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Weltrevolution Nr. 156

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Afghanistan - Das Krebsgeschwür des Militarismus

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Die Bombardierung von zwei durch Talibankämpfer entführten Tanklastern mitten in der Nacht in der Nähe von Kundus, bei der eine unbekannte Zahl von Talibankämpfern und eine unbekannte, aber vermutlich wesentliche höhere Zahl von Zivilisten ihr Leben verloren haben, stellt für das deutsche Militär die bislang blutigste Beteiligung an einem Massaker seit dem 2. Weltkrieg dar.

Nachdem die Bundeswehr durch afghanische Quellen darüber informiert wurde, dass durch die in Taliban-Hand geratenen Tanklaster ein deutsches Lager bei Kundus hätte angegriffen werden können, forderte der deutsche ISAF-Kommandeur Georg Klein die dem ISAF-Kommando unterstehenden US-Flugzeuge zum Angriff auf die Tanklaster an. Man spricht von mehr als 100 Toten. Nachdem vor 10 Jahren im Balkankrieg schon Rot-Grün mit dem Hinweis auf unvermeidbare Kollateralschäden viele Tote und Verletzte billigend in Kauf genommen hatten, bliesen die Parteien der Großen Koalition Anfang September im Rahmen einer eigens anberaumten parlamentarischen Stellungnahme unisono in das gleiche Horn und nahmen die Bundeswehr in Schutz(1). Die Tatsache, dass die Bundeswehr 20 Jahre nach dem Fall der Mauer heute ihr größtes Auslandskontingent mit 4.500 Soldaten für den Krieg am Hindukusch mobilisiert hat und mittlerweile die drittgrößte Zahl an ISAF-Truppen stellt, spricht Bände über die unwiderstehlichen und nicht auszulöschenden zerstörerischen Tendenzen des Imperialismus im Zeitalter der kapitalistischen Fäulnis. Nachdem Afghanistan schon zu einem Fiasko für das sowjetische Militär in den 1980er Jahren wurde und den Niedergang der Sowjetunion beschleunigte, ist Afghanistan nun dabei, zu einem wahren Schreckgespenst für alle westlichen Interventionstruppen zu werden.

Schon während des US-Wahlkampfs hatte Obama eine Verstärkung der US-Truppen in Afghanistan um 20.-30.000 Soldaten als einzigen “Ausweg” angekündigt. Mittlerweile sind dort ca. 60.000 US-Soldaten – (neben den Zehntausenden berühmt berüchtigt gewordenen zivilen Sicherheitsdiensten) im Einsatz. Andere Staaten haben ebenfalls Tausende Soldaten entsandt. Anstatt die Situation in den Griff zu kriegen und die Lage zu beruhigen, gießt deren Präsenz nur immer mehr Öl aufs Feuer. Und anstatt den Einfluss der Taliban einzudämmen, dehnt sich dieser immer mehr aus. Der Krieg hat sich “festgesetzt”; genauso wenig wie es in den 1980er Jahren dem russischen Imperialismus möglich war, den Krieg zu gewinnen, können jetzt die von US-geführten Streitkräfte diesen Krieg gewinnen.

 

Afghanistan – Ein Glied in der Kette von Schlachtfeldern in der Region

Wenn nun deutsche Soldaten in Afghanistan aktiv werden und wie alle anderen Länder notwendigerweise an militärischen Kampfhandlungen beteiligt sind und somit ab einem gewissen Zeitpunkt Massaker mit ausüben müssen, dann handelt das deutsche Militär nicht als "Unschuldiger”, sondern weil es mitmischen will in diesem strategisch wichtigen Kriegsgebiet.

Afghanistan ist ein herausragendes Teil dieser Region der Erde, die seit den letzten 50 Jahren mit wechselnden Schlachtfeldern immer wieder von Kriegen geplagt wird.

Ob Israel, das seit seiner Staatsgründung 1948 regelmäßig im Krieg mit irgendeinem seiner Nachbarn steht;

oder die Türkei, die sich immer wieder Kämpfe mit den kurdischen Nationalisten liefert;

oder der Irak, wo die Bevölkerung von den letzten 30 Jahren mehr als 20 Jahre Krieg und Terror erlitten hat (zunächst im Krieg mit Iran, dann unter der Militärmaschinerie des Westens und der rivalisierenden Cliquen im Lande);

oder der Iran, das Land, welches als ehemaliger Horchposten und Stützpunkt des Westens gegenüber dem damaligen Gegner des Kalten Krieges, der Sowjetunion, militärisch hochgezüchtet wurde, um sich dann in den 1980er Jahren in einen Krieg mit dem Irak zu stürzen, sich mittlerweile zu einem regionalen Führer im Windschatten der geschwächten USA gemausert hat, und das seine Interessen durch die Androhung der Entwicklung von Atomwaffen auszufechten bereit ist;

oder Pakistan, das zum Ausweichgebiet der Taliban geworden ist und nicht nur als Atommacht gerüstet im Konflikt mit dem ebenfalls mit Nuklearwaffen ausgerüsteten Erzrivalen Indien steht, und selbst unter Terror leidet;

oder Sri Lanka, das immer wieder von der Pest des Krieges heimgesucht wird,

die ganze Region ist Aufmarschgebiet verschiedenster imperialistischer Rivalen gewesen und wurde von diesen immer wieder durch Kriege verwüstet. Es gehört zu den Gesetzen des Imperialismus, dass auch der deutsche Imperialismus, welcher bis 1989 durch die Teilung in zwei Gebiete (Ost und West) gewissermaßen von den Alliierten des 2. Weltkriegs “amputiert” wurde und dessen jeweiligen Bestandteile an den westlichen und den russischen Block gekettet wurden, nach seiner Wiedervereinigung wieder Jagdgründe außerhalb Europas sucht. Dass er dabei seinen imperialistischen Appetit nicht ungebremst stillen kann, sondern vor Ort auf die anderen imperialistischen Rivalen und die einheimischen Kriegsparteien stößt, erfährt nun auch das deutsche Militär, das seit einiger Zeit tag- täglich in Kampfhandlungen steht und dabei sein mörderisches Handwerk wie alle anderen Rivalen unter Beweis stellen muss.

 

Afghanistan – ein Horrorbeispiel des Krebsgeschwürs des Militarismus

Wenn nach dem jüngsten Massaker nun Kritik an der Bundeswehr von anderen ISAF-Staaten geübt wurde, und Merkel als gute Patriotin sich gegen Vorverurteilungen aus dem In- und Ausland wehrt, und selbst nachdem die Nato nun offiziell den Angriff auf die Tanklaster als eine “Fehlentscheidung” des deutschen Oberst einstuft, weil keine direkte Bedrohung vorgelegen habe, dann sind diese "Verbündeten" nicht von der Sorge geleitet, aus Sympathie und Mitgefühl mit der örtlichen Bevölkerung zu handeln, welche auch von ihnen immerfort terrorisiert wird. Stattdessen kommt ihnen das vom deutschen Militär ausgelöste Massaker vor allem ungelegen, weil sie seit geraumer Zeit verzweifelt versuchen, einen Kurswechsel durchzuführen. Die Zivilbevölkerung, die immer wieder zur Hauptzielscheibe wird, soll mehr geschont werden, weil man das Problem hat, dass nach Jahren unaufhörlicher Bombardierungen und “Strafaktionen” gegen die Taliban der ganze Einsatz die einheimische Bevölkerung nicht auf die Seite “des Westens” gezogen hat, sondern den Graben zwischen Besatzern und Einheimischen nur noch tiefer ausgehoben hat. Die Kritik der ‚Verbündeten‘ ist unter anderem ein Ausdruck des ganzen Schlamassels, in das alle Staaten mit ihren militärischen Operationen geraten sind.

Außerdem befördert dieses Massaker die imperialistischen Spannungen zwischen Deutschland und seinen ISAF-Verbündeten zu Tage. Im Vergleich zu diesen Nato-Partnern, die in Wirklichkeit Rivalen sind, ist Deutschland in den Afghanistan-Krieg mit zwei Nachteilen gezogen, die eine Erblast der Geschichte darstellen. Zum einen ist das deutsche Militär weniger gut ausgerüstet wie manche der “Bündnispartner”, zum anderen ist die deutsche Bevölkerung an der Heimatfront noch nicht so an das Hinnehmen von Opfern unter den “eigenen Soldaten” gewöhnt. Aufgrund dessen ist Deutschland in Afghanistan bis jetzt immer bestrebt gewesen, sich möglichst von den Hauptbrennpunkten fern zu halten. Statt dessen hat die Bundeswehr versucht, diese Nachteile in Vorteile umzumünzen, indem sie vollmundig die eigenen friedlichen Absichten proklamierte, das Kriegerische an dem Auftreten der Verbündeten lauthals kritisierte, und sich dadurch bei den Machthabern vor Ort einzuschleimen versuchte. Diese Haltung Berlins ist den Regierungen in Washington, London, Paris usw. schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Die blutige Schandtat von Kundus gibt diesen nun eine genüsslich ausgeweidete Gelegenheit den Spieß umzudrehen, auf Grund der eigenen ”Feigheit” (so der Vorwurf der “Verbündeten”) bzw. dem Bestreben, die eigenen Soldaten koste was es wolle zu schonen, eine Lösung des Tankwagenproblems gewählt zu haben, welche das höchste Blutzoll unter der Zivilbevölkerung verursachen musste. Die Politiker in Berlin wiederum äußerten öffentlich ihr Erstaunen darüber, dass die von den Amerikanern angeforderten Luftbombardements diesesmal viel prompter als sonst durchgeführt wurden. Mit anderen Worten, man schiebt sich gegenseitig die Schuld zu, wobei die zivilen Opfer nur als Manövriermasse in diesem Schlagabtausch der westlichen Hauptstädte vorkommen.

 

Die Spirale der Gewalt

Afghanistan liefert ein grausames Beispiel für diese historische Gegebenheit seit dem Ersten Weltkrieg, dass der Krieg zur “Überlebensform” einer Gesellschaft geworden ist. Denn unter welchem Vorwand und mit welchem Kalkül auch immer dort ausländisches Militär eingriff (während der sowjetischen Okkupation in den 1980er Jahren kämpfte man gegen die reaktionären Kräfte des Westens, unter US-Besatzung kämpft man gegen Drogenbarone, den Terrorismus usw.), Tatsache ist, statt Wiederaufbau und Modernisierung oder ‚Befreiung’ setzten sich immer mehr Krieg und Gewalt fest.

Eine Bilanz der letzten Jahre zeigt, welches Gewicht das Krebsgeschwür des Militarismus in Afghanistan angenommen hat. Diese Realität lässt sich kaum in Zahlen spiegeln. Jedoch ist das Verhältnis zwischen militärischen Ausgaben und “humanitären” Ausgaben aufschlussreich. Allein die USA haben bislang für ihren Krieg in Afghanistan 172 Mrd. US$ ausgegeben, Deutschland ca. 3.5 Mrd. US$. Demgegenüber wurden bis März 2008 noch keine 10% (weniger als 15 Mrd. US$) für Hilfeleistungen an die Bevölkerung zugeteilt, davon wanderte ohnehin der Großteil in die Taschen der Drogenbarone.

Zwischen 2002-2006 gab man lediglich 433 Mio. US$ für Gesundheits- und Ernährungsprogramme aus. Dabei sind 61% der Bevölkerung chronisch unterernährt. Lediglich 13% der Afghanen haben Zugang zu sicherem Trinkwasser, 12% zu Sanitäranlagen und 6% zu Strom. Dagegen wurden astronomische Beträge zur Bombardierung und Zerstörung des Landes verpulvert. Afghanistan und sein permanenter Krieg sind die ekelerregende Fratze eines völlig irrational und barbarisch gewordenen Systems.

Und je brutaler und entschlossener die Militärs vorgehen, desto mehr läuft die einheimische Bevölkerung den Taliban in die Hände oder wird schlicht von beiden Seiten zur Geisel genommen.

Zwar behaupten die Militärs, man versuche jeden Militärschlag "chirurgisch" präzise zu führen, d. h. die Zahl der zivilen Opfer einzuschränken, aber dieser Krieg muss notwendigerweise unter den Zivilisten die größten Opfer hinterlassen.

 

Das Afghanistan-Fiasko

Aber selbst für die beteiligten westlichen Militärmächte wirft dieser Krieg immer mehr Probleme auf. Ständig mehr Soldaten in Kampfhandlungen vor Ort aufzureiben, birgt die Gefahr für die Besatzerstaaten in sich, dass die Moral der Truppen untergraben wird, weil zu viele Tote und Verletzte in ihren Reihen den Krieg unter den Soldaten selbst und vor allem an der “Heimatfront” unpopulärer werden lässt. Jahrelang hat man versucht, mit Hilfe von Operationen aus der Luft, die sehr zerstörerisch wirken, aber die Soldaten nicht den Kampfhandlungen am Boden aussetzen, sich einem Dilemma zu entziehen. Mittlerweile aber sind Kampfeinsätze am Boden unvermeidbar und damit wächst auch die Wahrscheinlichkeit, direkt bei Massakern involviert zu sein. Diese Zwangslage selbst nagt an der Moral der Interventionstruppen.

Nicht nur in den USA und Großbritannien fehlt es an Nachwuchs für das Militär; auch in Deutschland klagen die Bundeswehrverbände über unzureichenden Neuzugang von Kanonenfutter. Trotz kräftiger Prämienerhöhungen und Auflockerung der Einstellungsbedingungen konnten nicht mehr Soldaten/Innen angelockt werden. Wenn nun die Soldaten vor Ort um ihr Leben fürchten müssen und jeden Tag zur Zielscheibe irgendeines Selbstmordkommandos oder Heckenschützen werden können, untergräbt dies die Moral(2). Und je mehr Grausamkeiten und Massaker vor Ort publik werden, desto unpopulärer wird der Krieg in der “Heimat”.

Und so wird das Fiasko für die Imperialisten immer deutlicher: einerseits der Schlamassel vor Ort selbst, andererseits eine Bevölkerung, die den Krieg immer mehr ablehnen wird.

 

Tatsache ist, dass selbst nach knapp 20 Jahren Wiedervereinigung es dem deutschen Imperialismus nicht gelungen ist, die Bevölkerung für seine imperialistischen Ambitionen einzuspannen. Und je mehr die Wirtschaftskrise die Arbeiter in Existenznöte bringt, desto weniger lässt sich die Arbeiterklasse heute für militärische Operationen gewinnen. Im Gegenteil, genau so wie die Wirtschaftskrise die Arbeiterklasse zu Abwehrkämpfen und zu einer Bewusstwerdung über die Sackgasse dieses Systems zwingen wird, wird das immer größere Versinken der Gesellschaft in kriegerische Gewalt die Arbeiter zu einer Bewusstwerdung über den eigentlichen Charakter dieses Systems treiben. Di. 20.09.09

 

<!--[if !supportLists]-->(1) <!--[endif]-->Wenn “Die Linke” sich ablehnend gegenüber dem verheerenden Luftangriff von Kundus äußert oder wenn die Grünen Kritik an der Informationspolitik des Verteidigungsministers üben, dann geschieht all dies nicht aus einer prinzipiellen Verwerfung der Kriegsbeteiligung. Sind sie selbst in der Regierungsverantwortung, denken und handeln sie ganz anders. Siehe zum Beispiel der Balkankrieg Schröder-Fischers.

<!--[if !supportLists]-->(2) <!--[endif]-->2008 beklagten die westlichen Militärs 294 Tote unter ihren Soldaten; allein bis Mitte August 2009 gab es schon 300 Tote.

 

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Afghanistan Bundeswehreinsatz [1]
  • Kundus Massaker [2]
  • Isaf Afghanistan [3]
  • deutscher Imperialismus [4]

Bundestagswahlen hin oder her: Die Arbeiterklasse soll für die Krise blechen

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Das Ende der Talfahrt?

Ein Schrecken ohne Ende für die Arbeiterklasse!

Die Bundestagswahlen sind vorbei, Deutschland hat eine neue Regierung – Mitte-Rechts- bekommen. Jetzt reden alle von Aufbruchstimmung, insbesondere aus Kreisen der Wirtschaft, zumal die Wirtschaftsforscher das Aufhellen des Konjunkturhimmels verkünden.

Auch wenn die Stimmen schon wieder lauter werden, das Ende der wirtschaftlichen Talfahrt sei erreicht, das Börsenbarometer wieder nach oben zeigt, die jüngsten Umfragen uns scheinbar wieder zuversichtlich stimmen sollten, sieht die Wirklichkeit für die Arbeiterklasse anders.

Keine Branche der Wirtschaft, in der nicht Entlassungen, Stellenabbau, Lohnkürzungen, Einschnitte bei Sozialleistungen von Unternehmerseite angekündigt wurden. Oft werden Beschäftigte, deren Betriebe vor Insolvenz  “gerettet” und dann von einem anderen Unternehmen übernommen worden, mit Lohnkürzungen von 25% oder noch mehr konfrontiert – so bei den Werften an der Ostsee, bei ex-Woolworth.

Bislang sind schon über eine Million Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt worden. Davon wird sich diesen Winter ein Großteil als Arbeitslose registrieren lassen müssen. Nicht nur bei Opel stehen Tausende von Jobs auf der Abschussliste, in der gesamten Automobilbranche werden zahllose Stellen nach dem Auslaufen der Abwrackprämie gestrichen werden. Bei den großen Logistik- oder Transportunternehmen (z.B. Deutsche Bahn oder Lufthansa) stehen ebenso Zehntausende Stellen zur Disposition. Die Entlassungswelle wird diesen Winter erst richtig losbrechen. Ganz zu schweigen von der Reihe von brutalen Einschnitten, die die frisch gewählte, demokratisch legitimierte Regierung nun verabschieden kann. Denn von staatlicher Seite wird jetzt nach den Wahlen der Knüppel richtig herausgeholt werden. Im Wahlkampf haben die Parteien, die auf eine Regierungsbeteiligung hofften, sich gegenseitig dabei überboten, der Bevölkerung keinen “reinen Wein” einzuschenken und die zu erwartenden “Folgekosten” der Krise zu verheimlichen.

Und dennoch: Bereits vor den Wahlen haben Umfragen zutage befördert, dass bis zu 80% der Befragten den Wahlversprechen sämtlichen Parteien nicht geglaubt haben. Die arbeitende Bevölkerung ahnt sehr wohl, was auf sie jetzt zukommt. Die frisch gewählte Bundesregierung wird den Knüppel aus dem Sack holen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie so ungeschickt sein werden, alle Maßnahmen auf einmal anzukündigen. Im Gegenteil, bereits am Wahlabend hat die wiedergewählte Kanzlerin Merkel öffentlich beteuert, dass sie sehr großen Wert darauf legen wird, mit den Gewerkschaften besonders eng zusammenzuarbeiten, damit es nicht zu sozialen Unruhen kommt.

 

Der Wahlausgang – eine günstige Konstellation für die Herrschenden

Die herrschende Klasse in Deutschland kann mit dem Wahlausgang eigentlich ganz zufrieden sein. Vor allem deswegen, weil sie, wie am Wahlabend noch betont wurde, wieder eine “starke parlamentarische Opposition” erhalten hat. Nach 11 Jahren an der Regierung dürfen die Sozialdemokraten nun in die Opposition zurückkehren, wo sie sich “erneuern” und nach Links rutschen können, und sich allmählich vom Makel der Agenda 2010 reinzuwaschen versuchen werden. Die Linkspartei, welche in die Oppositionslücke gesprungen ist, die durch die lange Regierungsbeteiligung der SPD verursacht wurde, hat sich nun als anerkannte, bundesweite linke Kraft etabliert. Diese sogenannte Rot-Rote-Opposition wird alles tun, um die Unzufriedenheit der Arbeiter/Innen in parlamentarischen Illusionen aufzufangen. Indem Merkels Union die Kanzlerinpartei bleibt, bleibt andererseits eine Kontinuität bei der Regierungsarbeit erhalten, was in der heutigen Zeit für das Kapital nicht unerheblich ist. Denn die große Koalition unter Union und SPD, aller Unzufriedenheit gegenüber dem handwerklichen “Ungeschick” mancher ihrer “Reformhaben” zum Trotz, gewährte sich vor allem auf zwei Gebieten: Dem Management der Finanz- und Wirtschaftskrise und in der Vermeidung von größeren sozialen Unruhen. Durch die Regierungsbeteiligung der FDP wiederum kommt ein neues Element in die Regierung hinein, welches das Wechselspiel des parlamentarischen Theaters beleben wird. Wie alle Kommentatoren nach den Wahlen festgestellt haben, hat sich die parlamentarische Gemengelage wieder in zwei deutlicher erkennbare Lager der Rechten und der Linken aufgeteilt, womit die Herrschenden hoffen können, den Glauben an die Demokratie stärken zu können.

 

OPEL: Das Doppelspiel der linken Kräfte

In der Tat: Das Wahlergebnis gibt den linken Kräften des Kapitals von der Opposition aus jetzt mehr Spielraum, um etwaigen Widerstand der Beschäftigten und Erwerbslosen von Innen heraus zu brechen. Wie eine solche Täuschungspolitik aussehen wird, hat kurz vor den Wahlen die Situation bei OPEL verdeutlicht. In Antwerpen fand eine Großkundgebung gegen die drohende Schließung des dortigen Opel-Werks statt, an der sich über 1000 Opel-Mitarbeiter aus Deutschland sich beteiligten. Es handelte sich hierbei nicht um eine reine gewerkschaftliche ‚Sonntagsveranstaltung‘, sondern viele Kollegen/Innen aus anderen Werken, die angereist waren, waren sichtlich motiviert durch das Gefühl der internationalen Solidarität, durch den Willen, die Beschäftigten der verschiedenen Standorte nicht gegeneinander ausspielen zu lassen. Dieses Gefühl der Solidarität wurde von den Gewerkschaften und den Betriebsräten in Deutschland ebenso wie in Belgien, Spanien usw. dahingehend pervertiert, dass nicht ein Werk geschlossen werden soll, sondern dass die ‚notwendigen Entlassungen‘ fein säuberlich und ‚gerecht‘ unter den bestehenden Werken verteilt werden sollen. Mit anderen Worten – es geht gar nicht darum, gegen die Entlassungen anzukämpfen, und auch nicht darum, eine Solidarität der Betroffenen zu schmieden. Nein, es geht vielmehr darum, eine Solidarität der Beschäftigten mit ihrem neuen Ausbeuter zu organisieren, in dessen Interesse man jetzt große Opfer zu bringen bereit sein muss. Kein Wunder. Denn die IG Metall und die Opel-Betriebsräte haben sich, zusammen mit der Führungsspitze der SPD, besonders dafür stark gemacht, dass das österreichisch-kanadisch-russische Konsortium bei der Opel-Übernahme den Zuschlag erhält. Die Gewerkschaften und die sich nunmehr in der ‚Opposition‘ befindliche SPD haben sich somit bereits im Vorfeld als die treibenden Kräfte in der Unternehmungsleitung dieses Konzerns erwiesen. An den anderen Opel- bzw. GM-Standorten in Europa wiederum wie in Belgien, Spanien oder Großbritannien üben sich – aller Solidaritätsfloskeln zum Trotz – in dem Aufhetzen der Beschäftigten gegen die Vormacht der “Deutschen” und ihrer ‚ungerechten‘ Opel-Politik. (siehe dazu unser in Spanien verteiltes Flugblatt, Auszüge davon auf S.3)

 

Pittsburgh – alter Wein in neuen Schläuchen

Am Wahlabend ließ sich die wiedergewählte Kanzlerin Merkel quasi auch als die “Heldin des Gipfels von Pittsburgh” feiern.

Man will uns glauben machen, die Stabilität der Weltwirtschaft hinge von den fetten (nicht an Erfolg geknüpften) Bonuszahlungen der Manager ab. Als ob das Grundübel des Kapitalismus nicht Lohnarbeit, Produktion für Profit, Überproduktion, kollektive Produktion bei gleichzeitiger privater Aneignung wäre, sondern die Habsucht einiger Banker!

Außerdem soll durch mehr staatliche Regulierung und Transparenz im Bankenwesen und höhere Eigenkapitaleinlagen, so die Botschaft des G20, ein “vernünftigeres” Verhalten der Banken herbeigeführt, deren Spekulationstrieb ein Riegel vorgeschoben werden. Als ob die große Spekulationsblase, die wahnsinnige Anhäufung von fiktivem Kapital, die Gewährung von subprimes usw. nur dem Wahnsinn von einigen raffgierigen Zockern geschuldet sei und nicht Folge eines langjährigen Versuchs, immer wieder neue, künstliche, auf Pump finanzierte Absatzmärkte zu suchen.

Die astronomisch hohen Rettungsbeträge, die von den Herrschenden der Welt zur Vermeidung eines völligen Absturzes der Weltwirtschaft locker gemacht wurden, sind Kosten, die nun mehr der Arbeiterklasse aufgebürdet werden sollen.  Dies ist Hauptaufgabe der nun zu bildenden neuen Berliner  Regierungskoalition, sowie der mit ihr ‚konstruktiv zusammenarbeitenden Opposition‘.

 

In Kopenhagen – auch nichts Neues

Aber während die Regierungschefs wie auf dem jüngsten G-20 Gipfel in Pittsburgh alles daran setzen, die Wirtschaft über Wasser zu halten, haben sie längst die ohnehin völlig unzureichenden Umweltschutzziele auf dem Altar der Wirtschaftskrise wieder geopfert. Der Streit um die Verlängerung des Kyoto-Protokolls auf der Kopenhagener Konferenz, bei der sich die großen Wachstumsmodelle der Weltwirtschaft, China und Indien, zu keinen großen Zugeständnissen bereit erklären, muss jedem vor Augen führen, dass die Herrschenden einfach unfähig sind, die Interessen der Natur, der Menschheit, kurz das Überleben des Planeten an erste Stelle zu setzen. Sie opfern alles dem Profit.

Nun soll die chinesische Wirtschaft, die mittlerweile zum größten Exportmarkt für Autos mit einem erwarteten Jahresabsatz von über 10 Mio. Autos geworden ist, zum Rettungsanker für die weltweit von Überproduktion geplagten Automobilindustrie werden. Aber was einen verheißungsvollen Absatzmarkt für eine Branche darstellen mag, stellt sich als wahre Ökokatastrophe für die Menschen, für den Planeten heraus. Die Mechanismen, mit denen die Wirtschaft weiter  am Leben erhalten werden sollen, beschleunigen nur das ökologische Desaster weltweit.

 

Weltweit immer katastrophalere Folgen der Sackgasse des Kapitalismus

In den Ländern der sog. Dritten Welt ist vom Ende der Talfahrt ohnehin keine Rede. Dort hat die Armut sprunghaft zugenommen. Ob durch Preissteigerungen von Lebensmitteln, ob durch die Verdoppelung des Ölpreises seit Jahresbeginn, die Bevölkerung in diesen Länden kämpft immer mehr ums Überleben, wenn sie nicht schon durch Drogenkriege und andere Ausbrüche von Gewalt jeden Tag terrorisiert wird. Und als ob die brutalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise nicht schon genug Elend und Verzweiflung verursacht hätten, die katastrophalen Folgen der Umweltzerstörung und des Klimawandels zeigen immer verheerendere und lebensbedrohlichere  Folgen für die Menschen vor Ort in den von Dürren und Überschwemmungen heimgesuchten Gebieten. In Kenia z.B., wo gegenwärtig ca. 3.5 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind, ist die dort grassierende Dürre durch die Klimakatastrophe mit verursacht.   29.09.09

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Anarchisten und der Krieg (1) - Die Anarchisten und der Erste Weltkrieg

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Im heutigen anarchistischen Milieu, insbesondere in Frankreich und Russland, läuft eine Debatte, in der sich zwei gegensätzliche Auffassungen gegenüber stehen; ein Teil der Leute versucht sich abzugrenzen gegenüber einer nationalistischen Sichtweise, die in der Verteidigung des Regionalismus, der „Ethno-Identität“ und der nationalen Befreiungskämpfe zum Ausdruck kommt – Fragen und Positionen, die als charakteristisch für einen Großteil dieses Milieus und als Schwäche dieses Teils angesehen werden müssen. Gerade der katastrophale Weg, den der Kapitalismus der Gesellschaft vorzeigt, drängt notwendigerweise diejenigen, die die gesellschaftliche Revolution herbeisehnen, dazu, ernsthaft die Frage nach den Perspektiven für das Proletariat zu stellen. Diese eröffnen sich unter dem Gesichtswinkel einer Entwicklung des Klassenkampfs des Proletariats, aber auch – aufgrund der Zerstörungswut im dekadenten Kapitalismus – unter demjenigen der Notwendigkeit, der Entwicklung des imperialistischen Krieges entgegen zu treten, der praktisch auf allen Kontinenten wütet.

Gegenüber den imperialistischen Kriegen gibt es nur eine Haltung, die mit den Interessen des Proletariats übereinstimmt: die Ablehnung, irgend eines der sich gegenüber stehenden Lager zu unterstützen; und dann die Entlarvung aller bürgerlichen Kräfte, die die Arbeiter und Arbeiterinnen unter irgend einem Vorwand dazu aufrufen, ihr Leben für eines der kapitalistischen Lager zu opfern. Angesichts des imperialistischen Krieges muss die Arbeiterklasse die einzig mögliche Perspektive voranstellen: die Entwicklung ihres so bewusst und so konsequent wie möglich geführten Kampfes für die Überwindung des Kapitalismus. In diesem Sinn stellt die Frage des Internationalismus das entscheidende Kriterium dafür dar, ob eine Organisation oder eine Strömung etc. zum proletarischen Lager gehört oder nicht.

Er gründet auf den allgemeinen Bedingungen, die der Kapitalismus dem Proletariat auf der ganzen Welt aufzwingt, d.h. auf der schlimmstmöglichen Ausbeutung seiner Arbeitskraft in allen Ländern auf allen Kontinenten. Und im Namen dieses Internationalismus brachte die Arbeiterbewegung die Erste Internationale hervor. Der Bezugspunkt für den Internationalismus ist, dass die Bedingungen der Befreiung des Proletariats internationale sind: Über die staatlichen Grenzen und die militärischen Fronten, die „Rassen“ und Kulturen hinweg findet das Proletariat seine Einheit im gemeinsamen Kampf gegen die Ausbeutungsbedingungen und in der Interessengemeinschaft für die Abschaffung der Lohnarbeit und für den Kommunismus. Das ist die Grundlage dafür, dass der Internationalismus eine Klassenposition ist.

Für den Anarchismus ist der Internationalismus eher Teil der abstrakten „Prinzipien“, aus denen er seine allgemeine und ewige Inspiration schöpft wie die antiautoritäre Ideologie, die Freiheit, die Ablehnung jeglicher Macht, die Ablehnung des Staats, etc., und nicht eine klare erarbeitete Position darüber, dass dieser Internationalismus eine unverrückbare Klassengrenze darstellt, die das kapitalistische Lager von demjenigen des Proletariats scheidet. Diese dem Anarchismus wesenseigene Schwierigkeit bei der Methode führte dazu, dass seine Geschichte von ständigen Schwankungen begleitet gewesen ist - insbesondere in der Kriegsfrage, wo nicht nur entschieden internationalistische Positionen vertreten worden sind, sondern auch stumpfe pazifistische oder gar offen kriegstreiberische.

In dieser Artikelserie gehen wir der Frage nach, wie der Anarchismus im Zeitalter, in dem die Menschheit vor die Alternative „Sozialismus oder Untergang der Menschheit“ gestellt worden ist, Stellung bezogen hat in der entscheidenden Prüfung des imperialistischen Kriegs im Laufe des barbarischen Niedergangs des Kapitalismus, insbesondere in den Weltkriegen.

 

Der Verrat von 1914 am Internationalismus durch die Sozialdemokratie und den Anarchismus

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging einher mit dem peinlichen Zusammenbruch der Sozialistischen Internationale, deren Parteien mehrheitlich sich dem jeweiligen nationalen Kapital unterwarfen, den Burgfrieden erklärten und die Mobilisierung des Proletariats für den Weltkrieg betrieben. Ebenso verwandelten sich die wichtigsten Bestandteile der anarchistischen Bewegung in Kriegstreiber zu Gunsten des bürgerlichen Staats. Kropotkin, Tscherkesoff und Jean Grave wurden zu den bedingungslosesten Verteidigern Frankreichs: „Lasst es nicht zu, dass diese schrecklichen Eroberer die lateinische Zivilisation und das französische Volk erneut überrollen … Lasst es nicht zu, dass sie Europa ein Jahrhundert des Militarismus aufzwingen“

Im Namen der Verteidigung der Demokratie gegen den preußischen Militarismus unterstützen sie den Burgfrieden: „Tief in unserem Gewissen fühlen wir, dass der deutsche Angriff nicht nur eine Bedrohung für unsere Emanzipationshoffnungen darstellt, sondern auch eine Bedrohung für die ganze menschliche Evolution. Darum stellten wir, Anarchisten, wir, Antimilitaristen, wir, Gegner des Krieges, wir, leidenschaftlichen Kämpfer für den Frieden und die Brüderlichkeit unter den Menschen, uns auf die Seite des Widerstands und glauben, dass wir uns nicht absondern dürfen vom Schicksal der Bevölkerung.“ In Frankreich schmiss die anarchosyndikalistische CGT ihre eigenen Resolutionen auf den Misthaufen, die ihr für den Kriegsfall die Pflicht auferlegt hatten, den Generalstreik triumphieren zu lassen, und verwandelte sich in einen hysterischen Lieferanten von Kanonenfutter für das imperialistische Gemetzel: „Gegen das Faustrecht, gegen den germanischen Militarismus müssen wir die demokratische und revolutionäre Tradition Frankreichs retten“; „Brecht auf ohne Bedauern, Arbeiterkameraden, die man ruft zur Verteidigung des französischen Bodens“ In Italien gründeten anarchistische und anarchosyndikalistische Gruppen Kampfbünde („fasci“) „gegen die Barbarei, den deutschen Militarismus und das perfide römisch-katholische Österreich“.

Doch diese Übereinstimmung der Mehrheit der Sozialdemokratie und des Anarchismus in der Unterstützung des imperialistischen Krieges und des bürgerlichen Staates beruht auf grundsätzlich verschiedenen Dynamiken.

Die Position der Sozialdemokratie zum Krieg stellte 1914 einen Verrat am Marxismus, der Theorie des internationalen und revolutionären Proletariats und dem Grundprinzip dar, dass die Proletarier kein Vaterland haben. Demgegenüber war die Einordnung der Mehrheit der internationalen anarchistischen Führer in den imperialistischen Krieg an der Seite der Bourgeoisie während dem Ersten Weltkrieg nicht ein Fehltritt, sondern die logische Schlussfolgerung aus ihrem Anarchismus, in Übereinstimmung mit ihren wesentlichen politischen Positionen.

So rechtfertigte Kropotkin 1914 seine chauvinistische Position zu Gunsten Frankreichs mit dem Antiautoritarismus, denn es sei nicht hinnehmbar, „dass ein Land von einem anderen gewaltsam angegriffen“ werde. Indem die Anarchisten ihren Internationalismus mit der „Selbstbestimmung“ begründen und „dem absoluten Recht jedes Individuums, jedes Vereins, jeder Gemeinde, jeder Provinz, jeder Region, jeder Nation, selbst über sich zu bestimmen, sich zu vereinen oder sich nicht zu vereinen, sich zu verbünden, mit wem sie wollen, oder ihre Bündnisse zu brechen“, übernehmen sie die Spaltungen, die der Kapitalismus dem Proletariat auferlegt. Im Grunde genommen wurzelt diese chauvinistische Position im Föderalismus, die die Grundlage jeder anarchistischen Auffassung ist. Indem der Anarchismus die Nation als eine „natürliche Erscheinung“ betrachtet, sich für „das Recht jeder Nation, zu bestehen und sich zu entwickeln“ ausspricht und meint, dass die einzige Gefahr der Nationen darin bestehe, dass „sie einen Hang zum Nationalismus haben, der ihnen durch die herrschende Klasse eingeimpft wird in der Absicht, die Völker voneinander zu trennen“, muss er automatisch in jedem imperialistischen Krieg eine Unterscheidung treffen zwischen „Angreifern/Angegriffenen“ oder „Unterdrückern/Unterdrückten“ etc. und so für die Verteidigung des Schwächern, des mit den Füssen getretenen Rechts etc. eintreten. Dieser Versuch, die Ablehnung des Kriegs mit etwas anderem zu begründen als mit der Klassenposition des Proletariats, öffnet Tür und Tor für die Rechtfertigung der Unterstützung der einen oder der anderen Kriegspartei, d.h. konkret für die Wahl eines imperialistischen Lagers gegen das andere.

 

Die Treue zu den internationalistischen Grundsätzen durch die Bewegung von Zimmerwald gefestigt

und die Entwicklung des Klassenkampfs

Doch gelang es gewissen Anarchisten, eine wirklich internationalistische Haltung zu bewahren. Eine Minderheit von 35 libertären Militanten (unter ihnen A. Berkman, E. Goldmann, E. Malatesta, D. Nieuwenhuis) veröffentlichte ein Manifest gegen den Krieg (Februar 1915). „Es ist auch naiv und kindisch, nach der Aufzählung der Gründe der Konflikte und der Begebenheiten zu versuchen, die Verantwortung einer bestimmten Regierung zuzuschieben. Man kann nicht zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen unterscheiden. (…) Keiner der Kriegführenden hat ein Recht, sich auf die Zivilisation zu berufen, und ebenso wenig auf eine Selbstverteidigung. (…) Welches auch immer seine Form sei, der Staat ist nichts anderes als die organisierte Unterdrückung im Interesse einer privilegierten Minderheit. Der gegenwärtige Konflikt zeigt dies auf schlagende Weise: Alle Staatsformen beteiligen sich an diesem Krieg: der Absolutismus in der Gestalt Russlands, der mit dem Parlamentarismus versetzte Absolutismus Deutschlands, der Staat, der über Völker ganz unterschiedlicher Rassen herrscht, in der Gestalt Österreichs, die verfassungsmäßig demokratische Herrschaftsordnung Englands und das demokratisch republikanische Regime Frankreichs. (…) Die Rolle der Anarchisten, welches auch immer der Ort und die Lage sind, in der sie sich gerade befinden, besteht darin, weiterhin zu verkünden, dass es in allen Ländern nur einen Befreiungskrieg gibt: denjenigen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter“ Die Fähigkeit, Klassenpositionen nicht aufzugeben, war bei den proletarischen Massenorganisationen ausgeprägter, die sich als Reaktion auf die zunehmende Abkehr der Sozialdemokratie vor dem Krieg von jeder revolutionären Perspektive dem revolutionären Syndikalismus zuwandten. In Spanien brandmarkte A. Lorenzo, ein altes Mitglied der Ersten Internationale und Gründer der CNT, sofort den Verrat der deutschen Sozialdemokratie, der französischen CGT und der englischen Gewerkschaften, da sie „ihre Ideale auf dem Altar ihres jeweiligen Vaterlandes geopfert haben, indem sie den grundsätzlich internationalen Charakter des gesellschaftlichen Problems verleugnet haben“. Im November 1914 verbreitete ein anderes Manifest, das von anarchistischen Gruppen, Gewerkschaften und Arbeitervereinen ganz Spaniens unterschrieben war, die gleichen Ideen: Verurteilung des Krieges, Verurteilung beider rivalisierenden Lager, Notwendigkeit eines Friedens, der „nur durch die soziale Revolution gewährleistet“ werden kann. Die Reaktion war bei den Anarchosyndikalisten schwächer, die in größerem Ausmaß unter dem Gewicht der anarchistischen Ideologie standen. Seit dem Verrat der CGT versammelte sich eine gegen den Krieg eingestellte Minderheit in der kleinen Gruppe Vie ouvrière (Arbeiterleben) von Monatte und Rosmer

Das zersplitterte anarchistische Milieu teilte sich auf in Anarchopatrioten einerseits und Internationalisten andererseits. Nach 1915 erlaubten die Wiederaufnahme der Kämpfe durch das Proletariat und die Auswirkungen der Parole von der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, welche die Konferenzen der gegen den Krieg eingestellten Sozialisten in Zimmerwald und Kienthal herausgegeben hatten, den Anarchisten, ihren Widerstand gegen den Krieg im Klassenkampf zu verankern.

In Ungarn waren es nach 1914 anarchistische Militante, die an der Spitze der Bewegung gegen den imperialistischen Krieg standen. Ilona Duczynska und Tivadar Lukacs, zwei von ihnen, brachten das Manifest von Zimmerwald nach Ungarn und machten es bekannt. Unter dem Einfluss der internationalistischen Konferenz radikalisierte sich der Galileo-Zirkel, der 1908 gegründet worden war und aus Anarchisten sowie aus der Sozialdemokratie ausgeschlossenen Sozialisten und Pazifisten bestand. Er bewegte sich vom Antimilitarismus und Antiklerikalismus zum Sozialismus, von einer Tätigkeit als Diskussionszirkel zu einer solchen der bestimmteren Propaganda gegen den Krieg und der aktiven Intervention in die voll keimenden Arbeiterkämpfe. Seine Flugblätter waren unterschrieben mit „Gruppe ungarischer Sozialisten - Anhänger von Zimmerwald“.

In Spanien bestand die Hauptaktivität der CNT im Kampf gegen den Krieg, verbunden mit der begeisterten Unterstützung der Forderungskämpfe, die ab Ende 1915 entflammten. Die CNT zeigte einen klaren Willen zur Diskussion und eine große Offenheit gegenüber den Positionen der Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, die begeistert begrüßt wurden. Sie diskutierte und arbeitete zusammen mit den sozialistischen Minderheiten, die sich in Spanien gegen den Krieg stellten. Es gab große theoretische Anstrengungen mit der Absicht, die Ursachen des Krieges und die Mittel für den Kampf dagegen zu begreifen. Sie unterstütze die Positionen der Zimmerwalder Linken und gab bekannt, dass sie zusammen mit „allen Arbeitern“ herbeisehne, „dass dem Kriege das Ende durch den Aufstand der Arbeiter der kriegführenden Länder gesetzt“ werde.

Oktober 1917 - Fanal der Revolution

Der Ausbruch der Revolution in Russland stieß auf eine gewaltige Begeisterung. Die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse und der erfolgreiche Aufstand im Oktober 1917 zogen die proletarischen Strömungen des Anarchismus in ihren Einflussbereich. Der fruchtbarste Beitrag der Anarchisten zum revolutionären Prozess konkretisierte sich in der Zusammenarbeit mit den Bolschewiki. Weltweit kamen sich das internationalistische anarchistische Milieu, der Kommunismus und die Bolschewiki politisch näher und die Sichtweisen trafen zu einem großen Teil zusammen.

In der CNT wurde der Oktober als wahrer Triumph des Proletariats betrachtet. Tierra y Libertad meinte, dass „die anarchistischen Ideen gesiegt haben“<!--[if ! und dass die bolschewistische Regierung „durch den anarchistischen Geist des Maximalismus geleitet“sei. Solidaridad obrera behauptet, dass „die Russen uns den Weg zeigen, dem wir folgen müssen“. Das Manifest de CNT verkündet: „Schaut nach Russland, schaut nach Deutschland. Machen wir es diesen Meistern der proletarischen Revolution nach.“

Bei den ungarischen Anarchisten löste der Oktober 1917 eine noch klarer auf die Revolution ausgerichtete Antikriegsaktivität aus. Um die aufkochende proletarische Bewegung zu unterstützen, wurde auf der Grundlage des Galileo-Zirkels die Revolutionäre Sozialistische Union gegründet, die im Wesentlichen aus Libertären bestand und Strömungen zusammenfasste, die sich sowohl auf den Marxismus als auch den Anarchismus beziehen konnten.

In dieser Zeit sticht beispielsweise der Werdegang Tibor Szamuelys hervor, wenn es darum geht, den Beitrag eines guten Teils des sich der proletarischen Sache verschreibenden anarchistischen Milieus zu sehen. Szamuely hatte sich zeit seines Lebens als Anarchist bezeichnet. Er wurde an die russische Front geschickt, geriet in Kriegsgefangenschaft im Jahre 1915, trat nach Februar 1917 mit den Bolschewiki in Verbindung. Er beteiligte sich an der Organisierung einer kommunistischen Gruppe von proletarischen Kriegsgefangenen und im Sommer 1918 an den Kämpfen der Roten Armee gegen die Weißen im Ural.

Angesichts der Heranreifung einer revolutionären Situation kehrte er im November 1918 nach Ungarn zurück und propagiert entschlossen die Gründung einer kommunistischen Partei, die alle Revolutionäre vereinen und fähig sein sollte, der Massenaktion eine Richtung zu geben. Die Anarchisten erkannten die nach Befriedigung drängenden Bedürfnisse des Klassenkampfes und der Revolution, was sie dazu führte, ihre Abneigung gegen jede politische Organisation und ihr Vorurteil gegenüber der Ausübung der politischen Macht durch das Proletariat zu überwinden. Der Gründungskongress der Kommunistischen Partei fand Ende November 1918 statt und die Anarchisten nahmen daran teil, beispielsweise O. Korvin oder K. Krausz, der Herausgeber der anarchistischen Tageszeitung Tarsadalmi Forrdalom. Der Kongress beschloss ein Programm, das die Diktatur des Proletariats verfocht.

Die KPU „trat von Anfang an für die Errichtung einer Rätemacht ein“. In der revolutionären Bewegung übernahm Szamuely ab März 1919 an zahlreichen Stellen Verantwortung; so war er beispielsweise Kommissar für militärische Angelegenheiten, zu denen der Kampf gegen konterrevolutionäre Umtriebe gehörte. Ebenfalls Anarchisten, nämlich die ehemaligen Meuterer von Cattaro im Februar 1918, bildeten unter der Leitung von Cserny einen Stoßtrupp in der Roten Armee. Dieser trat insbesondere bei der Verteidigung Budapests in Erscheinung, als der französisch-serbische Handstreich gegen die Hauptstadt zurück geschlagen wurde, und bei der Unterstützung der kurzlebigen Räterepublik in der Slowakei im Mai 1919. Aufgrund ihres entschlossenen Engagements für die proletarische Revolution wurden sie „Lenins Kerle“ genannt.

In Russland stellten die Anarchisten trotz aller Divergenzen mit den Bolschewiki ihre Loyalität zur Revolution unter Beweis, als im Oktober 1919 die weiße Offensive gegen Petrograd geführt wurde. „Die anarchistische Föderation von Petrograd - arm an militanten Kräften, da sie die besten an die verschiedenen Fronten und für die bolschewistische Kommunistische Partei entsandt hat, steht in diesen ernsten Stunden (…) voll und ganz an der Seite der Partei.“

Die Infragestellung der anarchistischen Dogmen

Die Erfahrung des Weltkriegs und danach die der Revolution drängten allen Revolutionären eine Revision der Ideen und Kampfmethoden auf. Diese Anpassung sah aber nicht für alle Revolutionäre gleich aus. Gegenüber dem Weltkrieg hielt die Linke in der Sozialdemokratie, hielten die Kommunisten (Bolschewiken und Spartakisten an ihrer Spitze) einen unverbrüchlichen Internationalismus aufrecht. Sie waren entscheidender Art und Weise fähig, den Willen der Arbeitermassen auszudrücken und ihn so auch vorwärts zu bringen. Die Militanten hatten die Fähigkeit, in Einklang mit ihrem Programm die unmittelbaren Tagesaufgaben aufzunehmen und zu verstehen, dass dieser Krieg die Dekadenz des Kapitalismus ausdrückte. Dies hatte zur Folge, dass das Ziel des Proletariats, der Kommunismus, das Maximalprogramm der Sozialdemokratie, sich als unmittelbares Ziel darstellte.

Man konnte nicht das Gleiche für die Anarchisten feststellen. Sie, die nur „Völker“ sahen, mussten zuerst ihre Kriegsfeindlichkeit und ihren Internationalismus auf etwas anderes abstützen, sie übernahmen die Klassenpositionen des Proletariats, um der sozialen Revolution treu zu bleiben. Indem sie sich gegenüber den Positionen öffneten, die die Kommunisten entwickelt hatten (in den internationalen Konferenzen), gelang es ihnen auch, ihren Kampf gegen den Kapitalismus zu verstärken. Auch überwanden sie dadurch, die apolitische Haltung, d.h. die Verwerfung jeglichen politischen Kampfes, die eigentlich eine typische Auffassung des Anarchismus ist. So ist in der CNT das Buch von Lenin, Staat und Revolution, sehr aufmerksam gelesen worden, und die CNT zog daraus die Schlussfolgerung, dass dieses Buch eine zusammenführende Brücke für den Marxismus und den Anarchismus darstelle.

Wenn man den Fokus vom Misstrauen gegenüber der Politik oder vom Antiautoritarismus wegnimmt, führte ihre Fähigkeit, von der Praxis der Arbeiterklasse, gegen den Krieg zu kämpfen, und vom revolutionären Prozess in Russland und Deutschland zu lernen, dazu, dass sie eine konsequente internationalistische Haltung einnahmen.

An ihrem Kongress von 1919 bringt die CNT ihre Unterstützung für die russische Revolution und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats zum Ausdruck. Die CNT unterstreicht weiter, dass die Prinzipien und die Ideale, die diese Revolution verkörpert, mit den ihren identisch seien. Sie diskutieren auch über den Beitritt in die Kommunistische Internationale.

In gleichem Sinne führt der Anarchist E. Mühsam nach seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik aus: „Die theoretischen und praktischen Thesen Lenins, wie man die Revolution weiterführt, und über die kommunistischen Aufgaben für das Proletariat haben unserer Aktion eine neue Grundlage gegeben … Keine unüberwindbare Hindernisse bestehen mehr, um das gesamte revolutionäre Proletariat zu vereinigen. Die Anarchisten mussten, es ist wahr, beim wichtigsten Punkt der Auseinandersetzung zwischen den beiden großen sozialistischen Strömungen nachgeben. Sie mussten die negative Auffassung von Bakunin über die Diktatur des Proletariats aufgeben und den Standpunkt von Marx übernehmen. Die Einheit des revolutionären Proletariats ist notwendig und diese darf nicht verzögert werden. Die einzige Organisation, die dies vollziehen kann, ist die Kommunistische Partei Deutschlands.“

Im anarchistischen Milieu gab es tatsächlich viele ehrlich von der gesellschaftlichen Revolution überzeugte Genossinnen und Genossen, die sich entschlossen haben, sich dem Kampf der Arbeiterklasse anzuschließen. Die Erfahrung der Geschichte zeigt, dass sie immer dann, wenn sie revolutionäre Positionen übernahmen, sich auf proletarische Positionen abstützten, die aus der Erfahrung und der wirklichen Bewegung der Arbeiterklasse stammten, und sich gleichzeitig den Kommunisten annäherten, mit denen sie zur gegenseitigen Bereicherung zusammen arbeiteten.

Scott

 

 

<!--[if !supportEndnotes]-->

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<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Brief von Kropotkin an J. Grave, 2. September 1914

<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> Manifest der Sechzehn (so benannt nach der Anzahl der Unterzeichner), 28. Februar 1916

<!--[if !supportFootnotes]-->[3]<!--[endif]--> La Bataille syndicaliste, Presseorgan der CGT, im August 1914

<!--[if !supportFootnotes]-->[4]<!--[endif]--> Brief an J. Grave

<!--[if !supportFootnotes]-->[5]<!--[endif]--> D. Guérin, l’Anarchisme, Verlag Idées Gallimard, S. 80

<!--[if !supportFootnotes]-->[6]<!--[endif]--> L’internationale anarchiste et la guerre, Februar 1915

<!--[if !supportFootnotes]-->[7]<!--[endif]--> Vgl. La CNT face à la guerre et à la révolution (1914-19), Revue internationale Nr. 129 (frz./engl./span. Ausgabe) und unsere Serie über die Geschichte der CNT in den Nrn. 128 bis 133 der gleichen Revue

<!--[if !supportFootnotes]-->[8]<!--[endif]--> Vgl. L’anarcho-syndicalisme face à un changement d’époque : la CGT jusqu’en 1914, Revue Internationale Nr. 120 (frz./engl./span. Ausgabe)

<!--[if !supportFootnotes]-->[9]<!--[endif]--> „Sobre la paz dos criterios“ (Zwei Kriterien für den Frieden), Solidaridad obrera, Juni 1917

<!--[if !supportFootnotes]-->[10]<!--[endif]--> 7. November 1917

<!--[if !supportFootnotes]-->[11]<!--[endif]--> 21. November 1917

<!--[if !supportFootnotes]-->[12]<!--[endif]--> R. Bardy: 1919, la Commune de Budapest, Verlag La Tête de Feuilles, 1972, S. 60

<!--[if !supportFootnotes]-->[13]<!--[endif]--> V. Serge, l’An I de la Révolution russe (Das Jahr Eins der Russischen Revolution), Verlag la Découverte, S. 509

<!--[if !supportFootnotes]-->[14]<!--[endif]--> Brief von Erich Mühsam an die Kommunistische Internationale (September 1919), Bulletin communiste,22. Juli 1920

Politische Strömungen und Verweise: 

  • "Offizieller" Anarchismus [5]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [6]

Historische Ereignisse: 

  • Anarchismus Weltkrieg [7]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [8]

Korea: Die Niederlage bei Ssangyong zeigt die Notwendigkeit der Ausdehnung der Kämpfe

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Einer der bedeutendsten Ausbrüche des Klassenkampfes in Südkorea seit vielen Jahren, die Besetzung der Ssangyong-Autofabrik in Pyeongtaek nahe Seoul, endete Anfang August.

Nachdem sie die Fabrik 77 Tage lang unter Belagerungsbedingungen besetzt gehalten hatten, bei denen ihnen Nahrung, Wasser, Gas und Elektrizität verweigert wurden, und wiederholten Angriffen durch die Polizei, unterstützt von einer kleinen Armee von angeheuerten Schlägern des Konzerns sowie Streikbrechern, widerstanden hatten, waren die ArbeiterInnen gezwungen, die Besetzung aufzugeben, obwohl viele ihrer Schlüsselforderungen nicht erfüllt wurden. Danach waren sie unmittelbar einer Welle der Repression in Form von Inhaftierungen, Verhören und möglichen horrenden Geldstrafen ausgesetzt.

Die südkoreanische Wirtschaft hat sich im Grunde nie richtig erholt von der Crash-Landung der „Tiger“ und „Drachen“ 1997 – einem Vorläufer des heutigen „credit crunch“. Angesichts einer globalen Automobilindustrie, die in großen Schwierigkeiten steckt, hat die Ssangyong Motor Company, die mittlerweile von einem chinesischen Motoren-Konglomerat kontrolliert wird, allmählich die Arbeitsplätze reduziert und wartete mit dem Plan auf, die Fabrik als Nebenbürgschaft anzubieten, um sich Darlehen zu sichern, die sie benötigte, um dem Bankrott zu entgehen. Dieser Plan beinhaltete viele Entlassungen - 1.700 ArbeiterInnen sollen in den vorzeitigen Ruhestand geschickt und 300 GelegenheitsarbeiterInnen gefeuert werden – und einen Technologietransfer nach China mit dem eventuellen Ziel, alles zusammen in die billigen Arbeitsmärkte auszugliedern, die Koreas mächtiger Nachbar zur Verfügung hat.

Der Streik und die Fabrikbesetzung, die am 22. Mai begannen, erhoben die Forderung nach keinen Entlassungen, keiner Teilzeitarbeit und keinem Outsourcing. Während der Besetzung haben die ArbeiterInnen, die die Fabrik hielten, einen beispielhaften Mut und Erfindungsreichtum bei ihrer Verteidigung gegen die Polizeikräfte gezeigt, die mit Hubschraubern, Tränengas, Betäubungsgewehren und anderen militärischem Waffen ausgerüstet waren. Dieser Widerstand erforderte nicht nur die Erstellung von improvisierten Waffen (Metallrohre, Molotowcocktails, Steinschleudern), sondern auch Planung und einen Sinn für Taktik – zum Beispiel reagierten sie auf die überwältigenden Zahl der Angreifer, indem sie sich in die Lackiererei zurückzogen und (richtigerweise) damit rechneten, dass die leicht entflammbaren Materialien dort die Polizei daran hindern würde, Tränengaskanister zu benutzen, besonders eingedenk der jüngsten Tragödie in Seoul, wo fünf Menschen in einem Feuer starben, das während eines Zusammenstoßes mit der Polizei ausgelöst wurde.

Diese Aktivitäten erforderten Initiative und Selbstorganisation. Es scheint, dass die ArbeiterInnen in 50 oder 60 zehnköpfige Gruppen organisiert waren, wobei jede dieser Gruppen einen Delegierten zur Koordinierung der Aktionen wählte.

Diese Besetzung regte zu Solidaritätsaktionen anderer ArbeiterInnen an, von denen viele dieselbe unsichere Zukunft teilen. Die ArbeiterInnen von der nahegelegenen Kia-Automobilfabrik waren besonders aktiv; Hunderte von ArbeiterInnen kamen zur Fabrik, um sie gegen die konzertierte Polizeiattacke zu verteidigen. Versuchen, zu den Fabriktoren zu gelangen und die Besetzer mit Nahrungsmitteln zu versorgen, wurde mit der gleichen brutalen Gewalt begegnet, wie sie gegen die ArbeiterInnen innerhalb der Fabrik ausgeübt wurde. Die Besetzung genoss zweifellos eine beträchtliche Unterstützung in der koreanischen Arbeiterklasse – eine Tatsache, die sich auch darin widerspiegelt, dass der nationale Gewerkschaftsbund, die KCTU, zu einem zweitägigen Generalstreik und einer nationalen Solidaritätskundgebung Ende Juni aufrief.

Hinter der Niederlage

Doch obgleich einige der ursprünglichen Maßnahmen, die von den Bossen vorgeschlagen wurden, gegen Ende des Streiks zurückgenommen wurden, endete die Besetzung in der Niederlage. Die ArbeiterInnen kehrten misshandelt und übel zugerichtet aus der Besetzung zurück, manche von ihnen schwer verletzt, mit einer kleinen Welle von Selbstmorden unter den Beschäftigten oder deren Familien.

„In den Schlussverhandlungen stimmte der örtliche Gewerkschaftsführer einem vorzeitigen Ruhestand (d.h. Entlassung mit Abfindung) für 52 Prozent der Besetzer und der Beurlaubung von 48 Prozent für ein Jahr ohne Bezahlung zu, wobei Letztere nach einem Jahr wieder eingestellt werden sollen, falls es die wirtschaftlichen Bedingungen zulassen. Die Firma wird ebenfalls ein Jahr lang monatlich 550.000 Won Unterstützung an einige ArbeiterInnen zahlen, die in den Vertrieb versetzt wurden.

In den folgenden Tagen kam alles noch schlimmer mit der Inhaftierung und drohenden Verfahren von einer großen Anzahl von ArbeiterInnen sowie einer Klage in Höhe von 500.000.000 Won (45 Mio. US-Dollar) des Konzerns gegen die KMWU. Wie angedeutet, kann es auch zu Anklagen gegen einzelne Beschäftigte kommen, was im Rahmen der koreanischen Arbeitsgesetzgebung möglich ist, und was in der Vergangenheit streikende ArbeiterInnen in die Armut stürzte. Der Konzern behauptet, dass der Streik Schäden in Höhe von 316 Milliarden Won (258,6 Mio. US-Dollar) und einen Produktionsausfall von 14.600 Fahrzeugen verursacht habe.“(1)

Was diese Niederlage vor allem aufzeigt, ist, dass, einerlei wie gut man die Verteidigung einer besetzten Fabrik organisiert, der Kampf in der breiten Mehrheit der Fälle niedergeschlagen wird, sofern er sich nicht ausdehnt. Die zentrale Notwendigkeit jeglicher Gruppe von ArbeiterInnen, die sich Entlassungen gegenübersehen, besteht darin, zu anderen Arbeitern, anderen Fabriken und Büros zu gehen und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Aktion so wie der Veränderung des Kräfteverhältnisses zu erklären, das die Bosse und den Staat dazu zwingen kann, zurückzuweichen. Die aktive Solidarität, die von den KIA-Arbeitern und anderen vor den Fabriktoren an den Tag gelegt wurde, zeigt, dass dies nicht utopisch ist; die Betonung liegt auf Ausweitung statt auf einfachen Widerstand gegen Polizeiübergriffe, so notwendig er auch sein mag. Arbeiter, die über diese Niederlage nachdenken, müssen sich die Frage stellen: Warum wurden diese realen Ausdrücke der Solidarität nicht in eine direkte Ausweitung des Kampfes auf KIA und andere Betriebe umgewandelt?

Unserer Ansicht nach liegt der Schlüssel dafür darin, dass die Angelegenheit der Ausweitung von den Gewerkschaften in die Hand genommen wurde, deren „Generalstreiks“ Teil eines ausgeklügelten Rituals waren – symbolische Aktionen, die keineswegs darauf abzielten, große Zahlen von ArbeiterInnen allein für die Unterstützung der Ssangyong-Besetzung zu mobilisieren, die dabei allein gelassen wurde, den Kampf mit ihren eigenen Forderungen auszuweiten. Innerhalb der Fabrik hat die Gewerkschaft (die KMWU) allem Anschein nach eine allgegenwärtige Kontrolle über die Lage aufrechterhalten. Loren Goldner, der in Korea war, als der Streik begann, und der der Fabrik einen Besuch abstattete, gab seine Diskussion mit einem Arbeiter wieder, der an der Besetzung teilnahm: „Ich sprach mit einem Aktivisten, der an der Besetzung teilnahm und sich kritisch über die Rolle der Gewerkschaft äußerte. Seiner Ansicht nach behielt die KMWU die Kontrolle über den Streik. Doch im Gegensatz zur Rolle der Gewerkschaften im Kampf bei Visteon im Vereinten Königreich oder beim Stellenabbau in der US-Autoindustrie unterstützte die KMWU illegale Aktionen wie die Inbesitznahme der Fabrik und Vorbereitungen für ihre bewaffnete Verteidigung. Andererseits konzentrierte sie sich in den Verhandlungen mit dem Konzern auf die Forderung nach Verzicht von Entlassungen und spielte die Forderungen nach Arbeitsplatzsicherheit für alle und gegen das Outsourcing herunter.“

Die Ausweitung des Kampfes kann nicht den Gewerkschaften überlassen werden – sie kann effektiv nur von den ArbeiterInnen selbst ausgeführt werden. Wenn die Gewerkschaften illegale Aktionen unterstützen und wenn ihre lokalen Repräsentanten am Kampf teilnehmen, beweist dies nicht, dass die Gewerkschaften gelegentlich auf der Seite der Kämpfenden sind. Bestenfalls zeigt dies, dass niederrangige Gewerkschaftsfunktionäre, wie im Falle des örtlichen KMWU-Präsidenten, oftmals ebenfalls Arbeiter sind und noch immer als Arbeiter handeln können; doch schlimmstenfalls dient dies zur Aufrechterhaltung der Illusion, dass Gewerkschaften, zumindest auf lokaler Ebene, noch immer kämpfende Organisationen des Proletariats sind.

Goldner zieht folgende Schlussfolgerungen aus der Niederlage:

„Die Ssangyong-Niederlage kann nicht bloß der lahmen Rolle der nationalen Organisation der KMWU zugeschrieben werden, die von Anfang an erlaubte, dass die Verhandlungen sich allein auf das ‚Keine Entlassungen‘ konzentrierte (...) Auch kann die Niederlage nicht völlig mit der Atmosphäre der Wirtschaftskrise erklärt werden. Beide Faktoren spielten zweifellos eine wichtige Rolle. Doch vor allem und über ihren unbestrittenen Einfluss hinaus ist es das alljährliche Zurückwerfen der koreanischen Arbeiterklasse, vor allem durch die Prekarisierung, die mittlerweile mehr als 50 Prozent der Arbeitskräfte betrifft. Tausende von Arbeitern von der nahegelegenen Fabrik unterstützten wiederholt den Streik bei Ssangyong, doch reichte dies nicht aus. Die Niederlage der Ssangyong-Streikenden wird trotz ihres Heldentums und Hartnäckigkeit nur die herrschende Demoralisierung vertiefen, bis eine Strategie entwickelt wird, die genügend breite Unterstützerschichten mobilisieren kann, nicht nur um diese defensiven Schlachten zu schlagen, sondern auch um die Offensive überzugehen.“

Wir möchte gern zustimmen, dass die Atmosphäre der Wirtschaftskrise eine lähmende Wirkung auf viele ArbeiterInnen ausüben kann und ausübt, die sehen, dass die Streikwaffe häufig unwirksam ist, wenn die Fabrik sowieso geschlossen werden soll, und die gesehen haben, wie so viele Besetzungen gegen Werksschließungen nach langer Belagerung erdrosselt wurden. Der Prozess der Prekarisierung trägt ebenfalls seinen Teil zur Atomisierung der Arbeitskräfte bei, obgleich wir nicht denken, dass er ein entscheidender Faktor ist, zudem trifft er nicht auf Korea allein zu. Jedenfalls ist die Prekarisierung selbst ein Aspekt der Krise, eine der vielen Maßnahmen der Bosse, um die Arbeitskosten zu reduzieren und den Widerstand zu zerstreuen.

Letztendlich aber hat Goldner Recht, wenn er sagt, dass die ArbeiterInnen zur Offensive übergehen müssen – das heißt, zu Massenstreiks, die das Ziel des Sturzes des Kapitalismus anstreben -, doch es ist genau diese dämmernde Erkenntnis von der Größe der Aufgabe, die anfangs die ArbeiterInnen davor zurückschrecken lässt, sich in überhaupt an einem Kampf zu beteiligen.

Eins ist klar: Der Übergang von den defensiven zu den offensiven Kämpfen kann nicht in Korea allein erfolgen. Er kann nur das Resultat einer internationalen Reifung des Klassenkampfes sein, und in diesem Sinn kann die Niederlage bei Ssangyong und die Lehren, die man ihr entnehmen kann, einen realen Beitrag zu diesem Prozess leisten.

Amos 1.September 2009

(1) Aus der detaillierten Bilanz des Streiks, verfasst von Loren Goldner auf libcom.org

Aktuelles und Laufendes: 

  • Ssangyong - Arbeiterstreik [9]
  • Gewerkschaften Korea [10]
  • Arbeiterkampf Korea [11]

Leute: 

  • Loren Goldner Ssangyong [12]

Schweizer Bourgeoisie auf internationalem Parkett in Bedrängnis

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Libyens Staatschef Gaddafi will die Schweiz von der Weltkarte streichen. Er brachte diesen Sommer in der UNO einen entsprechenden Antrag ein, nach dem die Schweiz auf die drei Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich und Italien aufteilt werden soll. In dieser Frage hat zwar Gaddafi wenig Gefolgschaft erhalten. Doch die offizielle Schweiz steht ihrerseits auch ziemlich isoliert da, was sich nicht nur im Streit mit Libyen zeigt, sondern auch in letztlich ernsthafteren Schwierigkeiten in den Beziehungen zu den USA oder Deutschland.

Diese Lage ist zwar nicht neu. Die Zuspitzung der unbequemen Lage, in der sich die Schweiz befindet, ist allerdings frappant.

 

Außenpolitik

Während des “Kalten Krieges” galt die Außenpolitik der Schweiz als verlässlich und stabil, weil sie – obschon formell neutral – fest zum Block der westlichen Länder gehörte. Die Schweiz betrieb vor allem Wirtschaftspolitik als Außenpolitik.

1989 änderte vieles: Das Umfeld wurde durch den Zusammenbruch des Ostblocks und die damit verbundene Auflösung des westlichen Blocks für verschiedene Länder schwieriger. Kleine Staaten wie die Schweiz, Österreich oder Tschechien haben einerseits größeren Spielraum erhalten, sind aber andererseits auch dem vermehrten Druck vieler Kräfte der zunehmenden imperialistischen Konkurrenz ausgesetzt.

Die letzten Jahre brachten eine Häufung außenpolitischer Konflikte und Querelen mit sich. Dabei handelte es sich oft zum wiederholten Male um die USA, Libyen und die Türkei. Aber jüngst auch um Deutschland.

Bei den USA und Deutschland wurde der Bankenplatz Schweiz zur Zielscheibe. Bei Libyen waren es diplomatische Querelen.

Die Schweiz findet heute nicht mehr immer einen guten Onkel, der sie unterstützt und bei Schwierigkeiten hilft. Im Gegenteil, oft steht sie allein im Regen oder wird sogar zur Zielscheibe der ehemaligen Patenonkel USA und Deutschland. Und andere Großmächte können substantielle Interessen der Schweiz nachhaltig stören.

Wie kann in diesem Umfeld die Bourgeoisie in der Schweiz ihre Interessen nicht nur wahren, sonder auch aktiv - bestmöglich vertreten?

Auf dem Hintergrund des immer noch eingeschlagenen Sonderkurses (außerhalb der EU, aber in Anlehnung an sie) setzt sich die Schweizer Bourgeoisie einem ständigen Druck zum Nachgeben auf den verschiedensten Gebieten aus. Das “Bestmögliche” kann immer nur in Verhandlungen von Fall zu Fall herausgeholt werden, z.B. bei Bankgeheimnis, Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Alpentransit usw. Die Pleite der Swissair 2001 war unter anderem ein Ausdruck dieser Schwierigkeiten. Der zunehmende Druck auf das Bankgeheimnis ein anderes.

Seit einigen Jahren wird das Bankgeheimnis von den USA, der EU, Deutschland, Frankreich und anderen immer mehr unter Beschuss genommen. Das Bankgeheimnis ist so etwas wie das “Reduit” des Finanzplatzes Schweiz (eine Position, die nicht aufgegeben werden soll), weil es ein Vorteil für Anleger ist, dass keinem Finanzamt und keiner Steuerbehörde Auskunft erteilt wird. Dadurch sind in der Schweiz heute einige 100 Milliarden Franken “geparkt”, welche anderen Staaten als zu versteuerndes Einkommen bzw. Vermögen fehlen. Deshalb machen diese Staaten Druck auf die Schweiz.

In letzter Zeit kam die Schweiz im Zuge der Weltwirtschaftskrise zunehmend, vor allem bei Steuerfluchtgeldern, die durch das Bankgeheimnis abgedeckt werden, von mehreren Seiten unter massiven Dauerbeschuss.

Der Fall USA vs. UBS: Auch die Schweizer Bank UBS ging in den USA seit Jahren auf Kundenfang, um reichen Amerikanern mehr oder weniger offen zur Kapitalanlage außerhalb der USA zu verhelfen, bevor dieses Geld besteuert wurde. Die USA verlangten in der Folge die Herausgabe der Daten von 50‘000 US-Kunden, die der Steuerhinterziehung verdächtigt werden. Die Schweiz und die USA unterschrieben am 19. August 2009 einen Vergleich. Die Schweiz verpflichtet sich, im Fall von 4450 amerikanischen UBS-Kunden Amtshilfe wegen Steuerhinterziehung zu leisten.

Der unnachgiebige Beschuss von Seiten Deutschlands: Deutschland will auch an hinterzogenes Steuergeld kommen. Dies soll dadurch erreicht werden, dass die Schweiz bei der OECD auf eine “Graue Liste” gesetzt worden ist, damit sie den allgemein gültigen Standard einhält.

Die Schweiz will in diesem Rahmen der OECD mit allen interessierten Staaten ein Doppelbesteuerungsabkommen abschließen, um von dieser "Grauen Liste" wieder gestrichen zu werden. Mit einigen Staaten wurden bereits solche Abkommen geschlossen. Das hält aber Deutschland, Frankreich und andere nicht davon ab, die Schweiz weiterhin unter Druck zu setzen. Das Bankgeheimnis wird von mehreren Seiten sturmreif geschossen.

 

Innenpolitik

Dass die Auflösung der Blöcke und insbesondere diejenige des westlichen Blocks die Schweiz in ein viel schwierigeres Umfeld stieß, ist das Eine. Dass die Schwerfälligkeit der politischen Konstellationen der Schweiz die Probleme noch verschärfte, ist das Andere.

Das heißt: Der Aufstieg der rechtspopulistischen Partei SVP (Schweizerische Volkspartei) nach 1989 hat diese unbewegliche Schwerfälligkeit mit einem isolationistischen Nationalismus eher noch zementiert. Dies begünstigte eine Entwicklung, in der sich die Schweizer Bourgeoisie im international veränderten Umfeld nicht mit einer den Verhältnissen angepassten Außenpolitik neu positionierte, sondern von Fall zu Fall durchsetzbare Lösungen suchte, die somit nicht mehr eine kohärente Außenpolitik ausdrückten. Es brachte mehr ein Nebeneinander von zwei sich widersprechenden außenpolitischen Tendenzen mit sich. Die Außenpolitik konnte innenpolitisch nur durchgesetzt werden, indem sie im Moment des Problems zwar Mehrheiten fand, aber von der anderen Seite unter Daueropposition stand. Dies gilt, wie schon gesagt nicht nur für die Schweiz, sondern bewegt sich im allgemeinen Rahmen des Zerfalls des Kapitalismus. Auf dem Hintergrund hat sich die innenpolitische Ausrichtung der Parteien (z.B. kein EU-Beitritt) außenpolitisch ausgewirkt.

Innenpolitik ist eben – und gerade für kleine Länder – immer noch Außenpolitik, bzw. Außenpolitik ist Innenpolitik.

Wenn die SVP die Kapitalverwertungsbedürfnisse im Innern zwar am besten durchsetzen konnte, dann aber indem sie insbesondere die Arbeiterklasse mit nationalistischen Parteiparolen, Abstimmungs- und Wahlkämpfen in einem solchen Ausmaß drangsalierte, dass diese Kampagnen auch im Ausland registriert wurden.

Es liegt weiter auf der Hand, dass die Classe Politique dann von dieser größten aufsteigenden Partei immer mehr beeinflusst und bestimmt wurde, sich also dieser Politik-Stil bereits auch reproduziert. Damit meinen wir nicht, dass sich alle Parteien isolationistisch gebärden, sondern dass sich Politiker der anderen Parteien, eine kurzfristige "Hauruck" Vorgehensweise zu eigen machen. Was ja eben früher gerade nicht Praxis schweizerischer Außenpolitik war. Unter anderem kann so annähernd begriffen werden, dass Politiker anderer Parteien einen undiplomatischen Politik-Stil übernehmen, der irrational ist, und eher der Selbstschädigung gleichkommt.

 

Affäre Libyen

So geschehen beim jüngsten Fehltritt von H.-R. Merz in der Affäre mit Libyen. Er scheint, kurz nach der Lösung des UBS-Problems in Sachen Steuerhinterziehung mit den USA, in einer Dynamik gewesen zu sein, in der er auch gleich anderes meinte kurzfristig lösen zu können. Obschon es warnende Stimmen gab, ignorierte er diese. Er ließ sich zu einer persönlichen Intervention in Libyen verleiten, die man nur als Kniefall bezeichnen kann.

Die neue Affäre mit Libyen begann vor fast zwei Jahren mit der kurzzeitigen Verhaftung des Gaddafi-Sohns Hannibal in Genf wegen Handgreiflichkeiten gegen Hotelpersonal.

Kurze Zeit später ließ die libysche Regierung zwei Schweizer Geschäftsleute wegen Verletzung von Visumsbestimmungen nicht mehr ausreisen. Sie wurden in Tripolis sogar vorübergehend ins Gefängnis gesteckt.

Diese Querelen belasteten die Schweizer Außenpolitik in Nordafrika zunehmend. Das Schweizer Außenministerium war sich dessen bewusst. Erfahrungsgemäß wurde davon ausgegangen, dass insbesondere mit Gaddafi keine schnelle Lösung in Sicht ist. Vielleicht spekulierte man auf die Begnadigung der zwei Geschäftsleute im Zuge des 40-Jahr-Jubiläums der Machtergreifung Gaddafis Anfang September 2009.

Am Donnerstag dem 20. August 2009 flog Merz nach Tripolis. Dort wurde ein Staatsvertrag zur Normalisierung der Beziehungen unterzeichnet. Und in diesem Vertrag wurde ein internationales Schiedsgericht vereinbart zur Beurteilung des Vergehens von Hannibal Gaddafi. Dabei entschuldigte sich Merz für dessen Verhaftung.

Am Dienstag 25. August verkündete Merz, dass die “Geiseln” – die zwei Geschäftsleute - bald zurückkehren würden. Es war einigermaßen gewagt, aufgrund eines Telefonanrufes sofort den Bundesrats-Jet nach Tripolis zu schicken. Die Erwartung war, dass die Maschine “heute oder morgen" mit den “Geiseln” zurückkommen würde. Als dies nach drei Tagen noch nicht der Fall war, wurde der
1. September als so etwas wie die Deadline gesetzt (40-Jahr-Jubiläum). In diesen Tagen, wurde von den Medien mehrmals der Rücktritt von Merz thematisiert. Und dies auch wegen dem abgeschlossenen Staatsvertrag und dem Kniefall. Also noch nicht einmal wegen einer allfälligen Fortsetzung des Ausreiseverbots gegen die beiden Schweizer durch Libyen.

Doch als es soweit war, da die “Geiseln” nicht zurückkamen, ging ein im Sinne der Bourgeoisie vernunftmäßiger Ruck durchs Land: Von Rücktrittsforderungen im großen Stil war keine Rede mehr.

Der Grund ist offensichtlich: H.-R. Merz ist Bundesrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP). Kürzlich trat der zweite FDP-Bundesrat zurück. Dass der frei werdende Sitz wieder durch diese Partei besetzt wird, war keineswegs sicher. In dieser Situation noch der Rücktritt von Merz wäre einer Staatskrise gleichkommen. Und diesen Gefallen wollte die hiesige Bourgeoisie Gaddafi nicht machen. Soweit funktioniert die staatskapitalistische Disziplin der Herrschenden, von links bis rechts.

Dies sei hier nur kurz skizziert, um aufzuzeigen, in welcher Dynamik sich die Classe Politique hierzulande befindet. Diese Dynamik kann auf der Ebene der Wirtschaftskrise untermauert werden. Bei steigender Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Lohnkürzungen ist die Arbeiterklasse damit konfrontiert, dass nächstes Jahr u.a. monatlich viel mehr Geld für die Krankenversicherung bezahlt werden muss.

Es ist klar: ob Innenpolitik oder Außenpolitik, es ist die Politik der herrschenden Klasse, unterstützt von ihren Politikern und Medien aller Couleur.

Die Arbeiterklasse hat von dieser unfähigen Klasse nichts zu erwarten als Krise, Krieg und Armut. Der selbständige und solidarische Kampf der ArbeiterInnen gegen alle Parteien und Politiker – dies muss das politische Ziel sein; dass die Arbeiterklasse den Klassenkampf führen kann. 17.09.2009, G.

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