausgearbeitet worden war: Alle zehn Zyklen der steigenden und fallenden Profitrate enden in einer Krise (Rezession):
Die kapitalistische Akkumulation in den mehr als zwei Jahrhunderten fand im Rhythmus von gut dreißig Zyklen und Krisen statt. Marx identifizierte sieben zeit seines Lebens, die Dritte Internationale sechzehn[7], und die Linke in der Internationale vervollständigte das Bild in der Zwischenkriegsphase.[8] Dies ist die immer wiederkehrende materielle Grundlage für die Zyklen der Überproduktion, deren Ursprünge wir nun untersuchen werden.[9]
Grafik 1: Quartalsweise die Profitraten und Rezessionen in den USA von 1948 bis 2007.
Die Abpressung eines Maximums an Mehrarbeit, kristallisiert in einer wachsenden Warenmenge, bildet das, was Marx den „ersten Akt des kapitalistischen Produktionsprozesses" nannte. Diese Waren mussten anschließend verkauft werden, um die im Mehrwert materialisierte Mehrarbeit in die Form von Geld zur Neuinvestition umzuwandeln: Dies ist der „zweite Akt des Prozesses". Jeder dieser beiden Akte enthält seine eigenen Widersprüche und Grenzen. Obwohl sie sich gegenseitig beeinflussen, wird der erste Akt vor allem durch die Profitrate angetrieben, während der zweite eine Funktion der mannigfaltigen Tendenzen ist, die den Markt begrenzen.[10] Diese beiden Einschränkungen erzeugen periodisch eine Nachfrage, die unfähig ist, die gesamte Produktion zu absorbieren: „Die Überproduktion speziell hat das allgemeine Produktionsgesetz des Kapitals zur Bedingung, zu produzieren im Maße der Produktivkräfte (d.h. der Möglichkeit, mit gegebner Masse Kapitals größtmöglichste Masse Arbeit auszubeuten) ohne Rücksicht auf die vorhandnen Schranken des Marktes oder der zahlungsfähigen Bedürfnisse...."[11]
Wo liegt der Ursprung dieser unzureichenden zahlungsfähigen Nachfrage?
In der eingeschränkten Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft, die durch die antagonistischen Verhältnisse bei der Aufteilung der Mehrarbeit (Klassenkampf) begrenzt wird: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde."[12]
In den Grenzen, die aus dem Akkumulationsprozess resultieren, der den Konsum reduziert, sobald die Profitrate fällt: Der im Verhältnis zum investierten Kapital unzureichende Mehrwert, der extrahiert wurde, bremst die Investitionen und die Beschäftigung neuer Arbeitskräfte: „Die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise tritt hervor: 1. Darin, daß die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit im Fall der Profitrate ein Gesetz erzeugt, das ihrer eignen Entwicklung auf einen gewissen Punkt feindlichst gegenübertritt und daher beständig durch Krisen überwunden werden muß..."[13]
In einer unvollständigen Realisierung des Gesamtprodukts, wenn die Proportionen zwischen den Produktionssektoren nicht beachtet werden.[14]
In seinem gesamten Werk unterstreicht Marx konstant diese zweifach geartete Ursache von Krisen, deren Bestimmungen im Grunde unabhängig sind: „Die moderne Überproduktion beruht einerseits auf der absoluten Entwicklung der Produktivkräfte und folglich der massenhaften Produktion durch Produzenten, die im Kreislauf der notwendigen Lebensmittel eingeschlossen sind, und andererseits der Begrenzung durch den Profit der Kapitalisten."[15] In der Tat: auch wenn das Niveau und der wiederkehrende Fall der Profitrate wechselseitig die Weise beeinflussen, in welcher der Mehrwert verteilt wird, besteht Marx nichtsdestotrotz darauf, dass diese beiden Grundursachen fundamental „unabhängig", „begrifflich auseinanderfallend", „nicht identisch" sind.[16] Warum das? Einfach weil die Profitproduktion und die Märkte zum größten Teil unterschiedlichen Bedingungen ausgesetzt sind. Daher lehnt Marx kategorisch jede Theorie ab, die die Krisen auf eine einzige Ursache zurückführt.[17] Es ist also ein theoretischer Fehler, die Entwicklung der Profitrate strikte vom Umfang des Marktes abhängig zu machen oder umgekehrt. Daraus folgt, dass diese beiden Hauptursachen je ihre eigene zeitliche Logik haben. Der erste Widerspruch (die Profitrate) hat seine Wurzeln in der Notwendigkeit, das konstante Kapital auf Kosten des variablen Kapitals zu erhöhen, und sein zeitlicher Ablauf ist somit im Wesentlichen an die Zyklen gebunden, in denen das fixe Kapital rotiert. Da der zweite Widerspruch sich um die Verteilung von Mehrarbeit dreht, wird seine Zeitebene durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bestimmt, das sich über längere Perioden erstreckt.[18] Auch wenn diese beiden Zeitebenen zusammenfallen können (der Akkumulationsprozess beeinflusst das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und umgekehrt), sind sie dennoch fundamental „unabhängig", „begrifflich auseinanderfallend", „nicht identisch", denn der Klassenkampf ist nicht strikt an die Zehnjahreszyklen gebunden, und Letztere sind nicht mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verknüpft.
Grafik 2: Die Löhne im Verhältnis zum gesammten Vermögen in den G7, EU und Frankreich.
Die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute ist ein gutes Beispiel, um die Marxsche Analyse der Überproduktionskrisen und ihrer drei Implikationen zu bestätigen. Insbesondere erlaubt sie uns, die Unrichtigkeit aller wKrisentheorien zu beweisen, die sich auf eine einzige Ursache berufen, ob es nun um die Theorie geht, die sich allein auf die fallende Profitrate stützt und die nicht in der Lage ist zu erklären, warum Akkumulation und Wachstum nicht wieder anspringen trotz der Tatsache, dass die Profitrate ein Vierteljahr lang gestiegen ist, oder jene Theorie, die auf der Sättigung der zahlungsfähigen Nachfrage basiert und die nicht den Anstieg der Profitrate erklären kann, da die Märkte völlig ausgezehrt sind (was sich eigentlich in einer Nullprofitrate ausdrücken müsste). All dies kann leicht aus den beiden Graphiken (Nr. 1 und Nr. 3) ersehen werden, die die Entwicklung der Profitrate zeigen.
Die Ermüdung des Nachkriegsboom und das sich verschlechternde wirtschaftliche Klima zwischen 1969-82 sind im Wesentlichen eine Folge des Rückganges der Profitrate[19], trotz der Tatsache, dass der Konsum durch die Indexierung der Löhne und durch Maßnahmen zur Stützung der Nachfrage aufrecht gehalten wurde[20]. Die Produktivitätssteigerungen sanken ab Ende der 60er Jahre[21] und halbierten die Profitrate ab 1982 (s. Graphik Nr. 3). Seither ist eine Erholung der Profitrate nur noch durch die Steigerung der Mehrwertrate (sinkende Löhne und wachsende Ausbeutung) möglich gewesen. Dies implizierte eine unvermeidliche Deregulierung der Schlüsselmechanismen, die das Wachstum in der Endnachfrage während des Nachkriegsbooms gesichert hatten (siehe unten). Dieser Prozess begann Anfang der 1980er Jahre und kann insbesondere im konstanten Fall der Löhne im Verhältnis zum gesamten hergestellten Reichtum betrachtet werden.
Überall lastete schließlich in den 70er Jahren der „Profitraten"-Widerspruch auf dem Kapitalismus, während die Endnachfrage aufrechterhalten wurde. Die Situation kehrte sich ab 1982 in ihr Gegenteil um: Die Profitrate hatte sich spektakulär erholt, aber zum Preis einer drastischen Zusammenpressung der Endnachfrage (des Marktes): im Wesentlichen der Lohnempfänger (siehe Graphik Nr. 2), aber auch (in einem geringeren Umfang) der Investitionen, da die Akkumulationsrate auf ihrem niedrigen Stand verblieben war (siehe Graphik Nr. 3).
Dadurch können wir nun verstehen, warum der wirtschaftliche Niedergang sich trotz einer wiederhergestellten Profitrate fortsetzt: Das Unvermögen von Wachstum und Akkumulation, wieder an Schwung zu gewinnen, trotz einer spektakulären Verbesserung in der Betriebsrentabilität, erklärt sich aus der Zusammenpressung der Endnachfrage (Löhne und Investitionen). Diese drastische Reduzierung der Endnachfrage führt zu einer lustlosen Investition in die erweiterte Akkumulation, zu fortgesetzter Rationalisierung durch Konzernübernahmen und -verschmelzungen, ungenutztem Kapital, das in die Finanzspekulation strömt, Verlagerung von Industrien auf der Suche nach billiger Arbeitskraft - was die allgemeine Nachfrage noch weiter drückt.
Was die Wiederherstellung der Endnachfrage angeht, so ist sie unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum möglich, da das Wachstum der Profitrate davon abhängt, sie niedrig zu halten! Seit 1982 ist es also im Rahmen verbesserter Betriebsrentabilität die „Begrenzung der zahlungsfähigen Märkte" bzw. ihre Zeitebene, die die wesentliche Rolle bei der Erklärung der fortgesetzten Lustlosigkeit der Akkumulation und des Wachstums spielen, selbst wenn Fluktuationen in der Profitrate kurzfristig durchaus einen wichtigen Anteil bei der Auslösung von Rezessionen haben können, wie wir unschwer aus den Graphiken N. 1 und Nr. 3 ersehen können.
Grafik 3: Profitrate, Akkumulationsrate und ökonomisches Wachstum in den USA, Europa und Japan zwischen 1961 und 2006.
Die Dynamik des Kapitalismus zur Vergrößerung verleiht ihm notwendigerweise einen fundamental expansiven Charakter: „Der Markt muß daher beständig ausgedehnt werden, so daß seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes annehmen, immer unkontrollierbarer werden. Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion. Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Konsumtionsverhältnisse beruhen."[22] Als Marx all die Dynamiken und Grenzen des Kapitalismus aufzeigte, tat er dies, indem er von den Beziehungen des Kapitalismus zur äußeren (nicht-kapitalistischen) Sphäre abstrahierte. Wir müssen nun verstehen, worin die Rolle und Bedeutung Letzterer in der Entwicklung des Kapitalismus liegen. Der Kapitalismus kam zur Welt und entwickelte sich innerhalb des Rahmens feudaler, dann merkantiler gesellschaftlicher Verhältnisse, zu denen er unvermeidlicherweise wichtige Bande unterhielt, um an die Mittel seiner eigenen Akkumulation zu gelangen (Import von kostbaren Metallen, Ausplünderungen, etc.), um seine eigenen Waren abzusetzen (Direktverkauf, Atlantischer Dreieckshandel, etc.) und als Quelle der Ware Arbeitskraft.
Auch nachdem die Fundamente des Kapitalismus nach drei Jahrhunderten der ursprünglichen Akkumulation (1500-1825) gesichert waren, im Grunde in der gesamten aufsteigenden Periode, bot dieses Milieu weiterhin eine ganze Reihe von Gelegenheiten als Profitquelle, als Ventil für den Verkauf von Waren aus der Überproduktion und als zusätzliche Quelle von Arbeitskräften. All diese Gründe erklären die imperialistische Jagd nach Kolonien zwischen 1880 und 1914.[23] Jedoch bedeutet die Existenz einer externen Regulierung eines Teils der internen Widersprüche des Kapitalismus weder, dass jene für seine Entwicklung die wirksamsten gewesen wäre, noch, dass der Kapitalismus absolut außerstande wäre, interne Regulierungsmethoden zu schaffen. Es ist zuallererst die Ausweitung und Herrschaft der Lohnarbeit auf seinen eigenen Fundamenten, die es dem Kapitalismus fortschreitend ermöglichen, sein Wachstum dynamischer zu gestalten. Und auch wenn die vielfältigen Beziehungen zwischen dem Kapitalismus und der außerkapitalistischen Sphäre ihm eine ganze Reihe von Gelegenheiten verschafften, so war die Größe dieses Milieus und die allgemeine Bilanz seines Austausches mit dieser Sphäre nichtsdestotrotz eine Bremse für sein Wachstum.[24]
Diese gewaltige Dynamik der internen und externen Expansion des Kapitalismus ist dennoch nicht ewig. Wie jede Produktionsweise in der Geschichte durchläuft auch der Kapitalismus eine Phase der Veraltung, in der seine gesellschaftlichen Verhältnisse die Entwicklung seiner Produktivkräfte bremsen.[25]
Wir müssen daher nach den historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der Umwandlung und Generalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Lohnarbeitsproduktion suchen. Auf einer bestimmten Stufe bilden die Ausweitung der Lohnarbeit und ihre durch die Herstellung des Weltmarktes erreichte allgemeine Herrschaft den Kulminationspunkt des Kapitalismus. Statt fortzufahren, alte gesellschaftliche Verhältnisse auszurotten und die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, neigt der nun obsolete Charakter des Lohnarbeitsverhältnisses dazu, jene einzufrieren und diese zu bremsen: Er bleibt unfähig, die ganze Menschheit in sein Verhältnis zu integrieren (große Teile werden nicht integriert), er erzeugt Krisen, Kriege und Katastrophen von immer größeren Ausmaßen, und dies bis zu dem Punkt, wo er die Menschheit mit der Auslöschung bedroht.
1) Die Überlebtheit des Kapitalismus
Die fortschreitende Verallgemeinerung der Lohnarbeit bedeutet nicht, dass sie überall Wurzeln gefasst hat, weit entfernt davon, aber sie bedeutet, dass ihre Vorherrschaft auf der Welt eine wachsende Instabilität schafft, in der sämtliche Widersprüche des Kapitalismus ihren höchsten Ausdruck finden. Der Erste Weltkrieg eröffnete dieses Zeitalter großer Krisen, deren vorherrschender Ausdruck darin besteht, dass die Krisen weltweit und in den Lohnarbeitsverhältnissen verankert sind: a) Der nationale Rahmen ist zu eng geworden, um den Ansturm der Widersprüche des Kapitalismus aufzufangen; b) die Welt bietet nicht mehr genug Gelegenheiten und Stoßdämpfer, die den Kapitalismus mit einer äußeren Regulierung seiner inneren Widersprüche versorgen; c) nachträglich betrachtet enthüllt das Scheitern der Regulierung, die während des Nachkriegsbooms eingeführt wurde, die historische Unfähigkeit des Kapitalismus, auf lange Frist seine eigenen Widersprüche in Ordnung zu bringen, die folglich mit immer barbarischerer Gewalt ausbrechen.
In dem Sinne, dass er ein Weltkonflikt war, nicht zur Eroberung neuer Einflusssphären, Investitionszonen und Märkte, sondern zur Umverteilung jener, die bereits existierten, markierte der Erste Weltkrieg den endgültigen Eintritt der kapitalistischen Produktionsweise in die Phase ihrer Überalterung. Die beiden zunehmend zerstörerischen Weltkriege, die größte je auftretende Überproduktionskrise (1929-1933), die starke Einschränkung des Wachstums der Produktivkräfte zwischen 1914 und 1945, die Unfähigkeit des Kapitalismus, einen großen Teil der Menschheit zu integrieren, die Entwicklung des Militarismus und Staatskapitalismus über den gesamten Planeten, das zunehmende Wachstum der unproduktiven Ausgaben und die historische Unfähigkeit des Kapitalismus, seine eigenen Widersprüche intern zu stabilisieren - all diese Phänomene sind materielle Ausdrücke dieser historischen Überlebtheit der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, die auf der Lohnarbeit fußen und die der Menschheit nichts anderes anzubieten haben als eine Perspektive der wachsenden Barbarei.
2) Katastrophaler Zusammenbruch oder eine historische, materialistische und dialektische Sichtweise der Geschichte?
Die Überlebtheit des Kapitalismus impliziert nicht, dass er zu einem katastrophalen Zusammenbruch verdammt ist. Es gibt keine vordefinierten, quantitativen Grenzen innerhalb der Produktionsverhältnisse des Kapitalismus (ob es die Profitrate ist oder eine gegebene Menge an außerkapitalistischen Märkten), die den ominösen Punkt bestimmen, jenseits dessen die kapitalistische Produktion stirbt. Die Grenzen der Produktionsverhältnisse sind vor allem gesellschaftlich, das Produkt ihrer inneren Widersprüche und dem Zusammenstoss zwischen diesen nun obsoleten Verhältnissen und den Produktivkräften. Von nun an ist es das Proletariat, das den Kapitalismus abschaffen wird, der Kapitalismus wird nicht von selbst als Resultat seiner ‚objektiven‘ Grenzen sterben. Während der Überalterung des Kapitalismus wirken dieselben Tendenzen und Dynamiken, die Marx analysierte, fort, aber sie tun dies in einem völlig veränderten allgemeinen Kontext. All die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Widersprüche erscheinen unvermeidlich auf einer höheren Stufe, ob in den sozialen Kämpfen, die regelmäßig die Frage der Revolution stellen, oder in imperialistischen Konflikten, die die eigentliche Zukunft der Menschheit bedrohen. Mit anderen Worten: Die Welt hat das „Zeitalter der Kriege und Revolutionen" betreten, das von der Dritten Internationale angekündigt worden war.
Grafik 4: Löhne und Produkitivtät in den Vereinigten Staaten.
Kommentar zu dieser Grafik: Der Anstieg der Produktivität und der Löhne stieg in gleicher Dynamik nach
dem Zweiten Weltkrieg. Nach 1980 gab es Unterschiede im Wachstum von Produktivität und dem Lohn. Seit
der Kapitalismus begann, war dieses unterschiedliche Wachstum die Regel und die Parallelität während dem
Nachkriegsboom die Ausnahme. In der Tat, diese Unterschiedlichkeit ist ein realer Ausdruck der Tendenz im
Kapitalismus, dass die Produkitivtät (obere Linie), über die Steigerung der Kaufkraft steigt (untere Linie).
Marxisten haben keinen Anlass, angesichts von Erholungsphasen, die in einer Überlebtheit der Produktionsweise durchaus stattfinden, irritiert zu sein: Wir können dies zum Beispiel bei der Rekonstituierung des Römischen Reiches unter Karl dem Großen sehen oder bei der Formierung der großen Monarchien während des Ancien Régime. Wenn ein Fluss mäandriert, bedeutet dies noch nicht, dass er aufwärts und weg vom Meer fließt! Dasselbe trifft auf den Nachkriegsboom zu: Die Bourgeoisie erwies sich als fähig, eine kurze Phase starken Wachstums im allgemeinen Verlauf der Überlebtheit zu kreieren.
Die Große Depression von 1929 in den Vereinigten Staaten zeigte, wie gewaltsam die Widersprüche des Kapitalismus in einer Wirtschaft ausbrechen, die von der Lohnarbeit bestimmt wird. Man mag daher erwartet haben, dass ihr immer gewaltsamere und häufigere Wirtschaftskrisen folgen werden, aber dies war nicht der Fall. Die Situation hat sich beträchtlich weiterentwickelt, sowohl im Produktionsprozess (Fordismus) als auch im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen (und innerhalb derselben). Darüber hinaus hat die Bourgeoisie gewisse Lehren gezogen. Den Jahren der Krise und der Barbarei des Zweiten Weltkrieges folgten somit gute dreißig Jahre eines starken Wachstums, eine Vervierfachung der Reallöhne, Vollbeschäftigung, die Schaffung eines Soziallohns und die Fähigkeit des Systems, die zyklischen Krisen zwar nicht zu vermeiden, aber auf sie zu reagieren. Wie war dies alles möglich?
Von nun an musste der Kapitalismus mangels adäquater Ventile für seine Widersprüche eine interne Lösung für seine zweifache Beschränkung auf der Ebene der Profite und der Märkte zu finden. Die hohe Profitrate wurde durch die großen Steigerungen in der Arbeitsproduktivität dank des industriellen Fordismus (Fließband kombiniert mit Schichtarbeit) ermöglicht. Und die Märkte, auf denen diese enormen Warenmengen verkauft werden sollten, wurden durch die Ausweitung der Produktion, durch Staatsinterventionen und vielfältige Systeme zur Koppelung der Reallöhne an die Produktivität garantiert. Dies ermöglichte es, die Nachfrage parallel zur Produktion zu steigern (s. Graphik Nr. 4). Durch die Stabilisierung des Lohnanteils am Gesamtvermögen war der Kapitalismus somit eine Zeitlang in der Lage die Überproduktion zu vermeiden, die „(...) grade daraus hervor[geht], dass die Masse des Volks nie mehr als die average quantity of necessaries [durchschnittliche Menge der lebenswichtigen Güter] konsumieren kann, ihre Konsumtion also nicht entsprechend wächst mit der Produktivität der Arbeit."[26]
Diese Analyse wurde von Paul Mattick und anderen Revolutionären damals übernommen, um die Nachkriegsprosperität zu analysieren: „Es ist unleugbar, dass die Löhne in der modernen Epoche gestiegen sind. Aber nur im Rahmen der Kapitalexpansion, die voraussetzt, dass das Verhältnis der Löhne zu den Profiten im Allgemeinen konstant bleibt. Die Arbeitsproduktivität sollte daher mit einer Schnelligkeit wachsen, die es ermöglichen würde, sowohl Kapital zu akkumulieren und den Lebensstandard der Arbeiter anzuheben."[27] Dies ist der wirtschaftliche Hauptmechanismus des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus. Er wird von der parallelen Entwicklung der Löhne und der Arbeitsproduktivität während dieser Periode empirisch bestätigt.
Den spontanen Dynamiken des Kapitalismus entsprechend (Konkurrenz, Lohndruck, etc.), kann ein solches System nur in der Zwangsjacke eines Staatskapitalismus lebensfähig sein, der vertraglich eine Dreiteilung der Resultate der gestiegenen Produktivität zwischen den Profiten, Löhnen und Staatseinkünften garantiert. Eine Gesellschaft, die vom Lohnarbeitsverhältnis beherrscht wird, zwingt der gesamten Politik de facto eine gesellschaftliche Dimension auf, die von der herrschenden Klasse angenommen wurde. Dies setzt die Errichtung von vielfältigen sozialen und wirtschaftlichen Kontrollen, von gesellschaftlichen Stoßdämpfern, etc. voraus. Zweck dieser beispiellosen Aufblähung des Staatskapitalismus war es, die explosiven gesellschaftlichen Widersprüche des Systems innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Ordnung aufzufangen: Vorherrschaft der Exekutive über die Legislative, bedeutsame Steigerung der Staatsinterventionen in der Wirtschaft (fast die Hälfte des BSP in den OECD-Ländern), gesellschaftliche Kontrolle der Arbeiterklasse, etc.
Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad (Januar 1943) begannen die politischen, gewerkschaftlichen und Arbeitgeberrepräsentanten im Londoner Exil intensive Diskussionen über die Reorganisation der Gesellschaft nach dem nun unvermeidbaren Zusammenbruch der Achsenmächte. Die Erinnerung an die Jahre der Depression und die Furcht vor sozialen Bewegungen am Ende des Krieges, die aus der Krise von 1929 gezogenen Lehren, die immer breitere Akzeptanz der Notwendigkeit von Staatsinterventionen und die durch den Kalten Krieg geschaffene Bipolarität sollten die Elemente sein, die die Bourgeoisie dazu veranlassten, die Spielregeln zu modifizieren und mehr oder weniger bewusst diesen keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus auszuarbeiten, der sich als praktikabel erwies und nach und nach in allen entwickelten Ländern (OECD) eingepflanzt wurde. Die Verteilung der Produktivitätssteigerungen wurde von allen um so leichter akzeptiert, als: a) sie stark anstiegen, b) diese Neuverteilung die Steigerung der zahlungsfähigen Nachfrage parallel zur Produktion garantierte, c) sie den sozialen Frieden bot, d) der soziale Frieden umso leichter erhalten werden konnte, als das Proletariat in Wahrheit besiegt aus dem Zweiten Weltkrieg heraustrat, unter der Kontrolle von Parteien und Gewerkschaften zugunsten des Wiederaufbaus innerhalb dieses Systems, e) sie aber gleichzeitig die langfristige Rentabilität der Investitionen garantierten, f) wie auch eine hohe Profitrate.
Das System war also zeitweise imstande, die Quadratur des Kreises, die parallele Steigerung der Profitproduktion und der Märkte, zu bewerkstelligen, in einer Welt, in der die Nachfrage fortan größtenteils von jener bestimmt wurde, die aus der Lohnarbeit herrührt. Die garantierte Steigerung der Profite, der Staatsausgaben und der Anstieg der Löhne waren in der Lage, die Endnachfrage zu gewährleisten, die so entscheidend ist, wenn das Kapital seine Akkumulation fortsetzen will. Der keynesianisch-fordistische Staatskapitalismus ist die Antwort, die das System zeitweise auf die Krisen der Senilitätsphase des Kapitalismus geben konnte, die wesentlich weltweite, durch das Lohnarbeitsverhältnis bestimmte Krisen sind. Er ermöglichte momentan ein auf sich selbst beruhendes Funktionieren des Kapitalismus, ohne die Notwendigkeit, Zuflucht in Produktionsverlagerungen zu suchen, trotz hohen Löhnen und Vollbeschäftigung, während er es ihm gleichzeitig ermöglichte, seine Kolonien loszuwerden, die künftig nur einen geringen Nutzen hatten, und die innere außerkapitalistische Bauernwirtschaft zu eliminieren, deren Aktivitäten fortan subventioniert werden mussten.
Vom Ende der 1960er Jahre bis 1982 verschlechterten sich sämtliche Bedingungen, die den Erfolg dieser Maßnahmen ermöglicht hatten, beginnend mit einer fortschreitenden Verlangsamung im Produktivitätsanstieg, der überall um ein Drittel gekürzt wurde, und zogen alle anderen ökonomischen Variablen mit sich hinunter. Die innere Regulierung, die zeitweilig vom keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus entdeckt worden war, hatte also kein dauerhaftes Fundament.
Jedoch waren die Gründe, die die Schaffung dieses Systems erfordert hatten, immer noch da: Die Lohnarbeit ist in der arbeitenden Bevölkerung vorherrschend, und daher war der Kapitalismus gezwungen, ein Mittel zur Stabilisierung der Endnachfrage zu finden, um ihren Zerfall zu vermeiden, der andernfalls zu einer Depression führen würde. Da Betriebsinvestitionen durch die Nachfrage bedingt sind, war es notwendig, andere Mittel zur Aufrechterhaltung des Konsums zu finden. Die Antwort wurde unvermeidlicherweise in den Zwillingsfaktoren der abnehmenden Ersparnisse und der steigenden Schulden gefunden. Dies schuf den Anreiz zur Spekulation und zur Produktion von Finanzblasen. Die konstante Erschwerung der Ausbalancierung des Systems ist somit nicht das Resultat von Irrtümern bei der Ausübung der Wirtschaftspolitik; sie ist ein integraler Bestandteil des Modells.
Dieser Abstieg in die Hölle ist in der gegenwärtigen Situation umso unvermeidlicher, als die Bedingungen für eine Wiedererholung der Produktivitätssteigerungen und eine Rückkehr zu ihrer dreiseitigen Verteilung gesellschaftlich nicht mehr vorhanden sind. Es gibt nichts Greifbares in den wirtschaftlichen Bedingungen, im gegenwärtigen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und in der imperialistischen Konkurrenz auf der internationalen Ebene, das irgendeinen Ausweg offen lässt: Alle Bedingungen sind gegeben für einen unerbittlichen Abstieg in die Hölle. Es liegt an den Revolutionären, zum Bewusstsein der Klassenkämpfe beizutragen, die unvermeidlich aus den sich vertiefenden Widersprüchen des Kapitalismus entstehen werden.
C. Mcl
[1] Gauche Communiste de France (Französische Kommunistische Linke)
[2] Internationalisme, Nr. 46, 1952.
[3] „Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter. Dies ist das Gesetz für die kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen, bloß als Erhaltungsmittel und bei Strafe des Untergangs." (Marx, Das Kapital, Bd. 3, III. Abschnitt, S. 254, MEW)
[4] Marx, Das Kapital, Bd. 3, V. Abschnitt, S. 499, MEW.
[5] „In demselben Maße also, worin sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise der Wertumfang und die Lebensdauer des angewandten fixen Kapitals entwickelt, entwickelte sich das Leben der Industrie und des industriellen Kapitals in jeder besondren Anlage zu einem vieljährigen, sage im Durchschnitt zehnjährigen Zyklus (...) Durch diesen eine Reihe von Jahren umfassenden Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen, in welchen das Kapital durch seinen fixen Bestandteil gebannt ist, ergibt sich eine materielle Grundlage der periodischen Krisen..." (Marx, Das Kapital, Bd. 2, II. Abschnitt, S. 185, MEW)
[6] Marx, das Kapital, Bd. 3, III. Abschnitt, S. 259 und 265, MEW.
[7] „Wenn wir einen aufwärts sich entwickelnden Kapitalismus betrachten, so finden wir dieselben Schwankungen, nur geht die Kurve nach oben. Wenn wir eine verfallende kapitalistische Gesellschaft beobachten, so geht die Kurve nach unten, die Entwicklung bewegt sich aber immer in diesen Schwankungen.
Aus der Tabelle der Januarnummer der „Times" ersehen wir die Epoche von 138 Jahren, von der Zeit der Kriege für die Unabhängigkeit Nordamerikas bis zum heutigen Tage. Im Laufe dieser Zeit hatten wir, wenn ich nicht irre, 16 Zyklen, das heißt 16 Krisen und 16 Hochkonjunkturen. Auf jeden Zyklus entfallen ungefähr 8 ½ Jahre, fast 9 Jahre." (Trotzki, Die wirtschaftliche Krise und die neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale, Protokolle der Komintern-Kongresse, 23. Juni 1921)
[8] „...Das erstrangige Ziel des Kapitalisten ist ein neuer Produktionszyklus, der ihm neuen Mehrwert einbringt (...) Die mit beinahe mathematischer Regelmäßigkeit wiederkehrenden Krisen bilden einer der spezifischen Züge der kapitalistischen Produktionsweise." (Mitchell, Bilan, Nr. 10, „Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des niedergehenden Kapitalismus")
[9] In Graphik Nr. 1 sind die neun Rezessionen, die die zehn Zyklen interpunktieren, durch die von oben nach unten durchlaufenden Liniengruppen dargestellt: 1949, 1954, 1958, 1960, 1970-71, 1974, 1980-81, 1991, 2001.
[10] „Sobald das auspreßbare Quantum Mehrarbeit in Waren vergegenständlicht ist, ist der Mehrwert produziert. Aber mit dieser Produktion des Mehrwerts ist nur der erste Akt des kapitalistischen Produktionsprozesses, der unmittelbare Produktionsprozeß beendet. Das Kapital hat soundsoviel unbezahlte Arbeit eingesaugt. Mit dieser Entwicklung des Prozesses, der sich im Fall der Profitrate ausdrückt, schwillt die Masse des so produzierten Mehrwerts ins Ungeheure. Nun kommt der zweite Akt des Prozesses. Die gesamte Warenmasse, das Gesamtprodukt, sowohl der Teil, der das konstante und variable Kapital ersetzt, wieder den Mehrwert darstellt, muß verkauft werden. Geschieht das nicht oder nur zum Teil oder nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehn, so ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den Kapitalisten, kann mit gar keiner oder nur teilweiser Realisation des abgepreßten Mehrwerts, ja mit teilweisem oder ganzem Verlust seines Kapital verbunden sein." (Marx, Das Kapital, Bd. 3, III. Abschnitt, S. 254, MEW)
[11] Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW, Bd. 26.2, XVII. Kapitel, S. 535)
[12] Marx, Das Kapital, Bd. 3, V. Abschnitt. S. 501 MEW. Diese Analyse von Marx hat selbstverständlich nichts mit der Theorie der Unterkonsumtion als Krisenursache zu tun - eine Theorie, die er tatsächlich kritisierte: „Es ist reine Tautologie zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion oder an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehn. Andere Konsumarten als zahlende kennt das kapitalistische System nicht, ausgenommen die sub forma pauperis oder die des ‚Spitzbuben‘. Daß Waren unverkäuflich sind, heißt nichts, als daß sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten (sei es nun, daß die Waren in letzter Instanz zum Behuf produktiver oder individueller Konsumtion gekauft werden). Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu vermerken, daß die Krisen jedesmal vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält." (Marx, Das Kapital, Bd. 2, III. Abschnitt, MEW, S. 409)
[13] Marx, Das Kapital, Bd. 3, III. Abschnitt, S. 268, MEW.
[14] Jeder dieser drei Faktoren wird von Marx in der folgenden Passage identifiziert: „Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander. Die einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die andren durch die Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Diese letztre aber ist bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft; sondern durch Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enge Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter." (Marx, Das Kapital, Bd. 3, III. Abschnitt, S. 254, MEW)
[15] Marx, Theorien über den Mehrwert, von uns rückübersetzt aus dem Französischen.
[16] „Da die Märkte und die Produktion unabhängige Faktoren sind, muss die Ausweitung des einen nicht unbedingt dem Wachstum des anderen entsprechen" (unsere Übersetzung aus der französischen Version der Grundrisse von Marx, La Pléiade, Economie II, S. 489). Oder noch einmal: „Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander." (Marx, Kapital, Bd. 3)
[17] Es ist umso wichtiger, die Idee abzulehnen, dass die Überproduktionskrisen eine einzige Ursache haben, als ihre Ursachen sowohl für Marx als auch in der Realität weitaus komplexer sind: die Anarchie der Produktion, die Disproportionalität zwischen den beiden Hauptsektoren der Wirtschaft, der Gegensatz zwischen „geliehenem Kapital" und „Produktivkapital", die Trennung zwischen Kauf und Verkauf nach Schatzbildung etc. Dennoch sind die beiden Hauptursachen, die von Marx am vollständigsten analysiert worden sind, und auch die wichtigsten in der Realität die beiden, auf die wir hier stets bestanden haben: der Fall der Profitrate und die Gesetze, die die Verteilung des Mehrwerts bestimmen.
[18] Wie zum Beispiel die lange Periode der steigenden Reallöhne in der zweiten Hälfte des Aufstiegs des Kapitalismus (1870-1914), während des Nachkriegsbooms (1945-82) oder ihr relativer und gar absoluter Fall seitdem (1982-2008).
[19] Es ist selbstverständlich, dass eine Rentabilitätskrise unweigerlich zu einem endemischen Zustand der Überproduktion sowohl des Kapitals als auch der Waren führt. Jedoch tauchten diese Phänomene der Überproduktion nach der Rentabilitätskrise auf und wurden dann Gegenstand einer Auffangpolitik sowohl des Staates (Produktionsquoten, Umstrukturierungen, etc.) als auch von Privaten (Fusionen, Rationalisierung, Übernahmen, etc.).
[20] In den 1970er Jahren litt die Arbeiterklasse in der Krise im Wesentlichen unter einem Verfall der Arbeitsbedingungen, Umstrukturierungen und Entlassungen und seither unter einem spektakulären Anstieg der Arbeitslosigkeit. Jedoch führte, anders als in der Krise von 1929, diese Arbeitslosigkeit nicht zu einer Spirale der Rezession dank dem Einsatz von keynesianischen sozialen Stoßdämpfern: Arbeitslosenunterstützung, Auffangmaßnahmen, planmäßige Entlassungen, etc.
[21] Für Marx ist die Arbeitsproduktivität der wahre Schlüssel der Entfaltung des Kapitalismus, da sie nichts anderes ist als das umgekehrte Verhältnis des Wertgesetzes, mit anderen Worten: der gesellschaftlich notwendigen durchschnittlichen Arbeitszeit für die Warenproduktion. Unser Artikel über die Krise in der Internationalen Revue, Nr. 33 enthält eine Graphik, die die Arbeitsproduktivität für die G6-Staaten (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien) von 1961 bis 2003 zeigt. Sie zeigt deutlich, dass der Fall der Arbeitsproduktivität allen anderen Variablen vorausgeht und dass sie seither auf einem tiefen Niveau geblieben ist.
[22] Marx, Das Kapital, Bd. 3, III. Abschnitt, S. 255, MEW.
[23] Jedes Akkumulationsregime, das die historische Entwicklung des Kapitalismus ausgezeichnet hat, hat spezifische Beziehungen mit seiner äußeren Sphäre erzeugt: vom Merkantilismus der Länder der Iberischen Halbinsel über den Kolonialismus des viktorianischen Britannien zum selbst-zentrierten Kapitalismus des Nachkriegsbooms - es gibt keine Uniformität in den Beziehungen zwischen dem Herzen des Kapitalismus und der Peripherie, wie Rosa Luxemburg annahm, sondern eine gemischte Abfolge von Beziehungen, die alle von diesen unterschiedlichen inneren Bedürfnissen der Kapitalakkumulation angetrieben werden.
[24] Im 19. Jahrhundert, als die Kolonialmärkte am wichtigsten waren, wuchsen ALLE NICHT-kolonialen Länder schneller als die Kolonialländer (71% schneller im Durchschnitt). Diese Beobachtung ist in der gesamten Geschichte des Kapitalismus zutreffend. Verkäufe außerhalb des reinen Kapitalismus ermöglichten es sicherlich individuellen Kapitalisten, ihre Waren zu realisieren, doch behinderten sie eine globale Akkumulation des Kapitalismus, da sie, wie die Waffen, materiellen Mitteln entsprechen, die den Kreislauf der Akkumulation verlassen.
[25] „...das Kapitalverhältnis wird zu einer Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Wenn dieser Punkt erreicht ist, tritt das Kapital, d.h. die Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis gegenüber der Entwicklung gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte wie das Zunftsystem, Leibeigenschaft, Sklaverei, und es wird als Fessel abgestreift" (Marx, Grundrisse, Das Kapitel vom Kapital, Heft VII, eigene Rückübersetzung aus dem Englischen)
[26] Marx, Theorien über den Mehrwert, Sechzehntes Kapitel, S. 469, MEW Bd. 26.2
[27] Paul Mattick, Intégration capitaliste et rupture ouvrière, EDI, S. 151, unsere Übersetzung.
In der Aktivitätenresolution der IKS, die durch den Kongressangenommen wurde, schrieben wir:
„Die Beschleunigung der historischen Lage, wie sie in derGeschichte der Arbeiterbewegung noch nie vorgekommen ist, ist durch dasZusammentreffen der beiden folgenden Dimensionen gekennzeichnet:
- dieAusweitung der ernsthaftesten offenen Wirtschaftskrise in der Geschichte desKapitalismus, verbunden mit der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen undseit 2003 einem langsamen, aber sich ausweitenden Voranschreiten der Reifung inder Arbeiterklasse, sowohl in der Tiefe als auch in der Breite;
- unddie Entfaltung einer internationalistischen Milieus, die vor allem in denLändern der Peripherie des Kapitalismus spürbar ist.
Diese Beschleunigung erhöht noch die politische Verantwortungder IKS, stellte noch höhere Anforderungen an sie hinsichtlich dertheoretischen/politischen Analyse und der Intervention im Klassenkampf undgegenüber den Leuten, die auf der Suche sind (...)".
Die Bilanz, die wir nach dem 18. internationalen Kongressunserer Organisation ziehen können, misst sich also an ihrer Fähigkeit, dieserVerantwortung gerecht zu werden.
Für eine wirkliche und ernsthafte kommunistische Organisationist es immer heikel, lauthals zu verkünden, dass diese oder jene Aktion einErfolg gewesen sei. Dies aus verschiedenen Gründen.
Zunächst einmal deshalb, weil sich die Frage, ob eineOrganisation, die für die kommunistische Revolution kämpft, ihrer Verantwortunggewachsen ist, nicht kurzfristig beurteilen lässt, sondern nur auf lange Sicht,denn obwohl eine solche Organisation ständig in der geschichtlichen Realitätder Gegenwart verankert ist, besteht ihre Rolle meistens nicht darin, dieseunmittelbare Realität zu beeinflussen, mindestens nicht im grossen Stil,sondern die zukünftigen Ereignisse vorzubereiten.
Zweitens aber auch deshalb, weil bei den Mitgliedern einerkommunistischen Organisation immer die Gefahr besteht, die „Dinge zubeschönigen", überaus nachlässig zu sein gegenüber den Schwächen einesKollektivs, für dessen Existenz sie sich hingeben, ihre ganze Energie einsetzenund das sie dauernd gegen Angriffe verteidigen müssen, die von den offenen undversteckten Verteidigern der kapitalistischen Gesellschaft gegen es geführtwerden. Die Geschichte zeigt uns, dass es immer wieder überzeugte und dem Zieldes Kommunismus treue Militante gegeben hat, die aus „Parteipatriotismus" blindwaren, die Schwächen, das Entgleisen, ja den Verrat ihrer Organisation zuerkennen. Auch heute gibt es unter den Leuten, die eine kommunistischePerspektive verteidigen, solche, die meinen, dass ihre Gruppe, deren Mitgliederman oft an den Fingern einer Hand zählen kann, die einzige „InternationaleKommunistische Partei" sei, der sich eines Tages die proletarischen Massenanschliessen würden, solche, die keine Kritik hören und keine Debatte führenund meinen, alle anderen Gruppen des proletarischen Milieus seienFälscher.
Im Bewusstsein dieser Gefahr, sich Illusionen zu machen, undmit der nötigen Vorsicht, die sich daraus ergibt, scheuen wir uns nicht zubehaupten, dass der 18. Kongress der IKS sich auf der Höhe der Anforderungenbefand, wie sie weiter oben erwähnt worden sind, und dass er dieVoraussetzungen geschaffen hat, damit wir unsere Aktivitäten auf diesem Wegfortsetzen können.
Wir können hier nicht über alle Faktoren, die diese Behauptungstützen, Rechenschaft ablegen. Wir heben hier nur die wichtigsten hervor:
- dieTatsache, dass der Kongress mit der Ratifizierung der Integration zweier neuerterritorialer Sektionen der IKS eröffnet werden konnte, nämlich der Sektionenauf den Philippinen und in der Türkei;
- dieAnwesenheit von vier Gruppen des proletarischen Milieus;
- diePolitik der Öffnung unserer Organisation gegenüber aussen, welche namentlichdurch diese Teilnahme anderer Gruppen veranschaulicht wird;
- derWille unserer Organisation, sich mit möglichst grosser Klarheit mit denSchwierigkeiten und Schwächen zu beschäftigen, die wir überwinden müssen;
- diebrüderliche und begeisterte Stimmung, von der die Arbeiten des Kongressesgetragen waren.
Unsere Presse hat bereits darüber berichtet, dass auf denPhilippinen und in der Türkei zwei neue Sektionen der IKS entstanden sind (derKongress war zuständig dafür, die Integrationen, die das Zentralorgan unsererOrganisation im Januar 2009 beschlossen hat, zu bestätigen).[1]Wie wir bei dieser Gelegenheit festgehalten hatten: „Die Integration dieserbeiden neuen Sektionen in unsere Organisation erweitert somit beträchtlich diegeographische Ausdehnung der IKS." Wir hoben auch die beiden folgendenTatsachen bezüglich dieser Integrationen hervor:
- Sieberuhten nicht auf einer Hauruck-„Rekrutierung" (welche Mode ist bei denTrotzkisten und leider auch bei gewissen Gruppen des proletarischen Lagers),sondern waren das Ergebnis, wie dies bei der IKS üblich ist, einer Arbeit mitVertiefungsdiskussionen während mehrerer Jahre mit den Genossen von EKS in derTürkei und Internasyonalismo auf den Philippinen, eines Prozesses, über den wirin unserer Presse Zeugnis ablegten;
- sie widerlegten den Vorwurf des„Eurozentrismus", der oft gegen unsere Organisationen erhoben wird.
Die Aufnahme von zwei neuen Sektionen ist nicht etwasAlltägliches für unsere Organisation. Die letzte Integration geht ins Jahr 1995zurück, als die Schweizer Sektion aufgenommen wurde. Das heisst, dass dieAnkunft dieser beiden neuen Sektionen (die auf die Bildung eines Kerns inBrasilien 2007 folgte) von der Gesamtheit der Mitglieder als ein sehr wichtigesund positives Ereignis empfunden wurde. Sie bestätigt einerseits die Analyse,die unsere Organisation seit einigen Jahren über das neue, in der gegenwärtigenhistorischen Situation angelegte Potential zur Entwicklung desKlassenbewusstseins macht, andererseits die Gültigkeit der Politik, die wirgegenüber den Gruppen und Einzelpersonen führen, die sich den revolutionärenPositionen zuwenden. Dies gilt umso mehr, als am Kongress Delegationen von vierGruppen des internationalistischen Milieus anwesend waren.
In der Bilanz, die wir über denvorangegangenen Kongress der IKS zogen, unterstrichen wir, wie wichtig die(nach Jahrzehnten wieder erstmalige) Anwesenheit von vier Gruppen desinternationalistischen Milieus war, die aus Brasilien, Südkorea, denPhilippinen und der Türkei kamen. Dieses Mal waren wieder vier Gruppen diesesMilieus anwesend. Doch war dies nicht Ausdruck eines Stillstandes, denn zweider Gruppen, die am letzten Kongress als Gäste dabei waren, sind seither Sektionender IKS geworden, und wir haben das Vergnügen gehabt, zwei neue Gruppen zuempfangen: eine zweite Gruppe aus Korea und eine Gruppe aus Zentralamerika(Nicaragua und Costa Rica), die LECO (Liga por la emancipación de la claseobrera), die auch schon am „Treffen von internationalistischen Kommunisten"[2] teilgenommen hatte, das in diesem Frühjahr inLateinamerika auf Anregung der IKS und der OPOP stattgefunden hatte, derinternationalistischen Gruppe in Brasilien, mit der unsere Organisation schonseit mehreren Jahren brüderliche und sehr positive Beziehungen unterhält. DieseGruppe nahm erneut am Kongress teil. Noch weitere Gruppen, die an jenem Treffenin Lateinamerika teilgenommen hatten, waren ebenfalls zum Kongress eingeladenworden, konnten aber keine Delegation schicken, da Europa sich je länger jemehr in eine Festung gegenüber Personen verwandelt, die nicht zum sehr kleinenund geschlossenen Kreis der „reichen Länder" gehören.
Die Anwesenheit von Gruppen desinternationalistischen Milieus war ein sehr wichtiger Faktor für den Erfolg desKongresses und insbesondere auch für die Stimmung bei den Diskussionen. DieseGenossen gingen mit den Mitgliedern unserer Organisation sehr herzlich um,warfen Fragen auf, insbesondere zur Wirtschaftskrise und zum Klassenkampf, diefür uns und unsere internen Debatten ungewohnt waren und somit die Reflexion inder ganzen Organisation nur anregen konnten.
Schliesslich stellte die Teilnahme dieserGenossen ein zusätzliches Element bei der Politik der Öffnung dar, die sich dieIKS seit einigen Jahren als Ziel vorgenommen hat - einer Öffnung gegenüber denanderen proletarischen Gruppen, aber auch gegenüber Leuten, die sichkommunistischen Positionen annähern. Eine Öffnung auch unserer Sorgen undReflexionen, namentlich hinsichtlich der Forschung und der Entdeckungen aufwissenschaftlichem Gebiet[3], die sich konkretisiert hat in der Einladung einesMitgliedes der Wissenschaftszunft zu einer Sitzung des Kongresses.
Um auf unsere Weise das „Darwin-Jahr" zu begehen und einer inunserer Organisation stattfindenden Entwicklung des Interesses fürwissenschaftliche Fragen Rechnung zu tragen, fragten wird einen Forscher, dersich auf das Thema der Entstehung der Sprache spezialisiert hat (und Autoreinen Werks mit dem Titel Aux origines du langageist), ob er auf dem Kongress eine Einführung in seine Arbeiten mache, dienatürlich auf der Darwinschen Methode beruhen. Die neuen Ideen Jean-LouisDessalles'[4]auf dem Gebiet der Sprache, zu ihrer Rolle bei der Entwicklung dergesellschaftlichen Beziehungen und der Solidarität in der Gattung Mensch,stehen in Zusammenhang mit den Ideen und Diskussionen, die in unsererOrganisation zu Themen wie Ethik oder Debattenkultur geführt werden. Auf dieEinführung dieses Forschers folgte eine Debatte, die wir gezwungen waren,vorzeitig zu einem Ende zu bringen (da wir unter dem Druck der Tagesordnungstanden), die aber ohne weiteres noch Stunden hätte dauern können - so starkwar die Leidenschaft, in welche sich die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnendes Kongresses durch die aufgeworfenen Fragen versetzen liessen.
Wir möchten hier Jean-Louis Dessalles noch einmal für dieseTeilnahme danken, der - obwohl keineswegs einig mit unseren politischen Ideen -sehr herzlich und unter Hingabe eines Teils seiner Zeit dazu beigetragen hat,die Reflexion in unserer Organisation zu bereichern. Wir möchten ebenfalls diefreundliche und angenehme Art seiner Antworten hervorheben, die er auf dieFragen und Einwände der IKS-Mitglieder gab.
Die Arbeit des Kongresses drehte sich um die klassischenPunkte einer solchen Tagung:
- dieAnalyse der internationalen Lage;
- dieTätigkeiten und das Leben unserer Organisation.
Die Resolution zur internationalen Lage ist eine ArtZusammenfassung der Diskussionen am Kongress über die Einschätzung deraktuellen Weltlage. Sie kann natürlich nicht auf alle Aspekte eingehen, die inden Diskussionen aufgeworfen wurden (nicht einmal all diejenigen, die in den Berichtenim Vorfeld des Kongresses auftauchten). Sie verfolgt die folgenden dreiHauptziele:
- diewirklichen Ursachen und Konsequenzen der gegenwärtigen und bisher absoluteinzigartigen Wirtschaftskrise des kapitalistischen Systems zu begreifenangesichts aller Verschleierungen, welche die Verteidiger des Systemsunablässig kolportieren;
- dieAuswirkungen der Machtergreifung in den USA durch den Demokraten Barack Obamaauf die imperialistischen Auseinandersetzungen zu verstehen, der angekündigtwurde als einer, der etwas Neues zu diesen Konflikten zu sagen habe undHoffnung auf eine Abschwächung derselben wecken soll;
- die Perspektiven für den Klassenkampfvorzuschlagen, insbesondere unter den neuen Bedingungen der brutalen Angriffe,die das Proletariat aufgrund der Gewalt der Wirtschaftskrise zu erleidenbegonnen hat.
Was den ersten Aspekt betrifft, das Verständnis derKonsequenzen der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, so gilt es vor allemfolgende Aspekte zu unterstreichen:
„(...) die gegenwärtige Krise (ist) die schlimmste seit dergrossen Depression, welche 1929 einsetzte. (...) So ist die Finanzkrise nicht dieWurzel der gegenwärtigen Rezession. Im Gegenteil, die Finanzkrise verdeutlichtnur die Tatsache, dass die Flucht in die Verschuldung, die die Überwindung derÜberproduktion ermöglicht hatte, nicht endlos lange fortgesetzt werden kann.(...) Auch wenn das kapitalistische System nicht wie ein Kartenhauszusammenstürzen wird (...), bleibt die Perspektive die eines immer stärkerenVersinkens in der historischen Sackgasse und der Vorbereitung von nochgrösseren Erschütterungen als jene, die wir heute erleben."
Selbstverständlich hat der Kongress nicht alle Fragenabschliessend beantworten können, die die gegenwärtige Krise des Kapitalismusaufwirft. Dies einerseits deshalb, weil jeder Tag neue Erscheinungen der Krisebringt, die die Revolutionäre zwingen, die Entwicklung der Lage ständig undaufmerksam zu verfolgen und die Diskussion auf der Grundlage der neuen Elementefortzusetzen. Andererseits aber auch deshalb, weil unsere Organisation beieiner ganzen Anzahl von Gesichtspunkten in der Analyse der Krise desKapitalismus nicht homogen ist. Dies ist unseres Erachtens keineswegs einZeichen der Schwäche der IKS. Vielmehr haben sich die auf marxistischer Grundlagegeführten Debatten über die Frage der Krisen des kapitalistischen Systems durchdie ganze Geschichte der Arbeiterbewegung hindurchgezogen. Die IKS hat auchschon damit begonnen, gewisse Aspekte ihrer internen Debatten über diese Fragezu veröffentlichen[5], dadiese Diskussionen nicht „Privateigentum" unserer Organisation sind, sondernder Arbeiterklasse insgesamt gehören. Und sie ist fest entschlossen, diesen Wegweiter zu verfolgen. So verlangt denn auch die Resolution über die Perspektiveder Aktivitäten unserer Organisation, die der Kongress verabschiedete,ausdrücklich, dass sich die Debatten bei weiteren Fragen der Analyse dergegenwärtigen Krise entwickelt, damit die IKS so gut wie möglich gewappnet ist,um klare Antworten auf die Fragen zu geben, die die Krise der Arbeiterklasseund denjenigen Leuten stellt, die entschlossen sind, sich in den Kampf für eineÜberwindung des Kapitalismus einzureihen.
Betreffend die „neue Tatsache", die durch Wahl Obamasgeschaffen wurde, nimmt die Resolution, wie folgt, Stellung:
„Somit ist die Perspektive, vor der die Welt nach der Wahl vonObama zum Präsidenten der grössten Weltmacht steht, nicht grundsätzlichverschieden von der Lage, die bis heute vorgeherrscht hat: Fortsetzung derKonfrontationen zwischen erst- und zweitrangigen Imperialisten, Fortdauer derKriegsbarbarei mit immer tragischeren Folgen für die direkt betroffeneBevölkerung (Hungersnöte, Epidemie, Flüchtlingsströme)."
Schliesslich versucht die Resolution hinsichtlich derPerspektive des Klassenkampfes die Auswirkungen der brutalen Verschlimmerungder kapitalistischen Krise einzuschätzen, wie dies auch die Genossen amKongress getan haben:
„Die gegenwärtige Zuspitzung der Krise des Kapitalismus bildetein wichtiges Element in der Entwicklung der Kämpfe der Arbeiterklasse. (...)Damit reifen die Bedingungen für eine mögliche Entfaltung der Einsicht in denReihen des Proletariates, dass der Kapitalismus überwunden werden muss. Doch esgenügt nicht, wenn die Arbeiterklasse feststellt, dass der Kapitalismus ineiner Sackgasse steckt und einer anderen Gesellschaft Platz machen sollte,damit sie in die Lage versetzt wird, sich eine revolutionäre Perspektive zugeben. Es braucht auch die Überzeugung, dass eine solche Perspektive möglichist und dass die Arbeiterklasse die Kraft hat, sie umzusetzen. (...) Damit dasBewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in derArbeiterklasse wirklich an Boden gewinnen kann, muss diese Vertrauen in ihreeigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Dergewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, müssteeine objektive Grundlage für solche Kämpfe darstellen. Doch die wichtigsteForm, in der diese Angriffe stattfinden - Massenentlassungen -, läuft der Entwicklungsolcher Kämpfe zunächst zuwider. (...) Selbst wenn es also in der nächsten Zeitkeine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wirnicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zukämpfen. Erst in einer zweiten Phase (...) werden sich Arbeiterkämpfe ingrösserem Ausmass entwickeln können."
Ein Bericht wurde vorgestellt, der dazu bestimmt war, diewichtigsten gegenwärtig vertretenen Positionen in den laufendenVertiefungsdiskussionen in der IKS zusammenzufassen. Ein wichtiger Teil dieserDiskussionen war in den vorangegangenen zwei Jahren der Wirtschaftsfragegewidmet. Auf die Divergenzen, die sich dabei entwickelten, haben wir schonweiter oben im vorliegenden Artikel hingewiesen.
Ein weiterer Teil unserer Diskussionen betraf die Frage des menschlichenWesens, der menschlichen Natur,die auch zu einer leidenschaftlichen Debatte führte, die von zahlreichen undwertvollen Beiträgen gespiesen wurde. Diese Debatte ist noch lange nichtabgeschlossen, zeigt aber eine allgemeine Übereinstimmung mit denOrientierungstexten, die wir in der InternationalenRevue veröffentlicht haben, nämlich DasVertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats(Nr. 31 und 32), Marxismus und Ethik(Nr. 39 und 40) oder Die Debattenkultur: eine Waffe desKlassenkampfs (Nr. 41), wobei es noch zahlreicheFragezeichen oder Vorbehalte beim einen oder anderen Aspekt gibt. Sobald dieseMeinungsunterschiede genügend herausgearbeitet sind, um ausserhalbveröffentlicht zu werden, wird die IKS in der Tradition der Arbeiterbewegungdiesen Schritt vollziehen. Es bleibt an dieser Stelle anzumerken, dass einGenosse der belgisch-holländischen Sektion kürzlich tiefe Unstimmigkeiten mitden drei zuvor zitierten Texten zum Ausdruck gebracht hat („kürzlich", bezogenauf die doch teilweise schon weit zurückliegende Erstveröffentlichung derTexte), wobei er diese als unmarxistisch betrachtet und die Organisationinzwischen verlassen hat.
Was die Diskussionen über die Aktivitäten und das Leben derIKS betrifft, zog der Kongress für die massgebende Zeit eine positive Bilanz,wenn auch Schwächen blieben, die es zu überwinden gilt:
„Die Bilanz der Aktivitäten der letzten zwei Jahre zeigt die politischeVitalität der IKS, ihre Fähigkeit, mit der geschichtlichen Situation inTuchfühlung zu sein, sich zu öffnen, eine aktive Rolle bei der Entwicklung desKlassenbewusstseins zu spielen, ihren Willen, sich für Initiativen einergemeinsamen Arbeit mit anderen revolutionären Kräften zu engagieren. (...) Aufder Ebene des internen Organisationslebens ist die Bilanz der Tätigkeiten auchpositiv trotz wirklicher Schwächen, die insbesondere auf der Ebene desOrganisationsgewebes und in geringerem Ausmass bei der Zentralisierung weiterbestehen" (Aktivitätenresolution der IKS).
Der Kongress widmete einen Teil derDiskussionen der Aufgabe, die organisatorischen Schwächen zu untersuchen, diees bei uns gibt. Diese sind nicht eine „Besonderheit" der IKS, sondern vielmehrdas Los aller Organisationen der Arbeiterbewegung, die ständig dem Gewicht derherrschenden bürgerlichen Ideologie unterworfen sind. Die wirkliche Stärkedieser Organisationen, die namentlich bei den Bolschewiki zum Ausdruck kam,bestand jeweils darin, in der Lage zu sein, die Schwächen mit möglichst grosserKlarheit anzupacken, um sie zu bekämpfen. Von diesem Geist waren die Debattenam Kongress über diese Frage beseelt.
Einer der diskutierten Punkte betraf dieSchwächen, von denen unsere Sektion in Belgien-Holland betroffen war, aus dereine kleine Zahl von Mitgliedern kürzlich austrat, und zwar in der Folge vonAnschuldigungen, die der Genosse M. erhob. Seit einiger Zeit beschuldigtedieser unsere Organisation und insbesondere die ständige Kommission ihresZentralorgans, sich von der Debattenkultur abzuwenden, über die dervorangegangene Kongress lange diskutiert[6] und die der Kongress als unabdingbar für die Fähigkeitrevolutionärer Organisationen erachtet hatte, ihre Verantwortung wahrzunehmen.Der Genosse M., der eine Minderheitsposition bei der Analyse derWirtschaftskrise vertrat, fühlte sich als Opfer einer „Ächtung" (Ostrazismus)und fand, dass seine Positionen absichtlich „diskreditiert" worden seien, damitdie IKS nicht darüber diskutieren könne. Mit diesen Anschuldigungenkonfrontiert, beschloss das Zentralorgan der IKS, dass eine besondereKommission gebildet werden sollte, deren drei Mitglieder der Genosse M. selberbestimmte und die nach monatelanger Arbeit mit Anhörungen und der Untersuchungvon Hunderten von Seiten von Dokumenten zum Schluss gelangte, dass dieAnschuldigungen nicht berechtigt waren. Der Kongress konnte nur bedauern, dassder Genosse M. und ein Teil der weiteren Genossen, die ihm folgten, nicht dieBekanntgabe der Schlussfolgerungen dieser Kommission abwarteten, bevor sieentschieden, die IKS zu verlassen.
Tatsächlich konnte der Kongress insbesondere in der Diskussionüber die internen Debatten feststellen, dass es heute in unserer Organisationeine echte Sorge für die Entfaltung ihrer Debattenkultur gibt. Und es warennicht nur die Mitglieder der IKS, die dies feststellten: Die Delegierten dereingeladenen Organisationen zogen die gleichen Schlussfolgerungen aus denArbeiten des Kongresses:
„Die Debattenkultur der IKS, der Genossen der IKS ist sehreindrücklich. Wenn ich nach Korea zurückkehre, werde ich meine Erfahrungenmeinen Genossen dort weitergeben." (eine der Gruppen aus Korea)
„Er (der Kongress) ist eine gute Gelegenheit, um meinePositionen zu klären; in vielen Diskussionen habe ich eine wirklicheDebattenkultur vorgefunden. Ich denke, dass ich viel tun muss, um dieBeziehungen zwischen (meiner Gruppe) und der IKS zu verstärken und ich habe dieAbsicht, dies zu tun. Ich hoffe, dass wir eines Tages zusammen arbeiten könnenfür eine kommunistische Gesellschaft." (die andere Gruppe aus Korea)[7]
Die IKS pflegt die Debattenkultur nicht einfach alle zweiJahre einmal aus Anlass ihres internationalen Kongresses, sie ist auchständiger Teil der Beziehung zwischen beispielsweise der Gruppe OPOP und uns,wie eine Intervention der Delegation von OPOP in der Diskussion über dieWirtschaftskrise bezeugte. Diese Beziehung sei fähig sich zu vertiefen trotzder Divergenzen in verschiedenen Fragen, wie namentlich der Analyse der Wirtschaftskrise:„Ich möchte im Namen von OPOP die Wichtigkeit dieses Kongresses unterstreichen.Für OPOP ist die IKS eine Schwesterorganisation, so wie die Partei von Leninund diejenige von Rosa Luxemburg Geschwister waren. Das heisst, dass es beiihnen, trotz Divergenzen über eine ganze Reihe von Gesichtspunkten, Meinungenund auch theoretischen Auffassungen, eine programmatische Einheit gab, was dieNotwendigkeit eines revolutionären Umsturzes der bürgerlichen Ordnung und derErrichtung einer Diktatur des Proletariats betrifft, der sofortigen Enteignungder Bourgeoisie und des Kapitals."
Die andere Schwierigkeit, die die Aktivitätenresolutionhervorhebt, betrifft die Frage der Zentralisierung. Nicht zuletzt mit derAbsicht, diese Schwierigkeiten zu überwinden, stellte der Kongress auch eineDiskussion über einen allgemeineren Text zur Zentralisierung auf dieTagesordnung. Diese Diskussion war nicht nur nützlich, um die kommunistischeAuffassung über dieses Thema bei der alten Garde aufzufrischen und zu präzisieren,sondern erwies sich auch als überaus wichtig für die neuen Genossen undGenossinnen und die neuen Sektionen, die kürzlich in die IKS aufgenommenwurden.
In der Tat war ein Wesenszug des 18. Kongresses der IKS dieTeilnahme einer beträchtlichen Anzahl „neuer Köpfe", was alle „Alten" mit einergewissen Überraschung feststellten, wobei bei den Neuen die junge Generationbesonders vertreten war.
Dass die Jugend an diesem Kongress sostark auftrat, machte einen wichtigen Teil der Dynamik und der Begeisterung inseinem Verlauf aus. Ganz anders als die bürgerlichen Medien betreibt die IKSkeinen „Kult der Jugend"; doch die Ankunft einer neuen Generation vonMitgliedern in unserer Organisation ist höchst bedeutungsvoll für die Perspektiveder proletarischen Revolution. Einerseits stellt sie - wie bei einem Eisberg -den „sichtbaren Teil" eines tiefer greifenden Prozesses der Bewusstseinsreifungin der Arbeiterklasse dar. Andererseits schafft sie die Bedingungen für dieAblösung der kommunistischen Kräfte. Wie es die Resolution über dieinternationale Lage, die auf dem Kongress verabschiedet wurde, formuliert: „DerWeg ist lang und schwierig, aber das soll die Revolutionäre nicht entmutigen,soll sie nicht in ihren Bemühungen um den proletarischen Kampf lähmen. Ganz imGegenteil!" Auch wenn die „alten" Mitglieder der IKS ihre ganze Überzeugung undihr Engagement beibehalten, so wird es doch an dieser neuen Generation liegen,einen entscheidenden Beitrag zu den zukünftigen revolutionären Kämpfen desProletariats zu leisten. Und schon heute zeugen mehrere Qualitäten der neuenGeneration, die als solche von ihren am Kongress anwesenden Vertretern aucherkannt wurden, von der Fähigkeit, diese Verantwortung zu übernehmen: derbrüderliche Geist, der Wille zum Zusammentreffen, zur gemeinsamen Offenlegungder Fallen, die uns die Bourgeoisie stellt, das Verantwortungsgefühl. Dies kamunter anderem zum Ausdruck in der Intervention des jungen Delegierten von LECOzum internationalistischen Treffen, das im letzten Frühjahr in Lateinamerikastattfand: „Die Debatte, die wir zu entwickeln beginnen, führt Gruppen undIndividuen zusammen, die auf proletarischer Grundlage eine Einheit suchen,benötigt Räume der internationalistischen Debatte und braucht diesen Kontaktmit den Delegierten der Kommunistischen Linken. Die Radikalisierung der Jugendund der Minderheiten in Lateinamerika, in Asien, werden es ermöglichen, dassdieser Bezugspol von noch mehr Gruppen erkannt wird, die sowohl an Mitgliederwie auch politisch wachsen werden. Das gibt uns die Mittel für dieIntervention, für den Kampf gegen die linksbürgerliche Ideologie, den„Sozialismus des 21. Jahrhunderts", den Sandinismus etc. Die gemeinsamePosition des Lateinamerikanischen Treffens ist schon ein proletarischesWerkzeug. Ich begrüsse die Interventionen der Genossen, die einen wirklichenInternationalismus ausdrücken, eine Sorge für diesen politischen undzahlenmässigen Fortschritt der Kommunistischen Linken auf Weltebene."
IKS 12. Juli 2009
[1] Vgl. Ein Willkommensgruss an die neuenSektionen der IKS in der Türkei und den Philippinen inWeltrevolution Nr. 153 und aufder Webseite.
[2] Vgl. zu diesem Treffen unseren Artikel Stellungnahmeeines Treffens kommunistischer Internationalisten in Lateinamerika in Weltrevolution Nr. 154 und auf unserer Webseite.
[3] Wie dies schon in verschiedenen Artikeln zum Ausdruck gekommen ist,die wir neulich zu Darwin und zum Darwinismus veröffentlicht haben.
[4] Wer sich ein Bild über diese Reflexionen machen will, kann dieWebseite Jean-Louis Dessalles' besuchen: https://perso.telecom-paristech.fr/~jld [40]
[5] Vgl. insbesondere in dieser Revue den Artikel Interne Debatte in derIKS (III): Die Ursachen für dieAufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg.
[6] Vgl. dazu Der 17. Kongress der IKS: Eineinternationale Verstärkung des proletarischen Lagersin Internationale Revue Nr. 40 und unseren Orientierungstext DieDebattenkultur: Eine Waffe des Klassenkampfes in InternationaleRevue Nr. 41.
[7] Dieser Eindruck über die Qualität der am Kongress gepflegtenDebattenkultur wurde auch durch den von uns eingeladenen Wissenschafterhervorgehoben. Er schickte uns die folgende Nachricht: „Danke noch für dieausgezeichnete Interaktion, die ich mit der Marx-Gemeinde haben konnte. Ich habewirklich einen sehr guten Augenblick erlebt."
In diesem Artikel setzen wir die in der letztenAusgabe der Internationalen Revue(Nr. 43) begonnene Untersuchung derwissenschaftlichen und historischen Methode fort, die Marx, Engels und ihreNachfolger entwickelten.
„In breiten Umrissen können asiatische,antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressiveEpochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.“[1]
Die Interpretation dieser kurzen Passage,die im Grunde die gesamte geschriebene Geschichte der Menschheit überspannt,würde Bücher füllen. Für unsere Zwecke reicht es aus, auf zwei Aspekte zublicken: die allgemeine Frage des historischen Fortschritts und dieCharakteristiken des Aufstiegs und der Dekadenz von gesellschaftlichenFormationen vor dem Kapitalismus.
Wir haben angemerkt[2],dass eine der Auswirkungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts eineallgemeine Skepsis gegenüber der Fortschrittsidee ist, einem Begriff, der im19. Jahrhundert weitaus selbstverständlicher war. Diese Skepsis hat einige„radikale“ Seelen zum Schluss verleitet, dass die marxistische Vision deshistorischen Fortschritts an sich nur eine dieser Ideologien des 19.Jahrhunderts sei, die als Vorwand für die kapitalistische Ausbeutung gedienthätten. Auch wenn sie sich dabei oftmals als etwas Neues präsentieren, wärmendiese Kritiker lediglich die abgedroschenen Argumente Bakunins und derAnarchisten auf, die postulierten, dass die Revolution zu jeder Zeit möglichsei, und die die Marxisten beschuldigten, ganz gewöhnliche Reformisten zu sein,weil jene argumentierten, dass die Epoche der Revolution noch nicht angebrochensei, was für die Arbeiterklasse bedeutete, sich langfristig zur Verteidigungihrer Lebensbedingungen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung zuorganisieren. Die Anti-Progressiven beginnen gelegentlich mit einer„marxistischen“ Kritik an der Auffassung, dass der Kapitalismus heute dekadentist, indem sie behaupten, dass sich im Leben des Kapitals seit den Tagen, alsMarx darüber schrieb, wenig geändert habe, ausser vielleicht auf der reinquantitativen Ebene – grössere Ökonomie, grössere Krisen, grössere Kriege. Dochdie konsequenteren unter ihnen entledigen sich schnell der ganzen Last deshistorischen Materialismus und bestehen darauf, dass der Kommunismus auch inallen früheren Epochen der Geschichte hätte entstehen können. In der Tat sinddie Konsequentesten unter ihnen jene „Ursprünglichen“, die argumentieren, dasses seit dem Aufkommen der Zivilisation und faktisch seit der Entdeckung derLandwirtschaft, die jene ermöglicht hatte, überhaupt keinen Fortschritt in derGeschichte gegeben habe: Alles, was folgte, wird als Fehlentwicklungbetrachtet; sie gehen davon aus, dass die glücklichste Epoche im menschlichenLeben die Stufe der Jäger und Sammler gewesen sei. Solche Strömungen könnenlogischerweise nur sehnsüchtig dem endgültigen Zusammenbruch der Zivilisationund der Auslöschung eines grossen Teils der Menschheit entgegenfiebern, so dasseine Rückkehr zum Jagen und Sammeln für die wenigen Überlebenden einst wiederpraktikabel werden könnte.
Marx dagegen rückte keinen Millimeter vonder Idee ab, dass nur der Kapitalismus den Weg für die Überwindung dergesellschaftlichen Antagonismen und für die Schaffung einer Gesellschaft ebnenkönne, die es der Menschheit ermöglicht, sich in ihrer ganzen Fülle zuentwickeln. Wie er im Vorwort fortfährt: „Die bürgerlichenProduktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form desgesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn vonindividuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichenLebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die imSchoss der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfteschaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus.“
Der Kapitalismus schuf erstmals dieVorbedingungen für eine kommunistische Weltgesellschaft: durch die Vereinigungdes gesamten Globus in sein Produktionssystem; durch die Revolutionierung derProduktionsmittel bis zu dem Punkt, wo letztlich eine Gesellschaft desÜberflusses möglich ist; dadurch, dass eine Klasse in die Welt gesetzt wurde,deren eigene Emanzipation allein durch die Emanzipation der gesamten Menschheitgeschehen kann – das Proletariat, die erste ausgebeutete Klasse in der Geschichte,die in sich die Saat einer neuen Gesellschaft trägt. Für Marx war es undenkbar,dass die Menschheit diese Stufe in der Geschichte einfach überspringen könnteund eine dauerhafte, globale kommunistische Gesellschaft in den Epochen desDespotismus, der Sklaverei oder der Leibeigenschaft in die Welt hätte setzenkönnen.
Doch der Kapitalismus erschien nicht ausdem Nichts: Die Produktionsweisen vor dem Kapitalismus hatten umgekehrt den Wegfür ihn geebnet, und in diesem Sinn hatte die gesamte Entwicklung dieserantagonistischen, d.h. in Klassen geteilten Gesellschaftssysteme einefortschrittliche Bewegung in der menschlichen Geschichte repräsentiert, diezuletzt in die materielle Möglichkeit einer klassenlosen Weltgemeinschaft mündet. Es gibt also keine Grundlage,um das Erbe von Marx für sich zu beanspruchen und gleichzeitig denFortschrittsbegriff als bürgerlich abzulehnen.
Tatsächlich gibt es eine bürgerlicheVersion des Fortschritts und, im Gegensatz dazu, eine marxistische.
Während die Bourgeoisie dazu neigte, diegesamte Geschichte als etwas zu betrachten, das unaufhaltsam zum Triumph desdemokratischen Kapitalismus führt, als einen nach oben gerichteten, linearenFortschritt, bei dem alle vorherigen Gesellschaften in allen Belangen dergegenwärtigen Ordnung der Dinge unterlegen waren, geht der Marxismus vomdialektischen Charakter der historischen Bewegung aus. In der Tat bedeutet dereigentliche Begriff des Aufstiegs und Niedergangs von Produktionsweisen, dasses neben Fortschritten auch Rückschläge im historischen Prozess gibt. ImAnti-Dühring lenkt Engels, als er auf Fourier und seine Antizipation deshistorischen Materialismus zu sprechen kommt, die Aufmerksamkeit auf dieVerknüpfung zwischen der dialektischen Sichtweise der Geschichte und dem Begriffdes Aufstiegs und Niedergangs: „Am grossartigsten aber erscheint Fourier inseiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft (…) Fourier, wie man sieht,handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel.Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von derunbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, dass jede geschichtlichePhase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendetdiese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an.“[3]
Was Engels hier sagt, ist, dass demProzess der historischen Evolution nichts Automatisches anhaftet. Wie derProzess der natürlichen Evolution ist die „menschlicheVervollkommnungsfähigkeit“ nicht im Voraus programmiert. Wie wir sehen werden,kann es, analog zu den Dinosauriern, tatsächlich gesellschaftliche Sackgassengeben – Gesellschaften, die nicht nur niedergehen, sondern vollkommenverschwinden und nichts Neues aus ihrer Mitte in die Welt setzen.
Darüber hinaus hat der Fortschritt, wenner denn stattfindet, einen zutiefst widersprüchlichen Charakter. DieVernichtung der handwerklichen Produktion, in welcher der Produzent noch in derLage war, sowohl im Produktionsprozess als auch durch das EndproduktBefriedigung zu erlangen, und ihre Ersetzung durch das Fabriksystem mit seinergeisttötenden Routine ist ein klarer Fall dafür. Doch Engels erklärt diesüberzeugend, wenn er den Übergang vom Urkommunismus zur Klassengesellschaftbeschreibt. In Ursprung der Familie, desPrivateigentums und des Staates kommt Engels, nachdemer sowohl die immensen Stärken als auch die ihm innewohnenden Einschränkungendes Stammeslebens aufgezeigt hat, zu folgenden Schlussfolgerungen darüber, wieman die Ankunft der Zivilisation betrachten sollte:
„Die Macht der naturwüchsigen Gemeinwesenmusste gebrochen werden – sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen durchEinflüsse, die uns von vornherein als eine Degradation erscheinen, als einSündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. Essind die niedrigsten Interessen – gemeine Habgier, brutale Genusssucht,schmutziger Geiz, eigensüchtiger Raub am Gemeinbesitz –, die die neuezivilisierte, die Klassengesellschaft einweihen; es sind die schmählichstenMittel – Diebstahl, Vergewaltigung, Hinterlist, Verrat, die die alteGentilgesellschaft unterhöhlen und zu Fall bringen. Und die neue Gesellschaftselbst, während der ganzen dritthalbtausend Jahre ihres Bestehns, ist nie etwasandres gewesen als die Entwicklung der kleinen Minderzahl auf Kosten derausgebeuteten und unterdrückten grossen Mehrzahl, und sie ist dies jetzt mehrals je zuvor.“ (MEW, Bd. 21, S. 97)
Diese dialektische Betrachtungsweiserichtet sich auch auf die künftige kommunistische Gesellschaft, die in Marx‘schöner Passage in Ökonomische und Philosophische Manuskripte 1844 als „alswirkliche Aneignung des menschlichenWesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewusst undinnerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr desMenschen für sich als eines gesellschaftlichen,d.h. menschlichen Menschen“ beschrieben wird. Auf dieselbe Weise wird derkünftige Kommunismus als Wiedergeburt des Kommunismus der Vergangenheit aufhöherer Ebene betrachtet. So beschliesst Engels sein Buch über die Ursprüngedes Staates mit einem eloquenten Satz des Anthropologen Lewis Morgan, der einenKommunismus vorwegnimmt, der „eine Wiederbelebung – aber in höherer Form – derFreiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Gentes“ sein wird.[4]
Doch angesichts all dieserQualifizierungen wird aus dem Vorwort ersichtlich, dass derFortschrittsbegriff, der Begriff der „fortschrittlichen Epochen“ für dasmarxistische Denken fundamental ist. In der grandiosen Vision des Marxismus,die mit dem Auftreten der Menschheit beginnt und den Bogen spannt vomErscheinen der Klassengesellschaft, über die Entwicklung des Kapitalismus biszum grossen Sprung ins Reich der Freiheit, das in der Zukunft auf uns wartet,ist „die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen (…), sondernals ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minderwie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrocheneVeränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbarenZufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schliesslich einefortschreitende Entwicklung sich durchsetzt“[5]Aus der damaligen Distanz betrachtet, wird ersichtlich, dass es einen realenEntwicklungsprozess gibt: auf der Ebene der Fähigkeit der Menschheit, auf dieNatur durch die Entwicklung von immer raffinierteren Werkzeugen einzuwirken;auf der Ebene des subjektiven Verständnisses des Menschen von sich selbst undder Welt um ihn herum und somit auf der Ebene der Fähigkeit des Menschen, seineschlummernden Kräfte freizulassen und ein Leben in Übereinstimmung mit seinentiefsten Bedürfnissen zu führen.
Als Marx einen „breiten Umriss“ derprinzipiellen Produktionsweisen schuf, die sich gegenseitig beerbten, solltedies keinesfalls erschöpfend sein. So erwähnte er lediglich „antagonistische“Gesellschaftsformen, d.h. die Hauptformen der Klassengesellschaft, und äussertesich nicht über die vielfältigen Formen nicht-ausbeutender Gesellschaften, dieihnen vorausgingen. Das Studium der vorkapitalistischen Gesellschaftsformenbefand sich zu Marx´ Tagen noch in den Kinderschuhen, so dass es schlicht undeinfach unmöglich war, eine umfassende Liste aller bisher existierenden Gesellschaftenzu erstellen. In der Tat bleibt diese Aufgabe selbst beim gegenwärtigen Standder historischen Kenntnisse äusserst schwer zu vervollständigen. In der langenPeriode zwischen der Auflösung der ursprünglichen urkommunistischengesellschaftlichen Verhältnisse, die ihre klarste Form unter den nomadischenJägern des Paläolithikums fand, und den vollständig ausgebildetenKlassengesellschaften, die den Anfang der historischen Zivilisationen bildeten,gab es zahllose vermittelnde Übergangsformen wie auch Formen, die schlicht ineiner historischen Sackgasse endeten und über die unsere Kenntnisse sehrbeschränkt bleiben.[6]
Die Nicht-Einbeziehung derurkommunistischen Vor-Klassengesellschaften im Vorwort bedeutet überhauptnicht, dass Marx es als nicht wichtig erachtete, sie zu untersuchen, imGegenteil. Von Anbeginn an erkannten die Begründer derhistorisch-materialistischen Methode, dass die menschliche Geschichte nicht mitdem Privateigentum beginnt, sondern mit dem Gemeineigentum: „Die erste Form desEigentums ist das Stammeseigentum. Es entspricht der unterentwickelten Stufeder Produktion, auf der ein Volk von Jagd und Fischfang, von Viehzucht oderhöchstens vom Ackerbau sich nährt. Es setzt in diesem letzteren Falle einegrosse Masse unbebauter Ländereien voraus. Die Teilung der Arbeit ist aufdieser Stufe noch sehr wenig entwickelt und beschränkt sich auf eine weitereAusdehnung der in der Familie gegebenen naturwüchsigen Teilung der Arbeit.“ [7]
Als diese Einsichten durch spätereForschungen – besonders durch das Werk von Lewis Henry Morgan über dieIndianerstämme Nordamerikas – bestätigt wurden, war Marx äusserst begeistertund verwendete einen grossen Teil seiner späten Jahre dafür, sich in dasProblem der urgesellschaftlichen Verhältnisse zu vertiefen, besonders imZusammenhang mit den Fragen, die ihm die revolutionäre Bewegung in Russlandstellte (siehe das Kapitel „Past and future communism“ in unserem BuchCommunism is not a nice idea but a material necessity). Nach Ansicht von Marx,Engels und auch von Rosa Luxemburg, die sehr ausgiebig darüber in ihrerEinführung in die Nationalökonomie (1907) schrieb, war die Entdeckung, dass dieursprünglichen Formen der menschlichen Beziehungen nicht auf Egoismus undKonkurrenz basierten, sondern auf Solidarität und Kooperation, und dass selbstJahrhunderte nach der Ankunft der Klassengesellschaft es noch immer ein tiefesund fortdauerndes Band zu den gemeinschaftlichen Gesellschaftsformen gab,insbesondere unter den unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, eine deutliche Bestätigung derkommunistischen Weltanschauung und eine mächtige Waffe gegen dieMystifikationen der Bourgeoisie, für die die Gier nach Macht und Eigentumtypisch für die menschliche Natur ist.
In Engels‘ Ursprung der Familie, desPrivateigentums und des Staates, in Marx‘ Ethnologischen Exzerpten undLuxemburgs Einführung in die Nationalökonomie gibt es einen hohen Respekt vordem Mut, der Moral und der künstlerischen Kreativität der „wilden“ und„barbarischen“ Völker. Aber es gibt keine Idealisierung dieser Gesellschaften.Der Kommunismus, der in den frühesten Formen der menschlichen Gesellschaftpraktiziert wurde, wurde nicht durch die Idee der Gleichheit inspiriert,sondern durch die bittere Notwendigkeit erzeugt. Er war die einzig mögliche Formder gesellschaftlichen Organisation unter Bedingungen, wo die menschlichenProduktionskapazitäten noch nicht ein ausreichendes gesellschaftlichesMehrprodukt herstellen konnten, um eine privilegierte Elite, eine herrschendeKlasse zu ernähren.
Urkommunistische Verhältnisse tratenaller Wahrscheinlichkeit nach mit der Entwicklung der Menschheit auf, einerSpezies, deren Fähigkeit, ihre Umwelt umzuwandeln, um ihre materiellenBedürfnisse zu befriedigen, sie von allen anderen Bewohnern des Tierreichsunterschied. Diese Fähigkeiten erlaubten es den menschlichen Wesen, zurvorherrschenden Spezies auf dem Planeten zu werden. Doch wenn wir das, was wirüber die archaischste Form des Urkommunismus wissen und über die AboriginesAustraliens herausgefunden haben, verallgemeinern können, kommen wir zurErkenntnis, dass die Aneignungsformen des gesellschaftlichen Produkts, dievöllig kollektiv waren[8],auch die Entwicklung der individuellen Produktivität zurückhielten, mit demResultat, dass die Produktivkräfte im Grunde über Jahrtausende hinwegunverändert blieben. In jedem Fall machten wechselnde materielle undökologische Bedingungen, wie das Wachstum der Bevölkerung, den extremenKollektivismus der ersten Formen menschlicher Gesellschaft ab einem bestimmtenPunkt immer unhaltbarer, zu einem Hindernis der Weiterentwicklung vonProduktionstechniken (wie das Hirtentum und die Landwirtschaft), die grössereBevölkerungen oder Bevölkerungen, die nun unter veränderten materiellen undUmweltbedingungen lebten, hätten ernähren können.[9]
Wie Marx bemerkte: „Die Geschichte desVerfalls der Urgemeinschaften (…) ist noch zu schreiben. Bisher hat man dazunur magere Skizzen geliefert. Aber auf jeden Fall ist die Forschung weit genugvorgeschritten, um zu bestätigen (…) dass die Ursachen ihres Verfalls von denökonomischen Gegebenheiten herrühren, die sie hinderten, eine gewisse Stufe derEntwicklung zu überschreiten“.[10]Das Ableben des Urkommunismus und der Aufstieg der Klassenteilungen tut denallgemeinen Regeln, die im Vorwort umrissen wurden, keinen Abbruch: DieVerhältnisse, die die menschlichen Wesen schufen, um ihre Bedürfnisse zubefriedigen, waren immer weniger in der Lage, ihre ursprüngliche Funktion zuerfüllen, und stürzten daher in eine fundamentale Krise, mit der Folge, dassdie Gemeinwesen, die sie stützten, entweder verschwanden oder die altenVerhältnisse durch neue ersetzten wurden, die besser in der Lage waren, dieProduktivität der menschlichen Arbeit weiterzuentwickeln. Wir haben bereitsgesehen, dass Engels darauf bestand, dass an einem bestimmten historischenMoment die „Macht dieser naturwüchsigen Gemeinwesen (…) gebrochen werden(musste) – sie wurde gebrochen.“ Warum? „Der Stamm blieb die Grenze für denMenschen, sowohl dem Stammesfremden als auch sich selbst gegenüber: Der Stamm,die Gens und ihre Einrichtungen waren heilig und unantastbar, waren eine vonNatur gegebne höhere Macht, der der einzelne in Fühlen, Denken und Tununbedingt untertan blieb. So imposant die Leute dieser Epoche uns erscheinen,so sehr sind sie ununterschieden einer vom andern, sie hängen noch, wie Marxsagt, an der Nabelschnur des naturwüchsigen Gemeinwesens.“ [11]
Im Licht anthropologischer Hinweise magman die Behauptung von Engels anfechten, dass es den Menschen in denStammesgesellschaften völlig an Individualität gefehlt hatte. Doch die Einsichtin diesen Zeilen bleibt gültig: dass in einer Reihe von Schlüsselmomenten undSchlüsselregionen die alten Methoden und Verhältnisse der Gemeinwirtschaft zueiner Fessel der Weiterentwicklung wurden und, so widersprüchlich es erscheinenmag, der allmähliche Anstieg von individuellem Eigentum, Klassenausbeutung undeine neue Phase in der Selbstentfremdung des Menschen zu Faktoren derWeiterentwicklung wurden.
Der Begriff „asiatische Produktionsweise“ist kontrovers. Engels versäumte es unglücklicherweise, das Konzept in seinzukunftsweisendes Werk über den Aufstieg der Klassengesellschaft, Ursprung derFamilie, des Privateigentum und des Staates, einzubinden, obwohl das Werk vonMarx bereits zahllose Bezüge dazu enthielt. Später wurde Engels‘ Versäumnis vonden Stalinisten verschlimmert, die im Grunde genommen das gesamte Konzeptächteten und eine sehr mechanistische und lineare Sichtweise der Geschichtevorstellten, nach der überall die Phasen des Urkommunismus, der Sklaverei, desFeudalismus und des Kapitalismus durchschritten würden. Dieses Schema hattebesondere Vorteile für die stalinistische Bürokratie: Einerseits befähigte essie, lange nachdem die bürgerliche Revolution von der Tagesordnung derWeltgeschichte verschwunden war, den Aufstieg einer fortschrittlichenBourgeoisie in Ländern wie Indien und China auszumachen, nachdem diese einmal„feudal“ getauft worden waren; andererseits erlaubte es ihnen, eine peinlicheKritik an ihrer eigenen Form des Staatsdespotismus zu vermeiden, da im Konzeptdes asiatischen Despotismus der Staat, und nicht eine Klasse von individuellenEigentümern, direkt die Ausbeutung der Arbeitskraft sicherstellt: DieParallelen zum stalinistischen Staatskapitalismus sind unübersehbar.
Doch seriösere Forscher, wie PerryAnderson in einem Anhang zu seinem Buch Lineagesof the Absolutist State, argumentieren, dass Marx‘Charakterisierung Indiens und anderer zeitgenössischer Gesellschaften alsFormen einer eindeutig „asiatischen Produktionsweise“ auf fehlerhaftenInformationen fusste und dass das Konzept in jedem Fall so allgemein gehaltenwurde, dass es an jeglicher präzisen Deutung mangelte.
Sicherlich ist das Attribut „asiatisch“irreführend. In einem grösseren oder kleineren Umfang nahmen alle frühen Formender Klassengesellschaft die Formen an, die von Marx unter diesem Titelanalysiert wurden, ob bei den Sumerern, in Ägypten, Indien, China oder inweiter entfernten Regionen wie Mittel- und Südamerika, Afrika und demPazifikraum. Sie gründete sich auf die Dorfgemeinschaft, einem Erbe der Epochevor dem Erscheinen des Staates. Die Staatsmacht, oft personifiziert durch einePriesterkaste, basierte auf dem Mehrprodukt, das den Dorfgemeinschaften in Formvon Tributen oder, im Fall grosser Bauprojekte (Bewässerung, Tempelbau, etc.)mit Zwangsarbeit (der„Fronarbeit“) entzogen wurde. Es mag bereits Sklaverei existiert haben, abersie war nicht die vorherrschende Form der Arbeit. Wir würden sagen, dass dieseGesellschaften, auch wenn sie untereinander viele bedeutende Unterschiedeaufwiesen, sich in einer Hinsicht glichen, die bei der Klassifizierung einer„antagonistischen“ Produktionsweise am wichtigsten ist: in der Hinsicht dergesellschaftlichen Verhältnisse, durch die das Mehrprodukt aus derausgebeuteten Klasse extrahiert wird.
Wenn wir uns der Untersuchung des Phänomensder Dekadenz in diesen Gesellschaftsformen zuwenden, so stellen wir fest, dasses wie bei den „primitiven“ Gesellschaften insofern eine Reihe von besonderenKennzeichen gibt, als diese Gesellschaften eine aussergewöhnliche Stabilitätoffenbarten und selten, wenn überhaupt, sich zu neuen Produktionsweisen„hinentwickelten“, ohne von aussen unter Schlägen dazu getrieben worden zusein. Es wäre jedoch ein Fehler, die asiatische Gesellschaft als etwas zubetrachten, das sich in der Geschichte nicht bewährt hätte. Es gibt himmelweiteUnterschiede zwischen den ersten despotischen Formen, die auf Hawaii oder inSüdamerika entstanden waren und die ihren ursprünglichen Stammeswurzeln vielnäher standen, und den gigantischen Reichen, die sich in Indien oder China ausbreitetenund die hochentwickelte kulturelle Formen in die Welt setzten.
Dennoch bleibt das zugrundeliegendeMerkmal die Zentralität der Dorfgemeinschaft, die den Schlüssel zur„unveränderlichen“ Natur dieser Gesellschaften liefert.
„Jene uraltertümlichen, kleinen indischenGemeinwesen z.B., die zum Teil noch fortexistieren, beruhn aufgemeinschaftlichem Besitz des Grund und Bodens, auf unmittelbarer Verbindungvon Agrikultur und Handwerk und auf einer festen Teilung der Arbeit, die beiAnlage neuer Gemeinwesen als gegebner Plan und Grundriss dient. Sie bilden sichselbst genügende Produktionsganze, deren Produktionsgebiet von 100 bis aufeinige 1.000 Acreswechselt. Die Hauptmasse der Produkte wird für den unmittelbaren Selbstbedarfder Gemeinde produziert, nicht als Ware, und die Produktion selbst ist daherunabhängig von der durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit imgrossen und ganzen der indischen Gesellschaft. Nur der Überschuss der Produkteverwandelt sich in Ware, zum Teil selbst wieder erst in der Hand des Staats,dem ein bestimmtes Quantum seit undenklichen Zeiten als Naturalrente zufliesst(…) Der einfache produktive Organismus dieser selbstgenügenden Gemeinwesen, diesich beständig in derselben Form reproduzieren und, wenn zufällig zerstört, andemselben Ort, mit demselben Namen, wieder aufbauen, liefert den Schlüssel zumGeheimnis der Unveränderlichkeit asiatischer Gesellschaften, so auffallendkontrastiert durch die beständige Auflösung und Neubildung asiatischer Staatenund rastlosen Dynastenwechsel. Die Struktur der ökonomischen Grundelemente derGesellschaft bleibt von den Stürmen der politischen Wolkenregion unberührt.“ [12]
In dieser Produktionsweise waren dieBarrieren für die Weiterentwicklung der Warenproduktion weitaus höher als imantiken Rom oder im Feudalismus, und dies ist sicherlich der Grund, warum inRegionen, wo sie vorherrschte, der Kapitalismus nicht als Auswuchs des altenSystems erschien, sondern als fremder Eindringling. Es ist gleichermassenbemerkenswert, dass die einzige „östliche“ Gesellschaft, die zu einem gewissenUmfang ihren eigenen unabhängigen Kapitalismus entwickelte, Japan war, wo einFeudalsystem bereits am Platz war.
Somit erschien in dieserGesellschaftsform der Konflikt zwischen den Produktionsverhältnissen und derEvolution der Produktivkräfte oft eher als Stagnation denn als Niedergang, dadie fundamentalen gesellschaftlichen Strukturen stets blieben, während dieDynastien aufstiegen und niedergingen, indem sie sich selbst in unablässigeninneren Konflikten verzehrten und die Gesellschaft unter dem Gewicht riesiger,unproduktiver, „pharaonischer“ Staatsprojekte erdrückten; und wenn keine neuenProduktionsverhältnisse entstanden, lösten die Niedergangsperioden in dieserProduktionsweise im Grunde genommen keine Epochen der sozialen Revolution aus.Dies stimmt völlig mit der allgemeinen Methode von Marx überein, derkeinesfalls einen gradlinigen oder vorbestimmten Pfad der Evolution allerGesellschaftsformationen postulierte und sicherlich die Möglichkeit ins Augefasste, dass Gesellschaften in eine Sackgasse geraten können, in der keineweitere Evolution möglich ist. Wir sollten auch in Erinnerung rufen, dasseinige der isolierteren Ausdrücke dieser Produktionsweise vollkommenkollabierten, oft weil sie die Grenzen des Wachstums in einer besondersempfindlichen ökologischen Umwelt erreicht hatten. Dies scheint bei derMaya-Kultur der Fall gewesen zu sein, die ihre eigene landwirtschaftlicheGrundlage durch eine exzessive Abholzung der Wälder zerstört hatte. In diesemFall gab es sogar eine bewusste „Rückbildung“ auf Kosten eines grossen Teilsder Bevölkerung, der den Städten den Rücken kehrte und zum Jagen und Sammelnzurückkehrte, obwohl das Gedächtnis an die alte Maya-Zeitrechnung und an dieTraditionen unverdrossen hochgehalten wurde. Andere Kulturen, wie jene auf derOsterinsel, scheinen völlig verschwunden zu sein, aller Wahrscheinlichkeit nachdurch unlösbare Klassenkonflikte, Gewalt und Hunger.
Marx und Engels stritten niemals ab, dassihre Kenntnisse über die ursprünglichen und asiatischenGesellschaftsformationen aufgrund des Stands des zeitgenössischen Wissensäusserst beschränkt waren. Sie standen auf viel festerem Boden, wenn sie überdie „antike“ Gesellschaft (d.h. die Sklavengesellschaften Griechenlands undRoms) und über den europäischen Feudalismus schrieben. In der Tat spielte dasStudium dieser Gesellschaften eine bedeutende Rolle in der Erarbeitung ihrerGeschichtstheorie, da sie sehr deutliche Beispiele für den dynamischen Prozesslieferten, durch welchen eine Produktionsweise der anderen folgte. Dies waroffensichtlich in Marx‘ frühen Schriften (Diedeutsche Ideologie), in denen er den Aufstieg desFeudalismus unter den Bedingungen des niedergehenden Roms aufspürt.
„Die dritte Form ist das feudale oderständische Eigentum. Wenn das Altertum von der Stadt und ihrem kleinen Gebietausging, so ging das Mittelalter vom Lande aus. Die vorgefundene dünne, übereine grosse Bodenfläche zersplitterte Bevölkerung, die durch die Erobererkeinen grossen Zuwachs erhielt, bedingte diesen veränderten Ausgangspunkt. ImGegensatz zu Griechenland und Rom beginnt die feudale Entwicklung daher aufeinem viel ausgedehnteren, durch die römischen Eroberungen und die anfangsdamit verknüpfte Ausbreitung der Agrikultur vorbereiteten Terrain. Die letztenJahrhunderte des verfallenden römischen Reichs und die Eroberung durch dieBarbaren selbst zerstörten eine Masse von Produktivkräften; der Ackerbau wargesunken, die Industrie aus Mangel an Absatz verfallen, der Handeleingeschlafen oder gewaltsam unterbrochen, die ländliche und städtischeBevölkerung hatte abgenommen. Diese vorgefundenen Verhältnisse und die dadurchbedingte Weise der Organisation der Eroberung entwickelten unter dem Einflusseder germanischen Heerverfassung das feudale Eigentum. Es beruht, wie das Stamm-und Gemeineigentum, wieder auf einem Gemeinwesen, dem aber nicht wie demantiken die Sklaven, sondern die leibeignen kleinen Bauern als unmittelbarproduzierende Klasse gegenüberstehen.“ (MEW, Band 3, S. 24)
Der eigentliche Begriff „Dekadenz“ rufthäufig Bilder vom späten römischen Imperium hervor – von Orgien undmachttrunkenen Herrschern, von Gladiatorenkämpfen, denen eine riesige,blutdürstende Menge zuschaut. Solche Bilder tendieren sicherlich dazu, sich aufdie „Überbau“-Elemente der römischen Gesellschaft zu konzentrieren, aber siespiegeln eine Realität wider, die sich auch in den Fundamenten desSklavensystems abspielte; und so fühlten sich Revolutionäre wie Engels und RosaLuxemburg berechtigt, auf den Niedergang Roms als eine Art böses Omen dafür zuverweisen, was der Menschheit bevorsteht, wenn es dem Proletariat nichtgelingt, den Kapitalismus zu überwinden: „Untergang jeglicher Kultur, wie imalten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein grosser Friedhof“ [13].
Die antike Sklavengesellschaft war eineweitaus dynamischere Gesellschaftsformation als die asiatischeProduktionsweise, auch wenn Letztere ihren eigenen Beitrag zum Aufstieg derantiken griechischen Kultur und somit zur sklavischen Produktionsweise imAllgemeinen leistete (Ägypten insbesondere war als ehrwürdige Quelle derWeisheit angesehen). Diese Dynamik rührte zu einem grossen Teil aus derTatsache her, dass, wie ein zeitgenössisches Sprichwort sagte, „alles in Romkäuflich ist“: Die Warenform war bis zu dem Punkt fortgeschritten, wo die altenAgrargemeinschaften immer mehr zu einer schönen Erinnerung an ein verlorenesGoldenes Zeitalter wurden und Massen von Menschen selbst zu Waren gewordenwaren, die auf den Sklavenmärkten ge- und verkauft wurden. Auch wenn grosseWirtschaftsgebiete verblieben, wo die produktive Arbeit noch von Kleinbauernoder Handwerkern ausgeübt wurde, übernahm die Sklavenproduktion immer mehr eineSchlüsselrolle in den zentralen Brennpunkten der antiken Ökonomie – auf dengrossen Landgütern, bei öffentlichen Arbeiten und in den Bergwerken. Diesegrosse „Erfindung“ der antiken Welt war für eine beträchtliche Zeit eineeindrucksvolle Entwicklungsform, die es den freien Bürgern erlaubte, sich inmächtigen Armeen zu organisieren, die durch die Eroberung neuer Ländereien fürdas Imperium für frischen Nachschub an Sklaven sorgten. Doch aus dem gleichenGrund kam irgendwann der Punkt, wo die Sklaverei sich in eine eindeutige Fesselder Weiterentwicklung verwandelte. Ihr innewohnender unproduktiver Charakterlag in der Tatsache begründet, dass sie dem Produzenten absolut keinen Anreizbot, das Beste seiner Produktionskapazitäten zu geben; ebenso wenig bot sie demSklavenhalter einen Anreiz, in die Entwicklung besserer Produktionstechniken zuinvestieren, da die Versorgung mit frischen Sklaven stets die billigere Optionwar. Daher die ausserordentliche Kluft zwischen denphilosophisch-wissenschaftlichen Fortschritten, die von einer Klasse vonDenkern erzielt wurden, deren Musse erst auf der Grundlage der Sklavenarbeitmöglich war, und der äusserst beschränkten praktischen Anwendung dertheoretischen oder technischen Fortschritte, die erzielt worden waren. Dies warzum Beispiel der Fall bei der Wassermühle, die solch eine wichtige Rolle beider Entwicklung der feudalen Landwirtschaft spielen sollte. Sie wurdeeigentlich in Palästina zur ersten Jahrhundertwende n. Chr. erfunden, doch fandsie keine allgemeine Verbreitung im Imperium. An einem bestimmten Punkt machtedaher die Unfähigkeit der sklavischen Produktionsweise, die Produktivität derArbeit radikal zu steigern, es in zunehmendem Masse unmöglich, die riesigenArmeen, die erforderlich waren, um sie zu erhöhen, aufrechtzuerhalten. Rom überdehntesich selbst, gefangen im unlösbaren Widerspruch, der sich in all den bekanntenAuswüchsen seines Niedergangs ausdrückte. In Passages from Antiquity toFeudalism zählt der Historiker Perry Anderson einige ökonomische, politischeund militärische Ausdrücke der Verstopfung der Produktivkräfte der römischenGesellschaft durch die Sklavenverhältnisse im frühen 3. Jahrhundert auf: „AbMitte des Jahrhunderts gab es einen völligen Zusammenbruch desSilbermünzsystems, während am Ende des Jahrhunderts die Getreidepreise auf das200fache ihrer Standes in den früheren Principiaten hochschossen. Diepolitische Stabilität degenerierte so schnell wie die monetäre Stabilität. Inden chaotischen fünfzig Jahren von 235 bis 284 gab es nicht weniger als zwanzigKaiser, von denen achtzehn ein gewaltsames Ende fanden, einer im Auslandgefangen war und ein weiterer Opfer der Pest wurde – alle Schicksale Ausdrückeihrer Zeit. Bürgerkriege und Usurpationen waren im Grunde ununterbrochen an derTagesordnung, von Maxismus Thrax bis zu Diocletian. Sie wurden nochverschlimmert durch eine vernichtende Serie von fremden, tief ins Landvorstossenden Invasionen und Angriffen auf die Grenzen (…) Politischer Aufruhrzuhause und fremde Invasionen brachten bald aufeinanderfolgende Epidemien mitsich, die die Völker des Imperiums, die ohnehin durch die Kriegszerstörungdezimiert waren, noch weiter schwächten und reduzierten. Ländereien verödeten,und es entwickelten sich Engpässe bei der Versorgung mit Agrarprodukten. Mitder Abwertung der Währung löste sich das Steuersystem auf, und Steuerbeiträgeverwandelten sich zurück in Beiträge in Naturalien. Der Städtebau kam zu einemabrupten Ende, wie überall im Imperium archäologisch attestiert wurde: ineinigen Regionen schrumpften und schwanden die urbanen Zentren.“ [14]
Anderson zeigt ausserdem, wie dierömische Staatsmacht in ihrer Reaktion auf diese tiefe Krise in Gestalt einerreorganisierten und ausgeweiteten Armee ungeheuer anschwoll und eine gewisseStabilisierung der Gesellschaft erreichte, die etwa hundert Jahre andauernsollte. Doch da „das Anschwellen des Staates von einer Schrumpfung derWirtschaft begleitet wurde“ [15],ebnete diese Wiederbelebung bloss den Weg zur „Endkrise der Antike“, wie er esnennt, indem sie die Notwendigkeit erzwang, die Sklavenverhältnisseabzuschaffen. Ein gleichermassen wichtiger Faktor im Dahinscheiden dersklavischen Produktionsweise war die Häufung von Aufständen von Sklaven undanderen ausgebeuteten und unterdrückten Klassen im gesamten Imperium des 5.Jahrhunderts (wie die so genannten „Bacuadae-Aufstände“), die auf vielbreiterer Basis stattfanden als der Spartacus-Aufstand im ersten Jahrhundert –auch wenn letzterer wegen seiner unglaublichen Kühnheit und der tiefenSehnsucht nach einer besseren Welt, die ihn inspirierte, berechtigterweise inunserer Erinnerung verblieben ist.
Die Dekadenz Roms entsprach somit präziseder Formel von Marx und nahm einen unübersehbar katastrophalen Charakter an.Trotz jüngster Bemühungen seitens bürgerlicher Historiker, sie als einenallmählichen und unmerklichen Prozess darzustellen, manifestierte sich dieDekadenz als eine verheerende Unterproduktionskrise, in der die Gesellschaftimmer weniger in der Lage war, die grundlegenden, lebensnotwendigen Dingeherzustellen – eine wahrhafte Regression der Produktivkräfte, bei der zahlloseKenntnisse und Techniken im Endeffekt verschütt gingen und für Jahrhunderteverschollen blieben. Sie verlief durchaus nicht gradlinig – wie wir bemerkthaben, folgte der grossen Krise des 3. Jahrhunderts eine relative Wiederbelebung,die bis zur letzten Welle barbarischer Invasionen andauerte –, aber sie warunerbittlich.
Der Zusammenbruch des römischen Systemswar die Vorbedingung für das Aufkommen neuer Produktionsverhältnisse, als eineHauptschicht der Grundbesitzer den revolutionären Schritt unternahm, dieSklavenarbeit zugunsten des Fronsystems zu eliminieren – dem Vorläufer derfeudalistischen Leibeigenschaft, in welcher der Produzent, der direkt gezwungenwar, für die Grundbesitzerklasse zu arbeiten, auch ein eigenes Stückchen Landzum Kultivieren erhielt. Die zweite Ingredienz des Feudalismus, die von Marx ineiner Passage in Die deutsche Ideologie erwähnt wird, war das barbarische,„germanische“ Element, das die aufkommende Hierarchie einer Kriegeraristokratiemit den Überbleibseln des Gemeineigentums, das von der Bauernschaft hartnäckigaufrechterhalten worden war, kombinierte. Es folgte eine langeÜbergangsperiode, in der die Sklavenverhältnisse noch nicht vollständigverschwunden waren und das Feudalsystem sich nur allmählich durchsetzte, wobeies seinen wirklichen Aufstieg erst in den ersten Jahrhunderten des neuenJahrtausends erlebte. Auch wenn auf vielen Gebieten (Urbanisierung, relativeUnabhängigkeit des künstlerischen und philosophischen Denkens von der Religion,Medizin, etc.) der Aufstieg der feudalen Gesellschaft, wie wir angemerkt haben,einen markanten Rückschritt im Vergleich zu den Errungenschaften der Antikedarstellte, ist dennoch festzustellen, dass die neuen Gesellschaftsverhältnissesowohl dem Herrn als auch dem Leibeigenen ein direktes Interesse an steigendenErträgen ihrer Landanteile vermittelten und die allgemeine Verbreitung vonwichtigen technischen Fortschritten in der Landwirtschaft gestatteten: deneisernen Pflug und das eiserne Geschirr, das den Einsatz von Zugtierenerlaubte, die Wassermühle, das Drei-Felder-System der Wechselbewirtschaftung,etc. Die neue Produktionsweise ermöglichte so die Wiederbelebung der Städte undein neues Aufblühen der Kultur, was sich am anschaulichsten in den grossenKathedralen und Universitäten ausdrückte, die im 12. und 13. Jahrhundertentstanden.
Doch wie das Sklavensystem vor ihm begannauch der Feudalismus seine „äusseren“ Grenzen zu erreichen.
„... innerhalb der nächsten hundert Jahre(im 13. Jahrhundert) erfasste eine massive, allgemeine Krise den gesamtenKontinent (…) Die grösste Determinante dieser allgemeinen Krise warwahrscheinlich (…) die bis zum Äussersten gehende ‚Inanspruchnnahme‘ derReproduktionsmechanismen des Systems. Insbesondere ist es allem Anschein nachklar, dass der Basismotor der ländlichen Urbarmachung, der die gesamte feudaleÖkonomie drei Jahrhunderte lang angetrieben hatte, im Grunde die objektivenGrenzen sowohl des Terrains als auch der gesellschaftlichen Strukturenüberdehnt hatte. Während die Bevölkerung weiter anwuchs, fielen die Erträge aufden marginalen Ländereien, die noch für die Umwandlung auf dem damalsherrschenden technischen Niveau zur Verfügung standen; fruchtbarer Bodenverödete wegen hastiger oder falscher Bewirtschaftung. Die letzten Reservenzuletzt urbar gemachten Landes waren üblicherweise von schlechter Qualität,nasse oder dünne Erde, deren Bewirtschaftung schwieriger war und auf dieminderwertige Getreidearten wie Hafer ausgesät wurden. Die ältesten Ländereienunter dem Pflug waren ihrerseits zumeist steinalt, ihre Erträge sanken wegender Überholtheit ihrer Kultivierung.“ [16]
Als die Ausweitung der feudalenAgrarökonomie gegen diese Grenzen stiess, folgten katastrophale Konsequenzenfür das gesellschaftliche Leben: Ernteausfälle, Hungersnöte, Zusammenbruch derKornpreise kombiniert mit in die Höhe schnellenden Preisen von Gütern, die inden urbanen Zentren hergestellt wurden:
„Dieser widersprüchliche Prozess betrafden Adel drastisch, denn seine Lebensweise war noch abhängiger von den in denStädten produzierten Luxusgütern geworden (…) während die Erträge aus seinenLandgütern und aus den Abgaben der Leibeigenen fortschreitend zurückgingen. DieFolge war eine Schrumpfung der Einnahmen aus dem Grossgrundbesitz, wasseinerseits eine nie dagewesene Welle von Kriegen auslöste, als die Ritterüberall versuchten, ihre Vermögen durch Plünderungen zurückzugewinnen. InDeutschland und Italien bewirkte dieses Trachten nach Beute in einer Zeit derNot das Phänomen des unorganisierten und archaischen Räubertums einzelnerEdelleute (…) In Frankreich stürzte vor allem der ‚Hundertjährige‘ Krieg – einemörderische Kombination aus Bürgerkrieg zwischen den Capetisten und denburgundischen Herrschaftshäusern sowie einem internationalen Kampf zwischenEngland und Frankreich, unter Einbeziehung der flämischen und iberischen Mächte– das reichste Land Europas in eine Unordnung und Misere ohne Parallele. InEngland bestand der Epilog zur finalen Niederlage in Frankreich in adligem Banditentumwährend den Rosenkriegen (…) Um dieses Panorama der Entvölkerung zuvervollständigen, wurde diese strukturelle Krise durch eine zusätzlicheKatastrophe über die Massen hinaus verschärft – die Invasion des SchwarzenTodes aus Asien 1348.“ [17]
Die Pest, die bis zu einem Drittel dereuropäischen Bevölkerung auslöschte, beschleunigte das Hinscheiden derLeibeigenschaft. Sie brachte einen chronischen Mangel an Arbeitskräften auf demLand mit sich und zwang den Adel, von den traditionellen feudalenArbeitsabgaben auf die Zahlung von Löhnen überzuwechseln; doch gleichzeitigversuchte der Adel, die Uhr anzuhalten, indem er drakonische Restriktionen aufdie Löhne und auf die freie Bewegung von Arbeitskräften erzwang, eineeuropaweite Tendenz, die in klassischer Art in den Statutes of Labourerskodifiziert wurde, welche unmittelbar nach dem Schwarzen Tod in Englanddekretiert wurden. Ein weiteres Resultat dieser adligen Reaktion war dieProvozierung weit verbreiteter Klassenkämpfe, die erneut am bekanntestenGestalt annahmen im riesigen Bauernaufstand in England 1381. Doch überall inEuropa gab es vergleichbare Erhebungen in dieser Periode (die französische„Jacquerie“, Arbeiterrevolten in Flandern, die Rebellion der Ciompi in Florenzund so weiter).
Wie beim Niedergang des alten Rom fandendie anschwellenden Widersprüche des Feudalsystems auf der ökonomischen Ebenesomit auch ihren Niederschlag auf der Ebene der Politik (Kriege,gesellschaftliche Revolten) und im Verhältnis zwischen Mensch und Natur; undall diese Elemente beschleunigten und vertieften umgekehrt die allgemeineKrise. Wie in Rom war der allgemeine Niedergang des Feudalismus das Resultateiner Unterproduktionskrise, der Unfähigkeit der alten gesellschaftlichenVerhältnisse, die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse des täglichen Lebenszu ermöglichen. Es ist wichtig anzumerken, dass, obwohl das langsame Aufkommender Warenbeziehungen in den Städten als auflösender Faktor der feudalen Bandewirkte und durch die Auswirkungen der allgemeinen Krise (Kriege, Hungersnöte,Pest) weiter beschleunigt wurde, die neuen gesellschaftlichen Verhältnissenicht richtig Fahrt aufnehmen konnten, ehe das alte System nicht in einenZustand der Selbst-Schrumpfung eingetreten war, welche in einem rapiden Niedergangder Produktivkräfte mündete:
„Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen,die sich aus der Untersuchung des grossen Zusammenbruchs des europäischenFeudalismus ergeben, ist, dass sich – im Gegensatz zum unter Marxistenweitgehend verbreiteten Glauben – die charakteristische ‚Gestalt‘ einer Krisein einer Produktionsweise nicht daran festmacht, dass kräftige (ökonomische)Produktivkräfte rückschrittliche (gesellschaftliche) Produktionsverhältnissedurchbrechen und umgehend eine höhere Produktivität und Gesellschaft auf ihrenRuinen etablieren. Im Gegenteil, die Produktivkräfte neigen typischerweisedazu, in den herrschenden Produktionsverhältnissen steckenzubleiben undzurückzuweichen; letztere müssen erst radikal geändert und neu geordnet werden,ehe neue Produktivkräfte geschaffen und zu einer weltweiten neuenProduktionsweise kombiniert werden können. Mit anderen Worten, dieProduktionsverhältnisse ändern sich in einer Übergangsperiode in der Regel nochvor den Produktivkräften, und nicht umgekehrt.“ [18]Wie beim Niedergang Roms war auch hier eine Periode des Rückschritts dieVoraussetzung für das Aufblühen einer neuen Produktionsweise.
Ebenfalls analog der Periode derrömischen Dekadenz suchte die herrschende Klasse ihr wankendes System durchimmer willkürlichere Mittel zu beschützen. Die Einführung von Gesetzen zurbrutalen Kontrolle der Mobilität der Arbeit und zur Eindämmung der Landflucht,der Versuch, die zentrifugalen Tendenzen der Aristokratie durch dieZentralisierung der monarchistischen Macht zu bremsen, der Gebrauch derInquisition, um eine rigide ideologische Kontrolle über alle Ausdrückehäretischen und dissidenten Denkens zu erzwingen, die Verfälschung desMünzsystems, um das Problem der königlichen Verschuldung zu „lösen“ – all diese Tendenzen stellten den Versuch einessterbenden Systems dar, sein endgültiges Aushauchen hinauszuzögern, dochverhindern konnten sie es nicht. In der Tat verwandelten sich die Mittel, diezum Schutz des alten Systems verwendet wurden, zu einem grossen Teil in Brückenköpfedes neuen Systems: Dies war zum Beispiel der Fall bei den zentralisierendenMonarchien der Tudor in England, die weitgehend die notwendigen Bedingungen fürdas Auftreten des modernen kapitalistischen Nationalstaates schufen.
Noch deutlicher als die Dekadenz Roms wardie Epoche des feudalen Niedergangs auch eine Epoche der sozialen Revolution indem Sinn, dass eine authentische neue und revolutionäre Klasse aus ihrenEingeweiden heraustrat, eine Klasse mit einer Weltanschauung, die die altenIdeologien und Institutionen in Frage stellte, und mit einer Wirtschaftsweise,für deren Expansion die feudalen Verhältnisse ein unerträgliches Hinderniswaren. Die bürgerliche Revolution machte ihren ersten triumphalen Schritt aufder Bühne der Geschichte im England der 1640er Jahre, auch wenn esanschliessend über anderthalb Jahrhunderte dauerte, bis sie in den 1790er Jahreden nächsten und noch spektakuläreren Sieg in Frankreich errang. Dieser langeZeitrahmen war möglich, weil die bürgerliche Revolution nur die politischeKrönung eines langen Prozesses der wirtschaftlichen und gesellschaftlichenEntwicklung innerhalb des Gehäuses des alten Systems war und weil sieverschiedenen Rhythmen in den verschiedenen Nationen folgte.
„In der Betrachtung solcher Umwälzungenmuss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlichtreu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungenund den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oderphilosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen diesesKonflikts bewusst werden und ihn ausfechten.“ [19]
Alle Klassengesellschaften werden voneiner Kombination von offener Repression und ideologischer Kontrolleaufrechterhalten, die die herrschende Klasse durch ihre zahllosen Institutionenausübt: Familie, Religion, Erziehung und so weiter. Ideologien sind niemalseine rein passive Reflexion auf ökonomischer Basis, sondern enthalten ihreeigene Dynamik, die in bestimmten Momenten die zugrundeliegendengesellschaftlichen Verhältnisse aktiv beeinflussen können. Bei derUntermauerung der materialistischen Konzeption der Geschichte war Marxgezwungen, zwischen den „materiellen, naturwissenschaftlich treu zukonstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen“ und den„juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen,kurz, ideologischen Formen“ zu unterscheiden, da die vorherrschende Annäherungan die Geschichte bisher Letzteres zugunsten des Erstgenannten betont hatte.
Wenn man die ideologischen Umwandlungenanalysiert, die in einer Epoche der sozialen Revolution stattfinden, ist eswichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass diese, obwohl sie letztendlich von denökonomischen Produktionsbedingungen bestimmt werden, nicht auf starre undmechanische Weise vonstatten gehen, nicht zuletzt weil solch eine Periode nieeine reine Epoche des Abstiegs und Absterbens ist, sondern sich durch einenwachsenden Zusammenprall zwischen widersprüchlichen gesellschaftlichen Kräftenauszeichnet. Es ist bezeichnend für solche Perioden, dass die alte herrschendeIdeologie, die immer weniger einer sich ändernden gesellschaftlichen Realitätentspricht, dazu tendiert zu zerfallen und den Weg für neue Weltanschauungenfreimacht, die dazu dienen können, die gesellschaftlichen Klassen, die sich deralten Ordnung widersetzen, zu inspirieren und zu mobilisieren. ImZerfallsprozess unterliegen die alten Ideologien – Religionen, Philosophien,Künste – häufig dem Pessimismus, Nihilismus und einer obsessiven Beschäftigungmit dem Tod, während die Ideologien von im Aufstieg befindlichen oderrebellischen Klassen viel häufiger optimistisch, lebensbejahend sind und vollerHoffnungen der Morgendämmerung einer radikal anderen Welt entgegensehen.
Um ein Beispiel zu nehmen: In derdynamischen Periode des Sklavensystems neigte die Philosophie in den damaligenGrenzen dazu, die Bemühungen der Menschheit auszudrücken, sich „selbst zuerkennen“, um Sokrates‘ unsterblichen Satz zu übernehmen – die wirklicheDynamik von Natur und Gesellschaft durch das rationale Denken zu verstehen,ohne die Vermittlung eines Gottes. In der Abstiegsperiode des Sklavensystemstendierte die Philosophie dazu, sich in die Rechtfertigung der Verzweiflungoder Irrationalität zurückzuziehen, wie im Neoplatonismus und seinenVerbindungen zu zahllosen Mysterienkulten, die im späten Imperium aufblühten.
Diese Tendenz kann jedoch nicht aufeinseitige Art begriffen werden: In Perioden der Dekadenz waren die altenReligionen und Philosophien ebenfalls mit dem Aufstieg neuer revolutionärerKlassen oder mit der Rebellion der Ausgebeuteten konfrontiert, und dieseKonfrontationen nahmen im Allgemeinen ebenfalls religiöse Formen an. So begannim antiken Rom die christliche Religion, auch wenn sie sicherlich von denöstlichen Mysterienkulten beeinflusst war, als eine Protestbewegung derEigentumslosen gegen die vorherrschende Ordnung und schuf später, als eineetablierte Macht mit eigenen Rechten, einen Rahmen für die Bewahrung vieler kulturellerErrungenschaften der Antike. Diese Dialektik zwischen der alten Ordnung und derneuen war eine Form der ideologischen Umwandlungen auch während des Niedergangsdes Feudalismus. Einerseits:
„Die Periode der Stagnation erlebte denAufstieg des Mystizismus in all seinen Formen. Die intellektuelle Form mit der‚Abhandlung über die Kunst des Sterbens‘ und vor allem die ‚Nachahmung vonJesus Christus‘. Die emotionale Form mit den grossen Ausdrücken dervolkstümlichen Pietät, die durch den Einfluss der unkontrollierbaren Elementeder Bettelorden verschärft wurden: die ‚Flagellanten‘, die das Land bewandertenund auf den Plätzen der Städte ihreKörper mit der Peitsche geisselten, wobei sie auf die menschlichen Gefühleabzielten und die Christen zur Reue aufforderten. Diese Manifestationen riefenBilder von oft zweifelhaftem Geschmack hervor, wie die Fontänen von Blut, dieden Heiland symbolisieren. Sehr schnell taumelte die Bewegung in die Hysterie,und die geistliche Hierarchie musste gegen die Unruhestifter eingreifen, um zuvermeiden, dass deren Predigten zu einem weiteren Wachstum in der Zahl derVagabunden führten (…) Makabre Künste breiteten sich aus (…) der heilige Text,der von den nachdenklicheren Köpfen am meisten bevorzugt wurde, war die Apokalypse.“ [20]
Andererseits stand dem Ableben desFeudalismus auch der Aufstieg der Bourgeoisie und ihrer Weltsicht gegenüber,die ihren Ausdruck in der grossartigen Blüte von Kunst und Wissenschaft in derRenaissance fand. Und selbst mystische und chiliastische Bewegungen wie dieWiedertäufer waren, wie Engels hervorhob, oft eng mit den kommunistischenBestrebungen der ausgebeuteten Klassen verknüpft. Solche Bewegungen konntennoch keine historisch lebensfähige Alternative zum alten System der Ausbeutungaufstellen, und ihre Träume vom Tausendjährigen Reich waren oftmals auf eineprimitive Vergangenheit fixiert statt auf eine fortgeschrittenere Zukunft, dochspielten sie nichtsdestotrotz eine Schlüsselrolle in jenem Prozess, der dieZerstörung der verfallenden mittelalterlichen Hierarchie nach sich zog.
In einer dekadenten Epoche ist derallgemeine kulturelle Niedergang niemals absolut: In der Kunst zum Beispielkann die Stagnation der alten Schulen durch neue Formen kompensiert werden, dievor allem einen humanen Protest gegen eine wachsende inhumane Ordnung zumAusdruck bringen. Dasselbe kann zur Moral gesagt werden. Die Moral, dieletztlich ein Ausdruck des sozialen Wesens der Menschheit ist, wird inDekadenzperioden, die wiederum Ausdrücke des Zusammenbruchs dergesellschaftlichen Verhältnisse sind, mit ihrem Zusammenbruch, im Kollapsgrundlegender menschlicher Bande und mit dem Triumph der anti-sozialenTriebkräfte enden. Die Perversion und Prostitution des sexuellen Verlangens,das vermehrte Auftreten von absolut sinnlosen Tötungen, Diebstählen undBetrügereien sowie vor allem die Abschaffung jeglicher moralischen Regeln inder Kriegsführung sind an der Tagesordnung. Doch auch dies sollte nicht aufstarre und mechanische Weise betrachtet werden, in dem Sinn etwa, dass Periodendes Aufstiegs von höheren menschlichen Verhaltensweisen und Perioden desNiedergangs von einem plötzlichen Sturz in die Niedertracht und Verdorbenheitgekennzeichnet seien. Die Untergrabung und Erschütterung der alten moralischenGewissheiten können sich gleichermassen im Aufstieg eines neuenAusbeutungssystems ausdrücken, gegenüber dem die alte Ordnung sichvergleichsweise milde ausnimmt, wie im KommunistischenManifest mit Bezug auf den Aufstieg desKapitalismus bemerkt wurde:
„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaftgekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnissezerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinennatürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Bandzwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als diegefühllose ‚bare Zahlung‘. Sie hat die heiligen Schauer der frommenSchwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spiessbürgerlichen Wehmut indem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönlicheWürde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieftenund wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.“
Und dennoch war das Verständnis vonHegels „List der Vernunft“ derart präsent im Denken von Marx und Engels, dasssie imstande waren anzuerkennen, dass dieser moralische „Niedergang“, dieUmwandlung der Welt in Waren tatsächlich eine fortschrittliche Kraft war, diedie statische feudale Ordnung wegzuspülen half und den Weg für eineauthentische menschliche Moral ebnete, die vor ihr liegt.
Gerrard
[1] Marx, Zur Kritik der PolitischenÖkonomie, Vorwort, MEW, Bd. 13, S. 9.
[2] Vgl. den ersten Teil dieses Artikels.
[3] Engels, Anti-Dühring, Teil 3, „Sozialismus“, Kap. I, „Geschichtliches“, MEW, Bd. 20, S. 242f.
[4] MEW Bd. 21, S.173, bzw. Morgan, AncientSociety.
[5] Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgangder deutschen Philosophie
[6] Zum Beispiel die sesshaften und bereits sehr hierarchischenJägergesellschaften, die in der Lage waren, beträchtliche Vorräte anzulegen,die vielen halbkommunistischen Formen der Landwirtschaft, die „Stammesreiche“,die von halbbarbarischen Hirtenvölkern wie den Hunnen und den Mongolen gebildetwurden, etc.
[7] Die deutsche Ideologie, 1847
[8] Als die traditionelle Lebensweise noch in Kraft war, behielten unterden australischen Stämmen die Jäger, die Beute gemacht hatten, nichts für sichselbst, sondern händigten ihren Fang sofort der Gemeinschaft aus, die dieGestalt bestimmter komplexer Blutsverwandtschaftsstrukturen hatte. Laut desWerkes des Anthropologen Alain Testart, LeCommunisme Primitif, 1985, kann der BegriffUrkommunismus nur auf die Australier angewendet werden, die er als die letztenÜberbleibsel gesellschaftlicher Beziehungen betrachtet, die in derpaläolithischen Periode wahrscheinlich allgemein geherrscht haben. Dies stehtzur Debatte. Sicherlich gibt es selbst unter den nomadischenJäger-Sammler-Völkern grosse Unterschiede in der Art, wie das gesellschaftlicheProdukt verteilt wird, auch wenn alle von ihnen der Aufrechterhaltung derGemeinschaft Priorität einräumten. Wie Chris Knight in seinem Buch BloodRelations, Menstruation and the Origins of Culture,1991, hervorhob, ist das, was er das „Recht auf den eigenen Fang“ (own-killrule)“ nennt (d.h. vorgeschriebene Grenzen für denAnteil des Jägers an seinem Fang), äusserst weit verbreitet unter denJägervölkern.
[9] Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Auflösung derurgesellschaftlichen Verhältnisse kein einmaliges Ereignis war, sondern inverschiedenen Rhythmen in verschiedenen Teilen der Erde erfolgte; es war einProzess, der sich über Jahrtausende erstreckte und dessen letzte tragischeKapitel erst jetzt in den abgelegensten Gebieten der Erde wie dem Amazonas undBorneo aufgeschlagen werden.
[10] Erster Entwurf des Briefes an Vera Sassulitsch, 1881.
[11] Engels, Vom Ursprung der Familie, desPrivateigentums und des Staates. MEW, Band 21, S. 97.
[12] Das Kapital, Band 1, 12. Kapitel, 4. Teilung der Arbeit innerhalb der Manufakturund Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft.
[13] Luxemburg, Junius-Broschüre.
[14] Perry Anderson, Passages from Antiquity toFeudalism, Verso Edition, 1978, S. 83 f., eigene Übersetzung.
[15] Ebenda, S. 92.
[16] Anderson, a.a.O. S. 197, eigene Übersetzung.
[17] Ebenda, S. 200 f.
[18] Ebenda, S. 204.
[19] Marx, Zur Kritik der PolitischenÖkonomie, Vorwort. MEW, Band 13, S. 9.
[20] J. Favier, From Marco Polo to Christopher Columbus, S. 152 f., eigene Übersetzung.
Der These, der wir den Titel AusserkapitalistischeMärkte und Verschuldung gaben, behauptet, wie der Name suggeriert, dassdie Ventile, die es ermöglicht hatten, den für die kapitalistische Akkumulationin den 1950er und 1960er Jahren notwendigen Mehrwert zu realisieren, von denausserkapitalistischen Märkten und dem Kredit gebildet wurden. In dieserPeriode trat die Verschuldung allmählich an die Stelle der verbliebenenausserkapitalistischen Märkte, da diese nicht mehr ausreichten, um all die imKapitalismus produzierten Waren zu absorbieren.
- Kann sie durch eine Analyse des Handelszwischen verschiedenen Wirtschaftszonen verifiziert werden, die verschiedeneEbenen der Integration in die kapitalistischen Produktionsverhältnisserepräsentieren? Kann sie auch von einer Analyse der Schulden in dieser Periodeverifiziert werden? Ein späterer Artikel wird dieses Problem näher ins Augefassen.
- Auf welche Weise unterscheidet sich dieseThese von den anderen beiden? Inwieweit ist sie kompatibel mit ihnen? DieserArtikel beabsichtigt, eine kritische Analyse der These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus vorzunehmen, während ein weiterer esunternehmen wird, die Positionen zu kommentieren, die unter der Überschrift Kriegswirtschaftund Staat kapitalismus vertreten werden.
Wie wir bereits in dem Text über dieAusserkapitalistischen Märkte und Verschuldung, der in der InternationalenRevue Nr. 42 erschienen war, angedeutet hatten, können weder die Steigerung derKaufkraft der Arbeiterklasse noch die Staatsausgaben - von denen vieleunproduktiv sind, wie wir im Fall der Rüstungsindustrie sehen - zurBereicherung des globalen Kapitals beitragen. Dieser Artikel wird sich imWesentlichen dieser Frage widmen, die, wie wir glauben, einen ernstenWiderspruch in der These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus enthüllt, insbesondere was dieWirksamkeit steigender Arbeitslöhne für die kapitalistische Ökonomieanbetrifft. Laut dieser These war das „System (...) also zeitweise imstande, dieQuadratur des Kreises, die parallele Steigerung der Profitproduktion und derMärkte, zu bewerkstelligen, in einer Welt, in der die Nachfrage fortangrösstenteils von jener dominiert wurde, die aus der Lohnarbeit herrührt.[1]Was bedeutet es, die Profitproduktion zu steigern? Es bedeutet, Waren zuproduzieren und zu verkaufen, doch um welche Nachfrage zu befriedigen? Die derArbeiterInnen? Die folgende Sentenz aus dem gerade zitierten Artikel istgleichermassen widersprüchlich und bringt uns nicht weiter: „Die garantierteSteigerung der Profite, der Staatsausgaben und der Anstieg der Löhne waren inder Lage, die Endnachfrage zu garantieren, die so entscheidend ist, wenn das Kapitalseine Akkumulation fortsetzen wollte."[2]Wenn die Steigerung der Profite somit garantiert ist, dann ist es auch diekapitalistische Akkumulation, und in diesem Fall ist es unerheblich, eineErhöhung der Löhne und eine Steigerung der Staatsausgaben zu Hilfe zu rufen, umzu erklären, wie der Kapitalismus mit der Akkumulation fortfahren kann!
Diese Vagheit in der Formulierung desProblems lässt uns keine andere Wahl, als das Argument zu interpretieren, mitdem Risiko, Fehler in der Interpretation zu begehen. Bedeutet es tatsächlich,wie der Text in seiner Gesamtheit zu suggerieren scheint, dass die Endnachfragedurch Staatsausgaben und steigende Löhne garantiert ist, was es ermöglicht, dieProfite zu steigern, welche das Fundament der kapitalistischen Akkumulationsind? Wenn dies der Fall ist, dann stellt der Text ein reales Problem dar, daunserer Ansicht nach solch eine Idee die eigentlichen Fundamente dermarxistischen Analyse der kapitalistischen Akkumulation in Frage stellt, wiewir sehen werden. Wenn aber unsere Interpretation unrichtig ist, dann ist esnotwendig, uns zu zeigen, welche Nachfrage die Realisierung des Profits durchden Warenverkauf garantiert.
Die Kapitalisten akkumulieren, was nachAbzug der unproduktiven Kosten vom Mehrwert übrigbleibt, der aus der Ausbeutungder ArbeiterInnen gezogen wird. Da eine Steigerung der Reallöhne nur zumSchaden des Gesamtmehrwerts sein kann, geschieht sie somit auchnotwendigerweise zum Schaden des Anteils des Mehrwerts, der für dieAkkumulation bestimmt ist. In der Praxis läuft eine Erhöhung der Löhne daraufhinaus, dass den ArbeiterInnen ein Teil des Mehrwerts ausbezahlt wird, der ausihrer Ausbeutung stammt. Das Problem mit diesem Teil des Mehrwerts, der an dieArbeiterInnen zurückgezahlt wird, ist, dass er, da er nicht dazu bestimmt ist,die Arbeitskraft zu reproduzieren (die bereits durch den „nicht-erhöhten" Lohnabgesichert ist), auch nicht Teil der erweiterten Reproduktion sein kann.Tatsächlich kann er, gleich ob die ArbeiterInnen Nahrungsmittel, Wohnungen oderFreizeitwaren kaufen, niemals dazu benutzt werden, um zum Wachstum derProduktionsmittel (Maschinen, Löhne für neue ArbeiterInnen, etc.) beizutragen.Daher ist die Erhöhung von Löhnen über das für die Reproduktion derArbeitskraft Erforderliche hinaus - vom kapitalistischen Standpunkt aus -nichts anderes als reine Verschwendung von Mehrwert, der nicht zu einemBestandteil des Akkumulationsprozesses werden kann.
Es ist richtig, dass die Statistiken derBourgeoisie diese Realität verbergen. Die Berechnung des BSP(Bruttosozialprodukt) schliesst leichterdings alles ein, auch unproduktiveWirtschaftsaktivitäten, ob es sich um die Ausgaben für Waffen und Werbunghandelt, um die Gehälter für Priester und Polizisten oder den Konsum derherrschenden Klassen, und ebenfalls die Lohnerhöhungen, die den ArbeiterInnengewährt werden. Wie die Statistiken der Bourgeoisie verwechselt die These deskeynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus die „Steigerung der Produktion",die anhand des Wachstums des BSP gemessen wird, mit der „Bereicherung desKapitalismus"; diese beiden Begriffe sind alles andere als äquivalent, da die„Bereicherung des Kapitalismus" sich auf dem Wachstum des real akkumuliertenMehrwerts stützt und Mehrwert ausschliesst, der durch die unproduktivenAusgaben sterilisiert wird. Dieser Unterschied ist keineswegs unwichtig,besonders in der zur Diskussion stehenden Periode, die durch einen massivenAnstieg der unproduktiven Ausgaben charakterisiert ist: „Die Bildung einesinternen Marktes durch den Keynesianismus als eine unmittelbare Lösung zumAbsatz der massiven industriellen Produktion hat Illusionen in eine dauerhafteRückkehr des Wachstums wie zu Zeiten des aufsteigenden Kapitalismus geweckt.Doch seit der Markt komplett abgenabelt wurde von den Bedürfnissen derWertsteigerung des Kapitals, hatte dies die Sterilisierung eines beträchtlichenTeils des Kapitals zur Folge."[3]
Der Gedanke, dass ein Anstieg derArbeitslöhne unter bestimmten Umständen ein günstiger Faktor für diekapitalistische Akkumulation sein könnte, widerspricht völlig dieserGrundsatzposition des Marxismus (und nicht nur dieser!), derzufolge der ganzeCharakter der kapitalistischen Produktion die Verwertung des Kapitals ist, undnicht sein Verzehr [4].
Und dennoch - so werden jene Genossenantworten, die die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus vertreten - stellt sich diese These aufdie Grundlage von Marx. Ihre Erklärung des Erfolges der staatskapitalistischenMassnahmen zur Vermeidung der Überproduktion basiert in der Tat auf demGedanken von Marx, dass „die Masse des Volks nie mehr als die average quantityof necessaries (durchschnittliche Menge der lebenswichtigen Güter) konsumierenkann, ihre Konsumtion also nicht entsprechend wächst mit der Produktivität derArbeit"[5].Mithilfe dieser Formulierung von Marx sieht die These einen Weg, um zuerklären, wie die kapitalistische Ökonomie in der Lage war, den Widerspruch zuüberwinden: Solange es Fortschritte in der Produktivität gibt, die ausreichen,damit der Konsum in demselben Rhythmus wie die Arbeitsproduktivität wächst,kann das Problem der Überproduktion gelöst werden, ohne die Akkumulation zuhemmen, da die Profite, die ebenfalls steigen, ausreichen, um die Akkumulationabzusichern. Während seines gesamten Lebens hat Marx nie einen Anstieg derLöhne im Gleichklang mit der Produktivität erlebt; ja, er nahm an, dass diesunmöglich sei. Dennoch hat sich genau dies in gewissen Momenten im Leben desKapitalismus ereignet; jedoch gestattet uns dieses Tatsache keineswegs, darauszu folgern, es könne, mindestens zeitweise, das fundamentale Problem derÜberproduktion lösen, das Marx hervorhob. Der Marxismus reduziert diesenWiderspruch der Überproduktion nicht einfach auf das Verhältnis zwischensteigenden Löhnen und wachsender Produktivität. Die Tatsache, dass Keynes solcheinen Mechanismus zur Verteilung des Reichtums als ein Mittel betrachtete, umzeitweise einen gewissen Grad an ökonomischer Aktivität im Zusammenhang miteiner steil ansteigenden Arbeitsproduktivität aufrechtzuerhalten, ist eineSache. Eine völlig andere Sache und darüber hinaus illusorisch ist es zubehaupten, dass die „Ventile", die auf diese Weise geschaffen werden, einewirkliche Entwicklung des Kapitalismus ermöglichen.
Hier müssen wir etwas näher dieAuswirkungen solch eines Mittels der „Regulierung" der Frage der Überproduktionmittels des Konsums der ArbeiterInnen auf die Mechanismen der kapitalistischenÖkonomie betrachten. Es trifft zu, dass der Konsum der ArbeiterInnen und dieStaatsausgaben es möglich machen, die Produkte einer gesteigerten Produktion zuverkaufen, doch wie wir gesehen haben, mündet dies in eine Sterilisierung desproduzierten Reichtums, da er nicht sinnvoll verwendet werden kann, um Kapitalzu verwerten. In der Tat hat die Bourgeoisie ähnliche Hilfsmittel ausprobiert,um die Überproduktion einzudämmen: die Zerstörung des landwirtschaftlichenMehrwerts besonders in den 1970er Jahren (als der Hunger bereits auf dergesamten Welt verbreitet war), Quotensysteme auf Welt- oder gar europäischerEbene bei Stahlproduktion und Erdölförderung, etc. Was immer die Mittel sind,die von der Bourgeoisie benutzt werden, um die Überproduktion zu absorbierenoder aus der Welt zu schaffen, letztlich enden sie alle in der Sterilisierungvon Kapital.
Paul Mattick[6],der im Artikel „Die Urspünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus" zitiert wird[7],stellte ebenfalls eine Erhöhung der Löhne in dem Zeitraum, der uns hier angeht,fest, die mit einer gesteigerten Produktivität Schritt hielten: „Es istunbestreitbar, dass die Löhne in der modernen Epoche angestiegen sind. Jedochnur im Rahmen der Kapitalexpansion, die voraussetzt, dass das Verhältnis derLöhne zu den Profiten im Allgemeinen konstant bleibt. Die Arbeitsproduktivitätsollte daher mit einer Geschwindigkeit wachsen, die es gestattet, sowohlKapital zu akkumulieren als auch den Lebensstandard der ArbeiterInnenanzuheben."[8]
Doch unglücklicherweise geht die Thesedes keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismusnicht weiter in ihrem Gebrauch des Werkes von Mattick. Für Mattick wie auch füruns gilt: „jede Prosperität beruht auf der Vergrösserung des Mehrwerts zurweiteren Expansion des Kapitals"[9]Mit anderen Worten, sie wächst nicht durch die Verkäufe auf Märkten, die durchsteigende Löhne oder Staatsausgaben geschaffen werden: „Das ganze Problemreduziert sich zuletzt auf die einfache Tatsache, dass das, was konsumiertwird, nicht akkumuliert werden kann, so dass die wachsende ‚öffentlicheKonsumtion‘ kein Mittel sein kann, um eine zum Stillstand gekommene oder sichvermindernde Akkumulationsrate in ihr Gegenteil zu verkehren."[10]Diese Einzigartigkeit der Prosperität der 1950er und 1960er Jahre ist sowohlvon offiziellen bürgerlichen Ökonomen als auch von der These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus unbemerkt geblieben: „Da die Ökonomennicht zwischen Wirtschaft und kapitalistischer Wirtschaft unterscheiden, bleibtihnen auch verschlossen, dass Produktivität und ‚kapitalistisch produktiv' zweiverschiedene Dinge sind, dass öffentliche wie private Ausgaben nur dannproduktiv sind, wenn sie Mehrwert erzeugen, nicht weil sie materielle Güteroder Annehmlichkeiten mit sich bringen." Folglich: „Die durch die Defizitfinanzierung ermöglichte zusätzliche Produktionstellt sich als zusätzliche Nachfrage dar, aber es ist eine Nachfragebesonderer Art, da sie sich zwar aus der gesteigerten Produktion ergibt, aberes handelt sich um eine gesteigerte Gesamtproduktion ohne eine entsprechendeSteigerung des Gesamtprofits."[11]
Es folgt, was wir gerade gesagt haben,nämlich dass die tatsächliche Prosperität der 1950er und 1960er Jahre nicht sogrossartig war, wie die Bourgeoisie gern vorgibt, wenn sie stolz auf das BSPder wichtigsten Industrieländer jener Zeit verweist. Matticks Beobachtung indiesem Zusammenhang ist vollkommen richtig: „In Amerika blieb jedoch dieNotwendigkeit bestehen, das Produktionsniveau mittels öffentlicher Ausgabenstabil zu halten, was zu einem weiteren wenn auch langsameren Anwachsen der Staatsverschuldung.Dieser Zustand liess sich auch mit der imperialistischen Politik Amerikas undspäter besonders mit dem Krieg in Vietnam begründen. Aber da dieArbeitslosigkeit nicht unter vier Prozent der Gesamtbeschäftigung fiel und dieProduktionskapazität keine volle Ausnutzung fand, ist es mehr alswahrscheinlich, dass ohne den ‚öffentlichen Konsum‘ der Aufrüstung undMenschenschlächterei die Arbeitslosenzahl weit höher gestanden hätte, als estatsächlich der Fall war. Und da ungefähr die Hälfte der Weltproduktion aufAmerika fällt, liess sich trotz des Aufschwungs in Westeuropa und Japan nichtvon einer völligen Überwindung der Weltkrise sprechen, und besonders dannnicht, wenn die unterentwickelten Länder in die Betrachtung miteinbezogenwerden. So lebhaft die Konjunktur auch war, so bezog sie sich doch nur aufTeile des Weltkapitals, ohne es zu einem allgemeinen die Weltwirtschaftumfassenden Aufschwung zu bringen."[12]Die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus unterschätzt diese Realität.
Für uns kann die wahre Quelle derAkkumulation nicht in den keynesianischen Massnahmen gesucht werden, diewährend dieses Zeitraums in Kraft gesetzt worden waren[13],sondern in der Realisierung des Mehrwerts durch den Absatz sowohl aufausserkapitalistischen Märkten als auch auf Kredit. Wenn wir richtig verstandenhaben, dann macht die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus einen theoretischen Fehler auf dieserEbene, der den Weg freimacht für die Idee, dass es dem Kapitalismus möglich sei,die Krise zu überwinden, solange er in der Lage sei, beständig dieArbeitsproduktivität und im gleichen Verhältnis die Arbeitslöhne wachsen zulassen.
Zu Beginn dieser Debatte betrachtete sichdie These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus in Kontinuität mit dem theoretischenRahmen zum Verständnis der Widersprüche des Kapitalismus, der von Marxentwickelt und später von Rosa Luxemburg bereichert wurde. Unserer Ansicht nachmacht es keinen Unterschied, ob die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus Luxemburgs Theorie akzeptiert oderablehnt - sie ist unfähig, die Widersprüche zu erklären, die diekapitalistische Gesellschaft während der Periode des Nachkriegsboomsunterminierten. Wie man aus den vielen Zitaten von Mattick, auf die wir unsereKritik gründeten, entnehmen kann, hat die Auseinandersetzung mit dieser Thesenichts mit dem eher klassischen Gegensatz zwischen der Theorie derNotwendigkeit ausserkapitalistischer Märkte für die Entwicklung desKapitalismus (vertreten von Rosa Luxemburg) und der Analyse zu tun, die sichauf den Fall der Profitrate als alleinige Erklärung für die Krise desKapitalismus stützt, wie sie von Paul Mattick vertreten wird).
Was die andere Frage angeht - ob derAbsatz auf Kredit eine dauerhafte Basis für die reale Akkumulation schaffenkann -, so bringt uns dies zurück zu der Debatte über den Fall der Profitratebzw. die Sättigung der ausserkapitalistischen Märkte. Die Antwort auf dieseFrage findet sich in der Fähigkeit oder Unfähigkeit des Kapitalismus, seineSchulden zurückzuzahlen. Tatsächlich ist das fortgesetzte Schuldenwachstum seitdem Ende der 1950er Jahre ein Anzeichen dafür, dass die gegenwärtige offeneSchuldenkrise ihre Wurzeln exakt in der „Prosperitäts"-Periode der 1950er und1960er Jahre hat. Doch dies ist eine andere Debatte, zu der wir zurückkehrenwerden, wenn wir uns die Verifizierung der These der ausserkapitalistischenMärkte und Verschuldung im wahren Leben anschauen.
Silvio
[1] „Die Ursprünge, Dynamiken undGrenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus", Internationale Revue Nr. 43.
[2] Ebenda.
[3] Internationale Revue Nr. 42 „Interne Debatte: Die Ursachen desWirtschaftsbooms nach 1945", Kapitel: „Ausserkapitalistische Märkte und Verschuldung".
[4] Das Kapital Band 3, MEW 25 S. 268
[5] Marx, Theorien über den Mehrwert, Zweiter Teil, MEW 26.2 S. 469
[6] Mattick war ein Mitgliedder Kommunistischen Linken und ein Mitglied der KAPD während der DeutschenRevolution. Nachdem er 1926in die USA emigriert war, trat er den IWW bei undschrieb über viele politische Themen, einschliesslich der Ökonomie. Zwei seinerWerke sind besonders erwähnenswert: Marxund Keynes - die Grenzen der gemischten Wirtschaft (1969) und Krisenund Krisentheorien (1974). ImWesentlichen erklärt Mattick die kapitalistische Krise mit dem Widerspruch, dervon Marx hervorgehoben wurde, mit dem tendenziellen Fall der Profitrate. Erstimmt also Luxemburgs Krisenerklärung nicht zu, welche - ohne die fallendeProfitrate zu leugnen - wesentlich auf dem Bedürfnis nach Märkten ausserhalbkapitalistischer Produktionsverhältnisse besteht, damit der Kapitalismus sichweiterentwickeln könne. Wir möchten gern Matticks Fähigkeit in Krisen und Krisentheorien hervorheben, die Beiträge zu Marxens Krisentheorie von seinenNachfolgern, von Rosa Luxemburg zu Henrik Grossmann, einschliesslichTugan-Baranowski und nicht zu vergessen Pannekoek, brillant zusammengefasst zuhaben. Seine Meinungsverschiedenheiten mit Luxemburg hinderten ihn nicht daran,das Werk der grossen Revolutionärin zur Ökonomie auf vollkommen objektive undverständliche Weise zu erklären.
[7] InternationaleRevue Nr.43
[8] PaulMattick, Intégration capitaliste et rupture ouvrière, EDI, S. 151, unsereÜbersetzung.
[9] Mattick, Krisen und Krisentheorien, 4. Kapitel „Glanz und Elend dergemischten Wirtschaft", Hervorhebungen hier und im Folgenden von uns.
[10] Ebenda.
[11] Ebenda.
[12] Ebenda.
[13] Ebenda.
In der Internationalen Revue Nr. 42 wurden dieDarstellung des Rahmens der Debatte sowie drei Beiträge publiziert, welche diedrei gegenwärtigen Hauptpositionen zusammenfassten. In der Nr. 43 der Revueveröffentlichten wir einen Artikel Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus, der ausführlicher die Thesedes keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus darlegte.
In dieser Nummer lassen wir die beiden anderen Positionenzu Wort kommen mit den folgenden Texten Die Grundlagen der kapitalistischenAkkumulation und Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus (zur Verteidigungder Positionen Ausserkapitistische Märkte und Verschuldung bzw.Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus). Wir müssen aber vor der Fortsetzungder Debatte einige Bemerkungen anbringen einerseits zur Entwicklung derdiskutierten Positionen, andererseits zur Wissenschaftlichkeit desDiskussionsstils.
Während einer gewissen Zeit der Debatte haben sich alleStandpunkte auf den Rahmen der Analyse der IKS[1] berufen, der dabei oft als Bezugspunkt für die Kritikender einen oder anderen Position an den anderen Standpunkten diente. Dies istheute nicht mehr der Fall, und zwar schon während einiger Zeit. Eine solcheEntwicklung liegt im Bereich der Möglichkeiten einer jeden Debatte:Divergenzen, die zunächst als geringfügig erscheinen, stellen sich im Laufe derDiskussion als tiefer heraus, ja können den anfänglichen theoretischen Rahmender Diskussion selbst in Frage stellen. Das ist mit der Debatte in unsererOrganisation geschehen, insbesondere mit der These, die keynesiansich-fordistischerStaatskapitalismus heisst. So ergibt sichaufgrund der Lektüre des Artikels Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus (Internationale Revue Nr. 43), dass diese These nun offen verschiedenePositionen der IKS in Frage stellt. Da diese Infragestellungen eineAngelegenheit der Debatte selber sind, beschränken wir uns hier darauf, auf sieaufmerksam zu machen, und überlassen es späteren Beiträgen, darauf zurück zukommen. So gilt, für diese These, was folgt:
- „(...) der Kapitalismus generiert dauernd diegesellschaftliche Nachfrage, die der Entwicklung seines Marktes zu Grundeliegt"[2], während für die IKS „im Gegenteil zu dem, was dieVerehrer des Kapitals suggerieren, (...) die kapitalistische Produktion jedochnicht automa tisch und wunschgemäss die für ihr Wachstum notwendigen Märkte"schafft (Plattform der IKS).
- Den Kulminationspunkt des Kapitalismus würdenauf einer bestimmten Stufe „die Ausweitung der Lohnarbeit und ihre durch dieHerstellung des Weltmarktes erreichte allgemeine Herrschaft" bilden[3]. Für die IKS dagegen trat dieser Kulminationspunkt dannein, als die wichtigsten wirtschaftlichen Mächte sich die Welt aufteilt hattenund der Markt „die Schwelle zur Sättigung derselben Märkte (erreichte), die im19. Jahrhundert noch seine ungeheure Ausdehnung ermöglicht hatten" (Plattformder IKS).
- Die Entwicklung der Profitrate und die Grösseder Märkte seien vollkommen unabhängig, während für die IKS „durch diewachsende Schwierigkeit des Kapitals, Märkte zu finden, wo sein Mehrwertrealisiert werden kann, der Druck auf die Profitrate verstärkt und ihrtendenzieller Fall bewirkt (wurde). Dieser Druck wird durch den ständigenAnstieg des konstanten, "toten" Kapitals (Produktionsmittel) zu Lasten desvariablen, lebendigen Kapitals, die menschliche Arbeitskraft, ausgedrückt."(ebenda)
Es gehört zu einer proletarischen Debatte, die Klärungder Divergenzen systematisch und methodisch konsequent bis zu ihrer Wurzelvoranzutreiben, ohne Furcht vor allfälligen Infragestellungen, die sichaufdrängen können. Nur eine solche Debatte kann wirklich die theoretischenGrundlagen der Organisationen verstärken, die sich auf das Proletariat berufen.Folglich erfordert eine solche Debatte die strengstmögliche wissenschaftlicheund militante Klarheit, insbesondere was die Verweise auf Texte derArbeiterbewegung betrifft, die zur Unterstützung eines Arguments oder für diePolemik benutzt werden. Gerade der Artikel Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen deskeynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus in der Revue Nr. 43 stellt in dieser Hinsicht einProblem dar.
Der fragliche Artikel beginnt mit einem Zitat aus Internationalisme Nr. 46 (Organ der Kommunistischen Linken Frankreichs,GCF): „1952 beendeten unsere Vorgänger in der GCF die Aktivitäten ihrer Gruppe,weil das „Verschwinden der ausserkapitalistischen Märkte (...) zu einerpermanenten Krise des Kapitalismus führt (...) Wir können hier die ins Augefallende Bestätigung von Rosa Luxemburgs Theorie sehen (...) In der Tat sind dieKolonien nicht mehr ein ausserkapitalistischer Markt für das kolonialeMutterland (...) Wir leben in einem Zustand des drohenden Krieges..." Geschriebenam Vorabend des Nachkriegsbooms, enthüllen diese wiederholten Fehler dieNotwendigkeit, über die „ins Auge fallende Bestätigung von Rosa LuxemburgsTheorie" hinauszugehen".
Wenn man diese Stelle liest, so springen die folgendenzwei Ideen ins Auge:
- 1952 (zur Zeit, als der Artikel von Internationalisme geschrieben wurde) waren die ausserkapitalistischenMärkte verschwunden, deshalb die Situation „einer permanenten Krise desKapitalismus".
- Die Voraussage der Gruppe Internationalisme vom unmittelbar drohenden Krieg ist eine Konsequenz ausder Analyse über das Verschwinden der ausserkapitalistischen Märkte.
Aber dies sind nicht die wirklichen Ideen von Internationalisme, sondern ihre entstellende Transkription in der Formeines Zitats (das wir gerade wiedergegeben haben), das gewisse Stellen desOriginaltextes der Zeitschrift Internationalisme von den Seiten 9, 11, 17 und 1 in dieser Reihenfolgeherauspflückt und neu zusammensetzt.
Auf die erste zitierte Stelle, nach der das „Verschwindender ausserkapitalistischen Märkte (...) zu einer permanenten Krise desKapitalismus führt", folgt in Internationalisme unmittelbar der folgende, nicht zitierte Satz: „RosaLuxemburg zeigte im übrigen auf, dass der Moment des Ausbruchs dieser Kriseeintritt, lange bevor dieses Verschwinden absolut geworden ist". Mit anderenWorten beinhaltete für Internationalisme (wie für Rosa Luxemburg) die Krisensituation, die imZeitpunkt der Verfassung dieses Artikels herrschte, keineswegs die Erschöpfungder ausserkapitalistische Märkte, denn für sie tritt die Krise ein, „langebevor dieses Verschwinden absolut geworden ist". Diese erste Entstellung derPositionen von Internationalisme hat durchaus Konsequenzen für die Debatte, denn sieunterstützt die Idee (welche von der These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus verteidigt wird), dass die ausserkapitalistischenMärkte im Boom der 50er und 60er Jahre eine vernachlässigbare Grösse gewesenseien.
Die zweite Internationalisme untergeschobene Position vom unmittelbar drohenden Kriegals Konsequenz aus der Analyse über das Verschwinden der ausserkapitalistischenMärkte ist in Tat und Wahrheit nicht die Position der Gruppe Internationalisme als solcher, sondern von einigen Genossen in derOrganisation, mit denen die Diskussion im Gange war. Das zeigt sich in derfolgenden Textstelle von Internationalisme, die zwar im Zitat ebenfalls benutzt wird, aber mitwichtigen und bezeichnenden Amputationen: „Für einige unserer Genossen lebenwir in der Tat in einem Zustand des unmittelbar drohenden Krieges, dessenAusbruch nun bevorstehe. Wir lebten in einem Zustand des unmittelbarbevorstehenden Kriegs, und die Frage, die sich der Analyse stelle, sei nicht,die Faktoren zu untersuchen, die zum weltweiten Zusammenstoss führten - dieseFaktoren seien gegeben und wirkten bereits -, sondern vielmehr zu untersuchen,warum der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen sei". Diese zweite Entstellung desGedanken von Internationalisme versucht, die Position von Rosa Luxemburg und Internationalisme zu diskreditieren, da der Dritte Weltkrieg, derangeblich die Folge der Sättigung des Weltmarktes hätte sein sollen, bekanntlichnie stattgefunden hat.
Diese Bemerkungen zielennicht auf die Diskussion der Analyse von Internationalisme ab, die in der Tat Fehler enthält, sondern auf dietendenziösen Interpretationen, die in den Spalten unserer Internationale Revue über die Positionen dieser Gruppe gemacht wurden.Es geht uns hier auch nicht darum, ein grundsätzliches Vorurteil gegen dieAnalyse des Artikels Die Ursprünge,Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus aufzubauen, die absolut zu unterscheiden ist von denstrittigen Argumenten, die wir hier kritisiert haben. Nachdem diese nötigenKlärungen erfolgt sind, können wir uns wieder sachlich der Fortsetzung derDiskussion über die Divergenzen in unserer Organisation zuwenden.
[1] Wie wir ihn inder Einführung zur Debatte dargelegt haben (Internationale Revue Nr. 42).
[2] Diese Stelle ist aus derfranzösischen Internet-Version der Internationalen Revue zitiert(fr.internationalism.org/rint133/debat_interne_causes_prosperite_consecutive_seconde_guerre_mondiale_2.html)undübersetzt, da sie in den anderen Ausgaben fehlt.
[3] InternationaleRevue Nr. 43 S. 17
Wie dieeinleitenden Bemerkungen in Internationale Revue Nr.42 richtig hervorheben, geht die Bedeutung der Debatte weit über die Analysedes Nachkriegsbooms als solchen hinaus und umfasst fundamentalere Aspekte dermarxistischen Kritik an der politischen Ökonomie. Die Debatte sollte zu einembesseren Verständnis der Haupttriebkräfte der kapitalistischen Gesellschaftbeitragen. Diese Triebkräfte bestimmen sowohl die ausserordentliche Dynamik desKapitalismus in seiner Aufstiegsperiode, die ihn von seinen Anfängen in denStadtstaaten Italiens und Flanderns bis zur Schaffung der ersten planetarischenGesellschaft vorwärtstrieben, als auch die enormen zerstörerischen Kräfte desKapitalismus in seiner Dekadenzperiode, die die Menschheit zwei Weltkriegenaussetzte, deren Barbarei Dschingis Khan hätte erblassen lassen, und die heutedie unmittelbare Existenz unserer Spezies bedrohen.
Der Schlüssel zum Verständnis der Dynamikdes Kapitalismus befindet sich im unmittelbaren Kern der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse:
- die Ausbeutung der produzierenden Klassedurch die herrschende Klasse nimmt die Form des Erwerbs der Ware Arbeitskraftan;
- das Produkt der Arbeit der ausgebeutetenKlasse nimmt die Form von Waren an (Warenkapital), was folglich bedeutet, dassdie Aneignung der Mehrarbeit notwendigerweise den Verkauf dieser Waren auf demMarkt beinhaltet.[2]
Um es mit einem einfachen Beispielauszudrücken: Der Feudalherr nahm das Mehrprodukt von seinen Leibeigenen undverwendete es direkt zur Aufrechterhaltung seiner Hofhaltung. Der Kapitalistnimmt den Arbeitern den Mehrwert in Gestalt von Waren, die als solche keinenNutzen für ihn haben und auf dem Markt verkauft werden müssen, um inGeldkapital umgewandelt zu werden.
Dies schafft unvermeidlich ein Problemfür den Kapitalisten: Wer soll die Waren kaufen, die den Mehrwert verkörpern,welcher von der Arbeitskraft erst geschaffen worden war? Grob gesagt, hat eshistorisch zwei Antworten auf diese Frage in der Arbeiterbewegung gegeben:
- Laut einigen Theorien gibt es gar keinProblem: Der Prozess der Kapitalakkumulation und der normale Kreditverkehrerlaube es den Kapitalisten, in einen neuen Produktionszyklus zu investieren,der auf höherer Ebene den Mehrwert absorbiere, der im vorherigen Zyklus produziertwurde, und der ganze Prozess beginne ganz einfach von Neuem.[3]
- Für die Mehrheit in der IKS ist dieseErklärung inadäquat.[4]Denn wenn der Kapitalismus ohne jegliches Problem auf seinen eigenenFundamenten unendlich expandieren kann, warum war dann die kapitalistischeKlasse von der Manie der Eroberung fremden Territoriums ergriffen? Warumverharrte die Bourgeoisie nicht ruhig daheim und setzte die Ausweitung ihresKapitals ohne das riskante, teure und gewaltsame Geschäft der ständigenErweiterung ihres Zugangs zu neuen Märkten fort? Luxemburg beantwortet dieseFrage in der Anti-Kritik wie folgt: „Es müssen dies also Abnehmer sein, die zuihren Kaufmitteln auf Grund von Warenaustausch, also auch von Warenproduktiongelangen, die ausserhalb der kapitalistischen Warenproduktion stattfindet; esmüssen dies somit Produzenten sein, deren Produktionsmittel nicht als Kapitalanzusehen und die selbst nicht in die zwei Kategorien: Kapitalisten undArbeiter, gehören, die aber dennoch so oder anders Bedarf nach kapitalistischenWaren haben."[5]
Bis zur Veröffentlichung seines letztenArtikels in Internationale RevueNr. 43 schien es so, als könne man von der Annahme ausgehen, das Genosse C.Mcl.diese grundsätzliche Sichtweise der Expansion des Kapitalismus in seineraufsteigenden Phase teilt.[6] Indiesem Artikel allerdings, der den Titel „Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzendes keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus"trägt, scheint der Genosse seine Meinung in dieser Frage geändert zu haben.Deutlicher als alles andere zeigt dies, dass Ideen im Verlauf dieser Debattesich ändern können - dennoch erscheint es uns als notwendig, für einen Momentinnezuhalten, um einige der neuen Ideen zu betrachten, die er vorgestellt hat.
Es muss dazu gesagt werden, dass dieseIdeen auf dem ersten Blick nicht sehr klar sind. Einerseits teilt uns C.Mcl.mit (und wir möchten dem zustimmen), dass die ausserkapitalistische Welt durcheine „Reihe von Möglichkeiten" unter anderem für den Verkauf von überschüssigenGütern sorgt.[7] Andererseitsteilt uns C.Mcl. jedoch mit, dass diese „ausserkapitalistische Sphäre" nichtnur unnötig war, weil der Kapitalismus vollkommen in der Lage sei, seineeigenen „internen Regulierungsmethoden" zu entwickeln, sondern auch, dass dieäussere Expansion des Kapitalismus im Grunde seine eigene Entwicklung bremse.Wenn wir Genosse C.Mcl. richtig verstehen, ist dies so, weil die Waren, die inausserkapitalistischen Märkten verkauft werden, aufhören, als Kapital zufungieren, und folglich nicht zur Akkumulation beitragen, während Waren, dieinnerhalb des Kapitalismus verkauft werden, sowohl die Realisierung vonMehrwert (durch die Umwandlung von Warenkapital in Geldkapital) erlauben alsauch selbst als Elemente der Akkumulation fungieren, ob in Gestalt von Maschinen(Produktionsmittel, konstantes Kapital) oder als Konsumgüter(Konsumptionsmittel für die Arbeiterklasse, variables Kapital). Um diese Ideezu untermauern, setzt uns C.Mcl. darüber in Kenntnis, dass dienicht-kolonialistischen Länder weit höhere Wachstumsraten im 19. Jahrhunderterlebten als die Kolonialmächte.[8]Diese Sichtweise erscheint uns sowohl empirisch als auch theoretisch als völligfalsch. Sie ist eine statische Sichtweise, in der die ausserkapitalistischenMärkte nicht anderes sind als eine Art Überlaufventil für den kapitalistischenMarkt, wenn er zu voll wird.
Die Kapitalisten verkaufen nicht nur anausserkapitalistische Märkte, sie kaufen auch von ihnen. Die Schiffe, diebillige Konsumgüter zu den Märkten Indiens und Chinas[9]transportierten, kamen nicht leer zurück: Sie kehrten beladen mit Tee,Gewürzen, Baumwolle und anderen Rohstoffen zurück. Bis in die sechziger Jahredes 19. Jahrhunderts war die Hauptquelle der englischen Textilindustrie dieSklavenwirtschaft der amerikanischen Südstaaten. Während der durch denBürgerkrieg verursachten „Baumwollnot" wurdenErsatzquellen in Indien und Ägypten gefunden.
„Innerhalb seines Zirkulationsprozesses,wo das industrielle Kapital entweder als Geld oder als Ware fungiert,durchkreuzt sich der Kreislauf des industriellen Kapitals, sei es alsGeldkapital oder als Warenkapital, mit der Warenzirkulation der verschiedenstensozialen Produktionsweisen, soweit letztre zugleich Warenproduktion ist. Ob dieWare das Produkt der auf Sklaverei gegründeten Produktion, oder von Bauern(Chinesen, indische Ryots), oder Gemeinwesen (holländisch Ostindien), oder derStaatsproduktion (wie solche, auf Leibeigenschaft gegründet, in früherenEpochen der russischen Geschichte vorkommt), oder halbwilder Jägervölker etc.:als Waren und Geld treten sie gegenüber dem Geld und den Waren, worin sich dasindustrielle Kapital darstellt, und gehn ein ebensosehr in den Kreislaufdesselben, wie in den des vom Warenkapital getragnen Mehrwerts, sofern letztrerals Revenue verausgabt wird (...) Der Charakter des Produktionsprozesses, aus demsie herkommen, ist gleichgültig; als Waren fungieren sie auf dem Markt, alsWaren gehn sie ein in den Kreislauf des industriellen Kapitals, wie in dieZirkulation des von ihm getragnen Mehrwerts."[10]
Was ist zum Argument zu sagen, dass diekoloniale Expansion die Entwicklung des Kapitalismus bremse? Unserer Ansichtnach gibt es hier zwei Fehler:
1. Wie die IKS (Marx und Luxemburg folgend)wiederholt betont hat, stellt sich das Problem der ausserkapitalistischenMärkte auf der Ebene des globalen und nicht des individuellen oder auchnationalen Kapitals.[11]
2. Die Kolonialisierung ist nicht die einzigeForm der Expansion in ausserkapitalistische Märkte.
Die Geschichte der Vereinigten Staatenbietet eine besonders klare - und, angesichts der wachsenden Rolle derUS-Wirtschaft im 19. Jahrhunderts, wichtige - Veranschaulichung dieses Punktes.
Zunächst einmal war die Abwesenheit einesUS-Kolonialreiches nicht irgendeiner „Unabhängigkeit" gegenüber derausserkapitalistischen Welt zuzuschreiben, sondern der Tatsache, dass dieseWelt innerhalb der Grenzen der USA enthalten war.[12]Wir haben bereits die Sklavenwirtschaft des amerikanischen Südens erwähnt. ImAnschluss an die Zerstörung des Letztgenannten im amerikanischen Bürgerkrieg(1861-65) expandierte der Kapitalismus in den nächsten dreissig Jahrenkontinuierlich in den amerikanischen Westen, was in etwa so dargestellt werdenkann: Niedermetzelung und ethnische Säuberung der indigenen Bevölkerung;Einrichtung einer ausserkapitalistischen Ökonomie durch Verkauf und Gewährungvon neu erworbenem „Regierungsland" anKolonisten und Kleinbauern[13],Auslöschung dieser ausserkapitalistischen Ökonomie durch Verschuldung,Schwindel und Gewalt und die Ausweitung der kapitalistischen Ökonomie.[14]
1890 erklärte das Statistische Bundesamtder USA offiziell die inneren Grenzen für geschlossen. 1893 traf eine schwereDepression die US-Wirtschaft. Die US-Bourgeoisie war in den 1890er Jahren inwachsendem Masse mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre nationalen Grenzenauszuweiten.[15]1898 erklärte ein Dokument des State Department: „Es scheint bekannt zu sein,dass wir jedes Jahr mit einem wachsenden Überschuss von Fabrikprodukten für denVerkauf in fremde Märkte konfrontiert sind, wenn amerikanische Facharbeiter undHandwerker das ganze Jahr über beschäftigt bleiben sollen. Die Vergrösserungfremder Konsumtion von Produkten unserer Betriebe und Werkstätten ist daher zueinem ernsten Problem sowohl der Staatsmänner als auch der Geschäftsleute geworden".[16]Es folgte eine rapide imperialistische Expansion: Kuba (1898), Hawaii(ebenfalls 1898), die Philippinen (1899)[17],die Kanalzone Panama (1903). 1900 erklärte Albert Beveridge (ein führenderVertreter der „imperialistischen Interessen" der USA im Senat): „DiePhilippinen sind für immer unser (...) Und über die Philippinen hinaus gibt esChinas unbegrenzte Märkte (...) Der Pazifik ist unser Ozean (...) Wohin sollen wiruns auf der Suche nach den Konsumenten unseres Überflusses wenden? DieGeographie beantwortet die Frage. China ist unser natürlicher Konsument..."[18]
Unter Europäern wird die imperialistischeRaserei am Ende des 19. Jahrhunderts häufig in Begriffen wie das „Rennen umAfrika" betrachtet. Doch die US-Eroberung derPhilippinen war in vielerlei Weise von grösserer Bedeutung, da sie denAugenblick symbolisiert, in dem die imperialistische Expansion Europas genOsten auf die US-Expansion gen Westen traf. Der erste Krieg dieser neuenimperialistischen Epoche wurde zwischen asiatischen Mächten, Russland undJapan, ausgefochten, die um die Kontrolle über Korea und den Zugang zu denchinesischen Märkten rangen. Dies war wiederum ein Schlüsselfaktor in derersten revolutionären Erhebung des 20. Jahrhunderts, 1905 in Russland.
Was beinhaltete dieses neue „Zeitalterder Kriege und Revolutionen" (wie es die Dritte Internationale beschrieb) fürdie Organisation der kapitalistischen Ökonomie?
Sehr schematisch gesprochen, beinhaltetes die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Krieg: Während inder aufsteigenden Periode des Kapitalismus die Kriegsführung eine Funktion derökonomischen Expansion war, steht in der Dekadenz die Ökonomie umgekehrt zuDiensten des imperialistischen Krieges. Die kapitalistische Ökonomie ist in derDekadenz eine permanente Kriegswirtschaft.[19]
Grafik 1: Bruttoschulden der USA in Milliarden Dollar
Dies ist das fundamentale Problem, dasder gesamten Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie seit 1914 undinsbesondere der Wirtschaft während des Nachkriegsbooms nach 1945 zugrundeliegt.
Bevor wir fortfahren, den Nachkriegsboomaus diesem Blickwinkel zu untersuchen, erscheint es uns als notwendig, kurzeinige der anderen Positionen, die in dieser Debatte vorgestellt wurden, zubetrachten.
Es lohnt sich, daran zu erinnern, dassbereits die Dekadenzbroschüre der IKS der fortgesetzten Zerstörungausserkapitalistischer Märkte in dieser Periode eine Rolle einräumte[20]und es für möglich hielt, dass wir ihre Rolle im Nachkriegsboom unterschätzthaben. In der Tat setzt sich die Zerstörung solcher Märkte (in dem klassischenSinn, wie er von Luxemburg beschrieben wurde) bis heute in den dramatischstenFormen fort, wie wir angesichts Zehntausender Selbstmorde unter den indischenBauern in jüngster Zeit sehen können, die nicht in der Lage sind, ihreKreditschulden zurückzuzahlen, die sie zum Kauf von Saatgut und Düngemittel vonMonsanto und anderen Konzernen aufgenommen haben.[21]
Nichtsdestotrotz ist es schwierig, sichvorzustellen, wie diese Märkte entscheidend zum Nachkriegsboom beigetragenhaben könnten, wenn wir folgende Faktoren berücksichtigen:
- die enorme Zerstörung, die die Kleinbauern invielen Ländern infolge von Krieg und Wirtschaftskatastrophe zwischen 1914 und1945 heimsuchte[22];
- die Tatsache, dass sämtliche westlichenÖkonomien die Landwirtschaft im Nachkriegsboom massiv subventionierten: Indiesen Ökonomien war die Bauernwirtschaft eher ein Kostenfaktor für denKapitalismus denn ein Markt.
Hier bewegen wir uns auf einen weitausfesteren Boden. Es trifft zu, dass das Schuldenwachstum, verglichen mit demastronomischen Ausmass, das es heute nach dreissig Jahren der Krise erreichthat, im Nachkriegsboom auf dem ersten Blick als trivial erscheint. Verglichenjedoch mit dem, was die Schulden zuvor betrugen, war ihr Anstieg spektakulär.In den USA stieg die bundesstaatliche Bruttoverschuldung von 48,2 MilliardenDollar 1938 auf 483,9 Milliarden Dollar im Jahr 1973, d.h. auf das Zehnfache.[23]
Auch die Schulden der US-Konsumentenstiegen massiv an, von ungefähr vier Prozent des BSP im Jahr 1948 auf mehr alszwölf Prozent in den frühen Siebzigern.
Anleihen auf Grundbesitz stiegenebenfalls an, von sieben Milliarden Dollar im Jahr 1947 auf 70,5 MilliardenDollar im Jahr 1970 - ein zehnfaches Wachstum in Zahlen, das die reale Lagesogar unterschätzt, da die massiven Anleihen der Regierung mit ihren niedrigenZinssätzen und günstigen Bedingungen bedeuteten, dass ab 1955 allein dieFederal Housing Administration und die Veterans Administration 41 Prozent allerHypotheken verwalteten.[24]
Für Genosse C.Mcl. war die Prosperität imNachkriegsboom zu einem grossen Teil dem Umstand geschuldet, dass die Löhne imGleichklang mit der Produktivität stiegen, und zwar als Teil einer bewusstenkeynesianischen Politik, die darauf ausgerichtet war, überschüssige Kapazitätenaufzusaugen und so die fortgesetzte Expansion des Marktes zu erlauben.
Es ist sicherlich richtig, dass, wie Marxbereits im Kapitalhervorgehoben hatte, Löhne steigen können, ohne die Profite zu bedrohen, wenndie Produktivität gleichfalls ansteigt. Es ist ebenfalls zutreffend, dass dieMassenproduktion von Konsumgütern ohne den Massenkonsum durch dieArbeiterklasse unmöglich ist. Und es ist ebenfalls wahr, dass es eine bewusstePolitik war, die Löhne und den Lebensstandard der ArbeiterInnen nach dem II.Weltkrieg anzuheben, um soziale Revolten abzuwenden. Nichts von alledem löstjedoch das Problem, das sowohl von Marx als auch von Luxemburg ausgemachtwurde: dass die Arbeiterklasse nicht den vollen Wert dessen, was sieproduziert, absorbieren kann.
Darüber hinaus stützt sich die Hypothesevon C.Mcl. auf zwei Hauptannahmen, die unserer Ansicht nach empirisch nichtzutreffen:
1. Die erste ist, dass der Anstieg der Löhnedurch ihre Bindung an die Produktivität garantiert wird. Wir können dafür nochkein Anzeichen einer allgemeinen Praxis erkennen, ausser in unbedeutendenFällen wie in Belgien.[25] Umnur zwei Gegenbeispiele zu nennen: Die italienische Scalamobile, die 1945 eingeführt wurde, band die Löhne an die Inflation(insgesamt natürlich eine andere Sache), und der „Gesellschaftsvertrag", dervon Wilsons Labour-Regierung in Grossbritannien am Ende des Booms eingeführtwurde, war ein verzweifelter Versuch, die Löhne in einer Periode hoherInflation zu senken, indem sie an die Produktivität gebunden wurden.
2. Die zweite ist die Behauptung, dass daswestliche Kapital bis zum Beginn der Periode der „Globalisierung" in den 1980erJahren keine billige fremde Arbeitskraft verlangte. Dies ist schlicht falsch:In den USA reduzierte die Migration in die Städte die ländliche Bevölkerung von24,4 Millionen im Jahr 1945 auf nur noch 9,7 Millionen 1970.[26]In Europa war das Phänomen noch spektakulärer: Etwa 40 Millionen Menschenmigrierten vom Land oder von ausserhalb Europas in die industriellenHauptregionen.[27]
Grafik 2: Konsumkredite in Prozent des BIP
Grafik 3: Immobiliendarlehen von Geschäftsbanken, in Milliarden
Der II. Weltkrieg war - noch mehr als derI. Weltkrieg - eine schlagende Demonstration der fundamentalen Irrationalitätdes imperialistischen Krieges in der Dekadenz. Weit davon entfernt, die Siegermit der Eroberung neuer Märkte für die Kriegskosten zu entschädigen,hinterliess der Krieg sowohl Besiegte als auch Sieger ruiniert und ausgezehrt.Mit einer Ausnahme: die Vereinigten Staaten, das einzige kriegführende Land,das nicht die Zerstörung auf eigenem Territorium erlebte. Diese Ausnahme wardas Fundament für das ausserordentliche - und somit nicht wiederholbare -Phänomen des Nachkriegsbooms.
Einer der Haupteffekte der anderenPositionen, die in dieser Debatte vorgestellt wurden, ist, dass a) sie dazuneigen, das Problem in rein ökonomischen Begriffen zu sehen und dass b) sielediglich den Nachkriegsboom an sich betrachten und damit übersehen, dassdieser Boom von der durch den Krieg geschaffenen Lage bestimmt wurde.
Zwischen 1939 und 1945 verdoppelte sichdie Grösse der US-Wirtschaft.[28]In den existierenden Industrien (wie im Schiffbau) wurden Techniken derMassenproduktion angewendet. Ganze Industrien wurden neu geschaffen:Massenproduktion im Flugzeugbau, Elektronik und Computer (die ersten Computerwurden benutzt, um ballistische Flugbahnen zu kalkulieren), Pharmazeutika (mitder Entdeckung des Penicillins), Kunststoffe - die Liste geht ins Endlose. Und obwohl die Regierungsschuldenwährend des Krieges massiv nach oben schossen, war für die US-Bourgeoisie dieseEntwicklung zu einem bedeutenden Teil reine Kapitalanhäufung, da sie dasbritische und das französischen Imperium ausbluten liess und sich ihrenangesammelten Reichtum im Austausch gegen Waffen aneignete.
Trotz dieser überwältigendenÜberlegenheit waren die Vereinigten Staaten nach Kriegsende nicht ohneProbleme, um es vorsichtig auszudrücken. Wir können sie folgendermassenzusammenfassen:
1. Wo befanden sich die Absatzmärkte für dieVerdoppelung der US-Industrieproduktion, die während des Krieges stattgefundenhatte?[29]
2. Wie sollten die USA ihre nationalen Interessen- nun zum ersten Mal wirklich weltweit - gegen die Bedrohung durch densowjetischen Expansionsdrang schützen?
3. Wie konnte man grosse soziale Aufstände unddie potenzielle Bedrohung durch die Arbeiterklasse bannen? Keine Fraktion derWeltbourgeoisie hatte den Oktober 1917 vergessen - schon gar nicht in Europa.[30]
Zu verstehen, wie die USA den Versuch inAngriff nahmen, diese Probleme zu lösen, ist der Schlüssel zum Verständnis desNachkriegsbooms - und seines Scheiterns in den 1970er Jahren. Dies muss bis zueinem nächsten Artikel warten; dennoch ist es wert, hervorzuheben, dass RosaLuxemburg bereits vor der vollen Entwicklung der staatskapitalistischenÖkonomie während des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkrieges eine kurzeVorwegnahme der ökonomischen Auswirkungen der Militarisierung der Wirtschaftgeliefert hatte: Nach ihr „tritt hier an Stelle einer grossen Anzahl kleinerzersplitterter und zeitlich auseinanderfallender Warennachfragen, die vielfachauch durch die einfache Warenproduktion befriedigt wären, also für dieKapitalakkumulation nicht in Betracht kämen, eine zur grossen einheitlichenkompakten Potenz zusammengefasste Nachfrage des Staates. Diese setzt aber zuihrer Befriedigung von vornherein die Grossindustrie auf höchster Stufenleiter,also für die Mehrwertproduktion und Akkumulation günstigste Bedingungen voraus.In Gestalt der militaristischen Aufträge des Staates wird die zu einergewaltigen Grösse konzentrierte Kaufkraft der Konsumentenmassen ausserdem derWillkür, den subjektiven Schwankungen der persönlichen Konsumtion entrückt undmit einer fast automatischen Regelmässigkeit, mit einem rhythmischen Wachstumbegabt. Endlich befindet sich der Hebel dieser automatischen und rhythmischenBewegung der militaristischen Kapitalproduktion in der Hand des Kapitals selbst- durch den Apparat der parlamentarischen Gesetzgebung und des zur Herstellungder sogenannten öffentlichen Meinung bestimmten Zeitungswesens. Dadurch scheintdieses spezifische Gebiet der Kapitalakkumulation zunächst von unbestimmterAusdehnungsfähigkeit. Während jede andere Gebietserweiterung des Absatzes undder Operationsbasis für das Kapital in hohem Masse von geschichtlichen,sozialen, politischen Momenten abhängig ist, die ausserhalb der Willenssphäredes Kapitals spielen, stellt die Produktion für den Militarismus ein Gebietdar, dessen regelmässige stossweise Erweiterung in erster Linie in den bestimmendenWillen des Kapitals selbst gegeben zu sein scheint."[31]
Weniger als fünfzig Jahre, nachdem dieAkkumulation des Kapitals geschrieben worden war, konnte die Realität desMilitarismus in folgenden Worten beschrieben werden: Die „Vereinigung einesimmensen militärischen Establishments und einer grossen Waffenindustrie isteine neue Erfahrung für die Amerikaner. Der totale Einfluss - ökonomisch,politisch und sogar geistig - ist in jeder Stadt spürbar, in jedemStaatsgebäude, jedem Amt der Bundesregierung (...) wir müssen ihre folgenschwerenImplikationen begreifen. Unser Schuften, unsere Ressourcen und unser Auskommensind davon betroffen und auch die unmittelbare Struktur unserer Gesellschaft.
Wir müssen in den Regierungsgremienwachsam sein gegenüber einer unerwünschten Einflussnahme durch denmilitärisch-industriellen Komplex, ob sie gewollt oder ungewollt ist. DasPotenzial für eine desaströse Zunahme fehlgeleiteter Macht existiert und wirdweiterexistieren.
(...) Ähnlich und grösstenteilsverantwortlich für die stürmischen Veränderungen unsererindustriell-militärischen Stellung war die technologische Revolution in denletzten Jahrzehnten gewesen.
„In dieser Revolution ist die Forschungin den Mittelpunkt gerückt; sie ist auch formalisierter, komplexer und teurergeworden. Ein ständig wachsender Anteil wird für, von oder in Richtung derBundesregierung betrieben." (eigene Übersetzung) Diese Worte wurden 1961ausgesprochen, nicht von irgendeinem linken Intellektuellen, sondern vonUS-Präsident Dwight D. Eisenhower.
Jens, 10. Dezember 2008
[1] Aus Platzgründen ist es unmöglich, der gesamten Periode von 1945 bis1970 gerecht zu werden. Wir schlagen daher vor, nicht weiter zu gehen, als eineAnalyse der Fundamente des Nachkriegsbooms vorzustellen, mit der wir uns späterdetaillierter, so ist zu hoffen, befassen werden.
[2] Es ist kein Zufall, dass das erste Kapitel von DasKapital den Titel „Die Ware" trägt.
[3] Wir lassen für einen Augenblick die Frage der zyklischen Krisenbeiseite, wodurch sich dies historisch entwickelt.
[4] Wir wollen hier nicht wiederholen, was die IKS bei vielenGelegenheiten bereits geschrieben hat, um unsere Sichtweise zu untermauern,dass für Marx und Engels - und im Besonderen für Luxemburg unter den Marxistender Nachfolgergeneration - das Problem der Unzulänglichkeit derkapitalistischen Märkte ein grundlegendes Problem war, das dem Prozess dererweiterten Reproduktion des Kapitals im Wege steht.
[5] Rosa Luxemburg, Antikritik, Gesammelte Werke Band 5 S. 427 f.
[6] Siehe besonders den Artikel, den derselbe Genosse in InternationaleRevue, Nr. 127 (eng., franz. und span. Ausgabe)verfasst hat, wo er - unter dem Untertitel „Die Identität der Analyse Rosas mitMarx" - sehr deutlich und gut dokumentiert demonstriert hat, dass die AnalyseLuxemburgs in Kontinuität mit jener von Marx steht.
[7] „Auch nachdem die Fundamente des Kapitalismus nach drei Jahrhundertender ursprünglichen Akkumulation (1500-1825) gesichert waren, im Grunde in dergesamten aufsteigenden Periode, bot dieses Milieu weiterhin eine ganze Reihevon Quellen des Profits, als Ventil für den Verkauf von Waren aus derÜberproduktion und als zusätzliche Quelle von Arbeitskräften."
[8] „Im 19. Jahrhundert, als die Kolonialmärkte am wichtigsten waren,wuchsen ALLE NICHT-kolonialen Länder schneller als die Kolonialländer (71%schneller im Durchschnitt). Diese Beobachtung ist in der gesamten Geschichtedes Kapitalismus zutreffend. Verkäufe ausserhalb des reinen Kapitalismusermöglichten es sicherlich individuellen Kapitalisten, ihre Waren zurealisieren, doch behinderten sie eine globale Akkumulation des Kapitalismus,da sie, wie die Waffen, materiellen Mitteln entsprechen, die den Kreislauf derAkkumulation verlassen."
[9] Bemerkenswerterweise Opium im Fall Chinas. Die äusserst„rechtschaffene" britische Bourgeoisie führte zwei Kriege, um die chinesischeRegierung zur Erlaubnis zu zwingen, ihre Bevölkerung mit britischem Opium zu vergiften.
[10] Das Kapital, Zweiter Band, I. Abschnitt „DieMetamorphosen des Kapitals und ihr Kreislauf", 4. Kapitel „Die drei Figuren desKreislaufsprozesses", MEW 24 S. 113
[11] Einfach ausgedrückt: Wenn die deutsche Industrie (keine Kolonien) diebritische Industrie (mit Kolonien) auf dem Weltmarkt hinter sich liess unddaher sich einer grösseren Wachstumsrate erfreute, dann deshalb, weil diedeutsche Industrie ebenfalls von den ausserkapitalistischen Märktenprofitierte, die vom britischen Imperialismus erobert worden waren.
[12] Nachdem die USA mit Lug und Trug sowie unter Zwang den MexikanernKalifornien (1845-47) und Texas (1836-45) abgenommen hatten, wurden dieseStaaten nicht in ein Kolonialreich einverleibt, sondern in das nationaleTerritorium der USA.
[13] Zum Beispiel der „Oklahoma Land Rush" von 1889: Das Rennen um das Landstartete am 22. April 1889 mittags mit geschätzten 50.000 Menschen, dieSchlange standen für einen Anteil an den zur Verfügung gestellten zweiMillionen Acres (8.000 Quadratkilometer).
[14] Die Geschichte der Entwicklung des Kapitalismus in den USA während des19. Jahrhunderts verdient an sich eine Reihe von Artikeln, und leider haben wirauch hier nicht den Platz, um mehr ins Detail zu gehen. Es lohnt sich fernerdarauf hinzuweisen, dass sich diese Mechanismen der kapitalistischen Expansionnicht auf die USA beschränkten, sondern - wie wir in Luxemburgs Einführungin die Nationalökonomie sehen können - auch präsentwaren in Russlands Expansion in den Osten und in der Einverleibung Chinas,Ägyptens und der Türkei, von denen keines jemals kolonialisiert worden war, indie kapitalistische Wirtschaft.
[15] Diese Konzentration hatte bereits in den Monroe-Doktrin ihren Ausdruckgefunden, die 1823 verabschiedet worden war und unmissverständlich feststellte,dass die USA den gesamten amerikanischen Kontinent, Nord und Süd, als ihreexklusive Interessenssphäre betrachteten - und der Monroe-Doktrin wurde durchwiederholte militärische Interventionen der USA in Lateinamerika Nachdruckverliehen.
[16] Zitiert beiHoward Zinn, A people'shistory of the United States (eigene Übersetzung).
[17] Die Einnahme der Philippinen, bei der die USA zunächst die spanischeKolonialmacht gewaltsam vertrieben und schliesslich einen fürchterlichen Krieggegen die philippinischen Insurrectos führten, ist ein besonders gelungenes Beispiel der kapitalistischenHeuchelei und Barbarei.
[18] Zinn, a.a.O.
[19] Ein Beispiel wird helfen, um dies zu veranschaulichen. 1805 war dieindustrielle Revolution in Grossbritannien bereits im Gange. Der Gebrauch derDampfkraft und der mechanisierten Textilproduktion hatte sich seit den 1770erJahren rapide verbreitet. Dennoch war im gleichen Jahr, als die Briten diefranzösischen und spanischen Flotten in der Schlacht von Trafalgar zerstörten,Nelsons Flagschiff HMS Victory fast fünfzig Jahre alt (das Schiff wurde nachEntwürfen gebaut, die 1756 gezeichnet wurden, und 1765 schliesslich vom Stapelgelassen). Man vergleiche dies mit der heutigen Lage, in der diefortgeschrittensten Technologien von der Rüstungsindustrie abhängig sind.
[20] Die Dekadenzbroschüre bringt dieses Phänomen - aus unserer Sicht zuRecht - mit dem wachsenden Militarismus in den „Drittwelt"-Ländern inZusammenhang.
[21] Man könnten auch die Eliminierung kleiner Händler in denfortgeschrittenen Ökonomien durch die Verbreitung von Supermärkten und derMassenvermarktung gewöhnlicher Haushaltsgegenstände (einschliesslich derErnährung natürlich) erwähnen, beides Phänomene, die sich in den 1950er und1960er Jahren auszubreiten begannen.
[22] Stalins Zwangskollektivierungsprogramm in der UdSSR in den 1930erJahren, Chinas Warlords und der Bürgerkrieg in den Zwischenkriegsjahren, dieUmwandlung der Bauernwirtschaften in Marktwirtschaften in Ländern wie Rumänien,Norwegen oder Korea, um sich der Forderungen des deutschen und japanischenImperialismus nach Nahrungsmittelautonomie zu erwehren, die katastrophalenAuswirkungen der Depression auf kleine Farmer in den USA (Oklohoma dust bowl),etc.
[23] Zahlen und Graphiken sind den US-Regierungsstatistiken entnommen undverfügbar unter: https://www.economagic.com [43] (Angaben ohne Gewähr). Wirkonzentrieren uns in diesem Artikel auf die US-Wirtschaft zum Teil deshalb,weil ihre Regierungsstatistiken leichter erhältlich sind, aber auch und vorallem wegen des erdrückenden Gewichts der US-Wirtschaft in der Weltwirtschaftin dieser Zeit.
[24] James T. Patterson, Grand Exspectations, S. 72.
[25] In der Tat existierten laut einer Studie (https://cedar.Barnard.columbia.edu/~econhist/papers/Hanes_sscale4.pdf [44]) in bestimmtenIndustrien in den USA und in Grossbritannien ab Mitte des 19. Jahrhunderts"gleitende" Lohnabkommen; erst nach dem Krieg wurden sie abgeschafft.
[26] Patterson, a.a.O. Dies war "eine der dramatischsten demographischenUmschichtungen in der modernen amerikanischen Geschichte".
[27] "Zwischen 1955 und 1971 zogen in Italien geschätzte neun MillionenMenschen von einer Region ihres Landes in eine andere (...) Sieben MillionenItaliener verliessen zwischen 1945 und 1970 ihr Land. In den Jahren 1950-1970verliess ein Viertel aller griechischen Arbeitskräfte ihr Land, um im AuslandArbeit zu finden (...) Es wird geschätzt, dass zwischen 1961 und 1974 anderthalbMillionen portugiesische Arbeiter Jobs im Ausland fanden - die grössteBevölkerungsbewegung in der Geschichte Portugals. Sie liessen gerade einmal 3,1Millionen Arbeitskräfte in Portugal zurück (...) Ab 1973 gab es allein inWestdeutschland fast eine halbe Million Italiener, 535.000 Jugoslawen und605.000 Türken." (Tony Judt, Postwar: a history of Europe since 1945, S. 334f., unsere Übersetzung ausdem Englischen)
[28] Die Vereinigten Staaten machten ungefähr 40 Prozent derWeltindustrieproduktion aus: 1945 produzierten allein die Vereinigten Staatendie Hälfte aller Kohle weltweit, zwei Drittel des Erdöls und die Hälfte derElektrizität. Hinzu kommt, dass die USA mehr als 80 Prozent derWeltgoldreserven hielten.
[29] Zinn (a.a.O.) zitiert einen Beamten aus dem State Department im Jahre1944: „Wie Sie wissen, planen wir nach dem Krieg eine enorme Steigerung derProduktion in diesem Land, und der amerikanische Heimatmarkt kann nichtunendlich all diese Produktion absorbieren. Es wird fraglos so sein, dass wirin stark wachsendem Masse der fremden Märkte bedürfen." (aus dem Englischen)
[30] Doch auch in den USA. Laut Zinn (a.a.O.S. 417): „Während des Krieges gab es vierzehntausend Streiks (in den USA) mit6.770.000 Arbeitern, mehr als in jedem anderen vergleichbaren Zeitraum in deramerikanischen Geschichte (...) Als der Krieg endete, setzten sich die Streiks inRekordhöhe fort - in der ersten Hälfte des Jahres 1946 drei Millionen Arbeiterim Streik."
[31] Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913, Kapitel „Der Militarismus auf dem Gebiet derKapitalakkumulation"
(unsere Hervorhebungen).
Am 6. März 1991 verkündete der damalige Präsident George Bush nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Sieg der Koalition im Irak vor dem US-Kongress die Schaffung einer „neuen Weltordnung", die sich auf den „Respekt des Völkerrechts" stütze. Diese neue Weltordnung sollte der Welt „Frieden und Wohlstand" bringen. Das „Ende des Kommunismus" bedeute den „endgültigen Triumph des liberalen Kapitalismus". Einige, wie der „Philosoph" Francis Fukuyama, sagten gar das „Ende der Geschichte" voraus. Aber die Geschichte, d.h. die wirkliche und nicht die der Propagandareden, hat den Schwindel dieser Scharlatane sehr schnell als lächerlich entblösst. Statt Frieden brach im Jahr1991 ganz im Gegenteil der Krieg im ehemaligen Jugoslawien aus, mit Hunderttausenden Toten im Herzen Europas, auf einem Kontinent, der seit mehr als einem halben Jahrhundert von dieser Geissel verschont geblieben war. Die Rezession von 1993, dann der Zusammenbruch der asiatischen „Tiger" und „Drachen"1997 und schliesslich eine neuerliche Rezession im Jahr 2002 setzten der durch die „Internetblase" aufgekommenen Euphorie ein Ende und kratzten beträchtlich an den Illusionen über den von Bush Senior angekündigten „Wohlstand". Heute dagegen zeichnen sich die offiziellen Reden der herrschenden Klasse dadurch aus, die Reden von gestern zu ignorieren. Zwischen 2003 und 2007 wareneuphorische Töne in den offiziellen Reden der Herrschenden zu vernehmen. Man feierte den Erfolg des „angelsächsischen Modells", das beispiellose Profite, beträchtliche Wachstumsraten des BIP und selbst einen bedeutsamen Rückgang der Arbeitslosigkeit ermöglichte. Man konnte die Triumphe der „liberalen Wirtschaft" und den Nutzen der „Deregulierung" nicht genügend loben. Doch seit dem Sommer 2007 und vor allem seit dem Sommer 2008 ist dieser Optimismus wie Schnee in der Sonne geschmolzen. Jetzt blenden die Herrschenden Begriffe wie„Wohlstand", „Wachstum", „Triumph des Liberalismus" in ihren Reden diskret aus. Am Tisch des grossen Banketts der kapitalistischen Wirtschaft hat sich nun ein Gast niedergelassen, den man für immer verbannt zu haben glaubte: die Krise, das Gespenst einer „neuen weltweiten Depression", ähnlich wie die der 1930erJahre.
2. Den Reden aller Verantwortlichen der herrschenden Klasse, aller„Wirtschaftsexperten", auch der bedingungslosesten Beweihräucherer des Kapitalismus zufolge ist die gegenwärtige Krise die schlimmste seit der grossen Depression, die 1929 ausgebrochen war. Die OECD meint: „Die Weltwirtschaft befindet sich inmitten der tiefsten Rezession, die wir zu unseren Lebzeiten je erlebt haben." (Zwischenbericht März 2009) Einige zögern nicht einmal, in Erwägung zu ziehen, dass sie noch schlimmer werden wird und dass der Grund, weshalb ihre Folgen nicht so katastrophal sein werden wie während der 1930erJahre, darin liege, dass seither die Führer der Welt aus dieser Erfahrung gelernt hätten und mittlerweile mit solchen Situationen umgehen könnten. Das werde insbesondere daraus ersichtlich, dass sie verhindert hätten, dass „jeder für sich handelt". „Obwohl dieser schwere weltweite Konjunkturabschwung von einigen bereits als ‘Grosse Rezession' bezeichnet wurde, sind wir weit davonentfernt, eine Wiederholung der Grossen Depression der 1930er Jahre zu erleben, was der Qualität und Intensität der gegenwärtig getroffenen staatlichen Massnahmen zu verdanken ist. Die Grosse Depression wurde durch verheerende wirtschaftspolitische Fehler verstärkt, von einer kontraktiven Geldpolitik bis hin zu einer Beggar-thy-Neighbour-Politik in Form einer protektionistischen Handelspolitik und eines Abwertungswettlaufs. Im Gegensatz hierzu hat die gegenwärtige Rezession alles in allem die richtigen Politikreaktionen ausgelöst." (ebenda) (www.oecd.org [45])
Auch wenn alle Teile der herrschenden Klasse die Tragweite der gegenwärtigen Erschütterungen der kapitalistischen Wirtschaft erkannt haben, sind ihre Erklärungen, die oft voneinander abweichen, selbstredend unfähig, die wahre Bedeutung dieser Erschütterungen und die Perspektive, die sich daraus für die gesamte Gesellschaft ergibt, zu begreifen. Einigen zufolge ist die „verrückte Finanzwelt" für die grossen Schwierigkeiten des Kapitalismus verantwortlich, d.h. die Tatsache, dass sich seit Anfang 2000 eine Reihe von „toxischen Finanzprodukten" entwickelt hat, die eine grenzenlose Krediterweiterung ohne ausreichende Zahlungsgarantien ermöglichte. Andere behaupten, dass der Kapitalismus international unter zu viel „Deregulierung" leide, eine Orientierung, die im Zentrum der „Reagonomics" Anfang der 1980er Jahre stand. Andere wiederum, insbesondere die Repräsentanten der Linken des Kapitals, beteuern, die eigentliche Wurzel liege in den zu niedrigen Einkommen der Beschäftigten, was diese insbesondere in den entwickeltsten Ländern dazu zwinge, die Flucht in eine noch grössere Verschuldung anzutreten, um ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Aber ungeachtet all der unterschiedlichen Auffassungen liegt ihre Gemeinsamkeit darin zu behaupten, nicht der Kapitalismus als Produktionsweise sei die Ursache, sondern diese oder jene Erscheinungsform des Systems. Gerade dieses Ausgangspostulat hindert all diese Interpreten daran, die wahren Ursachen der gegenwärtigen Krise und das, was auf dem Spiel steht, zu begreifen.
3. In Wirklichkeit kann man nur durch eine globale und historische Ansicht der kapitalistischen Produktionsweise begreifen, welche Konsequenzen und Perspektiven sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben. Auch wenn dies von allen „Wirtschaftsexperten" vertuscht wird, treten heute die Widersprüche des Kapitalismus offen zutage: die Überproduktionskrise des Systems, seine Unfähigkeit, die Masse der produzierten Waren zu verkaufen. Ergibt keine Überproduktion hinsichtlich der wirklichen Bedürfnissen der Menschheit, die noch weit davon entfernt sind, befriedigt zu werden. Es gibt nur Überproduktion im Verhältnis zu den zahlungsfähigen Märkten; das Geld zur Zahlung der Produkte ist nicht vorhanden. Die offiziellen Reden sowie die Massnahmen, die von den meisten Regierungen ergriffen werden, konzentrieren sich ausnahmslos auf die Finanzkrise, auf die Verhinderung des Bankrotts von Banken, aber in Wirklichkeit ist das, was die Kommentatoren (im Gegensatz zur„fiktiven Wirtschaft") die „reale Wirtschaft" nennen, dabei diese Tatsache zu verdeutlichen: Kein Tag vergeht, an dem nicht neue Werksschliessungen, Massenentlassungen, Pleiten von Industrieunternehmen angekündigt werden. Die Tatsache, dass General Motors, das jahrzehntelang das grösste Unternehmen der Welt war, sein Überleben nur der massiven Unterstützung des amerikanischen Staates verdankt, während Chrysler sich offiziell zahlungsunfähig erklärte und in die Hände der italienischen Firma Fiat fällt, spricht Bände über die tieferliegenden Probleme der kapitalistischen Wirtschaft. Der Rückgang des Welthandels, der zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg registriert wurde und von der OECD für 2009 mit -13.2 Prozent prognostiziert wird, zeigt die Unfähigkeit der Unternehmen, die entsprechenden Abnehmer für ihre Waren zu finden.
Die heute offensichtlich gewordene Überproduktionskrise ist keine einfache Folge der Finanzkrise, wie uns die meisten „Experten" weiszumachen versuchen. Sie hat ihren Ursprung in den inneren Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft selbst, wie es der Marxismus schon vor anderthalb Jahrhunderten aufgezeigt hat. Solange die Eroberung der Welt durch die kapitalistischen Metropolen andauerte, ermöglichten die neuen Märkte die vorübergehende Überwindung der Überproduktion. Aber sobald diese Eroberungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Ende gingen, hatten die Metropolen, insbesondere jene, die beim Run auf die Kolonien zuletzt auf den Zug aufgesprungen war, Deutschland, keine andere Wahl als die Einflussgebiete der Rivalen anzugreifen, was den Ersten Weltkrieg auslöste, lange bevor die Überproduktionskrise zum Ausbruch kam. Diese trat jedoch mit dem Krach von 1929 und der grossen Depression der 1930er Jahre voll ans Tageslicht, wodurch die kapitalistischen Grossmächte zur Flucht in den 2.Weltkrieg getrieben wurden, der den Ersten Weltkrieg hinsichtlich der Massaker und der Barbarei bei weitem übertraf. All die von den Grossmächten nach dem 2.Weltkrieg ergriffenen Massnahmen, insbesondere die Organisierung grosser Bereiche der Wirtschaft unter US-Vorherrschaft wie auf der Ebene der Währung(Bretton Woods) und die Einführung neokeynesianischer Massnahmen durch die Staaten sowie die positiven Auswirkungen der Entkolonisierung auf die Märkte ermöglichten dem Weltkapitalismus, nahezu drei Jahrzehnte lang die Illusion zu verbreiten, er habe letztendlich doch seine Widersprüche überwunden. Doch diese Illusion wurde 1974 durch den Ausbruch einer gewaltigen Rezession erschüttert, die sich besonders stark auf die USA auswirkte. Diese Rezession bildete dabei nicht etwa den Auftakt zu den grossen Kalamitäten des Kapitalismus, da ihr bereits die Krise von 1967 vorausgegangen war und auch der Dollar sowie das britische Pfund Sterling bereits in der Krise steckten, d.h. zwei Hauptwährungen des Bretton Woods-Systems. Schon Ende der 1960er Jahre hatte der Neokeynesianismus sein historisches Scheitern offenbart, wie es seinerzeit die Gruppen betonten, die später die IKS bilden sollten.
Aber für alle bürgerlichen Kommentatoren und die Mehrheit der Arbeiterklasse läutete erst das Jahr 1974den Beginn eines neuen Zeitalters des Kapitalismus nach dem Krieg ein, insbesondere nach dem Wiederauftauchen eines Phänomens, das man in den entwickelten Ländern endgültig gebannt geglaubt hatte – die Massenarbeitslosigkeit. Damals nahm auch die Flucht in die Verschuldung an Fahrt auf. Zu jener Zeit standen die Länder der Dritten Welt an der Spitze der höchstverschuldeten Staaten; sie bildeten eine Zeitlang die "Lokomotive" des Wiederaufschwungs. Zu Beginn der 1980er Jahre, mit dem Ausbruch der Schuldenkrise, ging diese Phase zu Ende, nachdem die Länder der Dritten Weltunfähig waren, ihre Schulden zurückzuzahlen, die es ihnen eine Zeitlangermöglicht hatten, als Absatzmarkt für die Produktion der grossen Industrieländer zu dienen. Aber die Flucht in die Verschuldung ging damit nicht zu Ende. Die USA lösten die anderen Länder als "Lokomotive" ab, allerdings zum Preis eines beträchtlichen Anstiegs ihres Handelsbilanzdefizits und vor allem ihres Haushaltsdefizits. Diese Politik konnten sie aufgrund der privilegierten Rolle ihrer nationalen Währung, des Dollars, als Weltleitwährung betreiben. Auch wenn Reagans Credo zur Liquidierung des Neokeynesianismus lautete: "Der Staat ist nicht die Lösung, er ist das Problem", bildete der amerikanische Staat auf Kosten gewaltiger Haushaltsdefizite die Hauptkraft in der US-Wirtschaft wie auch in der Weltwirtschaft. Aber die Politik der "Reagonomics", die zunächst von Margaret Thatcher in Grossbritannien inspiriert worden war, bedeutete im Wesentlichen den Abbau des "Wohlfahrtstaats", d.h. noch nie dagewesene Angriffe gegen die Arbeiterklasse, wodurch die galoppierende Inflation überwunden werden konnte, die den Kapitalismus seit Ende der 1970er Jahre geprägt hatte.
In den 1990er Jahren bildeten die asiatischen "Tiger" und "Drachen" eine der Lokomotiven der Weltwirtschaft ;dort wurden spektakuläre Wachstumszahlen verbucht, allerdings auf Kosten einer beträchtlichen Verschuldung, die 1997 zu grossen Erschütterungen führte. Gleichzeitig wurde das "neue" und "demokratische" Russland zahlungsunfähig; dies war insbesondere für jene, die "auf das Ende des Kommunismus" gesetzt hatten, um die Weltwirtschaft wieder anzukurbeln, eine gewaltige Enttäuschung. Die "Internetblase" Ende der 1990er Jahre, die in Wirklichkeit eine frenetische Spekulation mit den "High-Tech"-Firmen war, löste sich 2001–2002 auf und brachte damit den Traum einer Ankurbelung der Weltwirtschaft durch die Entwicklung neuer Technologien im Bereich Information und Kommunikation zu Ende. So wurde die Verschuldung erneut angefacht, insbesondere mittels einer gewaltigen Aufblähung der Immobilienkredite in vielen Ländern, insbesondere in den USA. Die USA spielten somit erneut die Rolle der "Lokomotive" der Weltwirtschaft, wieder zum Preis einer grenzenlosen Verschuldung – diesmal insbesondere der amerikanischen Bevölkerung –, die sich auf alle möglichen “Finanzprodukte" stützte, die Risiken der Zahlungsunfähigkeit vermeiden sollten. In Wirklichkeit hat die Streuung der zweifelhaften Kredite keineswegs die Gefahr aus der Welt geschafft, die von ihnen ausgeht, nämlich als Damoklesschwert über der US-Wirtschaft und der Weltwirtschaft insgesamt zuhängen. Im Gegenteil, es kam zu einer Anhäufung von "toxischen Aktiva" in den Vermögen der Banken, die schliesslich den Zusammenbruch 2007 allmählich auslösten.
4. So ist die Finanzkrise nicht die Wurzel der gegenwärtigen Rezession. Im Gegenteil, die Finanzkrise verdeutlicht nur die Tatsache, dass die Flucht in die Verschuldung, die die Überwindung der Überproduktion ermöglicht hatte, nicht endlos lange fortgesetzt werden kann. Früher oder später rächt sich dies in der "Realwirtschaft", d.h. was die Grundlagen der Widersprüche des Kapitalismus darstellt – die Überproduktion, die Unfähigkeit der Märkte, die Gesamtheit der produzierten Waren zu absorbieren. Diese Widersprüche treten dann wieder deutlich in Erscheinung.
Deshalb können die Massnahmen, die auf dem Gipfel der G20 in London im März 2009 beschlossen wurden – eine Verdoppelung der Reserven des Internationalen Währungsfonds, eine massive staatliche Unterstützung des zerbröckelnden Finanzsystems, eine Ermunterung der Staaten zu einer aktiven Ankurbelungspolitik auf Kosten einer spektakulären Erhöhung der Haushaltsdefizite – auf keinen Fall das grundlegende Problem lösen. Die Flucht in die Verschuldung ist eines der Merkmale für die Brutalität der gegenwärtigen Rezession. Die einzige "Lösung", die die herrschende Klasse umsetzen kann, ist eine weitere Flucht in die Verschuldung. Der G20-Gipfel konnte keine Lösung für die Krise erfinden, aus dem einfachen Grund, weil es keine Lösung für die Krise gibt. Seine Aufgabe war es, die Haltung des Jeder-für-sich zu vermeiden, die in den 1930er Jahren vorgeherrscht hatte. Ebenso wollte er ein wenig Vertrauen in die Träger der Wirtschaft schaffen, wohl wissend, dass das Vertrauen im Kapitalismus ein wesentlicher Faktor für einen zentralen Bestandteil seiner Funktionsweise ist: den Kredit. Diese Tatsache, dass man so stark das Element der "Psychologie" angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Erschütterungen und der materiellen Lage betont, verdeutlicht den zutiefst illusorischen Charakter der Massnahmen, die der Kapitalismus gegenüber der historischen Krise seiner Wirtschaft ergreifen kann. Auch wenn das kapitalistische System nicht wie ein Kartenhaus zusammenstürzen wird, auch wenn der Rückgang der Produktion nicht endlos weitergehen wird, bleibt es bei der Perspektive eines immer tieferen Versinkens in der historischen Sackgasse und der Vorbereitung von noch grösseren Erschütterungen als jene, die wir derzeit erleben. Seit mehr als vier Jahrzehnten hat sich die herrschende Klasse als unfähig erwiesen, die Zuspitzung der Krise zu verhindern. Heute ist die Lage viel verheerender als in den 1960er Jahren. Trotz all der Erfahrungen, die sie während all dieser Jahrzehnte gewonnen hat, kann die herrschende Klasse es nicht besser machen, sondern wird die Dinge nur noch schlimmer machen. Insbesondere die neokeynsianischen Massnahmen, die vom Londoner G20-Gipfel propagiert wurden (die gar bis zur Verstaatlichung von in Schwierigkeiten geratenen Banken gehen können) haben keine Aussicht darauf, den Kapitalismus irgendwie wieder "gesunden" zu lassen, denn der Beginn dieser grossen Schwierigkeiten Ende der 1960er Jahre war just auf das Scheitern dieser neokeynesianischen Massnahmen zurückzuführen, die nach dem 2. Weltkriegergriffen worden waren.
5. Während die brutale Zuspitzung der kapitalistischen Krise die herrschende Klasse sehr überrascht hat, gilt dies für die Revolutionäre keineswegs. In der Resolution, die von unserem letzten Internationalen Kongress noch vor dem Beginn der Panik im Sommer 2007 verabschiedet wurde, schrieben wir : "Schonjetzt lösen die Gewitterwolken, die sich im Immobiliensektor in den Vereinigten Staaten – einer wichtigen Triebkraft der nationalen Ökonomie – mit der Gefahr von katastrophalen Bankenpleiten zusammenbrauen, grosse Sorgen in den massgeblichen Wirtschaftskreisen aus" (Punkt 4, Internationale Revue Nr. 40,S. 10)
Dieselbe Resolution teilte auch nicht die grossen Erwartungen, die das "chinesische Wirtschaftswunder” hervorgerufen hatte: "Somit ist das ‘chinesische Wunder' und anderer Länder der Dritten Welt weit entfernt davon, einen ‘frischen Wind' für die kapitalistische Wirtschaft darzustellen. Es ist nichts anderes als eine Variante desniedergehenden Kapitalismus. Darüber hinaus stellt die extreme Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft einen empfindlichen Punkt im Falle eines Nachfragerückgangs dar, eines Rückgangs, der unweigerlich kommen wird, insbesondere wenn die amerikanische Wirtschaft gezwungen sein wird, etwas Ordnung in die schwindelerregende Schuldenwirtschaft zu bringen, die es ihr momentan erlaubt, die Rolle der ‘Lokomotive' der weltweiten Nachfrage zuspielen. So wie das ‘Wunder' der asiatischen ‘Tiger' und ‘Drachen', die durchzweistellige Wachstumsraten geglänzt hatten, 1997 ein schmerzhaftes Ende fand, wird das heutige ‘chinesische Wunder', auch wenn es andere Ursachen hat und über wesentliche ernsthaftere Trümpfe verfügt, früher oder später unweigerlich in der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise landen."(Punkt 6, ebenda, S. 11)
Der Rückgang des chinesischen Wachstums und die damit verbundene Explosion der Arbeitslosigkeit sowie die zwangsweise Rückkehr von Abermillionen Bauern, die in den Industriegürteln schufteten, um einer unsagbaren Armut zu entkommen, in ihre Dörfer, bestätigen diese Prognose vollauf.
Die Fähigkeit der IKS, das vorauszusehen, was dann eintrat, stellt kein "besonderes Verdienst" unserer Organisation dar. Das einzige "Verdienst" ist unsere Treue zur marxistischen Methode, die Fähigkeit, sie ständig bei der Analyse der Wirklichkeit anzuwenden, der Wille, den Sirenen standhaft zu widerstehen, die das “endgültige Scheitern des Marxismus" verkünden.
6. Die Aktualität des Marxismus zeigt sich nicht nur in den wirtschaftlichen Vorgängen dieser Gesellschaft. Bei der Verschleierungskampagne, die Anfang der Neunzigerjahre unternommen wurde, ging es im Kern um die angebliche Eröffnung einer Friedensepoche für die ganze Welt. Das Ende des „Kalten Krieges", das Verschwinden des Ostblocks, der seinerzeit von Reagan als das „Reich des Bösen” dargestellt wurde, sollte angeblich die diversen militärischen Konflikte beenden, zu denen seit 1947 die Konfrontation zwischen den beiden imperialistischen Blöcken geführt hatte. Entgegen solchen Illusionen über die Möglichkeit des Friedens innerhalb des Kapitalismus hat der Marxismus stets in Abrede gestellt, dass die bürgerlichen Staaten fähig seien, ihre wirtschaftlichen und militärischen Rivalitäten insbesondere in der Niedergangsperiode des Kapitalismus zu überwinden. Daher konnten wir schon im Januar 1990 schreiben:
„Das Verschwinden desrussischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen‚Hauptpartnern‘ von früher öffnet die Tür für das Aufbrechen von einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstösse können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (...). Weil die vom Block auferzwungene Disziplin nicht mehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist." (Internationale Revue Nr. 12„Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos") Die Weltlage bestätigte diese Analyse sehr schnell, insbesondere mit dem ersten Golfkrieg im Januar 1991 und dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien ab dem Herbstdesselben Jahres. Seitdem haben die blutigen und barbarischen Zusammenstösse nicht mehr aufgehört. Man kann sie hier nicht alle aufzählen, hier nur eine Auswahl von Kriegen:
– die Fortsetzung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, die 1999 zu einer direkten Intervention der USA und der wichtigsten europäischen Mächte, unter der Schirmherrschaft der NATO, führte;
– die zwei Kriege in Tschetschenien;
– die zahlreichen Kriege, die unaufhörlich den afrikanischen Kontinent verwüsten (Ruanda, Somalia, Kongo, Sudan usw.);
– die Militäroperationen von Israel gegen den Libanon und vor kurzem im Gazastreifen;
– der Krieg in Afghanistan von 2001;
– 2003 der Krieg im Irak, dessen Folgen weiterhin dramatisch auf diesem Land, aber auch auf der treibenden Kraft dieses Krieges, den USA, lasten.
Die Ausrichtung und die Auswirkungen der Politik dieser Supermacht sind von der IKS schon vor langer Zeitanalysiert worden:
„Zwar hat sich die akute Gefahr eines Weltkrieges vermindert, doch gleichzeitig fand eine wahre Entfesselung imperialistischer Rivalitäten und lokaler Kriege unter direkter Beteiligung der grösseren Mächte statt, allen voran der USA. Das weltweite Chaos, das seit dem Ende des Kalten Krieges um sich griff, zwang die USA, ihre Rolle als ‘Weltpolizist', die sie seit Jahrzehnten spielt, noch zu verstärken. Jedoch führt dies keineswegs zu einer Stabilisierung der Welt; den USA geht es nur noch darum, krampfhaft ihre führende Rolle aufrechtzuerhalten. Eine Führungsrolle, die vor allem durch die ehemaligen Verbündeten permanent in Frage gestellt wird, da die Grundvoraussetzung der ehemaligen Blöcke, die Bedrohung durch den anderen Block, nicht mehr existiert. In Ermangelung der ‘sowjetischen Gefahr' bleibt das einzige Mittel für die USA zur Durchsetzung ihrer Disziplin das Ausspielen ihrer grössten Stärke – der absoluten militärischen Überlegenheit. Dadurch wird die Politik der USA selbst zu einem der stärksten Zerrüttungsfaktoren der Welt." (Resolution des 17. Kongresses der IKS zur internationalen Lage, Punkt 7)
7. Dass der Demokrat Barrak Obama die Regierungsgeschäfte der führenden Weltmachtübernommen hat, hat viele Illusionen über eine mögliche Richtungsänderung ihrer Strategie hervorgerufen, eine Änderung, die ein „Friedenszeitalter" einläuten würde. Ein grundlegender Teil dieser Illusionen beruht auf den Tatsachen, dass Obama einer der wenigen Senatoren war, die gegen die Militärintervention in den Irak im Jahre 2003 stimmten, und dass er sich im Gegensatz zu seinem republikanischen Konkurrenten McCain zu einem Rückzug der amerikanischen Streitkräfte aus diesem Land verpflichtet hat. Doch diese Illusionen sind schnell mit den harten Tatsachen konfrontiert worden. So verfolgt Obama mit dem Rückzug der Truppen aus dem Irak lediglich den Zweck, sie dafür in Afghanistan und Pakistan einzusetzen. Im Übrigen wird die Kontinuität der Kriegspolitik der Vereinigten Staaten gut durch die Tatsache veranschaulicht, dass die neue Administration den von Bush ernannten Verteidigungsminister, Gates, übernommen hat.
In Wirklichkeit stellt die neue Ausrichtung der amerikanischen Diplomatie keineswegs den oben in Erinnerung gerufenen Rahmen in Frage. Sie verfolgt weiterhin das Ziel, mithilfeihrer militärischen Überlegenheit die Vorherrschaft der USA auf dem Planetenzurückzuerobern. So hat Obamas Orientierung zugunsten einer grösseren Rolle der Diplomatie hauptsächlich zum Ziel, Zeit zu gewinnen und somit den Zeitpunktunausweichlicher imperialistischer Interventionen der amerikanischen Truppenhinauszuschieben, die momentan zu zerstreut und erschöpft sind, um gleichzeitig Krieg im Irak und in Afghanistan zu führen.
Es gibt jedoch, wie die IKS oft unterstrichen hat, innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie zwei Optionen, um dieses Ziel zu erreichen:
– die von der demokratischen Partei vertretene Option, die versucht, andere Staaten in diese Unternehmung zu integrieren;
– die Mehrheitsoption unter den Republikanern, die darin besteht, durch Militärschläge die Initiative an sich zu reissen und sie den anderen Mächten um jeden Preis aufzuzwingen.
Die erste Option wurde insbesondere Ende der neunziger Jahre durch die Clinton-Regierung im ehemaligen Jugoslawien umgesetzt, als es dieser Administration gelang, die wichtigsten Mächte Westeuropas, insbesondere Deutschland und Frankreich, zur Kooperation und Teilnahme an den Bombardierungen Serbiens durch die NATO zu veranlassen, um diesen Staat zum Auszug aus dem Kosovo zu zwingen. Die zweite Option ist jene, die 2003 der Auslösung des Krieges gegen den Irak zugrunde lag, eines Krieges, der auf den entschlossenen Widerstand Deutschlands und Frankreichs stiess, die sich unter den damaligen Umständen mit Russland im UNO-Sicherheitsrat zusammentaten.
Doch bis heute war keine dieser beiden Optionen in der Lage, den Kurs zum weiteren Verlust der amerikanischen Vorherrschaft zu ändern. Die Politik der „gewaltsamen Durchsetzung", die besonders die zwei Amtszeiten von George Bush junior prägte, führte nicht nur zum irakischen Chaos, das weit davon entfernt ist, sich aufzulösen, sondern auch zu einer wachsenden Isolierung der amerikanischen Diplomatie, was insbesondere durch die Tatsache verdeutlicht wurde, dass einige Länder, wie Spanien und Italien, die die USA 2003 unterstützt hatten, das Schiff des irakischen Abenteuers verliessen (abgesehen von der etwas diskreteren Distanzierung der Regierung von Gordon Brown, jedenfalls im Vergleich zur bedingungslosen Unterstützung, die diesem Abenteuer von Tony Blair gewährt wurde). Umgekehrt sichert die Politik der „Kooperation", der die Demokraten den Vorzug geben, auch nicht wirklich die „Treue" der Mächte, die die USA an ihre kriegerischen Unternehmungen zu binden versuchen, und zwar insbesondere deshalb, weil sie diesen Staaten einen grösseren Spielraum lässt, um ihre eigenen Interessen geltend zu machen.
So hat jetzt zum Beispiel die Obama-Regierung beschlossen, eine konziliantere Politik gegenüber dem Iran zu verfolgen und eine strengere Haltung gegenüber Israel einzunehmen, zwei Leitlinien, die im Sinn der Mehrzahl der Staaten der Europäischen Union sind, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, zweier Länder, die wünschen, einen Teil des Einflusses zurückzugewinnen, den sie in der Vergangenheit im Iran und im Irak gehabt haben. Damit wird aber diese Neuorientierung nicht verhindern, dass wichtige Interessenkonflikte zwischen diesen zwei Ländern einerseits und den Vereinigten Staaten andererseits fortbestehen, insbesondere in Osteuropa (wo Deutschland versucht, „bevorzugte" Beziehungen mit Russland zu pflegen) oder Afrika (wo die beiden Fraktionen, die den Kongo im Blut ertränken, die jeweilige Unterstützung Frankreichs bzw. der USA geniessen).
Allgemeiner gesagt, hat die Auflösung der Blockkonstellation zum Auftauchen aufstrebender, zweitrangiger Imperialisten geführt, die die neuen Vorreiter bei der Destabilisierung der internationalen Lage bilden. Dies lässt sich am Beispiel des Irans aufzeigen, der eine Vormachtstellung im Nahen und Mittleren Osten unter der Fahne des„Widerstandes" gegen den „grossen amerikanischen Satan" und des Kampfes gegen Israel anstrebt. Mit sehr viel beträchtlicheren Mitteln zielt China darauf ab, seinen Einfluss auf andere Kontinente auszudehnen, insbesondere auf Afrika, womit seiner wachsenden wirtschaftlichen Präsenz auch eine diplomatische und militärische Etablierung in dieser Region der Welt einhergeht, wie es bereits im Krieg im Sudan deutlich wurde.
Somit unterscheidet sich die Perspektive, vor der die Welt nach der Wahl von Obama zum Präsidenten der grössten Weltmacht steht, nicht grundsätzlich von der Lage, die bis heute vorgeherrscht hat: fortgesetzte Konfrontationen zwischen erst– und zweitrangigen Imperialisten, fortdauernde kriegerische Barbarei mit immer tragischeren Folgen für die direkt betroffene Bevölkerung (Hungersnöte, Epidemien, Flüchtlingsströme). Es ist sogar zu erwarten, dass die Unbeständigkeit, die die beträchtliche Verschlimmerung der Krise in einer ganzen Reihe von Ländern der Peripherie verursachen wird, zu verstärkten Zusammenstössen zwischen den militärischen Cliquen in diesen Ländern führen wird – bei denen wie immer die verschiedenen imperialistischen Grossmächtekräftig mitmischen werden. Angesichts dieser Lage werden Obama und seine Administration nichts anderes tun können, als die kriegstreiberische Politikihrer Vorgänger fortzusetzen, wie wir es am Beispiel von Afghanistan sehen, eine Politik, die gleichbedeutend ist mit wachsender kriegerischer Barbarei.
Die Beschleunigung der Umweltzerstörung
8. So wenig die „guten Absichten", die Obama auf diplomatischer Ebene bekundet hat, das militärische Chaos eindämmen oder die Nation, an deren Spitze er steht, daran hindern werden, ein aktiver Faktor in diesem Chaos zu sein, wird die amerikanische Neuorientierung, die er heute im Bereich des Umweltschutzes ankündigt, die Verschlimmerung der Lage in diesem Bereich aufhalten. Diese Verschlechterung ist keine Frage des guten oder bösen Willens der Regierungen, so mächtig sie auch sein mögen. Jeder Tag, der vergeht, offenbart ein wenig mehr von der echten Umweltkatastrophe, die den Planeten bedroht: immer gewaltigere Orkane in Ländern, die bis vor kurzem davon verschont geblieben waren, Trockenheit, Hitzewellen, Überschwemmungen, Schmelzen des Packeises, Länder, die in den Fluten des ansteigenden Meeres zu versinken drohen ... die Perspektiven werden immer finsterer. Diese Zerstörung unserer Umwelt führt zu einer weiteren Zuspitzung der kriegerischen Zusammenstösse; insbesondere die versiegenden Trinkwasserreserven werden einen Krisenherd in künftigen Konflikten darstellen.
Wie es die Resolution des letzten internationalen Kongresses unterstrich:
„Wie die IKS schon vor mehr als 15 Jahren hervorgehoben hat, bedeutet der zerfallende Kapitalismus eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit. Die von Engels Ende des 19.Jahrhunderts formulierte Alternative ‘Sozialismus oder Barbarei' ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrecklichen Realität geworden. Was uns das 21.Jahrhundert in Aussicht stellt, ist in der Tat ‘Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit'. Und das ist die Herausforderung, vor der die einzige Klasse in der Gesellschaft steht, die den Kapitalismus überwinden kann, die Arbeiterklasse."(Punkt 10)
9. Diese Fähigkeit der Arbeiterklasse, der Barbarei des zerfallenden Kapitalismus ein Ende zu setzen, um aus der Vorgeschichte herauszugelangen und die Tür zum “Reich der Freiheit" zu öffnen, wie es Engels ausdrückte, bildet sich schonheute in den täglichen Kämpfen gegen die kapitalistische Ausbeutung. Nach demZusammenbruch des Ostblocks und der so genannten „sozialistischen Länder", den ohrenbetäubenden Kampagnen vom „Ende des Kommunismus", wenn nicht gar vom „Ende des Klassenkampfes", haben zu einem schweren Rückschlag des Bewusstseins und des Kampfgeistes geführt – einen Rückschlag, dessen Folgen zehn Jahre andauerten. Erst ab 2003 hatte das Proletariat, wie die IKS wiederholt unterstrich, diese Tendenz überwunden und erneut den Weg des Kampfes eingeschlagen, um sich gegen die kapitalistischen Angriffe zu wehren. Seither ist die neue Tendenz nicht umgedreht worden, und in den zwei Jahren seit unserem letzten Kongress sahen wir in allen Teilen der Erde die Fortsetzung von bedeutenden Kämpfen. Bei verschiedenen Gelegenheiten konnte man sogar eine Simultanität von wichtigen Kämpfen auf Weltebene beobachten. Anfang 2008 gab es in folgenden Ländern zeitgleich Kämpfe: Russland, Irland, Belgien, Schweiz, Italien, Griechenland, Rumänien, Türkei, Israel, Iran, Bahrain, Tunesien, Algerien, Kamerun, Swaziland, Venezuela, Mexiko, die USA, Kanada und China.
Die vergangenen Jahren waren Zeuge sehr bedeutender Klassenkämpfe. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wollen wir folgende Beispiele aufzählen:
– die grossen Streiks in der ägyptischen Textilindustrie im Sommer 2007, mit denen sich zahlreiche andere Sektoren (Hafenarbeiter, Krankenhäuser, Transportwesen) solidarisierten.
– der Streik der Bauarbeiter in Dubai im November 2007 (hauptsächlich Migranten) mit massiven Mobilisierungen.
– ein sehr kämpferischer Streik der Bahnarbeiter in Frankreich im November 2007, ausgelöst durch die Angriffe gegen die alten Rentenregelungen, wobei es Beispiele der Solidarisierung mit Studierenden gab, die gleichzeitig gegen die Versuche der Regierung mobilisierten, die gesellschaftliche Trennung an den Universitäten weiter voranzutreiben – ein Streik, der die Sabotagerolle der grossen Gewerkschaftsverbände, namentlich der CGT und der CFDT, entlarvte, so dass die Bourgeoisie gezwungen wurde, das Bild ihres Apparates zur Kanalisierung der Arbeiterkämpfe aufzupolieren.
– gegen Ende 2007der einmonatige Streik von 26.000 Arbeitern der Türk Telekom, die wichtigste Mobilisierung des türkischen Proletariats seit 1991, und dies, während die türkische Armee in eine Intervention im Irak verwickelt war.
– in Russland im November 2008, wo der wichtige Streik der Arbeiter der Ford-Werke in St.Petersburg stattfand, der die Fähigkeit unter Beweis stellte, der Einschüchterung durch die Polizei und den Geheimdienst FSB (ehemaliger KGB) zu trotzen.
– in Griechenland gegen Ende 2008, als in einem Klima grosser Unzufriedenheit, das sich bereits zuvor geäussert hatte, die Arbeiterklasse den Mobilisierungen der Studenten, von denen Teile die offiziellen Gewerkschaften in Frage stellten, gegen die Repression eine tiefe Solidarität entgegenbrachte; eine Solidarität, die nicht in den Grenzen des Landes gefangen blieb, sondern ein grosses Echo in vielen Ländern Europas auslöste.
– in Grossbritannien, wo der Streik der Lindsay-Raffinerie Anfang 2009 eine der wichtigsten Bewegungen der Arbeiterklasse in Grossbritannien seit zwei Jahrzehnten darstellte – einer Arbeiterklasse, die in den 80er Jahren grosse Niederlagen einstecken musste. Diese Bewegung zeigte die Fähigkeit der Arbeiterklasse, die Kämpfe auszuweiten, und es gab Anzeichen einer Konfrontation mit dem bleiernen Nationalismus, als sich britische und ausländische (polnische und italienische) Arbeiter in Solidaritätsdemonstrationen zusammenfanden.
10. Die gegenwärtige Zuspitzung der Krise des Kapitalismus bildet ein wichtiges Element in der Entwicklung der Kämpfe der Arbeiterklasse. Schon jetzt ist die Arbeiterklasse weltweit mit massiven Entlassungen und einer steigenden Arbeitslosigkeit konfrontiert. Das Proletariat macht auf eine enorm konkrete Art und Weise seine Erfahrungen mit der Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, auch nur die grundlegenden Lebensbedingungen der Arbeiter, die es ausbeutet, aufrechtzuerhalten. Noch schlimmer, der Kapitalismus ist immer weniger im Stande, den neuen Generationen der Arbeiterklasse eine Zukunft anzubieten, was nicht nur für die Jungen selber, sondern auch für deren Eltern einen Faktor der Angst und Perspektivlosigkeit darstellt. Damit reifen die Bedingungen für eine mögliche Verbreitung der Einsicht in den Reihen des Proletariates, dass der Kapitalismus überwunden werden muss. Doch es genügt nicht, wenn die Arbeiterklasse feststellt, dass der Kapitalismus in einer Sackgasse steckt und einer anderen Gesellschaft Platz machen sollte, damit sie in die Lage versetzt wird, sich eine revolutionäre Perspektive zu geben. Es braucht auch die Überzeugung, dass eine solche Perspektive möglich ist und dass die Arbeiterklasse die Kraft hat, sie umzusetzen. Genau auf dieser Ebene hat die herrschende Klasse nach dem Zusammenbruch des angeblichen „Realsozialismus" eine wirkungsvolle Kampagne gegen die Arbeiterklasse geführt. Einerseits hat sie die Meinung verbreitet, der Kommunismus sei ein leerer Traum: „Der Kommunismus funktioniert nicht. Der Beweis dafür ist die Tatsache, dass er durch die Leute, die darin gelebt haben, zugunsten des Kapitalismus wieder abgeschafft wurde.” Andererseits ist es der herrschenden Klasse gelungen, innerhalb der Arbeiterklasse ein starkes Gefühl der Machtlosigkeit und der Unfähigkeit, selbst massive Kämpfe führen zu können, zu verbreiten. Diesbezüglich unterscheidet sich die heutige Situation sehr stark von derjenigen vor dem historischen Wiederauftauchen der Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre. Damals zeigten die massiven Arbeiterkämpfe, vor allem der gewaltige Streik im Mai 1968 in Frankreich und der Heisse Herbst in Italien 1969, dass die Arbeiterklasse innerhalb der Gesellschaft eine bestimmende Kraft sein kann und die Idee der Überwindung des Kapitalismus durch sie nicht nur unrealisierbare Träume sind. Doch da die Krise des Kapitalismus erst an ihrem Anfang stand, fehlte dem Bewusstsein über die absolute Notwendigkeit, das System zu überwinden, noch die materielle Grundlage zur Verbreitung in der Arbeiterklasse. Man kann diese Situation wie folgt zusammenfassen: Ende der 1960er Jahre mochte die Idee, dass die Revolution möglich ist, relativ verbreitet gewesen sein, aber die Idee, dass die Revolution unabdingbar ist, drängte sich noch nicht auf. Demgegenüber findet heute die Idee, dass die Revolution nötig ist, ein beträchtliches Echo, aber die Idee, dass sie auch möglich ist, ist ausserordentlich selten anzutreffen.
11. Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in der Arbeiterklasse wirklich Wurzeln schlagen kann, muss Letztere Vertrauen in ihre eigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Der gewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, bildet eine objektive Grundlage für solche Kämpfe. Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden – Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe zunächst zuwider. Im Allgemeinen – und dies hat sich in den letzten vierzig Jahren immer wieder gezeigt – finden die wichtigsten Kämpfe nicht in Zeiten eines starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit statt. Die Massenentlassungen und die Arbeitslosigkeit haben die Tendenz, momentan eine gewisse Lähmung der Klasse hervorzurufen. Diese sieht sich durch die Unternehmer erpresst: „Wenn ihr nicht zufrieden seid – es stehen viele andere Arbeiter bereit, um euch zu ersetzen." Die Bourgeoisie kann diese Lageausnutzen, um eine Spaltung der Arbeiterklasse zu bewirken, d.h. eine Gegenüberstellung zwischen denen, die ihre Arbeit verlieren, und denen, die das„Privileg" haben, sie zu behalten. Zudem verstecken sich die Unternehmen und die Regierungen hinter einem „entscheidenden" Argument: „Wir können nichts dafür, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt und ihr entlassen werdet: Die Krise ist schuld." Schliesslich wird die Waffe des Streiks angesichts von Fabrikschliessungen stumpf, was das Gefühl der Ohnmacht der Arbeiter verstärkt. Zwar können angesichts einer historischen Situation, in der das Proletariat keine entscheidende Niederlage eingesteckt hat – im Gegensatz zur Lage in den1930er Jahren -, Massenentlassungen, die bereits begonnen haben, durchaus sehr harte Kämpfe, wenn nicht gar Gewaltausbrüche hervorrufen. Doch zunächst werden es aller Voraussicht nach verzweifelte und vergleichsweise isolierte Kämpfe sein, auch wenn ihnen andere Teile der Arbeiterklasse ehrliche Sympathieentgegenbringen. Selbst wenn es also in der nächsten Zeit keine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wir nicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zu kämpfen. Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsenkann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen Arbeiterinnen bezahlen zulassen -, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in grösserem Ausmass entwickeln können. Das bedeutet nicht, dass die Revolutionäre bei den gegenwärtigen Kämpfen abseits stehen sollten. Vielmehr sind diese Teil der Erfahrungen, die das Proletariat machen muss, um eine neue Stufe im Kampf gegen den Kapitalismus zu nehmen. Und es gehört zu den Aufgaben der kommunistischen Organisationen, in diesen Kämpfen die allgemeine Perspektive des proletarischen Kampfes und die folgenden Schritte, die in diese Richtung unternommen werden müssen, voran zustellen.
12. Der Weg, der uns zu revolutionären Kämpfen und zum Umsturz des Kapitalismusführt, ist lang und schwierig. Zwar erweist sich die Frage des Umsturzes mit jedem Tag dringlicher, doch die Arbeiterklasse wird noch wichtige Hürden nehmen müssen, ehe sie in der Lage sein wird, diese Aufgabe zu erfüllen:
– die Wiedererlangung der Fähigkeit, ihre Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen, denn gegenwärtig sind die meisten Kämpfe, insbesondere in den entwickelten Ländern, unter der festen Kontrolle der Gewerkschaften (im Gegensatz zu dem, was wir im Laufe der 1980er Jahre erlebten);
– die Entwicklung ihrer Fähigkeit, die bürgerlichen Manöver und Fallen zu durchschauen, die den Weg zu Massenkämpfen verbauen, und die Wiedergewinnung des Selbstvertrauens, denn der Massencharakter der Kämpfe Ende der 1960er Jahre lässt sich zu einemguten Teil dadurch erklären, dass die Bourgeoisie damals, nach Jahrzehnten der Konterrevolution, überrascht war, was heute offensichtlich nicht mehr der Fall ist;
– die Politisierung ihrer Kämpfe, das heisst die Fähigkeit, sie in ihrer geschichtlichen Dimension zu sehen, sie als ein Moment im langengeschichtlichen Kampfes des Proletariats gegen die Ausbeutung und für die Abschaffung derselben zu begreifen.
Diese Etappe ist offensichtlich die schwierigste, namentlich aufgrund:
– des Bruchs, den die Konterrevolution in der ganzen Arbeiterklasse bewirkt hat, zwischen den Kämpfen der Vergangenheit und den gegenwärtigen Kämpfen;
– des organischen Bruchs in der Kontinuität der revolutionären Organisationen, der Ergebnisdieser Situation war;
– des Rückflusses des Bewusstseins in der gesamten Klasse infolge des Zusammenbruchs des Stalinismus;
– des drückenden Gewichts des Zerfalls des Kapitalismus auf das Bewusstsein des Proletariats;
– der Fähigkeit der herrschenden Klasse, Organisationen aus dem Hut zu zaubern (wie die Neue Antikapitalistische Partei NPA in Frankreich oder Die Linke in Deutschland),deren Geschäft darin besteht, den Platz der stalinistischen Parteien, die heute verschwunden oder altersschwach geworden sind, oder der Sozialdemokratie einzunehmen, die nach mehreren Jahrzehnten des kapitalistischen Krisenmanagements entlarvt dasteht – neue Organisationen, die wegen ihrer Unverbrauchtheit in der Lage sind, wesentliche Mystifikationen innerhalb der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten.
Die Politisierung der Kämpfen des Proletariats steht faktisch in Zusammenhang mit einer entwickelten Präsenz der kommunistischen Minderheit in den Kämpfen. Die Feststellung, wie schwach die gegenwärtigen Kräfte des internationalistischen Milieus sind, ist ein Hinweis auf die Länge des Weges, den es noch zu beschreiten gilt, bis die Arbeiterklasse revolutionäre Kämpfe entfachen kann und ihre Weltparteihervorbringt, das wesentliche Organ, ohne das der Sieg der Revolution unmöglich ist.
Der Weg ist lang und schwierig, aber das soll die Revolutionäre nicht entmutigen, soll sie nicht in ihren Bemühungen um den proletarischen Kampf lähmen. Ganz im Gegenteil!
Diese Ereignisse wurden von der herrschendenKlasse dazu verwendet, eine der massivsten und bösartigsten je gegen dieArbeiterklasse geführten ideologischen Kampagnen zu entfesseln. Noch einmalwurde lügnerisch der zusammenbrechende Stalinismus mit dem Kommunismusgleichgesetzt und der ökonomische Niedergang und die Barbarei derstalinistischen Regime als das Resultat der proletarischen Revolution dargestellt.Die herrschende Klasse wollte damit dem Proletariat jegliche revolutionärePerspektive rauben und den Kämpfen der Arbeiterklasse einen vernichtendenSchlag versetzen.
Gleichzeitig liess die Bourgeoisie eine zweitegrosse Lüge vom Stapel: Mit dem Untergang des Stalinismus trete derKapitalismus in eine Ära des Friedens und der Prosperität ein und könne nunendlich aufblühen. Sie versprach eine strahlende Zukunft.
Am 6. März 1991 verkündete der Präsident der USA George Bushsen. berauscht vom Sieg seiner Armee über Saddam Hussein das Anbrechen einer„neuen Weltordnung" und die Zukunft einer „Welt der Vereinten Nationen, die,befreit von der Sackgasse des Kalten Krieges, auf dem Weg sind, diehistorischen Visionen ihrer Gründer zu realisieren. Eine Welt, in der dieFreiheit und die Menschenrechte von allen Nationen respektiert werden."
Zwanzig Jahre danach könnte man darüber fast lachen, hättennicht das weltweite Chaos und die zunehmenden Konflikte in allen Teilen derErde, die sich seit jenem berühmten Ausspruch ereigneten, dermassen viel Todund Zerstörung mit sich gebracht. Diese Bilanz sieht 20 Jahre danach bitteraus.
Von einer Prosperität kann keine Rede sein. Seit Sommer 2007und verstärkt seit Sommer 2008 „blenden die Herrschenden Begriffe wie „Wohlstand",„Wachstum", „Triumph des Liberalismus" in ihren Reden diskret aus. Am Tisch desgrossen Banketts der kapitalistischen Wirtschaft hat sich nun ein Gastniedergelassen, den man für immer verbannt zu haben glaubte: die Krise, dasGespenst einer „neuen weltweiten Depression", ähnlich wie die der 1930erJahre."[1]Gestern bedeutete der Zusammenbruch des Stalinismus den Triumph des liberalenKapitalismus. Heute ist es derselbe Liberalismus, welcher sich von Seiten derSpezialisten und Politiker aller Übel beschuldigt sieht, selbst von denen, dieeinst seine bedingungslosesten Verteidiger waren wie der französische PräsidentSarkozy!
Man kann sich die Daten von Jahrestagen nicht auswählen, undklar ist, dass dieser hier für die herrschende Klasse kein guter ist. Wenn siebei der jetzigen Gelegenheit keine grosse Kampagne über den „Tod desKommunismus" und das „Ende des Klassenkampfes" vom Stapel lässt, dann nichtdeshalb, weil es ihr an Missgunst fehlen würde, sondern wegen der desolatenLage des Kapitalismus, die sie der Gefahr aussetzt, dass der letzte Schein umihre ideologischen Gebilde durchschaut wird. Aus diesem Grunde hat uns dieherrschende Klasse mit grossen Zeremonien über den Zusammenbruch der „letztenTyrannei" und den grossen Sieg der „Freiheit" verschont. Abgesehen von einigenernsten historischen Beschwörungen gibt es keine Euphorie und keineÜberschwänglichkeit.
Auch wenn der Frieden und die Prosperität, die uns derKapitalismus offenbar hätte bringen müssen, nicht Wirklichkeit wurden, soerscheint die heutige Barbarei und Misere in den Augen vieler Ausgebeuteternoch keinesweg als direkte Konsequenz der unüberwindbaren Widersprüche deskapitalistischen Systems. Die Propaganda der Bourgeoisie, die heute viel mehrauf die Notwendigkeit der „Humanisierung" und „Reformierung" des Kapitalismusausgerichtet ist, verfolgt die Absicht grösstmöglichste Barrieren gegen dieBewusstseinsentwicklung der Ausgebeuteten über die Realität zu errichten. DieWirklichkeit hat aber auch die andere Seite der Lüge, die Gleichsetzung desStalinismus mit dem Kommunismus, nicht wirklich aufgelöst und sie lastet nochimmer auf den Schultern der heutigen Generationen - auch wenn dies nicht imselben abstumpfenden Ausmass wie in den 1990er Jahren der Fall ist. Es istdaher wichtig, einige historische Tatsachen in Erinnerung zu rufen.
„Die weltweite Krise des Kapitalismus wirkt sich mit einerbesonderen Brutalität auf die Wirtschaft (der Staaten des Ostblocks) aus, dienicht nur rückständig, sondern auch unfähig ist, sich der Verschärfung derKonkurrenz innerhalb des Kapitals anzupassen. Der Versuch, „klassische" Normender kapitalistischen Zwangsverwaltung einzuführen anstelle der Steigerung derProduktivität, führt zu nichts anderem als einem noch grösseren Wirrwarr, fürdas in der UdSSR das Scheitern der „Perestroika" ein gutes Beispiel ist. (...)Die Perspektive aller stalinistischen Regime ist nicht die einer „friedlichenDemokratisierung" und auch nicht einer Straffung der Wirtschaft. Mit derVerschärfung der weltweiten Krise des Kapitalismus sind diese Länder in einePhase von Unruhen eingetreten, die auch in ihrer an gewalttätigen Ereignissen„reichen" Vergangenheit unbekannt sind." (Kapitalistischen Erschütterungen undKlassenkämpfe" (7.9.1989, Internationale RevueNr. 59, engl./franz./span. Ausgabe)
Diese katastrophale Situation in den Ländern des Ostblockshinderte die herrschende Klasse damals nicht daran, sie als immense neu zuerobernde Märkte darzustellen, da sie nun vom Joch des „Kommunismus" befreitseien. Es gelte dort eine moderne Ökonomie zu entwickeln, die die Aufgabe habe,die Auftragsbücher der westlichen Firmen für Jahrzehnte zu füllen. Die Realitätwar eine ganz andere: Es gab gewiss viel aufzubauen, doch niemanden, der esbezahlen konnte.
Der erwartete Boom im Osten trat nicht ein. Dafür wurdenumgekehrt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die im Westen auftraten,skrupellos auf das Konto der nötigen Anpassung der rückständigen Länder desehemaligen Ostblocks geschoben. Dies war beispielsweise der Fall mit derInflation, die in Europa kaum zu kontrollieren war. Die Lage spitzte sich nichtviel später in der offenen Rezession von 1993 auf dem alten Kontinent zu[2].So änderte der neue Weltmarkt, in den nun die Länder Osteuropas vollständigintegriert waren, nicht das Geringste an den Grundgesetzmässigkeiten desKapitalismus. So nahm insbesondere die Verschuldung einen immer umfangreicherenPlatz bei der Finanzierung der Wirtschaft ein, wodurch diese angesichts jederDestabilisierung immer brüchiger wurde. Die Illusionen der Bourgeoisieverflüchtigten sich schnell, als sie mit der harten wirtschaftlichen Realitätihres Systems konfrontiert wurde. So knickte im Dezember 1994 Mexiko unter demZustrom der Spekulanten ein, die aus dem krisengeschüttelten Europa abgezogenwaren: Der Peso brach zusammen und drohte, einen grossen Teil derVolkswirtschaften des amerikanischen Kontinents mitzureissen. Die Drohung warreal und wurde verstanden. Eine Woche nach Ausbruch der Krise mobilisierten dieUSA 50 Milliarden Dollar, um die mexikanische Währung damit zu stützen. Damalsschien dieser Betrag immens ... Zwanzig Jahre später sollten es vierzehn Mal mehrsein, die die USA für ihre eigenen Wirtschaft aufbringen sollten!
Ab 1997 Neuauflage in Asien. Diesmal waren es die Währungender südostasiatischen Länder, die massiv an Wert verloren. Die berühmten Tigerund Drachen, Vorzeigeländer der wirtschaftlichen Entwicklung, Schaufenster der„Neuen Weltordnung", wo der Fortschritt selbst für die kleinsten Länder möglichschien, erfuhren ebenfalls die Härte des kapitalistischen Gesetzes.
Die Anziehungskraft dieser Volkswirtschaften hatte eineSpekulationsblase gefüllt, die Anfang 1997 platzte. In weniger als einem Jahrwaren alle Länder der Region betroffen. In der gleichen Zeit wurden 24Millionen Menschen arbeitslos. Aufstände und Plünderungen breiteten sich aus,dabei starben 1200 Personen. Selbstmorde nahmen rapide zu. Ab dem folgendenJahr wurde festgestellt, dass eine Ansteckungsgefahr auf Weltebene bestand,ernsthafte Schwierigkeiten entstanden in Russland.
Das asiatische Modell, der berühmte „dritte Weg", wurde nebendem „kommunistischen" Modell begraben. Es musste etwas Neues gefunden werden,um zu beweisen, dass der Kapitalismus der einzige Schöpfer des Reichtums aufErden sei. Dieses neue Wundermittel war das Internet. Wenn sich in derwirklichen Welt alles auflöst, so lasst uns in die virtuelle investieren! Wennden Reichen Geld zu leihen nicht mehr genügt, so lasst es uns denen leihen, dieuns versprechen, reich zu werden! Der Kapitalismus hat Angst vor der Leere,insbesondere vor derjenigen in der Geldbörse, und wenn die Weltwirtschaftunfähig zu sein scheint, immer grössere Profite anzubieten, um auf dieunersättlichen Bedürfnisse des Kapitals zu antworten, wenn keine Rentabilitätmehr zu finden ist, erfindet man einfach einen neuen Markt aus freien Stücken.Das System sollte noch einmal während einer gewissen Zeit weiterfunktionieren,indem sich die Wetten auf die Aktienkurse, die keinen vernünftigen Bezug mehrzur Realität hatten, breit machten. Unternehmen, die Verluste in Millionenhöheerlitten, hatten auf dem Markt einen Wert von mehreren Milliarden Dollar. DieBlase war geschaffen, sie wuchs bereits. Der Wahnsinn bemächtigte sich einerBourgeoisie, die sich Illusionen hingab über die langfristigeDauerhaftigkeit der „Neuen Ökonomie" unddamit auch die „alte" angriff. Die traditionellen Sektoren der Wirtschaftmachten auch mit, sie hofften damit eine Rentabilität zurück zu gewinnen, diesie in ihrem herkömmlichen Tätigkeitsbereich verloren hatten. Die „NeueÖkonomie" drang in die alte ein[3],und sie sollte sie beim Absturz mitreissen.
Der Sturz tat weh. Der Zusammenbruch eines solchen Konstrukts,das auf nichts anderem beruhte als dem gegenseitigen Vertrauen allerBeteiligten, dass niemand versage, konnte nur brutal sein. Der Platzen derBlase führte zu Verlusten von 148 Milliarden Dollar in den Unternehmen derBranche. Die Pleiten breiteten sich aus, die Überlebenden berichtigten den Wertihrer Aktiven um Hunderte von Milliarden Dollar. Mindestens 500 000Arbeitsplätze wurden in der Telekommunikationsbranche gestrichen. Die „NeueÖkonomie" erwies sich schliesslich als nicht fruchtbarer wie die alte, und dieGuthaben, die gerade noch rechtzeitig dem Untergang entronnen waren, suchtensich eine neue Anlagesphäre.
Und die Wahl traf auf die Immobilienbranche. Denn die Fragestellte sich ernsthaft: Wem konnte man noch Geld leihen, nachdem man es schonmit Ländern getan hatte, die über ihren Verhältnissen lebten, nachdem man dasGeld Unternehmen geliehen hatte, die auf Sand, ja Wind gebaut waren? DieBourgeoisie kennt keine Grenzen bei ihrem Profithunger. Das gute alte Sprichwort,dass „man nur Reichen Darlehen geben soll" ist definitiv ausser Kraft gesetzt,denn Reiche gibt es nicht mehr genug. Die Bourgeoisie nahm sich deshalb einenneuen Markt vor ... denjenigen der Armen. Ganz abgesehen vom Zynismus diesesKalküls, offenbart sich da eine gnadenlose Geringschätzung gegenüber dem Lebenvon Leuten, die bestimmt waren, zur Beute dieser Geier zu werden. Die gewährtenDarlehen wurden mit dem Schuldnervermögen pfandgesichert. Wenn dann diesesVermögen aufgrund einer Börsenhausse an Wert gewinnt, eröffnete sich dieMöglichkeit, den verschuldeten Familien noch mehr Kredite zu gewähren, mitdenen sie potentiell ins Desaster geführt wurden. Diese Möglichkeit wurde 2008zur Wirklichkeit, als das Schiff auf den harten Grund der Realität auflief -die Bourgeoisie beklagte ihre eigenen Opfer (die Geschäftsbanken und andereRefinanzierungsinstitute), aber sie vergass die Millionen von Familien, denenalles, was sie noch hatten (obwohl ohne jeden Marktwert), genommen wurde,Familien, die künftig auf der Strasse oder im Slum leben.
Die Fortsetzung ist sattsam bekannt, es erübrigt sich, daraufzurück zu kommen, ausser vielleicht in einer Kurzfassung, die eigentlich allessagt: eine offene Weltrezession, die schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg, inder Millionen von Arbeitern in allen Ländern auf die Strasse geworfen werden,eine beträchtliche Ausweitung des Elends.
Selbstverständlich warf der Zusammenbruch des Ostblocks dieganze imperialistische Konstellation durcheinander. Vor diesem Ereignis war dieWelt in zwei sich gegenüberstehende Blöcke aufteilt, beide um eineFührungsmacht gruppiert. Die ganze Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg bis zumZusammenbruch des Ostblocks war von sehr starken Spannungen zwischen denBlöcken geprägt, die in offenen Kriegen zwischen Stellvertretern in der DrittenWelt ausgetragen wurden. Um nur einige zu zitieren: Koreakrieg zu Beginn der50er Jahre, Vietnamkrieg in den ganzen 60er Jahren bis in die Mitte der 70er,Afghanistankrieg ab 1979, usw. Der Zusammenbruch des stalinistischen Gebäudes1989 war schlicht und einfach die logische Folge seiner wirtschaftlichen undmilitärischen Unterlegenheit gegenüber dem gegnerischen Block.
Aber die Auflösung des „Reichs des Bösen", das der in denAugen der westlichen Propaganda allein verantwortliche russische Blockdarstellte, bedeutete nicht das Ende der Kriege. Die IKS hatte damals, imJanuar 1990, folgende Analyse: „Das Verschwinden des russischenimperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle desamerikanischen Imperialismus gegenüber seinen ‚Hauptpartnern‘ von früher öffnetdie Tür für das Aufbrechen von einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. DieseRivalitäten und Zusammenstösse können gegenwärtig nicht in einen Weltkriegausarten (selbst wenn das Proletariat nicht mehr dazu in der Lage wäre, sichdagegen zur Wehr zu setzen). Weil die vom Block auferzwungene Disziplin nichtmehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger undgewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse amschwächsten ist." (Internationale RevueNr. 12, Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos). Esdauerte nicht lange, bis auf der Weltbühne der Beweis für die Richtigkeitdieser Analyse geführt wurde, so namentlich mit dem ersten Golfkrieg vom Januar1991 und dem Krieg im damaligen Jugoslawien ab Herbst des gleichen Jahres.Seither folgt eine blutige und barbarische Auseinandersetzung der nächsten. Wirkönnen hier nicht alle aufzählen, aber immerhin die folgenden hervorstreichen:die Fortsetzung des Jugoslawienkriegs, in den 1999 die USA und die wichtigsteneuropäischen Mächte unter der Aegide der NATO direkt eingegriffen haben; diebeiden Tschetschenienkriege; zahlreiche Kriege verwüsten anhaltend denafrikanischen Kontinent (Ruanda, Somalia, Kongo, Sudan usw.); dieMilitäroperationen Israels gegen den Libanon und kürzlich gegen denGazastreifen; der Afghanistankrieg von 2001, der immer noch andauert; derIrakkrieg von 2003, dessen Folgen dramatisch auf dem Zweistromland lasten, aberauch auf demjenigen, der den Krieg vom Zaun gerissen hat: Uncle Sam.
Was nun folgt und sich auf die Charakterisierung desStalinismus bezieht, ist ein Ausschnitt aus einer Beilage zu den Publikationen,die wir im Januar 1990 breit verteilt haben (diese Beilage wurde vollumfänglichund neu abgedruckt im Artikel 1989-1999 - The world proletariat,the collapse of the Eastern bloc and the bankruptcy of Stalinism(„Das Weltproletariat, der Zusammenbruch des Ostblocks und der Bankrott desStalinismus") in der International Review Nr. 99, engl./franz./span. Ausgabe). Wir denken, dass dieseCharakterisierung auch 20 Jahre später noch ganz gut passt, und drucken siehier unverändert ab.
„Auf den Trümmern der Oktoberrevolution von 1917 errichteteder Stalinismus seine Herrschaft. Dank der Negation des Kommunismus in derTheorie des „Sozialismus in einem Land" wurde die UdSSR wieder zu einem injeder Hinsicht kapitalistischen Staat. Ein Staat, in der das Proletariatunterworfen war, mit dem Gewehr im Rücken, unterworfen unter die Interessen desnationalen Kapitals, im Namen der Verteidigung des „sozialistischenVaterlandes".
So wie der proletarische Oktober dank der Macht derArbeiterräte dem Ersten Weltkrieg schliesslich ein Ende setzte, kündete diestalinistische Konterrevolution durch die Zerstörung jeden revolutionärenGedankens, durch die Knebelung jedes noch so zögerlichen Klassenkampfes, durchdie Errichtung des Terrors und die Militarisierung des ganzengesellschaftlichen Lebens die Beteiligung der UdSSR am zweiten Weltgemetzel an.
Jeder Schritt des Stalinismus auf dem internationalen Parkettder 30er Jahre war gekennzeichnet durch seine imperialistischen Kuhhändel mitden wichtigsten kapitalistischen Mächten, die sich von Neuem daraufvorbereiteten, Europa in Schutt und Asche zu legen.
Nachdem Stalin zunächst auf ein Bündnis mit dem deutschenImperialismus gesetzt hatte, um dessen Expansionsversuchen gegen Osten zubegegnen, wechselte er Mitte 30er Jahre plötzlich das Hemd und verbündete sichmit dem „demokratischen" Block (1934: Aufnahme der UdSSR in die „Räuberbande",die der Völkerbund war; 1935: Laval-Stalin-Pakt; Beteiligung der KPs an den„Volksfronten" und am Krieg in Spanien, in dessen Verlauf die Stalinisten nichtzögerten, die gleichen blutigen Methoden anzuwenden und die Arbeiter undRevolutionäre, die ihrer Politik Widerstand leisteten, zu massakrieren).Unmittelbar vor dem Krieg streifte sich Stalin wieder das alte Hemd über undverkaufte Hitler die Neutralität der UdSSR im Austausch gegen gewisse Gebiete,bevor er sich doch wieder dem Lager der Alliierten anschloss, um sich seinerseits am imperialistischenGemetzel zu beteiligen, in dem der stalinistische Staat allein 20 MillionenMenschenleben opferte. Das war das Resultat der Drecksgeschäfte, die derStalinismus mit den verschiedenen imperialistischen Haien Westeuropas schloss.Auf diesen Leichenbergen konnte die stalinistische UdSSR ihr Reich aufbauen,ihre Schreckensherrschaft in allen Staaten errichten, die ihr aufgrund desVertrages von Jalta als ihre ausschliessliche Domäne zufielen. Dank derTeilnahme am allgemeinen Holocaust an der Seite der siegreichenimperialistischen Mächte und zum Blutpreis von 20 Millionen Opfern konnte dieUdSSR in den Rang einer Supermacht aufsteigen.
Doch wenn Stalin der „von der Vorsehung bestimmte Mann" war,dank dem der Kapitalismus als Weltsystem den Bolschewismus bezwingen konnte,war es doch nicht die Tyrannei eines einzigen Individuums, so paranoid diesesauch war, die das Werk dieser schrecklichen Konterrevolution vollbrachte. Derstalinistische Staat wurde wie jeder kapitalistische Staat durch die gleicheherrschende Klasse wie überall sonst gelenkt, durch die nationale Bourgeoisie.Eine Bourgeoisie, die sich mit der inneren Degenerierung der Revolution neugebildet hatte, aber nicht auf der Grundlage der alten zaristischen Bourgeoisie,die das Proletariat 1917 beseitigt hatte, sondern auf der Grundlage derparasitären Bürokratie des Staatsapparats, mit dem die bolschewistische Parteiunter der Führung von Stalin zunehmend verschmolz. Diese Bürokratie desPartei-Staats, die Ende der 20er Jahre all jene Sektoren beseitigte, aus denenallenfalls noch eine neue private Bourgeoisie hätte entstehen können und mitdenen sie sich verbündet hatte, um die Leitung der nationalen Wirtschaftsicherzustellen (Grundeigentümer und Spekulanten der NEP), übernahm dieKontrolle der Wirtschaft. Das sind die historischen Bedingungen, die erklären,weshalb der Staatskapitalismus in der UdSSR, anders als in anderen Ländern,diese totalitäre, karikaturale Form annahm. Der Staatskapitalismus ist die allgemeineHerrschaftsform des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase, in der der Staatsich den Zugriff auf das ganze gesellschaftliche Leben sichert und überallparasitäre Schichten entstehen lässt. Aber in den andere Ländern derkapitalistischen Welt stand diese staatliche Kontrolle über die Gesamtheit derGesellschaft nicht in antagonistischem Widerspruch zur Existenz von privatenund auf Konkurrenz beruhenden Sektoren, die ihrerseits eine totaleVorherrschaft der parasitären Sektoren verhinderten. In der UdSSR dagegenkennzeichnete sich die besondere Form, die der Staatskapitalismus hier annahm,durch eine extreme Vergrösserung seiner parasitären Schichten, die aus derstaatlichen Bürokratie hervorgegangen waren und deren einzige Sorge nicht darinbestand, das Kapital unter Berücksichtigung der Marktgesetze Profite abwerfenzu lassen, sondern sich individuell die Taschen zu füllen auf Kosten derInteressen der nationalen Wirtschaft. Unter dem Gesichtspunkt derFunktionsweise des Kapitalismus war diese Form des Staatskapitalismus eineEntgleisung, die mit der Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise notwendigerweiseim Fiasko enden musste. Und genau dieser Zusammenbruch des russischenStaatskapitalismus, der aus der Konterrevolution hervorgegangen war, zog den Schlussstrichunter den Bankrott dieser ganzen bestialischen Ideologie, die während mehr alseinem halben Jahrhundert das stalinistische System zementiert und Millionen vonMenschen unter einem Bleideckel gehalten hatte.
Egal, was die Bourgeoisie und die ihr hörigen Medien sagen:Die grauenhafte Hydra des Stalinismus gleicht überhaupt nicht - weder im Inhaltnoch in der Form - der Oktoberrevolution von 1917. Diese musste zuerstuntergehen, bevor sich jene aufrichten konnte. Dieses radikalen Bruches, dieserAntinomie zwischen Oktober und Stalinismus, muss sich das Proletariat vollbewusst werden."
Zerstörung entweder desKapitalismus oder der Menschheit
Die Welt gleicht immer mehr einer Wüste, die von Leichenübersät ist, und Milliarden von Menschen kämpfen nur noch ums Überleben. JedenTag verhungern auf der Welt fast 20 000 Kinder, mehrere Tausend Stellen werdenabgeschafft, was die betroffenen Familien in die Verzweiflung stürzt;Lohnkürzungen, die sich ständig breiter machen, für diejenigen, die noch Arbeithaben.
Das ist die „Neue Weltordnung", die vor fast 20 Jahren GeorgeBush sen. versprochen hat. Sie gleicht eher der absoluten Unordnung! Diesesschreckliche Spektakel widerlegt gänzlich die Idee, wonach der Zusammenbruchdes Ostblocks das „Ende der Geschichte" bedeute (stillschweigend: der Anfangdes Ewigen Reiches des Kapitalismus), wie der „Philosoph" Francis Fukuyamaseinerzeit verkündete. Er bedeutete vielmehr einen wichtigen Einschnitt imNiedergang des Kapitalismus, der die Phase einläutete, in der die schwächstenBestandteile dieses System - das mit seinen geschichtlichen Grenzenkonfrontiert ist - unumkehrbar in sich zusammenbrechen. So hat denn auch derZusammenbruch des Ostblocks keineswegs zu einer Genesung des Systems geführt.Jene Grenzen bestehen fort, und sie bedrohen je länger je mehr den Kern desKapitalismus. Jede neue Krise ist ernsthafter als die vorangegangene.
Deshalb ist die einzig nützliche Lehre aus den letzten 20Jahren die, dass es keine berechtigte Hoffnung auf Frieden und Fortschritt imKapitalismus gibt. Es geht nach wie vor und bis auf weiteres um die AlternativeZerstörung des Kapitalismus oder Zerstörung der Menschheit.
Die Kampagnen über den „Tod des Kommunismus" haben zwar in derTat dem Bewusstsein der Arbeiterklasse einen schweren Schlag versetzt, aber sieist nicht geschlagen, die Möglichkeit besteht, das verloren gegangene Terrainzurückzuerobern und sich erneut in einen Prozess der weltweiten Entwicklung desKlassenkampfes zu werfen. Tatsächlich hat die Arbeiterklasse seit Beginn desJahrzehnts, nachdem sich die Kampagnen über den Tod des Kommunismus und desKlassenkampfes langsam abgenützt haben, angesichts von erheblichen Angriffenauf seine Lebensbedingungen den Weg des Kampfes wieder eingeschlagen. DieseWiederaufnahme, die sich schon jetzt in einem internationalen Bemühen einerMinderheit um politische Klärung ausdrückt, stellt die Vorbereitung aufMassenkämpfe dar, die in Zukunft die einzige Perspektive für das Proletariatund die Menschheit eröffnen - die Überwindung des Kapitalismus und dieErschaffung des Kommunismus.
GDS
[1] Resolution des18. Kongresses der IKS zur internationalen Lage, ebenfalls in der vorliegendenAusgabe der InternationalenRevueveröffentlicht.
[2] Vgl. z.B. „la récession de 1993 réexaminée" („Die Rezession von 1993 neuuntersucht"), Persée, Zeitschrift der OECD, 1994, Band49, Nr. 1
[3] Sie kaufte siesogar auf: Die Übernahme der Gesellschaft Time Warner durch AOL,Internet-Anbieter, bleibt Sinnbild jener Irrationalität, die sich damals derBourgeoisie bemächtigte.
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/dekadenz
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/uberwindung-des-kapitalismus
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wissenschaftliche-methode
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[5] https://contreinfo.info/prnart.php3?id_article=2612
[6] http://www.voxeu.org
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/staatskapitalismus-und-globalisierung
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/3/49/politische-konomie
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/2/27/staatskapitalismus
[10] http://www.caritas-ticino.ch/rivista/elenco%20rivista/riv_0203/08%20-%20Terzo%mondo%20nuova%20pattumiera.htm
[11] http://www.scuolevi-net:scuolevi/valdagno
[12] https://villadelchancho.splinder.com/tag/discariche+del+mondo
[13] https://www.aiig.it/UnProzent20quadernoProzent20perProzentl'ambiente/offline/crescita-pop.htm
[14] https://www.lettera22.it/showart.php?id=296&rubrica=9
[15] https://www.newscientist.com/article/dn6321-asian
[16] https://www.asianews.it/index.php?l=it&art=6977
[17] https://www.asiannews.it/index.php?l=it&art=9807
[18] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/umweltkatastrophe
[19] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/treibhauseffekt
[20] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/mullprobleme
[21] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/abfallentsorgung
[22] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/abfallprobleme
[23] https://de.internationalism.org/en/tag/3/52/umwelt
[24] https://de.internationalism.org/files/de/images/time_1929%20Kopie.jpg
[25] https://www.contreinfo.info/
[26] http://www.americanprogress.org/issues/2007/03/foreclosures_numbers.html
[27] http://www.treasurydirect.gov/govt/reports/pd/histdebt/histdebt_histo3.htm
[28] https://www.nber.org/research/business-cycle-dating
[29] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/antiglobalisierung
[30] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/griechenland
[31] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/klassenkampf
[32] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/studenten-und-arbeiterbewegung
[33] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/gewerkschaftshausbesetzung
[34] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/entwicklung-des-klassenbewusstseins
[35] https://de.internationalism.org/en/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse
[36] https://de.internationalism.org/en/tag/2/29/proletarischer-kampf
[37] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/keynesianismus
[38] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/fordismus
[39] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wirtschaftswunder
[40] https://perso.telecom-paristech.fr/~jld
[41] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/von-der-kommunistischen-linken-beeinflusst
[42] https://de.internationalism.org/en/tag/2/40/das-klassenbewusstsein
[43] https://www.economagic.com
[44] https://cedar.Barnard.columbia.edu/~econhist/papers/Hanes_sscale4.pdf
[45] http://www.oecd.org
[46] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/internationale-situation
[47] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/krise
[48] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/krieg
[49] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/revolutionare-perspektive
[50] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/stalinismus
[51] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/zusammenbruch-des-stalinismus
[52] https://de.internationalism.org/en/tag/2/28/stalinismus-der-ostblock