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Internationale Revue 44

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18. Kongress der IKS: Auf dem Weg zur Umgruppierung der internationalistischen Kräfte

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Ende Mai dieses Jahres hat die IKS ihren 18. internationalen Kongressabgehalten. Wie wir es bis jetzt immer getan haben, und in der Tradition derArbeiterbewegung vermitteln wir den Lesern und Leserinnen unserer Presse diewichtigsten Resultate dieses Kongresses, da diese Lehren nicht eine interneAngelegenheit unserer Organisation sind, sondern die ganze Arbeiterklassebetreffen, von der wir ein Bestandteil sind. 

In der Aktivitätenresolution der IKS, die durch den Kongressangenommen wurde, schrieben wir:

„Die Beschleunigung der historischen Lage, wie sie in derGeschichte der Arbeiterbewegung noch nie vorgekommen ist, ist durch dasZusammentreffen der beiden folgenden Dimensionen gekennzeichnet:

-   dieAusweitung der ernsthaftesten offenen Wirtschaftskrise in der Geschichte desKapitalismus, verbunden mit der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen undseit 2003 einem langsamen, aber sich ausweitenden Voranschreiten der Reifung inder Arbeiterklasse, sowohl in der Tiefe als auch in der Breite;

-   unddie Entfaltung einer internationalistischen Milieus, die vor allem in denLändern der Peripherie des Kapitalismus spürbar ist.

Diese Beschleunigung erhöht noch die politische Verantwortungder IKS, stellte noch höhere Anforderungen an sie hinsichtlich dertheoretischen/politischen Analyse und der Intervention im Klassenkampf undgegenüber den Leuten, die auf der Suche sind (...)".

Die Bilanz, die wir nach dem 18. internationalen Kongressunserer Organisation ziehen können, misst sich also an ihrer Fähigkeit, dieserVerantwortung gerecht zu werden.

Für eine wirkliche und ernsthafte kommunistische Organisationist es immer heikel, lauthals zu verkünden, dass diese oder jene Aktion einErfolg gewesen sei. Dies aus verschiedenen Gründen.

Zunächst einmal deshalb, weil sich die Frage, ob eineOrganisation, die für die kommunistische Revolution kämpft, ihrer Verantwortunggewachsen ist, nicht kurzfristig beurteilen lässt, sondern nur auf lange Sicht,denn obwohl eine solche Organisation ständig in der geschichtlichen Realitätder Gegenwart verankert ist, besteht ihre Rolle meistens nicht darin, dieseunmittelbare Realität zu beeinflussen, mindestens nicht im grossen Stil,sondern die zukünftigen Ereignisse vorzubereiten.

Zweitens aber auch deshalb, weil bei den Mitgliedern einerkommunistischen Organisation immer die Gefahr besteht, die „Dinge zubeschönigen", überaus nachlässig zu sein gegenüber den Schwächen einesKollektivs, für dessen Existenz sie sich hingeben, ihre ganze Energie einsetzenund das sie dauernd gegen Angriffe verteidigen müssen, die von den offenen undversteckten Verteidigern der kapitalistischen Gesellschaft gegen es geführtwerden. Die Geschichte zeigt uns, dass es immer wieder überzeugte und dem Zieldes Kommunismus treue Militante gegeben hat, die aus „Parteipatriotismus" blindwaren, die Schwächen, das Entgleisen, ja den Verrat ihrer Organisation zuerkennen. Auch heute gibt es unter den Leuten, die eine kommunistischePerspektive verteidigen, solche, die meinen, dass ihre Gruppe, deren Mitgliederman oft an den Fingern einer Hand zählen kann, die einzige „InternationaleKommunistische Partei" sei, der sich eines Tages die proletarischen Massenanschliessen würden, solche, die keine Kritik hören und keine Debatte führenund meinen, alle anderen Gruppen des proletarischen Milieus seienFälscher.  

Im Bewusstsein dieser Gefahr, sich Illusionen zu machen, undmit der nötigen Vorsicht, die sich daraus ergibt, scheuen wir uns nicht zubehaupten, dass der 18. Kongress der IKS sich auf der Höhe der Anforderungenbefand, wie sie weiter oben erwähnt worden sind, und dass er dieVoraussetzungen geschaffen hat, damit wir unsere Aktivitäten auf diesem Wegfortsetzen können.

Wir können hier nicht über alle Faktoren, die diese Behauptungstützen, Rechenschaft ablegen. Wir heben hier nur die wichtigsten hervor:

-   dieTatsache, dass der Kongress mit der Ratifizierung der Integration zweier neuerterritorialer Sektionen der IKS eröffnet werden konnte, nämlich der Sektionenauf den Philippinen und in der Türkei;

-   dieAnwesenheit von vier Gruppen des proletarischen Milieus;

-   diePolitik der Öffnung unserer Organisation gegenüber aussen, welche namentlichdurch diese Teilnahme anderer Gruppen veranschaulicht wird;

-   derWille unserer Organisation, sich mit möglichst grosser Klarheit mit denSchwierigkeiten und Schwächen zu beschäftigen, die wir überwinden müssen;

-   diebrüderliche und begeisterte Stimmung, von der die Arbeiten des Kongressesgetragen waren. 

DieAufnahme von zwei neuen territorialen Sektionen

Unsere Presse hat bereits darüber berichtet, dass auf denPhilippinen und in der Türkei zwei neue Sektionen der IKS entstanden sind (derKongress war zuständig dafür, die Integrationen, die das Zentralorgan unsererOrganisation im Januar 2009 beschlossen hat, zu bestätigen).[1]Wie wir bei dieser Gelegenheit festgehalten hatten: „Die Integration dieserbeiden neuen Sektionen in unsere Organisation erweitert somit beträchtlich diegeographische Ausdehnung der IKS." Wir hoben auch die beiden folgendenTatsachen bezüglich dieser Integrationen hervor:

-   Sieberuhten nicht auf einer Hauruck-„Rekrutierung" (welche Mode ist bei denTrotzkisten und leider auch bei gewissen Gruppen des proletarischen Lagers),sondern waren das Ergebnis, wie dies bei der IKS üblich ist, einer Arbeit mitVertiefungsdiskussionen während mehrerer Jahre mit den Genossen von EKS in derTürkei und Internasyonalismo auf den Philippinen, eines Prozesses, über den wirin unserer Presse Zeugnis ablegten;

-   sie widerlegten den Vorwurf des„Eurozentrismus", der oft gegen unsere Organisationen erhoben wird.

Die Aufnahme von zwei neuen Sektionen ist nicht etwasAlltägliches für unsere Organisation. Die letzte Integration geht ins Jahr 1995zurück, als die Schweizer Sektion aufgenommen wurde. Das heisst, dass dieAnkunft dieser beiden neuen Sektionen (die auf die Bildung eines Kerns inBrasilien 2007 folgte) von der Gesamtheit der Mitglieder als ein sehr wichtigesund positives Ereignis empfunden wurde. Sie bestätigt einerseits die Analyse,die unsere Organisation seit einigen Jahren über das neue, in der gegenwärtigenhistorischen Situation angelegte Potential zur Entwicklung desKlassenbewusstseins macht, andererseits die Gültigkeit der Politik, die wirgegenüber den Gruppen und Einzelpersonen führen, die sich den revolutionärenPositionen zuwenden. Dies gilt umso mehr, als am Kongress Delegationen von vierGruppen des internationalistischen Milieus anwesend waren. 

DieAnwesenheit von internationalistischen Gruppen

In der Bilanz, die wir über denvorangegangenen Kongress der IKS zogen, unterstrichen wir, wie wichtig die(nach Jahrzehnten wieder erstmalige) Anwesenheit von vier Gruppen desinternationalistischen Milieus war, die aus Brasilien, Südkorea, denPhilippinen und der Türkei kamen. Dieses Mal waren wieder vier Gruppen diesesMilieus anwesend. Doch war dies nicht Ausdruck eines Stillstandes, denn zweider Gruppen, die am letzten Kongress als Gäste dabei waren, sind seither Sektionender IKS geworden, und wir haben das Vergnügen gehabt, zwei neue Gruppen zuempfangen: eine zweite Gruppe aus Korea und eine Gruppe aus Zentralamerika(Nicaragua und Costa Rica), die LECO (Liga por la emancipación de la claseobrera), die auch schon am „Treffen von internationalistischen Kommunisten"[2] teilgenommen hatte, das in diesem Frühjahr inLateinamerika auf Anregung der IKS und der OPOP stattgefunden hatte, derinternationalistischen Gruppe in Brasilien, mit der unsere Organisation schonseit mehreren Jahren brüderliche und sehr positive Beziehungen unterhält. DieseGruppe nahm erneut am Kongress teil. Noch weitere Gruppen, die an jenem Treffenin Lateinamerika teilgenommen hatten, waren ebenfalls zum Kongress eingeladenworden, konnten aber keine Delegation schicken, da Europa sich je länger jemehr in eine Festung gegenüber Personen verwandelt, die nicht zum sehr kleinenund geschlossenen Kreis der „reichen Länder" gehören.

Die Anwesenheit von Gruppen desinternationalistischen Milieus war ein sehr wichtiger Faktor für den Erfolg desKongresses und insbesondere auch für die Stimmung bei den Diskussionen. DieseGenossen gingen mit den Mitgliedern unserer Organisation sehr herzlich um,warfen Fragen auf, insbesondere zur Wirtschaftskrise und zum Klassenkampf, diefür uns und unsere internen Debatten ungewohnt waren und somit die Reflexion inder ganzen Organisation nur anregen konnten.

Schliesslich stellte die Teilnahme dieserGenossen ein zusätzliches Element bei der Politik der Öffnung dar, die sich dieIKS seit einigen Jahren als Ziel vorgenommen hat - einer Öffnung gegenüber denanderen proletarischen Gruppen, aber auch gegenüber Leuten, die sichkommunistischen Positionen annähern. Eine Öffnung auch unserer Sorgen undReflexionen, namentlich hinsichtlich der Forschung und der Entdeckungen aufwissenschaftlichem Gebiet[3], die sich konkretisiert hat in der Einladung einesMitgliedes der Wissenschaftszunft zu einer Sitzung des Kongresses.

DieEinladung eines Wissenschafters

Um auf unsere Weise das „Darwin-Jahr" zu begehen und einer inunserer Organisation stattfindenden Entwicklung des Interesses fürwissenschaftliche Fragen Rechnung zu tragen, fragten wird einen Forscher, dersich auf das Thema der Entstehung der Sprache spezialisiert hat (und Autoreinen Werks mit dem Titel Aux origines du langageist), ob er auf dem Kongress eine Einführung in seine Arbeiten mache, dienatürlich auf der Darwinschen Methode beruhen. Die neuen Ideen Jean-LouisDessalles'[4]auf dem Gebiet der Sprache, zu ihrer Rolle bei der Entwicklung dergesellschaftlichen Beziehungen und der Solidarität in der Gattung Mensch,stehen in Zusammenhang mit den Ideen und Diskussionen, die in unsererOrganisation zu Themen wie Ethik oder Debattenkultur geführt werden. Auf dieEinführung dieses Forschers folgte eine Debatte, die wir gezwungen waren,vorzeitig zu einem Ende zu bringen (da wir unter dem Druck der Tagesordnungstanden), die aber ohne weiteres noch Stunden hätte dauern können - so starkwar die Leidenschaft, in welche sich die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnendes Kongresses durch die aufgeworfenen Fragen versetzen liessen.

Wir möchten hier Jean-Louis Dessalles noch einmal für dieseTeilnahme danken, der - obwohl keineswegs einig mit unseren politischen Ideen -sehr herzlich und unter Hingabe eines Teils seiner Zeit dazu beigetragen hat,die Reflexion in unserer Organisation zu bereichern. Wir möchten ebenfalls diefreundliche und angenehme Art seiner Antworten hervorheben, die er auf dieFragen und Einwände der IKS-Mitglieder gab. 

Die amKongress geführten Diskussionen

Die Arbeit des Kongresses drehte sich um die klassischenPunkte einer solchen Tagung:

-   dieAnalyse der internationalen Lage;

-   dieTätigkeiten und das Leben unserer Organisation.

Die Resolution zur internationalen Lage ist eine ArtZusammenfassung der Diskussionen am Kongress über die Einschätzung deraktuellen Weltlage. Sie kann natürlich nicht auf alle Aspekte eingehen, die inden Diskussionen aufgeworfen wurden (nicht einmal all diejenigen, die in den Berichtenim Vorfeld des Kongresses auftauchten). Sie verfolgt die folgenden dreiHauptziele:

-   diewirklichen Ursachen und Konsequenzen der gegenwärtigen und bisher absoluteinzigartigen Wirtschaftskrise des kapitalistischen Systems zu begreifenangesichts aller Verschleierungen, welche die Verteidiger des Systemsunablässig kolportieren;

-   dieAuswirkungen der Machtergreifung in den USA durch den Demokraten Barack Obamaauf die imperialistischen Auseinandersetzungen zu verstehen, der angekündigtwurde als einer, der etwas Neues zu diesen Konflikten zu sagen habe undHoffnung auf eine Abschwächung derselben wecken soll;

-   die Perspektiven für den Klassenkampfvorzuschlagen, insbesondere unter den neuen Bedingungen der brutalen Angriffe,die das Proletariat aufgrund der Gewalt der Wirtschaftskrise zu erleidenbegonnen hat.

Was den ersten Aspekt betrifft, das Verständnis derKonsequenzen der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, so gilt es vor allemfolgende Aspekte zu unterstreichen:

„(...) die gegenwärtige Krise (ist) die schlimmste seit dergrossen Depression, welche 1929 einsetzte. (...) So ist die Finanzkrise nicht dieWurzel der gegenwärtigen Rezession. Im Gegenteil, die Finanzkrise verdeutlichtnur die Tatsache, dass die Flucht in die Verschuldung, die die Überwindung derÜberproduktion ermöglicht hatte, nicht endlos lange fortgesetzt werden kann.(...) Auch wenn das kapitalistische System nicht wie ein Kartenhauszusammenstürzen wird (...), bleibt die Perspektive die eines immer stärkerenVersinkens in der historischen Sackgasse und der Vorbereitung von nochgrösseren Erschütterungen als jene, die wir heute erleben."

Selbstverständlich hat der Kongress nicht alle Fragenabschliessend beantworten können, die die gegenwärtige Krise des Kapitalismusaufwirft. Dies einerseits deshalb, weil jeder Tag neue Erscheinungen der Krisebringt, die die Revolutionäre zwingen, die Entwicklung der Lage ständig undaufmerksam zu verfolgen und die Diskussion auf der Grundlage der neuen Elementefortzusetzen. Andererseits aber auch deshalb, weil unsere Organisation beieiner ganzen Anzahl von Gesichtspunkten in der Analyse der Krise desKapitalismus nicht homogen ist. Dies ist unseres Erachtens keineswegs einZeichen der Schwäche der IKS. Vielmehr haben sich die auf marxistischer Grundlagegeführten Debatten über die Frage der Krisen des kapitalistischen Systems durchdie ganze Geschichte der Arbeiterbewegung hindurchgezogen. Die IKS hat auchschon damit begonnen, gewisse Aspekte ihrer internen Debatten über diese Fragezu veröffentlichen[5], dadiese Diskussionen nicht „Privateigentum" unserer Organisation sind, sondernder Arbeiterklasse insgesamt gehören. Und sie ist fest entschlossen, diesen Wegweiter zu verfolgen. So verlangt denn auch die Resolution über die Perspektiveder Aktivitäten unserer Organisation, die der Kongress verabschiedete,ausdrücklich, dass sich die Debatten bei weiteren Fragen der Analyse dergegenwärtigen Krise entwickelt, damit die IKS so gut wie möglich gewappnet ist,um klare Antworten auf die Fragen zu geben, die die Krise der Arbeiterklasseund denjenigen Leuten stellt, die entschlossen sind, sich in den Kampf für eineÜberwindung des Kapitalismus einzureihen.

Betreffend die „neue Tatsache", die durch Wahl Obamasgeschaffen wurde, nimmt die Resolution, wie folgt, Stellung:

„Somit ist die Perspektive, vor der die Welt nach der Wahl vonObama zum Präsidenten der grössten Weltmacht steht, nicht grundsätzlichverschieden von der Lage, die bis heute vorgeherrscht hat: Fortsetzung derKonfrontationen zwischen erst- und zweitrangigen Imperialisten, Fortdauer derKriegsbarbarei mit immer tragischeren Folgen für die direkt betroffeneBevölkerung (Hungersnöte, Epidemie, Flüchtlingsströme)."

Schliesslich versucht die Resolution hinsichtlich derPerspektive des Klassenkampfes die Auswirkungen der brutalen Verschlimmerungder kapitalistischen Krise einzuschätzen, wie dies auch die Genossen amKongress getan haben:

„Die gegenwärtige Zuspitzung der Krise des Kapitalismus bildetein wichtiges Element in der Entwicklung der Kämpfe der Arbeiterklasse. (...)Damit reifen die Bedingungen für eine mögliche Entfaltung der Einsicht in denReihen des Proletariates, dass der Kapitalismus überwunden werden muss. Doch esgenügt nicht, wenn die Arbeiterklasse feststellt, dass der Kapitalismus ineiner Sackgasse steckt und einer anderen Gesellschaft Platz machen sollte,damit sie in die Lage versetzt wird, sich eine revolutionäre Perspektive zugeben. Es braucht auch die Überzeugung, dass eine solche Perspektive möglichist und dass die Arbeiterklasse die Kraft hat, sie umzusetzen. (...) Damit dasBewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in derArbeiterklasse wirklich an Boden gewinnen kann, muss diese Vertrauen in ihreeigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Dergewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, müssteeine objektive Grundlage für solche Kämpfe darstellen. Doch die wichtigsteForm, in der diese Angriffe stattfinden - Massenentlassungen -, läuft der Entwicklungsolcher Kämpfe zunächst zuwider. (...) Selbst wenn es also in der nächsten Zeitkeine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wirnicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zukämpfen. Erst in einer zweiten Phase (...) werden sich Arbeiterkämpfe ingrösserem Ausmass entwickeln können." 

DieDiskussion über die Aktivitäten und das Leben der IKS

Ein Bericht wurde vorgestellt, der dazu bestimmt war, diewichtigsten gegenwärtig vertretenen Positionen in den laufendenVertiefungsdiskussionen in der IKS zusammenzufassen. Ein wichtiger Teil dieserDiskussionen war in den vorangegangenen zwei Jahren der Wirtschaftsfragegewidmet. Auf die Divergenzen, die sich dabei entwickelten, haben wir schonweiter oben im vorliegenden Artikel hingewiesen.

Ein weiterer Teil unserer Diskussionen betraf die Frage des menschlichenWesens, der menschlichen Natur,die auch zu einer leidenschaftlichen Debatte führte, die von zahlreichen undwertvollen Beiträgen gespiesen wurde. Diese Debatte ist noch lange nichtabgeschlossen, zeigt aber eine allgemeine Übereinstimmung mit denOrientierungstexten, die wir in der InternationalenRevue veröffentlicht haben, nämlich DasVertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats(Nr. 31 und 32), Marxismus und Ethik(Nr. 39 und 40) oder Die Debattenkultur: eine Waffe desKlassenkampfs (Nr. 41), wobei es noch zahlreicheFragezeichen oder Vorbehalte beim einen oder anderen Aspekt gibt. Sobald dieseMeinungsunterschiede genügend herausgearbeitet sind, um ausserhalbveröffentlicht zu werden, wird die IKS in der Tradition der Arbeiterbewegungdiesen Schritt vollziehen. Es bleibt an dieser Stelle anzumerken, dass einGenosse der belgisch-holländischen Sektion kürzlich tiefe Unstimmigkeiten mitden drei zuvor zitierten Texten zum Ausdruck gebracht hat („kürzlich", bezogenauf die doch teilweise schon weit zurückliegende Erstveröffentlichung derTexte), wobei er diese als unmarxistisch betrachtet und die Organisationinzwischen verlassen hat. 

Was die Diskussionen über die Aktivitäten und das Leben derIKS betrifft, zog der Kongress für die massgebende Zeit eine positive Bilanz,wenn auch Schwächen blieben, die es zu überwinden gilt:

„Die Bilanz der Aktivitäten der letzten zwei Jahre zeigt die politischeVitalität der IKS, ihre Fähigkeit, mit der geschichtlichen Situation inTuchfühlung zu sein, sich zu öffnen, eine aktive Rolle bei der Entwicklung desKlassenbewusstseins zu spielen, ihren Willen, sich für Initiativen einergemeinsamen Arbeit mit anderen revolutionären Kräften zu engagieren. (...) Aufder Ebene des internen Organisationslebens ist die Bilanz der Tätigkeiten auchpositiv trotz wirklicher Schwächen, die insbesondere auf der Ebene desOrganisationsgewebes und in geringerem Ausmass bei der Zentralisierung weiterbestehen" (Aktivitätenresolution der IKS).

Der Kongress widmete einen Teil derDiskussionen der Aufgabe, die organisatorischen Schwächen zu untersuchen, diees bei uns gibt. Diese sind nicht eine „Besonderheit" der IKS, sondern vielmehrdas Los aller Organisationen der Arbeiterbewegung, die ständig dem Gewicht derherrschenden bürgerlichen Ideologie unterworfen sind. Die wirkliche Stärkedieser Organisationen, die namentlich bei den Bolschewiki zum Ausdruck kam,bestand jeweils darin, in der Lage zu sein, die Schwächen mit möglichst grosserKlarheit anzupacken, um sie zu bekämpfen. Von diesem Geist waren die Debattenam Kongress über diese Frage beseelt.

Einer der diskutierten Punkte betraf dieSchwächen, von denen unsere Sektion in Belgien-Holland betroffen war, aus dereine kleine Zahl von Mitgliedern kürzlich austrat, und zwar in der Folge vonAnschuldigungen, die der Genosse M. erhob. Seit einiger Zeit beschuldigtedieser unsere Organisation und insbesondere die ständige Kommission ihresZentralorgans, sich von der Debattenkultur abzuwenden, über die dervorangegangene Kongress lange diskutiert[6] und die der Kongress als unabdingbar für die Fähigkeitrevolutionärer Organisationen erachtet hatte, ihre Verantwortung wahrzunehmen.Der Genosse M., der eine Minderheitsposition bei der Analyse derWirtschaftskrise vertrat, fühlte sich als Opfer einer „Ächtung" (Ostrazismus)und fand, dass seine Positionen absichtlich „diskreditiert" worden seien, damitdie IKS nicht darüber diskutieren könne. Mit diesen Anschuldigungenkonfrontiert, beschloss das Zentralorgan der IKS, dass eine besondereKommission gebildet werden sollte, deren drei Mitglieder der Genosse M. selberbestimmte und die nach monatelanger Arbeit mit Anhörungen und der Untersuchungvon Hunderten von Seiten von Dokumenten zum Schluss gelangte, dass dieAnschuldigungen nicht berechtigt waren. Der Kongress konnte nur bedauern, dassder Genosse M. und ein Teil der weiteren Genossen, die ihm folgten, nicht dieBekanntgabe der Schlussfolgerungen dieser Kommission abwarteten, bevor sieentschieden, die IKS zu verlassen.

Tatsächlich konnte der Kongress insbesondere in der Diskussionüber die internen Debatten feststellen, dass es heute in unserer Organisationeine echte Sorge für die Entfaltung ihrer Debattenkultur gibt. Und es warennicht nur die Mitglieder der IKS, die dies feststellten: Die Delegierten dereingeladenen Organisationen zogen die gleichen Schlussfolgerungen aus denArbeiten des Kongresses:

„Die Debattenkultur der IKS, der Genossen der IKS ist sehreindrücklich. Wenn ich nach Korea zurückkehre, werde ich meine Erfahrungenmeinen Genossen dort weitergeben." (eine der Gruppen aus Korea)

„Er (der Kongress) ist eine gute Gelegenheit, um meinePositionen zu klären; in vielen Diskussionen habe ich eine wirklicheDebattenkultur vorgefunden. Ich denke, dass ich viel tun muss, um dieBeziehungen zwischen (meiner Gruppe) und der IKS zu verstärken und ich habe dieAbsicht, dies zu tun. Ich hoffe, dass wir eines Tages zusammen arbeiten könnenfür eine kommunistische Gesellschaft." (die andere Gruppe aus Korea)[7]

Die IKS pflegt die Debattenkultur nicht einfach alle zweiJahre einmal aus Anlass ihres internationalen Kongresses, sie ist auchständiger Teil der Beziehung zwischen beispielsweise der Gruppe OPOP und uns,wie eine Intervention der Delegation von OPOP in der Diskussion über dieWirtschaftskrise bezeugte. Diese Beziehung sei fähig sich zu vertiefen trotzder Divergenzen in verschiedenen Fragen, wie namentlich der Analyse der Wirtschaftskrise:„Ich möchte im Namen von OPOP die Wichtigkeit dieses Kongresses unterstreichen.Für OPOP ist die IKS eine Schwesterorganisation, so wie die Partei von Leninund diejenige von Rosa Luxemburg Geschwister waren. Das heisst, dass es beiihnen, trotz Divergenzen über eine ganze Reihe von Gesichtspunkten, Meinungenund auch theoretischen Auffassungen, eine programmatische Einheit gab, was dieNotwendigkeit eines revolutionären Umsturzes der bürgerlichen Ordnung und derErrichtung einer Diktatur des Proletariats betrifft, der sofortigen Enteignungder Bourgeoisie und des Kapitals."

Die andere Schwierigkeit, die die Aktivitätenresolutionhervorhebt, betrifft die Frage der Zentralisierung. Nicht zuletzt mit derAbsicht, diese Schwierigkeiten zu überwinden, stellte der Kongress auch eineDiskussion über einen allgemeineren Text zur Zentralisierung auf dieTagesordnung. Diese Diskussion war nicht nur nützlich, um die kommunistischeAuffassung über dieses Thema bei der alten Garde aufzufrischen und zu präzisieren,sondern erwies sich auch als überaus wichtig für die neuen Genossen undGenossinnen und die neuen Sektionen, die kürzlich in die IKS aufgenommenwurden.

In der Tat war ein Wesenszug des 18. Kongresses der IKS dieTeilnahme einer beträchtlichen Anzahl „neuer Köpfe", was alle „Alten" mit einergewissen Überraschung feststellten, wobei bei den Neuen die junge Generationbesonders vertreten war. 

DieBegeisterung für die Zukunft

Dass die Jugend an diesem Kongress sostark auftrat, machte einen wichtigen Teil der Dynamik und der Begeisterung inseinem Verlauf aus. Ganz anders als die bürgerlichen Medien betreibt die IKSkeinen „Kult der Jugend"; doch die Ankunft einer neuen Generation vonMitgliedern in unserer Organisation ist höchst bedeutungsvoll für die Perspektiveder proletarischen Revolution. Einerseits stellt sie - wie bei einem Eisberg -den „sichtbaren Teil" eines tiefer greifenden Prozesses der Bewusstseinsreifungin der Arbeiterklasse dar. Andererseits schafft sie die Bedingungen für dieAblösung der kommunistischen Kräfte. Wie es die Resolution über dieinternationale Lage, die auf dem Kongress verabschiedet wurde, formuliert: „DerWeg ist lang und schwierig, aber das soll die Revolutionäre nicht entmutigen,soll sie nicht in ihren Bemühungen um den proletarischen Kampf lähmen. Ganz imGegenteil!" Auch wenn die „alten" Mitglieder der IKS ihre ganze Überzeugung undihr Engagement beibehalten, so wird es doch an dieser neuen Generation liegen,einen entscheidenden Beitrag zu den zukünftigen revolutionären Kämpfen desProletariats zu leisten. Und schon heute zeugen mehrere Qualitäten der neuenGeneration, die als solche von ihren am Kongress anwesenden Vertretern aucherkannt wurden, von der Fähigkeit, diese Verantwortung zu übernehmen: derbrüderliche Geist, der Wille zum Zusammentreffen, zur gemeinsamen Offenlegungder Fallen, die uns die Bourgeoisie stellt, das Verantwortungsgefühl. Dies kamunter anderem zum Ausdruck in der Intervention des jungen Delegierten von LECOzum internationalistischen Treffen, das im letzten Frühjahr in Lateinamerikastattfand: „Die Debatte, die wir zu entwickeln beginnen, führt Gruppen undIndividuen zusammen, die auf proletarischer Grundlage eine Einheit suchen,benötigt Räume der internationalistischen Debatte und braucht diesen Kontaktmit den Delegierten der Kommunistischen Linken. Die Radikalisierung der Jugendund der Minderheiten in Lateinamerika, in Asien, werden es ermöglichen, dassdieser Bezugspol von noch mehr Gruppen erkannt wird, die sowohl an Mitgliederwie auch politisch wachsen werden. Das gibt uns die Mittel für dieIntervention, für den Kampf gegen die linksbürgerliche Ideologie, den„Sozialismus des 21. Jahrhunderts", den Sandinismus etc. Die gemeinsamePosition des Lateinamerikanischen Treffens ist schon ein proletarischesWerkzeug. Ich begrüsse die Interventionen der Genossen, die einen wirklichenInternationalismus ausdrücken, eine Sorge für diesen politischen undzahlenmässigen Fortschritt der Kommunistischen Linken auf Weltebene."

IKS 12. Juli 2009

 



[1] Vgl. Ein Willkommensgruss an die neuenSektionen der IKS in der Türkei und den Philippinen inWeltrevolution Nr. 153 und aufder Webseite.

 

[2] Vgl. zu diesem Treffen unseren Artikel Stellungnahmeeines Treffens kommunistischer Internationalisten in Lateinamerika in Weltrevolution Nr. 154 und auf unserer Webseite.

 

[3] Wie dies schon in verschiedenen Artikeln zum Ausdruck gekommen ist,die wir neulich zu Darwin und zum Darwinismus veröffentlicht haben.

 

[4] Wer sich ein Bild über diese Reflexionen machen will, kann dieWebseite Jean-Louis Dessalles' besuchen: https://perso.telecom-paristech.fr/~jld [1]

 

[5] Vgl. insbesondere in dieser Revue den Artikel Interne Debatte in derIKS (III): Die Ursachen für dieAufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg.

 

[6] Vgl. dazu Der 17. Kongress der IKS: Eineinternationale Verstärkung des proletarischen Lagersin Internationale Revue Nr. 40 und unseren Orientierungstext DieDebattenkultur: Eine Waffe des Klassenkampfes in InternationaleRevue Nr. 41.

 

[7] Dieser Eindruck über die Qualität der am Kongress gepflegtenDebattenkultur wurde auch durch den von uns eingeladenen Wissenschafterhervorgehoben. Er schickte uns die folgende Nachricht: „Danke noch für dieausgezeichnete Interaktion, die ich mit der Marx-Gemeinde haben konnte. Ich habewirklich einen sehr guten Augenblick erlebt."

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Von der Kommunistischen Linken beeinflusst [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [3]

Dekadenz des Kapitalismus (II)

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Welche wissenschaftlicheMethode benötigen wir, um die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung und dieBedingungen und Mittel ihrer Aufhebung zu verstehen?

 

Aufstieg und Fall früherer Produktionsweisen

In diesem Artikel setzen wir die in der letztenAusgabe der Internationalen Revue(Nr. 43) begonnene Untersuchung  derwissenschaftlichen und historischen Methode fort, die Marx, Engels und ihreNachfolger entwickelten.

„In breiten Umrissen können asiatische,antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressiveEpochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.“[1]

Die Interpretation dieser kurzen Passage,die im Grunde die gesamte geschriebene Geschichte der Menschheit überspannt,würde Bücher füllen. Für unsere Zwecke reicht es aus, auf zwei Aspekte zublicken: die allgemeine Frage des historischen Fortschritts und dieCharakteristiken des Aufstiegs und der Dekadenz von gesellschaftlichenFormationen vor dem Kapitalismus.

Gibtes Fortschritt?

Wir haben angemerkt[2],dass eine der Auswirkungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts eineallgemeine Skepsis gegenüber der Fortschrittsidee ist, einem Begriff, der im19. Jahrhundert weitaus selbstverständlicher war. Diese Skepsis hat einige„radikale“ Seelen zum Schluss verleitet, dass die marxistische Vision deshistorischen Fortschritts an sich nur eine dieser Ideologien des 19.Jahrhunderts sei, die als Vorwand für die kapitalistische Ausbeutung gedienthätten. Auch wenn sie sich dabei oftmals als etwas Neues präsentieren, wärmendiese Kritiker lediglich die abgedroschenen Argumente Bakunins und derAnarchisten auf, die postulierten, dass die Revolution zu jeder Zeit möglichsei, und die die Marxisten beschuldigten, ganz gewöhnliche Reformisten zu sein,weil jene argumentierten, dass die Epoche der Revolution noch nicht angebrochensei, was für die Arbeiterklasse bedeutete, sich langfristig zur Verteidigungihrer Lebensbedingungen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung zuorganisieren. Die Anti-Progressiven beginnen gelegentlich mit einer„marxistischen“ Kritik an der Auffassung, dass der Kapitalismus heute dekadentist, indem sie behaupten, dass sich im Leben des Kapitals seit den Tagen, alsMarx darüber schrieb, wenig geändert habe, ausser vielleicht auf der reinquantitativen Ebene – grössere Ökonomie, grössere Krisen, grössere Kriege. Dochdie konsequenteren unter ihnen entledigen sich schnell der ganzen Last deshistorischen Materialismus und bestehen darauf, dass der Kommunismus auch inallen früheren Epochen der Geschichte hätte entstehen können. In der Tat sinddie Konsequentesten unter ihnen jene „Ursprünglichen“, die argumentieren, dasses seit dem Aufkommen der Zivilisation und faktisch seit der Entdeckung derLandwirtschaft, die jene ermöglicht hatte, überhaupt keinen Fortschritt in derGeschichte gegeben habe: Alles, was folgte, wird als Fehlentwicklungbetrachtet; sie gehen davon aus, dass die glücklichste Epoche im menschlichenLeben die Stufe der Jäger und Sammler gewesen sei. Solche Strömungen könnenlogischerweise nur sehnsüchtig dem endgültigen Zusammenbruch der Zivilisationund der Auslöschung eines grossen Teils der Menschheit entgegenfiebern, so dasseine Rückkehr zum Jagen und Sammeln für die wenigen Überlebenden einst wiederpraktikabel werden könnte.

Marx dagegen rückte keinen Millimeter vonder Idee ab, dass nur der Kapitalismus den Weg für die Überwindung dergesellschaftlichen Antagonismen und für die Schaffung einer Gesellschaft ebnenkönne, die es der Menschheit ermöglicht, sich in ihrer ganzen Fülle zuentwickeln. Wie er im Vorwort fortfährt: „Die bürgerlichenProduktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form desgesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn vonindividuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichenLebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die imSchoss der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfteschaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus.“

Der Kapitalismus schuf erstmals dieVorbedingungen für eine kommunistische Weltgesellschaft: durch die Vereinigungdes gesamten Globus in sein Produktionssystem; durch die Revolutionierung derProduktionsmittel bis zu dem Punkt, wo letztlich eine Gesellschaft desÜberflusses möglich ist; dadurch, dass eine Klasse in die Welt gesetzt wurde,deren eigene Emanzipation allein durch die Emanzipation der gesamten Menschheitgeschehen kann – das Proletariat, die erste ausgebeutete Klasse in der Geschichte,die in sich die Saat einer neuen Gesellschaft trägt. Für Marx war es undenkbar,dass die Menschheit diese Stufe in der Geschichte einfach überspringen könnteund eine dauerhafte, globale kommunistische Gesellschaft in den Epochen desDespotismus, der Sklaverei oder der Leibeigenschaft in die Welt hätte setzenkönnen.

Doch der Kapitalismus erschien nicht ausdem Nichts: Die Produktionsweisen vor dem Kapitalismus hatten umgekehrt den Wegfür ihn geebnet, und in diesem Sinn hatte die gesamte Entwicklung dieserantagonistischen, d.h. in Klassen geteilten Gesellschaftssysteme einefortschrittliche Bewegung in der menschlichen Geschichte repräsentiert, diezuletzt in die materielle Möglichkeit einer klassenlosen Weltgemeinschaft mündet. Es gibt also keine Grundlage,um das Erbe von Marx für sich zu beanspruchen und gleichzeitig denFortschrittsbegriff als bürgerlich abzulehnen.

Tatsächlich gibt es eine bürgerlicheVersion des Fortschritts und, im Gegensatz dazu, eine marxistische.

Während die Bourgeoisie dazu neigte, diegesamte Geschichte als etwas zu betrachten, das unaufhaltsam zum Triumph desdemokratischen Kapitalismus führt, als einen nach oben gerichteten, linearenFortschritt, bei dem alle vorherigen Gesellschaften in allen Belangen dergegenwärtigen Ordnung der Dinge unterlegen waren, geht der Marxismus vomdialektischen Charakter der historischen Bewegung aus. In der Tat bedeutet dereigentliche Begriff des Aufstiegs und Niedergangs von Produktionsweisen, dasses neben Fortschritten auch Rückschläge im historischen Prozess gibt. ImAnti-Dühring lenkt Engels, als er auf Fourier und seine Antizipation deshistorischen Materialismus zu sprechen kommt, die Aufmerksamkeit auf dieVerknüpfung zwischen der dialektischen Sichtweise der Geschichte und dem Begriffdes Aufstiegs und Niedergangs: „Am grossartigsten aber erscheint Fourier inseiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft (…) Fourier, wie man sieht,handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel.Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von derunbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, dass jede geschichtlichePhase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendetdiese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an.“[3]

Was Engels hier sagt, ist, dass demProzess der historischen Evolution nichts Automatisches anhaftet. Wie derProzess der natürlichen Evolution ist die „menschlicheVervollkommnungsfähigkeit“ nicht im Voraus programmiert. Wie wir sehen werden,kann es, analog zu den Dinosauriern, tatsächlich gesellschaftliche Sackgassengeben – Gesellschaften, die nicht nur niedergehen, sondern vollkommenverschwinden und nichts Neues aus ihrer Mitte in die Welt setzen.

Darüber hinaus hat der Fortschritt, wenner denn stattfindet, einen zutiefst widersprüchlichen Charakter. DieVernichtung der handwerklichen Produktion, in welcher der Produzent noch in derLage war, sowohl im Produktionsprozess als auch durch das EndproduktBefriedigung zu erlangen, und ihre Ersetzung durch das Fabriksystem mit seinergeisttötenden Routine ist ein klarer Fall dafür. Doch Engels erklärt diesüberzeugend, wenn er den Übergang vom Urkommunismus zur Klassengesellschaftbeschreibt. In Ursprung der Familie, desPrivateigentums und des Staates kommt Engels, nachdemer sowohl die immensen Stärken als auch die ihm innewohnenden Einschränkungendes Stammeslebens aufgezeigt hat, zu folgenden Schlussfolgerungen darüber, wieman die Ankunft der Zivilisation betrachten sollte:

„Die Macht der naturwüchsigen Gemeinwesenmusste gebrochen werden – sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen durchEinflüsse, die uns von vornherein als eine Degradation erscheinen, als einSündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. Essind die niedrigsten Interessen – gemeine Habgier, brutale Genusssucht,schmutziger Geiz, eigensüchtiger Raub am Gemeinbesitz –, die die neuezivilisierte, die Klassengesellschaft einweihen; es sind die schmählichstenMittel – Diebstahl, Vergewaltigung, Hinterlist, Verrat, die die alteGentilgesellschaft unterhöhlen und zu Fall bringen. Und die neue Gesellschaftselbst, während der ganzen dritthalbtausend Jahre ihres Bestehns, ist nie etwasandres gewesen als die Entwicklung der kleinen Minderzahl auf Kosten derausgebeuteten und unterdrückten grossen Mehrzahl, und sie ist dies jetzt mehrals je zuvor.“ (MEW, Bd. 21, S. 97)

Diese dialektische Betrachtungsweiserichtet sich auch auf die künftige kommunistische Gesellschaft, die in Marx‘schöner Passage in Ökonomische und Philosophische Manuskripte 1844 als „alswirkliche Aneignung des menschlichenWesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewusst undinnerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr desMenschen für sich als eines gesellschaftlichen,d.h. menschlichen Menschen“ beschrieben wird. Auf dieselbe Weise wird derkünftige Kommunismus als Wiedergeburt des Kommunismus der Vergangenheit aufhöherer Ebene betrachtet. So beschliesst Engels sein Buch über die Ursprüngedes Staates mit einem eloquenten Satz des Anthropologen Lewis Morgan, der einenKommunismus vorwegnimmt, der „eine Wiederbelebung – aber in höherer Form – derFreiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Gentes“ sein wird.[4]

Doch angesichts all dieserQualifizierungen wird aus dem Vorwort ersichtlich, dass derFortschrittsbegriff, der Begriff der „fortschrittlichen Epochen“ für dasmarxistische Denken fundamental ist. In der grandiosen Vision des Marxismus,die mit dem Auftreten der Menschheit beginnt und den Bogen spannt vomErscheinen der Klassengesellschaft, über die Entwicklung des Kapitalismus biszum grossen Sprung ins Reich der Freiheit, das in der Zukunft auf uns wartet,ist „die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen (…), sondernals ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minderwie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrocheneVeränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbarenZufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schliesslich einefortschreitende Entwicklung sich durchsetzt“[5]Aus der damaligen Distanz betrachtet, wird ersichtlich, dass es einen realenEntwicklungsprozess gibt: auf der Ebene der Fähigkeit der Menschheit, auf dieNatur durch die Entwicklung von immer raffinierteren Werkzeugen einzuwirken;auf der Ebene des subjektiven Verständnisses des Menschen von sich selbst undder Welt um ihn herum und somit auf der Ebene der Fähigkeit des Menschen, seineschlummernden Kräfte freizulassen und ein Leben in Übereinstimmung mit seinentiefsten Bedürfnissen zu führen.

 

Die Aufeinanderfolge der Produktionsweisen

VomUrkommunismus zur Klassengesellschaft

Als Marx einen „breiten Umriss“ derprinzipiellen Produktionsweisen schuf, die sich gegenseitig beerbten, solltedies keinesfalls erschöpfend sein. So erwähnte er lediglich „antagonistische“Gesellschaftsformen, d.h. die Hauptformen der Klassengesellschaft, und äussertesich nicht über die vielfältigen Formen nicht-ausbeutender Gesellschaften, dieihnen vorausgingen. Das Studium der vorkapitalistischen Gesellschaftsformenbefand sich zu Marx´ Tagen noch in den Kinderschuhen, so dass es schlicht undeinfach unmöglich war, eine umfassende Liste aller bisher existierenden Gesellschaftenzu erstellen. In der Tat bleibt diese Aufgabe selbst beim gegenwärtigen Standder historischen Kenntnisse äusserst schwer zu vervollständigen. In der langenPeriode zwischen der Auflösung der ursprünglichen urkommunistischengesellschaftlichen Verhältnisse, die ihre klarste Form unter den nomadischenJägern des Paläolithikums fand, und den vollständig ausgebildetenKlassengesellschaften, die den Anfang der historischen Zivilisationen bildeten,gab es zahllose vermittelnde Übergangsformen wie auch Formen, die schlicht ineiner historischen Sackgasse endeten und über die unsere Kenntnisse sehrbeschränkt bleiben.[6]

Die Nicht-Einbeziehung derurkommunistischen Vor-Klassengesellschaften im Vorwort bedeutet überhauptnicht, dass Marx es als nicht wichtig erachtete, sie zu untersuchen, imGegenteil. Von Anbeginn an erkannten die Begründer derhistorisch-materialistischen Methode, dass die menschliche Geschichte nicht mitdem Privateigentum beginnt, sondern mit dem Gemeineigentum: „Die erste Form desEigentums ist das Stammeseigentum. Es entspricht der unterentwickelten Stufeder Produktion, auf der ein Volk von Jagd und Fischfang, von Viehzucht oderhöchstens vom Ackerbau sich nährt. Es setzt in diesem letzteren Falle einegrosse Masse unbebauter Ländereien voraus. Die Teilung der Arbeit ist aufdieser Stufe noch sehr wenig entwickelt und beschränkt sich auf eine weitereAusdehnung der in der Familie gegebenen naturwüchsigen Teilung der Arbeit.“ [7]

Als diese Einsichten durch spätereForschungen – besonders durch das Werk von Lewis Henry Morgan über dieIndianerstämme Nordamerikas – bestätigt wurden, war Marx äusserst begeistertund verwendete einen grossen Teil seiner späten Jahre dafür, sich in dasProblem der urgesellschaftlichen Verhältnisse zu vertiefen, besonders imZusammenhang mit den Fragen, die ihm die revolutionäre Bewegung in Russlandstellte (siehe das Kapitel „Past and future communism“ in unserem BuchCommunism is not a nice idea but a material necessity). Nach Ansicht von Marx,Engels und auch von Rosa Luxemburg, die sehr ausgiebig darüber in ihrerEinführung in die Nationalökonomie (1907) schrieb, war die Entdeckung, dass dieursprünglichen Formen der menschlichen Beziehungen nicht auf Egoismus undKonkurrenz basierten, sondern auf Solidarität und Kooperation, und dass selbstJahrhunderte nach der Ankunft der Klassengesellschaft es noch immer ein tiefesund fortdauerndes Band zu den gemeinschaftlichen Gesellschaftsformen gab,insbesondere unter den unterdrückten und ausgebeuteten Klassen,  eine deutliche Bestätigung derkommunistischen Weltanschauung und eine mächtige Waffe gegen dieMystifikationen der Bourgeoisie, für die die Gier nach Macht und Eigentumtypisch für die menschliche Natur ist.

In Engels‘ Ursprung der Familie, desPrivateigentums und des Staates, in Marx‘ Ethnologischen Exzerpten undLuxemburgs Einführung in die Nationalökonomie gibt es einen hohen Respekt vordem Mut, der Moral und der künstlerischen Kreativität der „wilden“ und„barbarischen“ Völker. Aber es gibt keine Idealisierung dieser Gesellschaften.Der Kommunismus, der in den frühesten Formen der menschlichen Gesellschaftpraktiziert wurde, wurde nicht durch die Idee der Gleichheit inspiriert,sondern durch die bittere Notwendigkeit erzeugt. Er war die einzig mögliche Formder gesellschaftlichen Organisation unter Bedingungen, wo die menschlichenProduktionskapazitäten noch nicht ein ausreichendes gesellschaftlichesMehrprodukt herstellen konnten, um eine privilegierte Elite, eine herrschendeKlasse zu ernähren.

Urkommunistische Verhältnisse tratenaller Wahrscheinlichkeit nach mit der Entwicklung der Menschheit auf, einerSpezies, deren Fähigkeit, ihre Umwelt umzuwandeln, um ihre materiellenBedürfnisse zu befriedigen, sie von allen anderen Bewohnern des Tierreichsunterschied. Diese Fähigkeiten erlaubten es den menschlichen Wesen, zurvorherrschenden Spezies auf dem Planeten zu werden. Doch wenn wir das, was wirüber die archaischste Form des Urkommunismus wissen und über die AboriginesAustraliens herausgefunden haben, verallgemeinern können, kommen wir zurErkenntnis, dass die Aneignungsformen des gesellschaftlichen Produkts, dievöllig kollektiv waren[8],auch die Entwicklung der individuellen Produktivität zurückhielten, mit demResultat, dass die Produktivkräfte im Grunde über Jahrtausende hinwegunverändert blieben. In jedem Fall machten wechselnde materielle undökologische Bedingungen, wie das Wachstum der Bevölkerung, den extremenKollektivismus der ersten Formen menschlicher Gesellschaft ab einem bestimmtenPunkt immer unhaltbarer, zu einem Hindernis der Weiterentwicklung vonProduktionstechniken (wie das Hirtentum und die Landwirtschaft), die grössereBevölkerungen oder Bevölkerungen, die nun unter veränderten materiellen undUmweltbedingungen lebten, hätten ernähren können.[9]

Wie Marx bemerkte: „Die Geschichte desVerfalls der Urgemeinschaften (…) ist noch zu schreiben. Bisher hat man dazunur magere Skizzen geliefert. Aber auf jeden Fall ist die Forschung weit genugvorgeschritten, um zu bestätigen (…) dass die Ursachen ihres Verfalls von denökonomischen Gegebenheiten herrühren, die sie hinderten, eine gewisse Stufe derEntwicklung zu überschreiten“.[10]Das Ableben des Urkommunismus und der Aufstieg der Klassenteilungen tut denallgemeinen Regeln, die im Vorwort umrissen wurden, keinen Abbruch: DieVerhältnisse, die die menschlichen Wesen schufen, um ihre Bedürfnisse zubefriedigen, waren immer weniger in der Lage, ihre ursprüngliche Funktion zuerfüllen, und stürzten daher in eine fundamentale Krise, mit der Folge, dassdie Gemeinwesen, die sie stützten, entweder verschwanden oder die altenVerhältnisse durch neue ersetzten wurden, die besser in der Lage waren, dieProduktivität der menschlichen Arbeit weiterzuentwickeln. Wir haben bereitsgesehen, dass Engels darauf bestand, dass an einem bestimmten historischenMoment die „Macht dieser naturwüchsigen Gemeinwesen (…) gebrochen werden(musste) – sie wurde gebrochen.“ Warum? „Der Stamm blieb die Grenze für denMenschen, sowohl dem Stammesfremden als auch sich selbst gegenüber: Der Stamm,die Gens und ihre Einrichtungen waren heilig und unantastbar, waren eine vonNatur gegebne höhere Macht, der der einzelne in Fühlen, Denken und Tununbedingt untertan blieb. So imposant die Leute dieser Epoche uns erscheinen,so sehr sind sie ununterschieden einer vom andern, sie hängen noch, wie Marxsagt, an der Nabelschnur des naturwüchsigen Gemeinwesens.“ [11]

Im Licht anthropologischer Hinweise magman die Behauptung von Engels anfechten, dass es den Menschen in denStammesgesellschaften völlig an Individualität gefehlt hatte. Doch die Einsichtin diesen Zeilen bleibt gültig: dass in einer Reihe von Schlüsselmomenten undSchlüsselregionen die alten Methoden und Verhältnisse der Gemeinwirtschaft zueiner Fessel der Weiterentwicklung wurden und, so widersprüchlich es erscheinenmag, der allmähliche Anstieg von individuellem Eigentum, Klassenausbeutung undeine neue Phase in der Selbstentfremdung des Menschen zu Faktoren derWeiterentwicklung wurden.

Die„asiatische“ Produktionsweise

Der Begriff „asiatische Produktionsweise“ist kontrovers. Engels versäumte es unglücklicherweise, das Konzept in seinzukunftsweisendes Werk über den Aufstieg der Klassengesellschaft, Ursprung derFamilie, des Privateigentum und des Staates, einzubinden, obwohl das Werk vonMarx bereits zahllose Bezüge dazu enthielt. Später wurde Engels‘ Versäumnis vonden Stalinisten verschlimmert, die im Grunde genommen das gesamte Konzeptächteten und eine sehr mechanistische und lineare Sichtweise der Geschichtevorstellten, nach der überall die Phasen des Urkommunismus, der Sklaverei, desFeudalismus und des Kapitalismus durchschritten würden. Dieses Schema hattebesondere Vorteile für die stalinistische Bürokratie: Einerseits befähigte essie, lange nachdem die bürgerliche Revolution von der Tagesordnung derWeltgeschichte verschwunden war, den Aufstieg einer fortschrittlichenBourgeoisie in Ländern wie Indien und China auszumachen, nachdem diese einmal„feudal“ getauft worden waren; andererseits erlaubte es ihnen, eine peinlicheKritik an ihrer eigenen Form des Staatsdespotismus zu vermeiden, da im Konzeptdes asiatischen Despotismus der Staat, und nicht eine Klasse von individuellenEigentümern, direkt die Ausbeutung der Arbeitskraft sicherstellt: DieParallelen zum stalinistischen Staatskapitalismus sind unübersehbar.

Doch seriösere Forscher, wie PerryAnderson in einem Anhang zu seinem Buch Lineagesof the Absolutist State, argumentieren, dass Marx‘Charakterisierung Indiens und anderer zeitgenössischer Gesellschaften alsFormen einer eindeutig „asiatischen Produktionsweise“ auf fehlerhaftenInformationen fusste und dass das Konzept in jedem Fall so allgemein gehaltenwurde, dass es an jeglicher präzisen Deutung mangelte.

Sicherlich ist das Attribut „asiatisch“irreführend. In einem grösseren oder kleineren Umfang nahmen alle frühen Formender Klassengesellschaft die Formen an, die von Marx unter diesem Titelanalysiert wurden, ob bei den Sumerern, in Ägypten, Indien, China oder inweiter entfernten Regionen wie Mittel- und Südamerika, Afrika und demPazifikraum. Sie gründete sich auf die Dorfgemeinschaft, einem Erbe der Epochevor dem Erscheinen des Staates. Die Staatsmacht, oft personifiziert durch einePriesterkaste, basierte auf dem Mehrprodukt, das den Dorfgemeinschaften in Formvon Tributen oder, im Fall grosser Bauprojekte (Bewässerung, Tempelbau, etc.)mit Zwangsarbeit (der„Fronarbeit“) entzogen wurde. Es mag bereits Sklaverei existiert haben, abersie war nicht die vorherrschende Form der Arbeit. Wir würden sagen, dass dieseGesellschaften, auch wenn sie untereinander viele bedeutende Unterschiedeaufwiesen, sich in einer Hinsicht glichen, die bei der Klassifizierung einer„antagonistischen“ Produktionsweise am wichtigsten ist: in der Hinsicht dergesellschaftlichen Verhältnisse, durch die das Mehrprodukt aus derausgebeuteten Klasse extrahiert wird.

Wenn wir uns der Untersuchung des Phänomensder Dekadenz in diesen Gesellschaftsformen zuwenden, so stellen wir fest, dasses wie bei den „primitiven“ Gesellschaften insofern eine Reihe von besonderenKennzeichen gibt, als diese Gesellschaften eine aussergewöhnliche Stabilitätoffenbarten und selten, wenn überhaupt, sich zu neuen Produktionsweisen„hinentwickelten“, ohne von aussen unter Schlägen dazu getrieben worden zusein. Es wäre jedoch ein Fehler, die asiatische Gesellschaft als etwas zubetrachten, das sich in der Geschichte nicht bewährt hätte. Es gibt himmelweiteUnterschiede zwischen den ersten despotischen Formen, die auf Hawaii oder inSüdamerika entstanden waren und die ihren ursprünglichen Stammeswurzeln vielnäher standen, und den gigantischen Reichen, die sich in Indien oder China ausbreitetenund die hochentwickelte kulturelle Formen in die Welt setzten.

Dennoch bleibt das zugrundeliegendeMerkmal die Zentralität der Dorfgemeinschaft, die den Schlüssel zur„unveränderlichen“ Natur dieser Gesellschaften liefert.

„Jene uraltertümlichen, kleinen indischenGemeinwesen z.B., die zum Teil noch fortexistieren, beruhn aufgemeinschaftlichem Besitz des Grund und Bodens, auf unmittelbarer Verbindungvon Agrikultur und Handwerk und auf einer festen Teilung der Arbeit, die beiAnlage neuer Gemeinwesen als gegebner Plan und Grundriss dient. Sie bilden sichselbst genügende Produktionsganze, deren Produktionsgebiet von 100 bis aufeinige 1.000 Acreswechselt. Die Hauptmasse der Produkte wird für den unmittelbaren Selbstbedarfder Gemeinde produziert, nicht als Ware, und die Produktion selbst ist daherunabhängig von der durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit imgrossen und ganzen der indischen Gesellschaft. Nur der Überschuss der Produkteverwandelt sich in Ware, zum Teil selbst wieder erst in der Hand des Staats,dem ein bestimmtes Quantum seit undenklichen Zeiten als Naturalrente zufliesst(…) Der einfache produktive Organismus dieser selbstgenügenden Gemeinwesen, diesich beständig in derselben Form reproduzieren und, wenn zufällig zerstört, andemselben Ort, mit demselben Namen, wieder aufbauen, liefert den Schlüssel zumGeheimnis der Unveränderlichkeit asiatischer Gesellschaften, so auffallendkontrastiert durch die beständige Auflösung und Neubildung asiatischer Staatenund rastlosen Dynastenwechsel. Die Struktur der ökonomischen Grundelemente derGesellschaft bleibt von den Stürmen der politischen Wolkenregion unberührt.“ [12]

In dieser Produktionsweise waren dieBarrieren für die Weiterentwicklung der Warenproduktion weitaus höher als imantiken Rom oder im Feudalismus, und dies ist sicherlich der Grund, warum inRegionen, wo sie vorherrschte, der Kapitalismus nicht als Auswuchs des altenSystems erschien, sondern als fremder Eindringling. Es ist gleichermassenbemerkenswert, dass die einzige „östliche“ Gesellschaft, die zu einem gewissenUmfang ihren eigenen unabhängigen Kapitalismus entwickelte, Japan war, wo einFeudalsystem bereits am Platz war.

Somit erschien in dieserGesellschaftsform der Konflikt zwischen den Produktionsverhältnissen und derEvolution der Produktivkräfte oft eher als Stagnation denn als Niedergang, dadie fundamentalen gesellschaftlichen Strukturen stets blieben, während dieDynastien aufstiegen und niedergingen, indem sie sich selbst in unablässigeninneren Konflikten verzehrten und die Gesellschaft unter dem Gewicht riesiger,unproduktiver, „pharaonischer“ Staatsprojekte erdrückten; und wenn keine neuenProduktionsverhältnisse entstanden, lösten die Niedergangsperioden in dieserProduktionsweise im Grunde genommen keine Epochen der sozialen Revolution aus.Dies stimmt völlig mit der allgemeinen Methode von Marx überein, derkeinesfalls einen gradlinigen oder vorbestimmten Pfad der Evolution allerGesellschaftsformationen postulierte und sicherlich die Möglichkeit ins Augefasste, dass Gesellschaften in eine Sackgasse geraten können, in der keineweitere Evolution möglich ist. Wir sollten auch in Erinnerung rufen, dasseinige der isolierteren Ausdrücke dieser Produktionsweise vollkommenkollabierten, oft weil sie die Grenzen des Wachstums in einer besondersempfindlichen ökologischen Umwelt erreicht hatten. Dies scheint bei derMaya-Kultur der Fall gewesen zu sein, die ihre eigene landwirtschaftlicheGrundlage durch eine exzessive Abholzung der Wälder zerstört hatte. In diesemFall gab es sogar eine bewusste „Rückbildung“ auf Kosten eines grossen Teilsder Bevölkerung, der den Städten den Rücken kehrte und zum Jagen und Sammelnzurückkehrte, obwohl das Gedächtnis an die alte Maya-Zeitrechnung und an dieTraditionen unverdrossen hochgehalten wurde. Andere Kulturen, wie jene auf derOsterinsel, scheinen völlig verschwunden zu sein, aller Wahrscheinlichkeit nachdurch unlösbare Klassenkonflikte, Gewalt und Hunger.

Sklavereiund Feudalismus

Marx und Engels stritten niemals ab, dassihre Kenntnisse über die ursprünglichen und asiatischenGesellschaftsformationen aufgrund des Stands des zeitgenössischen Wissensäusserst beschränkt waren. Sie standen auf viel festerem Boden, wenn sie überdie „antike“ Gesellschaft (d.h. die Sklavengesellschaften Griechenlands undRoms) und über den europäischen Feudalismus schrieben. In der Tat spielte dasStudium dieser Gesellschaften eine bedeutende Rolle in der Erarbeitung ihrerGeschichtstheorie, da sie sehr deutliche Beispiele für den dynamischen Prozesslieferten, durch welchen eine Produktionsweise der anderen folgte. Dies waroffensichtlich in Marx‘ frühen Schriften (Diedeutsche Ideologie), in denen er den Aufstieg desFeudalismus unter den Bedingungen des niedergehenden Roms aufspürt.

„Die dritte Form ist das feudale oderständische Eigentum. Wenn das Altertum von der Stadt und ihrem kleinen Gebietausging, so ging das Mittelalter vom Lande aus. Die vorgefundene dünne, übereine grosse Bodenfläche zersplitterte Bevölkerung, die durch die Erobererkeinen grossen Zuwachs erhielt, bedingte diesen veränderten Ausgangspunkt. ImGegensatz zu Griechenland und Rom beginnt die feudale Entwicklung daher aufeinem viel ausgedehnteren, durch die römischen Eroberungen und die anfangsdamit verknüpfte Ausbreitung der Agrikultur vorbereiteten Terrain. Die letztenJahrhunderte des verfallenden römischen Reichs und die Eroberung durch dieBarbaren selbst zerstörten eine Masse von Produktivkräften; der Ackerbau wargesunken, die Industrie aus Mangel an Absatz verfallen, der Handeleingeschlafen oder gewaltsam unterbrochen, die ländliche und städtischeBevölkerung hatte abgenommen. Diese vorgefundenen Verhältnisse und die dadurchbedingte Weise der Organisation der Eroberung entwickelten unter dem Einflusseder germanischen Heerverfassung das feudale Eigentum. Es beruht, wie das Stamm-und Gemeineigentum, wieder auf einem Gemeinwesen, dem aber nicht wie demantiken die Sklaven, sondern die leibeignen kleinen Bauern als unmittelbarproduzierende Klasse gegenüberstehen.“ (MEW, Band 3, S. 24)

Der eigentliche Begriff „Dekadenz“ rufthäufig Bilder vom späten römischen Imperium hervor – von Orgien undmachttrunkenen Herrschern, von Gladiatorenkämpfen, denen eine riesige,blutdürstende Menge zuschaut. Solche Bilder tendieren sicherlich dazu, sich aufdie „Überbau“-Elemente der römischen Gesellschaft zu konzentrieren, aber siespiegeln eine Realität wider, die sich auch in den Fundamenten desSklavensystems abspielte; und so fühlten sich Revolutionäre wie Engels und RosaLuxemburg berechtigt, auf den Niedergang Roms als eine Art böses Omen dafür zuverweisen, was der Menschheit bevorsteht, wenn es dem Proletariat nichtgelingt, den Kapitalismus zu überwinden: „Untergang jeglicher Kultur, wie imalten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein grosser Friedhof“ [13].

Die antike Sklavengesellschaft war eineweitaus dynamischere Gesellschaftsformation als die asiatischeProduktionsweise, auch wenn Letztere ihren eigenen Beitrag zum Aufstieg derantiken griechischen Kultur und somit zur sklavischen Produktionsweise imAllgemeinen leistete (Ägypten insbesondere war als ehrwürdige Quelle derWeisheit angesehen). Diese Dynamik rührte zu einem grossen Teil aus derTatsache her, dass, wie ein zeitgenössisches Sprichwort sagte, „alles in Romkäuflich ist“: Die Warenform war bis zu dem Punkt fortgeschritten, wo die altenAgrargemeinschaften immer mehr zu einer schönen Erinnerung an ein verlorenesGoldenes Zeitalter wurden und Massen von Menschen selbst zu Waren gewordenwaren, die auf den Sklavenmärkten ge- und verkauft wurden. Auch wenn grosseWirtschaftsgebiete verblieben, wo die produktive Arbeit noch von Kleinbauernoder Handwerkern ausgeübt wurde, übernahm die Sklavenproduktion immer mehr eineSchlüsselrolle in den zentralen Brennpunkten der antiken Ökonomie – auf dengrossen Landgütern, bei öffentlichen Arbeiten und in den Bergwerken. Diesegrosse „Erfindung“ der antiken Welt war für eine beträchtliche Zeit eineeindrucksvolle Entwicklungsform, die es den freien Bürgern erlaubte, sich inmächtigen Armeen zu organisieren, die durch die Eroberung neuer Ländereien fürdas Imperium für frischen Nachschub an Sklaven sorgten. Doch aus dem gleichenGrund kam irgendwann der Punkt, wo die Sklaverei sich in eine eindeutige Fesselder Weiterentwicklung verwandelte. Ihr innewohnender unproduktiver Charakterlag in der Tatsache begründet, dass sie dem Produzenten absolut keinen Anreizbot, das Beste seiner Produktionskapazitäten zu geben; ebenso wenig bot sie demSklavenhalter einen Anreiz, in die Entwicklung besserer Produktionstechniken zuinvestieren, da die Versorgung mit frischen Sklaven stets die billigere Optionwar. Daher die ausserordentliche Kluft zwischen denphilosophisch-wissenschaftlichen Fortschritten, die von einer Klasse vonDenkern erzielt wurden, deren Musse erst auf der Grundlage der Sklavenarbeitmöglich war, und der äusserst beschränkten praktischen Anwendung dertheoretischen oder technischen Fortschritte, die erzielt worden waren. Dies warzum Beispiel der Fall bei der Wassermühle, die solch eine wichtige Rolle beider Entwicklung der feudalen Landwirtschaft spielen sollte. Sie wurdeeigentlich in Palästina zur ersten Jahrhundertwende n. Chr. erfunden, doch fandsie keine allgemeine Verbreitung im Imperium. An einem bestimmten Punkt machtedaher die Unfähigkeit der sklavischen Produktionsweise, die Produktivität derArbeit radikal zu steigern, es in zunehmendem Masse unmöglich, die riesigenArmeen, die erforderlich waren, um sie zu erhöhen, aufrechtzuerhalten. Rom überdehntesich selbst, gefangen im unlösbaren Widerspruch, der sich in all den bekanntenAuswüchsen seines Niedergangs ausdrückte. In Passages from Antiquity toFeudalism zählt der Historiker Perry Anderson einige ökonomische, politischeund militärische Ausdrücke der Verstopfung der Produktivkräfte der römischenGesellschaft durch die Sklavenverhältnisse im frühen 3. Jahrhundert auf: „AbMitte des Jahrhunderts gab es einen völligen Zusammenbruch desSilbermünzsystems, während am Ende des Jahrhunderts die Getreidepreise auf das200fache ihrer Standes in den früheren Principiaten hochschossen. Diepolitische Stabilität degenerierte so schnell wie die monetäre Stabilität. Inden chaotischen fünfzig Jahren von 235 bis 284 gab es nicht weniger als zwanzigKaiser, von denen achtzehn ein gewaltsames Ende fanden, einer im Auslandgefangen war und ein weiterer Opfer der Pest wurde – alle Schicksale Ausdrückeihrer Zeit. Bürgerkriege und Usurpationen waren im Grunde ununterbrochen an derTagesordnung, von Maxismus Thrax bis zu Diocletian. Sie wurden nochverschlimmert durch eine vernichtende Serie von fremden, tief ins Landvorstossenden Invasionen und Angriffen auf die Grenzen (…) Politischer Aufruhrzuhause und fremde Invasionen brachten bald aufeinanderfolgende Epidemien mitsich, die die Völker des Imperiums, die ohnehin durch die Kriegszerstörungdezimiert waren, noch weiter schwächten und reduzierten. Ländereien verödeten,und es entwickelten sich Engpässe bei der Versorgung mit Agrarprodukten. Mitder Abwertung der Währung löste sich das Steuersystem auf, und Steuerbeiträgeverwandelten sich zurück in Beiträge in Naturalien. Der Städtebau kam zu einemabrupten Ende, wie überall im Imperium archäologisch attestiert wurde: ineinigen Regionen schrumpften und schwanden die urbanen Zentren.“ [14]

Anderson zeigt ausserdem, wie dierömische Staatsmacht in ihrer Reaktion auf diese tiefe Krise in Gestalt einerreorganisierten und ausgeweiteten Armee ungeheuer anschwoll und eine gewisseStabilisierung der Gesellschaft erreichte, die etwa hundert Jahre andauernsollte. Doch da „das Anschwellen des Staates von einer Schrumpfung derWirtschaft begleitet wurde“ [15],ebnete diese Wiederbelebung bloss den Weg zur „Endkrise der Antike“, wie er esnennt, indem sie die Notwendigkeit erzwang, die Sklavenverhältnisseabzuschaffen. Ein gleichermassen wichtiger Faktor im Dahinscheiden dersklavischen Produktionsweise war die Häufung von Aufständen von Sklaven undanderen ausgebeuteten und unterdrückten Klassen im gesamten Imperium des 5.Jahrhunderts (wie die so genannten „Bacuadae-Aufstände“), die auf vielbreiterer Basis stattfanden als der Spartacus-Aufstand im ersten Jahrhundert –auch wenn letzterer wegen seiner unglaublichen Kühnheit und der tiefenSehnsucht nach einer besseren Welt, die ihn inspirierte, berechtigterweise inunserer Erinnerung verblieben ist.

Die Dekadenz Roms entsprach somit präziseder Formel von Marx und nahm einen unübersehbar katastrophalen Charakter an.Trotz jüngster Bemühungen seitens bürgerlicher Historiker, sie als einenallmählichen und unmerklichen Prozess darzustellen, manifestierte sich dieDekadenz als eine verheerende Unterproduktionskrise, in der die Gesellschaftimmer weniger in der Lage war, die grundlegenden, lebensnotwendigen Dingeherzustellen – eine wahrhafte Regression der Produktivkräfte, bei der zahlloseKenntnisse und Techniken im Endeffekt verschütt gingen und für Jahrhunderteverschollen blieben. Sie verlief durchaus nicht gradlinig – wie wir bemerkthaben, folgte der grossen Krise des 3. Jahrhunderts eine relative Wiederbelebung,die bis zur letzten Welle barbarischer Invasionen andauerte –, aber sie warunerbittlich.

Der Zusammenbruch des römischen Systemswar die Vorbedingung für das Aufkommen neuer Produktionsverhältnisse, als eineHauptschicht der Grundbesitzer den revolutionären Schritt unternahm, dieSklavenarbeit zugunsten des Fronsystems zu eliminieren – dem Vorläufer derfeudalistischen Leibeigenschaft, in welcher der Produzent, der direkt gezwungenwar, für die Grundbesitzerklasse zu arbeiten, auch ein eigenes Stückchen Landzum Kultivieren erhielt. Die zweite Ingredienz des Feudalismus, die von Marx ineiner Passage in Die deutsche Ideologie erwähnt wird, war das barbarische,„germanische“ Element, das die aufkommende Hierarchie einer Kriegeraristokratiemit den Überbleibseln des Gemeineigentums, das von der Bauernschaft hartnäckigaufrechterhalten worden war, kombinierte. Es folgte eine langeÜbergangsperiode, in der die Sklavenverhältnisse noch nicht vollständigverschwunden waren und das Feudalsystem sich nur allmählich durchsetzte, wobeies seinen wirklichen Aufstieg erst in den ersten Jahrhunderten des neuenJahrtausends erlebte. Auch wenn auf vielen Gebieten (Urbanisierung, relativeUnabhängigkeit des künstlerischen und philosophischen Denkens von der Religion,Medizin, etc.) der Aufstieg der feudalen Gesellschaft, wie wir angemerkt haben,einen markanten Rückschritt im Vergleich zu den Errungenschaften der Antikedarstellte, ist dennoch festzustellen, dass die neuen Gesellschaftsverhältnissesowohl dem Herrn als auch dem Leibeigenen ein direktes Interesse an steigendenErträgen ihrer Landanteile vermittelten und die allgemeine Verbreitung vonwichtigen technischen Fortschritten in der Landwirtschaft gestatteten: deneisernen Pflug und das eiserne Geschirr, das den Einsatz von Zugtierenerlaubte, die Wassermühle, das Drei-Felder-System der Wechselbewirtschaftung,etc. Die neue Produktionsweise ermöglichte so die Wiederbelebung der Städte undein neues Aufblühen der Kultur, was sich am anschaulichsten in den grossenKathedralen und Universitäten ausdrückte, die im 12. und 13. Jahrhundertentstanden.

Doch wie das Sklavensystem vor ihm begannauch der Feudalismus seine „äusseren“ Grenzen zu erreichen.

„... innerhalb der nächsten hundert Jahre(im 13. Jahrhundert) erfasste eine massive, allgemeine Krise den gesamtenKontinent (…) Die grösste Determinante dieser allgemeinen Krise warwahrscheinlich (…) die bis zum Äussersten gehende ‚Inanspruchnnahme‘ derReproduktionsmechanismen des Systems. Insbesondere ist es allem Anschein nachklar, dass der Basismotor der ländlichen Urbarmachung, der die gesamte feudaleÖkonomie drei Jahrhunderte lang angetrieben hatte, im Grunde die objektivenGrenzen sowohl des Terrains als auch der gesellschaftlichen Strukturenüberdehnt hatte. Während die Bevölkerung weiter anwuchs, fielen die Erträge aufden marginalen Ländereien, die noch für die Umwandlung auf dem damalsherrschenden technischen Niveau zur Verfügung standen; fruchtbarer Bodenverödete wegen hastiger oder falscher Bewirtschaftung. Die letzten Reservenzuletzt urbar gemachten Landes waren üblicherweise von schlechter Qualität,nasse oder dünne Erde, deren Bewirtschaftung schwieriger war und auf dieminderwertige Getreidearten wie Hafer ausgesät wurden. Die ältesten Ländereienunter dem Pflug waren ihrerseits zumeist steinalt, ihre Erträge sanken wegender Überholtheit ihrer Kultivierung.“ [16]

Als die Ausweitung der feudalenAgrarökonomie gegen diese Grenzen stiess, folgten katastrophale Konsequenzenfür das gesellschaftliche Leben: Ernteausfälle, Hungersnöte, Zusammenbruch derKornpreise kombiniert mit in die Höhe schnellenden Preisen von Gütern, die inden urbanen Zentren hergestellt wurden:

„Dieser widersprüchliche Prozess betrafden Adel drastisch, denn seine Lebensweise war noch abhängiger von den in denStädten produzierten Luxusgütern geworden (…) während die Erträge aus seinenLandgütern und aus den Abgaben der Leibeigenen fortschreitend zurückgingen. DieFolge war eine Schrumpfung der Einnahmen aus dem Grossgrundbesitz, wasseinerseits eine nie dagewesene Welle von Kriegen auslöste, als die Ritterüberall versuchten, ihre Vermögen durch Plünderungen zurückzugewinnen. InDeutschland und Italien bewirkte dieses Trachten nach Beute in einer Zeit derNot das Phänomen des unorganisierten und archaischen Räubertums einzelnerEdelleute (…) In Frankreich stürzte vor allem der ‚Hundertjährige‘ Krieg – einemörderische Kombination aus Bürgerkrieg zwischen den Capetisten und denburgundischen Herrschaftshäusern sowie einem internationalen Kampf zwischenEngland und Frankreich, unter Einbeziehung der flämischen und iberischen Mächte– das reichste Land Europas in eine Unordnung und Misere ohne Parallele. InEngland bestand der Epilog zur finalen Niederlage in Frankreich in adligem Banditentumwährend den Rosenkriegen (…) Um dieses Panorama der Entvölkerung zuvervollständigen, wurde diese strukturelle Krise durch eine zusätzlicheKatastrophe über die Massen hinaus verschärft – die Invasion des SchwarzenTodes aus Asien 1348.“ [17]

Die Pest, die bis zu einem Drittel dereuropäischen Bevölkerung auslöschte, beschleunigte das Hinscheiden derLeibeigenschaft. Sie brachte einen chronischen Mangel an Arbeitskräften auf demLand mit sich und zwang den Adel, von den traditionellen feudalenArbeitsabgaben auf die Zahlung von Löhnen überzuwechseln; doch gleichzeitigversuchte der Adel, die Uhr anzuhalten, indem er drakonische Restriktionen aufdie Löhne und auf die freie Bewegung von Arbeitskräften erzwang, eineeuropaweite Tendenz, die in klassischer Art in den Statutes of Labourerskodifiziert wurde, welche unmittelbar nach dem Schwarzen Tod in Englanddekretiert wurden. Ein weiteres Resultat dieser adligen Reaktion war dieProvozierung weit verbreiteter Klassenkämpfe, die erneut am bekanntestenGestalt annahmen im riesigen Bauernaufstand in England 1381. Doch überall inEuropa gab es vergleichbare Erhebungen in dieser Periode (die französische„Jacquerie“, Arbeiterrevolten in Flandern, die Rebellion der Ciompi in Florenzund so weiter).

Wie beim Niedergang des alten Rom fandendie anschwellenden Widersprüche des Feudalsystems auf der ökonomischen Ebenesomit auch ihren Niederschlag auf der Ebene der Politik (Kriege,gesellschaftliche Revolten) und im Verhältnis zwischen Mensch und Natur; undall diese Elemente beschleunigten und vertieften umgekehrt die allgemeineKrise. Wie in Rom war der allgemeine Niedergang des Feudalismus das Resultateiner Unterproduktionskrise, der Unfähigkeit der alten gesellschaftlichenVerhältnisse, die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse des täglichen Lebenszu ermöglichen. Es ist wichtig anzumerken, dass, obwohl das langsame Aufkommender Warenbeziehungen in den Städten als auflösender Faktor der feudalen Bandewirkte und durch die Auswirkungen der allgemeinen Krise (Kriege, Hungersnöte,Pest) weiter beschleunigt wurde, die neuen gesellschaftlichen Verhältnissenicht richtig Fahrt aufnehmen konnten, ehe das alte System nicht in einenZustand der Selbst-Schrumpfung eingetreten war, welche in einem rapiden Niedergangder Produktivkräfte mündete:

„Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen,die sich aus der Untersuchung des grossen Zusammenbruchs des europäischenFeudalismus ergeben, ist, dass sich – im Gegensatz zum unter Marxistenweitgehend verbreiteten Glauben – die charakteristische ‚Gestalt‘ einer Krisein einer Produktionsweise nicht daran festmacht, dass kräftige (ökonomische)Produktivkräfte rückschrittliche (gesellschaftliche) Produktionsverhältnissedurchbrechen und umgehend eine höhere Produktivität und Gesellschaft auf ihrenRuinen etablieren. Im Gegenteil, die Produktivkräfte neigen typischerweisedazu, in den herrschenden Produktionsverhältnissen steckenzubleiben undzurückzuweichen; letztere müssen erst radikal geändert und neu geordnet werden,ehe neue Produktivkräfte geschaffen und zu einer weltweiten neuenProduktionsweise kombiniert werden können. Mit anderen Worten, dieProduktionsverhältnisse ändern sich in einer Übergangsperiode in der Regel nochvor den Produktivkräften, und nicht umgekehrt.“ [18]Wie beim Niedergang Roms war auch hier eine Periode des Rückschritts dieVoraussetzung für das Aufblühen einer neuen Produktionsweise.

Ebenfalls analog der Periode derrömischen Dekadenz suchte die herrschende Klasse ihr wankendes System durchimmer willkürlichere Mittel zu beschützen. Die Einführung von Gesetzen zurbrutalen Kontrolle der Mobilität der Arbeit und zur Eindämmung der Landflucht,der Versuch, die zentrifugalen Tendenzen der Aristokratie durch dieZentralisierung der monarchistischen Macht zu bremsen, der Gebrauch derInquisition, um eine rigide ideologische Kontrolle über alle Ausdrückehäretischen und dissidenten Denkens zu erzwingen, die Verfälschung desMünzsystems, um das Problem der königlichen Verschuldung zu „lösen“ – all  diese Tendenzen stellten den Versuch einessterbenden Systems dar, sein endgültiges Aushauchen hinauszuzögern, dochverhindern konnten sie es nicht. In der Tat verwandelten sich die Mittel, diezum Schutz des alten Systems verwendet wurden, zu einem grossen Teil in Brückenköpfedes neuen Systems: Dies war zum Beispiel der Fall bei den zentralisierendenMonarchien der Tudor in England, die weitgehend die notwendigen Bedingungen fürdas Auftreten des modernen kapitalistischen Nationalstaates schufen.

Noch deutlicher als die Dekadenz Roms wardie Epoche des feudalen Niedergangs auch eine Epoche der sozialen Revolution indem Sinn, dass eine authentische neue und revolutionäre Klasse aus ihrenEingeweiden heraustrat, eine Klasse mit einer Weltanschauung, die die altenIdeologien und Institutionen in Frage stellte, und mit einer Wirtschaftsweise,für deren Expansion die feudalen Verhältnisse ein unerträgliches Hinderniswaren. Die bürgerliche Revolution machte ihren ersten triumphalen Schritt aufder Bühne der Geschichte im England der 1640er Jahre, auch wenn esanschliessend über anderthalb Jahrhunderte dauerte, bis sie in den 1790er Jahreden nächsten und noch spektakuläreren Sieg in Frankreich errang. Dieser langeZeitrahmen war möglich, weil die bürgerliche Revolution nur die politischeKrönung eines langen Prozesses der wirtschaftlichen und gesellschaftlichenEntwicklung innerhalb des Gehäuses des alten Systems war und weil sieverschiedenen Rhythmen in den verschiedenen Nationen folgte.

DieTransformation ideologischer Formen

„In der Betrachtung solcher Umwälzungenmuss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlichtreu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungenund den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oderphilosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen diesesKonflikts bewusst werden und ihn ausfechten.“ [19]

Alle Klassengesellschaften werden voneiner Kombination von offener Repression und ideologischer Kontrolleaufrechterhalten, die die herrschende Klasse durch ihre zahllosen Institutionenausübt: Familie, Religion, Erziehung und so weiter. Ideologien sind niemalseine rein passive Reflexion auf ökonomischer Basis, sondern enthalten ihreeigene Dynamik, die in bestimmten Momenten die zugrundeliegendengesellschaftlichen Verhältnisse aktiv beeinflussen können. Bei derUntermauerung der materialistischen Konzeption der Geschichte war Marxgezwungen, zwischen den „materiellen, naturwissenschaftlich treu zukonstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen“ und den„juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen,kurz, ideologischen Formen“ zu unterscheiden, da die vorherrschende Annäherungan die Geschichte bisher Letzteres zugunsten des Erstgenannten betont hatte.

Wenn man die ideologischen Umwandlungenanalysiert, die in einer Epoche der sozialen Revolution stattfinden, ist eswichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass diese, obwohl sie letztendlich von denökonomischen Produktionsbedingungen bestimmt werden, nicht auf starre undmechanische Weise vonstatten gehen, nicht zuletzt weil solch eine Periode nieeine reine Epoche des Abstiegs und Absterbens ist, sondern sich durch einenwachsenden Zusammenprall zwischen widersprüchlichen gesellschaftlichen Kräftenauszeichnet. Es ist bezeichnend für solche Perioden, dass die alte herrschendeIdeologie, die immer weniger einer sich ändernden gesellschaftlichen Realitätentspricht, dazu tendiert zu zerfallen und den Weg für neue Weltanschauungenfreimacht, die dazu dienen können, die gesellschaftlichen Klassen, die sich deralten Ordnung widersetzen, zu inspirieren und zu mobilisieren. ImZerfallsprozess unterliegen die alten Ideologien – Religionen, Philosophien,Künste – häufig dem Pessimismus, Nihilismus und einer obsessiven Beschäftigungmit dem Tod, während die Ideologien von im Aufstieg befindlichen oderrebellischen Klassen viel häufiger optimistisch, lebensbejahend sind und vollerHoffnungen der Morgendämmerung einer radikal anderen Welt entgegensehen.

Um ein Beispiel zu nehmen: In derdynamischen Periode des Sklavensystems neigte die Philosophie in den damaligenGrenzen dazu, die Bemühungen der Menschheit auszudrücken, sich „selbst zuerkennen“, um Sokrates‘ unsterblichen Satz zu übernehmen – die wirklicheDynamik von Natur und Gesellschaft durch das rationale Denken zu verstehen,ohne die Vermittlung eines Gottes. In der Abstiegsperiode des Sklavensystemstendierte die Philosophie dazu, sich in die Rechtfertigung der Verzweiflungoder Irrationalität zurückzuziehen, wie im Neoplatonismus und seinenVerbindungen zu zahllosen Mysterienkulten, die im späten Imperium aufblühten.

Diese Tendenz kann jedoch nicht aufeinseitige Art begriffen werden: In Perioden der Dekadenz waren die altenReligionen und Philosophien ebenfalls mit dem Aufstieg neuer revolutionärerKlassen oder mit der Rebellion der Ausgebeuteten konfrontiert, und dieseKonfrontationen nahmen im Allgemeinen ebenfalls religiöse Formen an. So begannim antiken Rom die christliche Religion, auch wenn sie sicherlich von denöstlichen Mysterienkulten beeinflusst war, als eine Protestbewegung derEigentumslosen gegen die vorherrschende Ordnung und schuf später, als eineetablierte Macht mit eigenen Rechten, einen Rahmen für die Bewahrung vieler kulturellerErrungenschaften der Antike. Diese Dialektik zwischen der alten Ordnung und derneuen war eine Form der ideologischen Umwandlungen auch während des Niedergangsdes Feudalismus. Einerseits:

„Die Periode der Stagnation erlebte denAufstieg des Mystizismus in all seinen Formen. Die intellektuelle Form mit der‚Abhandlung über die Kunst des Sterbens‘ und vor allem die ‚Nachahmung vonJesus Christus‘. Die emotionale Form mit den grossen Ausdrücken dervolkstümlichen Pietät, die durch den Einfluss der unkontrollierbaren Elementeder Bettelorden verschärft wurden: die ‚Flagellanten‘, die das Land bewandertenund auf  den Plätzen der Städte ihreKörper mit der Peitsche geisselten, wobei sie auf die menschlichen Gefühleabzielten und die Christen zur Reue aufforderten. Diese Manifestationen riefenBilder von oft zweifelhaftem Geschmack hervor, wie die Fontänen von Blut, dieden Heiland symbolisieren. Sehr schnell taumelte die Bewegung in die Hysterie,und die geistliche Hierarchie musste gegen die Unruhestifter eingreifen, um zuvermeiden, dass deren Predigten zu einem weiteren Wachstum in der Zahl derVagabunden führten (…) Makabre Künste breiteten sich aus (…) der heilige Text,der von den nachdenklicheren Köpfen am meisten bevorzugt wurde, war die Apokalypse.“ [20]

Andererseits stand dem Ableben desFeudalismus auch der Aufstieg der Bourgeoisie und ihrer Weltsicht gegenüber,die ihren Ausdruck in der grossartigen Blüte von Kunst und Wissenschaft in derRenaissance fand. Und selbst mystische und chiliastische Bewegungen wie dieWiedertäufer waren, wie Engels hervorhob, oft eng mit den kommunistischenBestrebungen der ausgebeuteten Klassen verknüpft. Solche Bewegungen konntennoch keine historisch lebensfähige Alternative zum alten System der Ausbeutungaufstellen, und ihre Träume vom Tausendjährigen Reich waren oftmals auf eineprimitive Vergangenheit fixiert statt auf eine fortgeschrittenere Zukunft, dochspielten sie nichtsdestotrotz eine Schlüsselrolle in jenem Prozess, der dieZerstörung der verfallenden mittelalterlichen Hierarchie nach sich zog.

In einer dekadenten Epoche ist derallgemeine kulturelle Niedergang niemals absolut: In der Kunst zum Beispielkann die Stagnation der alten Schulen durch neue Formen kompensiert werden, dievor allem einen humanen Protest gegen eine wachsende inhumane Ordnung zumAusdruck bringen. Dasselbe kann zur Moral gesagt werden. Die Moral, dieletztlich ein Ausdruck des sozialen Wesens der Menschheit ist, wird inDekadenzperioden, die wiederum Ausdrücke des Zusammenbruchs dergesellschaftlichen Verhältnisse sind, mit ihrem Zusammenbruch, im Kollapsgrundlegender menschlicher Bande und mit dem Triumph der anti-sozialenTriebkräfte enden. Die Perversion und Prostitution des sexuellen Verlangens,das vermehrte Auftreten von absolut sinnlosen Tötungen, Diebstählen undBetrügereien sowie vor allem die Abschaffung jeglicher moralischen Regeln inder Kriegsführung sind an der Tagesordnung. Doch auch dies sollte nicht aufstarre und mechanische Weise betrachtet werden, in dem Sinn etwa, dass Periodendes Aufstiegs von höheren menschlichen Verhaltensweisen und Perioden desNiedergangs von einem plötzlichen Sturz in die Niedertracht und Verdorbenheitgekennzeichnet seien. Die Untergrabung und Erschütterung der alten moralischenGewissheiten können sich gleichermassen im Aufstieg eines neuenAusbeutungssystems ausdrücken, gegenüber dem die alte Ordnung sichvergleichsweise milde ausnimmt, wie im KommunistischenManifest mit Bezug auf den Aufstieg desKapitalismus bemerkt wurde:

„Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaftgekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnissezerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinennatürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Bandzwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als diegefühllose ‚bare Zahlung‘. Sie hat die heiligen Schauer der frommenSchwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spiessbürgerlichen Wehmut indem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönlicheWürde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieftenund wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.“

Und dennoch war das Verständnis vonHegels „List der Vernunft“ derart präsent im Denken von Marx und Engels, dasssie imstande waren anzuerkennen, dass dieser moralische „Niedergang“, dieUmwandlung der Welt in Waren tatsächlich eine fortschrittliche Kraft war, diedie statische feudale Ordnung wegzuspülen half und den Weg für eineauthentische menschliche Moral ebnete, die vor ihr liegt.

Gerrard

 



[1] Marx, Zur Kritik der PolitischenÖkonomie, Vorwort, MEW, Bd. 13, S. 9.

 

[2] Vgl. den ersten Teil dieses Artikels.

 

[3] Engels, Anti-Dühring, Teil 3, „Sozialismus“, Kap. I, „Geschichtliches“, MEW, Bd. 20, S. 242f.

 

[4] MEW Bd. 21, S.173, bzw. Morgan, AncientSociety.

 

[5] Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgangder deutschen Philosophie

 

[6] Zum Beispiel die sesshaften und bereits sehr hierarchischenJägergesellschaften, die in der Lage waren, beträchtliche Vorräte anzulegen,die vielen halbkommunistischen Formen der Landwirtschaft, die „Stammesreiche“,die von halbbarbarischen Hirtenvölkern wie den Hunnen und den Mongolen gebildetwurden, etc.

 

[7] Die deutsche Ideologie, 1847

 

[8] Als die traditionelle Lebensweise noch in Kraft war, behielten unterden australischen Stämmen die Jäger, die Beute gemacht hatten, nichts für sichselbst, sondern händigten ihren Fang sofort der Gemeinschaft aus, die dieGestalt bestimmter komplexer Blutsverwandtschaftsstrukturen hatte. Laut desWerkes des Anthropologen Alain Testart, LeCommunisme Primitif, 1985, kann der BegriffUrkommunismus nur auf die Australier angewendet werden, die er als die letztenÜberbleibsel gesellschaftlicher Beziehungen betrachtet, die in derpaläolithischen Periode wahrscheinlich allgemein geherrscht haben. Dies stehtzur Debatte. Sicherlich gibt es selbst unter den nomadischenJäger-Sammler-Völkern grosse Unterschiede in der Art, wie das gesellschaftlicheProdukt verteilt wird, auch wenn alle von ihnen der Aufrechterhaltung derGemeinschaft Priorität einräumten. Wie Chris Knight in seinem Buch BloodRelations, Menstruation and the Origins of Culture,1991, hervorhob, ist das, was er das „Recht auf den eigenen Fang“ (own-killrule)“ nennt (d.h. vorgeschriebene Grenzen für denAnteil des Jägers an seinem Fang), äusserst weit verbreitet unter denJägervölkern.

 

[9] Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Auflösung derurgesellschaftlichen Verhältnisse kein einmaliges Ereignis war, sondern inverschiedenen Rhythmen in verschiedenen Teilen der Erde erfolgte; es war einProzess, der sich über Jahrtausende erstreckte und dessen letzte tragischeKapitel erst jetzt in den abgelegensten Gebieten der Erde wie dem Amazonas undBorneo aufgeschlagen werden.

 

[10] Erster Entwurf des Briefes an Vera Sassulitsch, 1881.

 

[11] Engels, Vom Ursprung der Familie, desPrivateigentums und des Staates. MEW, Band 21, S. 97.

 

[12] Das Kapital, Band 1, 12. Kapitel, 4. Teilung der Arbeit innerhalb der Manufakturund Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft.

 

[13] Luxemburg, Junius-Broschüre.

 

[14] Perry Anderson, Passages from Antiquity toFeudalism, Verso Edition, 1978, S. 83 f., eigene Übersetzung.

 

[15] Ebenda, S. 92.

 

[16] Anderson, a.a.O. S. 197, eigene Übersetzung.

 

[17] Ebenda, S. 200 f.

 

[18] Ebenda, S. 204.

 

[19]  Marx, Zur Kritik der PolitischenÖkonomie, Vorwort. MEW, Band 13, S. 9.

 

[20] J. Favier, From Marco Polo to Christopher Columbus, S. 152 f., eigene Übersetzung.

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [4]

Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation

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Der These, der wir den Titel AusserkapitalistischeMärkte und Verschuldung gaben, behauptet, wie der Name suggeriert, dassdie Ventile, die es ermöglicht hatten, den für die kapitalistische Akkumulationin den 1950er und 1960er Jahren notwendigen Mehrwert zu realisieren, von denausserkapitalistischen Märkten und dem Kredit gebildet wurden. In dieserPeriode trat die Verschuldung allmählich an die Stelle der verbliebenenausserkapitalistischen Märkte, da diese nicht mehr ausreichten, um all die imKapitalismus produzierten Waren zu absorbieren.

 

Zwei Fragen sind zu dieser These gestellt worden:

-   Kann sie durch eine Analyse des Handelszwischen verschiedenen Wirtschaftszonen verifiziert werden, die verschiedeneEbenen der Integration in die kapitalistischen Produktionsverhältnisserepräsentieren? Kann sie auch von einer Analyse der Schulden in dieser Periodeverifiziert werden? Ein späterer Artikel wird dieses Problem näher ins Augefassen.

-   Auf welche Weise unterscheidet sich dieseThese von den anderen beiden? Inwieweit ist sie kompatibel mit ihnen? DieserArtikel beabsichtigt, eine kritische Analyse der These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus vorzunehmen, während ein weiterer esunternehmen wird, die Positionen zu kommentieren, die unter der Überschrift Kriegswirtschaftund Staat kapitalismus vertreten werden.

Wie wir bereits in dem Text über dieAusserkapitalistischen Märkte und Verschuldung, der in der InternationalenRevue Nr. 42 erschienen war, angedeutet hatten, können weder die Steigerung derKaufkraft der Arbeiterklasse noch die Staatsausgaben - von denen vieleunproduktiv sind, wie wir im Fall der Rüstungsindustrie sehen - zurBereicherung des globalen Kapitals beitragen. Dieser Artikel wird sich imWesentlichen dieser Frage widmen, die, wie wir glauben, einen ernstenWiderspruch in der These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus enthüllt, insbesondere was dieWirksamkeit steigender Arbeitslöhne für die kapitalistische Ökonomieanbetrifft. Laut dieser These war das „System (...) also zeitweise imstande, dieQuadratur des Kreises, die parallele Steigerung der Profitproduktion und derMärkte, zu bewerkstelligen, in einer Welt, in der die Nachfrage fortangrösstenteils von jener dominiert wurde, die aus der Lohnarbeit herrührt.[1]Was bedeutet es, die Profitproduktion zu steigern? Es bedeutet, Waren zuproduzieren und zu verkaufen, doch um welche Nachfrage zu befriedigen? Die derArbeiterInnen? Die folgende Sentenz aus dem gerade zitierten Artikel istgleichermassen widersprüchlich und bringt uns nicht weiter: „Die garantierteSteigerung der Profite, der Staatsausgaben und der Anstieg der Löhne waren inder Lage, die Endnachfrage zu garantieren, die so entscheidend ist, wenn das Kapitalseine Akkumulation fortsetzen wollte."[2]Wenn die Steigerung der Profite somit garantiert ist, dann ist es auch diekapitalistische Akkumulation, und in diesem Fall ist es unerheblich, eineErhöhung der Löhne und eine Steigerung der Staatsausgaben zu Hilfe zu rufen, umzu erklären, wie der Kapitalismus mit der Akkumulation fortfahren kann!

Diese Vagheit in der Formulierung desProblems lässt uns keine andere Wahl, als das Argument zu interpretieren, mitdem Risiko, Fehler in der Interpretation zu begehen. Bedeutet es tatsächlich,wie der Text in seiner Gesamtheit zu suggerieren scheint, dass die Endnachfragedurch Staatsausgaben und steigende Löhne garantiert ist, was es ermöglicht, dieProfite zu steigern, welche das Fundament der kapitalistischen Akkumulationsind? Wenn dies der Fall ist, dann stellt der Text ein reales Problem dar, daunserer Ansicht nach solch eine Idee die eigentlichen Fundamente dermarxistischen Analyse der kapitalistischen Akkumulation in Frage stellt, wiewir sehen werden. Wenn aber unsere Interpretation unrichtig ist, dann ist esnotwendig, uns zu zeigen, welche Nachfrage die Realisierung des Profits durchden Warenverkauf garantiert.

Die Kapitalisten akkumulieren, was nachAbzug der unproduktiven Kosten vom Mehrwert übrigbleibt, der aus der Ausbeutungder ArbeiterInnen gezogen wird. Da eine Steigerung der Reallöhne nur zumSchaden des Gesamtmehrwerts sein kann, geschieht sie somit auchnotwendigerweise zum Schaden des Anteils des Mehrwerts, der für dieAkkumulation bestimmt ist. In der Praxis läuft eine Erhöhung der Löhne daraufhinaus, dass den ArbeiterInnen ein Teil des Mehrwerts ausbezahlt wird, der ausihrer Ausbeutung stammt. Das Problem mit diesem Teil des Mehrwerts, der an dieArbeiterInnen zurückgezahlt wird, ist, dass er, da er nicht dazu bestimmt ist,die Arbeitskraft zu reproduzieren (die bereits durch den „nicht-erhöhten" Lohnabgesichert ist), auch nicht Teil der erweiterten Reproduktion sein kann.Tatsächlich kann er, gleich ob die ArbeiterInnen Nahrungsmittel, Wohnungen oderFreizeitwaren kaufen, niemals dazu benutzt werden, um zum Wachstum derProduktionsmittel (Maschinen, Löhne für neue ArbeiterInnen, etc.) beizutragen.Daher ist die Erhöhung von Löhnen über das für die Reproduktion derArbeitskraft Erforderliche hinaus - vom kapitalistischen Standpunkt aus -nichts anderes als reine Verschwendung von Mehrwert, der nicht zu einemBestandteil des Akkumulationsprozesses werden kann.

Es ist richtig, dass die Statistiken derBourgeoisie diese Realität verbergen. Die Berechnung des BSP(Bruttosozialprodukt) schliesst leichterdings alles ein, auch unproduktiveWirtschaftsaktivitäten, ob es sich um die Ausgaben für Waffen und Werbunghandelt, um die Gehälter für Priester und Polizisten oder den Konsum derherrschenden Klassen, und ebenfalls die Lohnerhöhungen, die den ArbeiterInnengewährt werden. Wie die Statistiken der Bourgeoisie verwechselt die These deskeynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus die „Steigerung der Produktion",die anhand des Wachstums des BSP gemessen wird, mit der „Bereicherung desKapitalismus"; diese beiden Begriffe sind alles andere als äquivalent, da die„Bereicherung des Kapitalismus" sich auf dem Wachstum des real akkumuliertenMehrwerts stützt und Mehrwert ausschliesst, der durch die unproduktivenAusgaben sterilisiert wird. Dieser Unterschied ist keineswegs unwichtig,besonders in der zur Diskussion stehenden Periode, die durch einen massivenAnstieg der unproduktiven Ausgaben charakterisiert ist: „Die Bildung einesinternen Marktes durch den Keynesianismus als eine unmittelbare Lösung zumAbsatz der massiven industriellen Produktion hat Illusionen in eine dauerhafteRückkehr des Wachstums wie zu Zeiten des aufsteigenden Kapitalismus geweckt.Doch seit der Markt komplett abgenabelt wurde von den Bedürfnissen derWertsteigerung des Kapitals, hatte dies die Sterilisierung eines beträchtlichenTeils des Kapitals zur Folge."[3]

Der Gedanke, dass ein Anstieg derArbeitslöhne unter bestimmten Umständen ein günstiger Faktor für diekapitalistische Akkumulation sein könnte, widerspricht völlig dieserGrundsatzposition des Marxismus (und nicht nur dieser!), derzufolge der ganzeCharakter der kapitalistischen Produktion die Verwertung des Kapitals ist, undnicht sein Verzehr [4].

Und dennoch - so werden jene Genossenantworten, die die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus vertreten - stellt sich diese These aufdie Grundlage von Marx. Ihre Erklärung des Erfolges der staatskapitalistischenMassnahmen zur Vermeidung der Überproduktion basiert in der Tat auf demGedanken von Marx, dass „die Masse des Volks nie mehr als die average quantityof necessaries (durchschnittliche Menge der lebenswichtigen Güter) konsumierenkann, ihre Konsumtion also nicht entsprechend wächst mit der Produktivität derArbeit"[5].Mithilfe dieser Formulierung von Marx sieht die These einen Weg, um zuerklären, wie die kapitalistische Ökonomie in der Lage war, den Widerspruch zuüberwinden: Solange es Fortschritte in der Produktivität gibt, die ausreichen,damit der Konsum in demselben Rhythmus wie die Arbeitsproduktivität wächst,kann das Problem der Überproduktion gelöst werden, ohne die Akkumulation zuhemmen, da die Profite, die ebenfalls steigen, ausreichen, um die Akkumulationabzusichern. Während seines gesamten Lebens hat Marx nie einen Anstieg derLöhne im Gleichklang mit der Produktivität erlebt; ja, er nahm an, dass diesunmöglich sei. Dennoch hat sich genau dies in gewissen Momenten im Leben desKapitalismus ereignet; jedoch gestattet uns dieses Tatsache keineswegs, darauszu folgern, es könne, mindestens zeitweise, das fundamentale Problem derÜberproduktion lösen, das Marx hervorhob. Der Marxismus reduziert diesenWiderspruch der Überproduktion nicht einfach auf das Verhältnis zwischensteigenden Löhnen und wachsender Produktivität. Die Tatsache, dass Keynes solcheinen Mechanismus zur Verteilung des Reichtums als ein Mittel betrachtete, umzeitweise einen gewissen Grad an ökonomischer Aktivität im Zusammenhang miteiner steil ansteigenden Arbeitsproduktivität aufrechtzuerhalten, ist eineSache. Eine völlig andere Sache und darüber hinaus illusorisch ist es zubehaupten, dass die „Ventile", die auf diese Weise geschaffen werden, einewirkliche Entwicklung des Kapitalismus ermöglichen.

Hier müssen wir etwas näher dieAuswirkungen solch eines Mittels der „Regulierung" der Frage der Überproduktionmittels des Konsums der ArbeiterInnen auf die Mechanismen der kapitalistischenÖkonomie betrachten. Es trifft zu, dass der Konsum der ArbeiterInnen und dieStaatsausgaben es möglich machen, die Produkte einer gesteigerten Produktion zuverkaufen, doch wie wir gesehen haben, mündet dies in eine Sterilisierung desproduzierten Reichtums, da er nicht sinnvoll verwendet werden kann, um Kapitalzu verwerten. In der Tat hat die Bourgeoisie ähnliche Hilfsmittel ausprobiert,um die Überproduktion einzudämmen: die Zerstörung des landwirtschaftlichenMehrwerts besonders in den 1970er Jahren (als der Hunger bereits auf dergesamten Welt verbreitet war), Quotensysteme auf Welt- oder gar europäischerEbene bei Stahlproduktion und Erdölförderung, etc. Was immer die Mittel sind,die von der Bourgeoisie benutzt werden, um die Überproduktion zu absorbierenoder aus der Welt zu schaffen, letztlich enden sie alle in der Sterilisierungvon Kapital.

Paul Mattick[6],der im Artikel „Die Urspünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus" zitiert wird[7],stellte ebenfalls eine Erhöhung der Löhne in dem Zeitraum, der uns hier angeht,fest, die mit einer gesteigerten Produktivität Schritt hielten: „Es istunbestreitbar, dass die Löhne in der modernen Epoche angestiegen sind. Jedochnur im Rahmen der Kapitalexpansion, die voraussetzt, dass das Verhältnis derLöhne zu den Profiten im Allgemeinen konstant bleibt. Die Arbeitsproduktivitätsollte daher mit einer Geschwindigkeit wachsen, die es gestattet, sowohlKapital zu akkumulieren als auch den Lebensstandard der ArbeiterInnenanzuheben."[8]

Doch unglücklicherweise geht die Thesedes keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismusnicht weiter in ihrem Gebrauch des Werkes von Mattick. Für Mattick wie auch füruns gilt: „jede Prosperität beruht auf der Vergrösserung des Mehrwerts zurweiteren Expansion des Kapitals"[9]Mit anderen Worten, sie wächst nicht durch die Verkäufe auf Märkten, die durchsteigende Löhne oder Staatsausgaben geschaffen werden: „Das ganze Problemreduziert sich zuletzt auf die einfache Tatsache, dass das, was konsumiertwird, nicht akkumuliert werden kann, so dass die wachsende ‚öffentlicheKonsumtion‘ kein Mittel sein kann, um eine zum Stillstand gekommene oder sichvermindernde Akkumulationsrate in ihr Gegenteil zu verkehren."[10]Diese Einzigartigkeit der Prosperität der 1950er und 1960er Jahre ist sowohlvon offiziellen bürgerlichen Ökonomen als auch von der These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus unbemerkt geblieben: „Da die Ökonomennicht zwischen Wirtschaft und kapitalistischer Wirtschaft unterscheiden, bleibtihnen auch verschlossen, dass Produktivität und ‚kapitalistisch produktiv' zweiverschiedene Dinge sind, dass öffentliche wie private Ausgaben nur dannproduktiv sind, wenn sie Mehrwert erzeugen, nicht weil sie materielle Güteroder Annehmlichkeiten mit sich bringen." Folglich: „Die durch die Defizitfinanzierung ermöglichte zusätzliche Produktionstellt sich als zusätzliche Nachfrage dar, aber es ist eine Nachfragebesonderer Art, da sie sich zwar aus der gesteigerten Produktion ergibt, aberes handelt sich um eine gesteigerte Gesamtproduktion ohne eine entsprechendeSteigerung des Gesamtprofits."[11]

Es folgt, was wir gerade gesagt haben,nämlich dass die tatsächliche Prosperität der 1950er und 1960er Jahre nicht sogrossartig war, wie die Bourgeoisie gern vorgibt, wenn sie stolz auf das BSPder wichtigsten Industrieländer jener Zeit verweist. Matticks Beobachtung indiesem Zusammenhang ist vollkommen richtig: „In Amerika blieb jedoch dieNotwendigkeit bestehen, das Produktionsniveau mittels öffentlicher Ausgabenstabil zu halten, was zu einem weiteren wenn auch langsameren Anwachsen der Staatsverschuldung.Dieser Zustand liess sich auch mit der imperialistischen Politik Amerikas undspäter besonders mit dem Krieg in Vietnam begründen. Aber da dieArbeitslosigkeit nicht unter vier Prozent der Gesamtbeschäftigung fiel und dieProduktionskapazität keine volle Ausnutzung fand, ist es mehr alswahrscheinlich, dass ohne den ‚öffentlichen Konsum‘ der Aufrüstung undMenschenschlächterei die Arbeitslosenzahl weit höher gestanden hätte, als estatsächlich der Fall war. Und da ungefähr die Hälfte der Weltproduktion aufAmerika fällt, liess sich trotz des Aufschwungs in Westeuropa und Japan nichtvon einer völligen Überwindung der Weltkrise sprechen, und besonders dannnicht, wenn die unterentwickelten Länder in die Betrachtung miteinbezogenwerden. So lebhaft die Konjunktur auch war, so bezog sie sich doch nur aufTeile des Weltkapitals, ohne es zu einem allgemeinen die Weltwirtschaftumfassenden Aufschwung zu bringen."[12]Die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus unterschätzt diese Realität.

Für uns kann die wahre Quelle derAkkumulation nicht in den keynesianischen Massnahmen gesucht werden, diewährend dieses Zeitraums in Kraft gesetzt worden waren[13],sondern in der Realisierung des Mehrwerts durch den Absatz sowohl aufausserkapitalistischen Märkten als auch auf Kredit. Wenn wir richtig verstandenhaben, dann macht die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus einen theoretischen Fehler auf dieserEbene, der den Weg freimacht für die Idee, dass es dem Kapitalismus möglich sei,die Krise zu überwinden, solange er in der Lage sei, beständig dieArbeitsproduktivität und im gleichen Verhältnis die Arbeitslöhne wachsen zulassen.

Zu Beginn dieser Debatte betrachtete sichdie These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus in Kontinuität mit dem theoretischenRahmen zum Verständnis der Widersprüche des Kapitalismus, der von Marxentwickelt und später von Rosa Luxemburg bereichert wurde. Unserer Ansicht nachmacht es keinen Unterschied, ob die These des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus Luxemburgs Theorie akzeptiert oderablehnt - sie ist unfähig, die Widersprüche zu erklären, die diekapitalistische Gesellschaft während der Periode des Nachkriegsboomsunterminierten. Wie man aus den vielen Zitaten von Mattick, auf die wir unsereKritik gründeten, entnehmen kann, hat die Auseinandersetzung mit dieser Thesenichts mit dem eher klassischen Gegensatz zwischen der Theorie derNotwendigkeit ausserkapitalistischer Märkte für die Entwicklung desKapitalismus (vertreten von Rosa Luxemburg) und der Analyse zu tun, die sichauf den Fall der Profitrate als alleinige Erklärung für die Krise desKapitalismus stützt, wie sie von Paul Mattick vertreten wird).

Was die andere Frage angeht - ob derAbsatz auf Kredit eine dauerhafte Basis für die reale Akkumulation schaffenkann -, so bringt uns dies zurück zu der Debatte über den Fall der Profitratebzw. die Sättigung der ausserkapitalistischen Märkte. Die Antwort auf dieseFrage findet sich in der Fähigkeit oder Unfähigkeit des Kapitalismus, seineSchulden zurückzuzahlen. Tatsächlich ist das fortgesetzte Schuldenwachstum seitdem Ende der 1950er Jahre ein Anzeichen dafür, dass die gegenwärtige offeneSchuldenkrise ihre Wurzeln exakt in der „Prosperitäts"-Periode der 1950er und1960er Jahre hat. Doch dies ist eine andere Debatte, zu der wir zurückkehrenwerden, wenn wir uns die Verifizierung der These der ausserkapitalistischenMärkte und Verschuldung im wahren Leben anschauen.

Silvio

 



[1] „Die Ursprünge, Dynamiken undGrenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus", Internationale Revue Nr. 43.

 

[2] Ebenda.

 

[3] Internationale Revue Nr. 42 „Interne Debatte: Die Ursachen desWirtschaftsbooms nach 1945", Kapitel: „Ausserkapitalistische Märkte und Verschuldung".

 

[4] Das Kapital Band 3, MEW 25 S. 268

 

[5] Marx, Theorien über den Mehrwert, Zweiter Teil, MEW 26.2 S. 469

 

[6]  Mattick war ein Mitgliedder Kommunistischen Linken und ein Mitglied der KAPD während der DeutschenRevolution. Nachdem er 1926in die USA emigriert war, trat er den IWW bei undschrieb über viele politische Themen, einschliesslich der Ökonomie. Zwei seinerWerke sind besonders erwähnenswert: Marxund Keynes - die Grenzen der gemischten Wirtschaft (1969) und Krisenund Krisentheorien (1974). ImWesentlichen erklärt Mattick die kapitalistische Krise mit dem Widerspruch, dervon Marx hervorgehoben wurde, mit dem tendenziellen Fall der Profitrate. Erstimmt also Luxemburgs Krisenerklärung nicht zu, welche - ohne die fallendeProfitrate zu leugnen - wesentlich auf dem Bedürfnis nach Märkten ausserhalbkapitalistischer Produktionsverhältnisse besteht, damit der Kapitalismus sichweiterentwickeln könne. Wir möchten gern Matticks Fähigkeit in Krisen und Krisentheorien hervorheben, die Beiträge zu Marxens Krisentheorie von seinenNachfolgern, von Rosa Luxemburg zu Henrik Grossmann, einschliesslichTugan-Baranowski und nicht zu vergessen Pannekoek, brillant zusammengefasst zuhaben. Seine Meinungsverschiedenheiten mit Luxemburg hinderten ihn nicht daran,das Werk der grossen Revolutionärin zur Ökonomie auf vollkommen objektive undverständliche Weise zu erklären.

 

[7] InternationaleRevue Nr.43

 

[8] PaulMattick, Intégration capitaliste et rupture ouvrière, EDI, S. 151, unsereÜbersetzung.

 

[9] Mattick, Krisen und Krisentheorien, 4. Kapitel „Glanz und Elend dergemischten Wirtschaft", Hervorhebungen hier und im Folgenden von uns.

 

[10] Ebenda.

 

[11] Ebenda.

 

[12] Ebenda.

 

[13] Ebenda.

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Staatskapitalismus [5]

Interne Debatte in der IKS (III) Die Ursachen für die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg

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Wir setzen in dieser Nummer der InternationalenRevue die Veröffentlichung unserer internenDebatte über die Erklärung des Wirtschaftsbooms in den 1950er und 60er Jahrenfort. Die Leser und Leserinnen werden sich erinnern, dass diese Debatte ihrenAusgang in einer Kritik an der Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus genommen hat, insbesondere an der Analyse hinsichtlich der Zerstörungen,die der Zweite Weltkrieg angerichtet hatte. Diese Kriegszerstörungen werden inder Broschüre als Ursprung des Marktes des Wiederaufbaus dargestellt, indem sieder kapitalistischen Produktion einen Absatz erlaubt hätten. Eine derPositionen (mit dem Namen Kriegswirtschaftund Staatskapitalismus) bezieht sichin Verteidigung der Broschüre grundsätzlich immer noch „auf die Idee,dass die Prosperität der 50er und 60er Jahre durch die globale Situation derimperialistischen Machtverhältnisse und die Installierung einer permanenten Kriegswirtschaftnach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt ist". Zwei andere Positionen, die sichgrundsätzlich in der Kritik an der Analyse der Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus einig waren, vertraten gegensätzliche Positionen betreffend denMechanismus, der den Boom der 50er und 60er Jahre erklären sollte:keynesianische Massnahmen für die eine Position (mit dem Namen keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus); Ausbeutung der letzten ausserkapitalistischen Märkteund Beginn der Flucht nach vorn in die Verschuldung für die andere (mit demNamen Ausserkapitalistische Märkte und Verschuldung).

 

In der Internationalen Revue Nr. 42 wurden dieDarstellung des Rahmens der Debatte sowie drei Beiträge publiziert, welche diedrei gegenwärtigen Hauptpositionen zusammenfassten. In der Nr. 43 der Revueveröffentlichten wir einen Artikel Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus, der ausführlicher die Thesedes keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus darlegte.

In dieser Nummer lassen wir die beiden anderen Positionenzu Wort kommen mit den folgenden Texten Die Grundlagen der kapitalistischenAkkumulation und Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus (zur Verteidigungder Positionen Ausserkapitistische Märkte und Verschuldung bzw.Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus). Wir müssen aber vor der Fortsetzungder Debatte einige Bemerkungen anbringen einerseits zur Entwicklung derdiskutierten Positionen, andererseits zur Wissenschaftlichkeit desDiskussionsstils.

Die Entwicklung der diskutierten Positionen

Während einer gewissen Zeit der Debatte haben sich alleStandpunkte auf den Rahmen der Analyse der IKS[1] berufen, der dabei oft als Bezugspunkt für die Kritikender einen oder anderen Position an den anderen Standpunkten diente. Dies istheute nicht mehr der Fall, und zwar schon während einiger Zeit. Eine solcheEntwicklung liegt im Bereich der Möglichkeiten einer jeden Debatte:Divergenzen, die zunächst als geringfügig erscheinen, stellen sich im Laufe derDiskussion als tiefer heraus, ja können den anfänglichen theoretischen Rahmender Diskussion selbst in Frage stellen. Das ist mit der Debatte in unsererOrganisation geschehen, insbesondere mit der These, die keynesiansich-fordistischerStaatskapitalismus heisst. So ergibt sichaufgrund der Lektüre des Artikels Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischenStaatskapitalismus (Internationale Revue Nr. 43), dass diese These nun offen verschiedenePositionen der IKS in Frage stellt. Da diese Infragestellungen eineAngelegenheit der Debatte selber sind, beschränken wir uns hier darauf, auf sieaufmerksam zu machen, und überlassen es späteren Beiträgen, darauf zurück zukommen. So gilt, für diese These, was folgt:

- „(...) der Kapitalismus generiert dauernd diegesellschaftliche Nachfrage, die der Entwicklung seines Marktes zu Grundeliegt"[2], während für die IKS „im Gegenteil zu dem, was dieVerehrer des Kapitals suggerieren, (...) die kapitalistische Produktion jedochnicht automa tisch und wunschgemäss die für ihr Wachstum notwendigen Märkte"schafft (Plattform der IKS).

-   Den Kulminationspunkt des Kapitalismus würdenauf einer bestimmten Stufe „die Ausweitung der Lohnarbeit und ihre durch dieHerstellung des Weltmarktes erreichte allgemeine Herrschaft" bilden[3]. Für die IKS dagegen trat dieser Kulminationspunkt dannein, als die wichtigsten wirtschaftlichen Mächte sich die Welt aufteilt hattenund der Markt „die Schwelle zur Sättigung derselben Märkte (erreichte), die im19. Jahrhundert noch seine ungeheure Ausdehnung ermöglicht hatten" (Plattformder IKS).

-   Die Entwicklung der Profitrate und die Grösseder Märkte seien vollkommen unabhängig, während für die IKS „durch diewachsende Schwierigkeit des Kapitals, Märkte zu finden, wo sein Mehrwertrealisiert werden kann, der Druck auf die Profitrate verstärkt und ihrtendenzieller Fall bewirkt (wurde). Dieser Druck wird durch den ständigenAnstieg des konstanten, "toten" Kapitals (Produktionsmittel) zu Lasten desvariablen, lebendigen Kapitals, die menschliche Arbeitskraft, ausgedrückt."(ebenda)

Es gehört zu einer proletarischen Debatte, die Klärungder Divergenzen systematisch und methodisch konsequent bis zu ihrer Wurzelvoranzutreiben, ohne Furcht vor allfälligen Infragestellungen, die sichaufdrängen können. Nur eine solche Debatte kann wirklich die theoretischenGrundlagen der Organisationen verstärken, die sich auf das Proletariat berufen.Folglich erfordert eine solche Debatte die strengstmögliche wissenschaftlicheund militante Klarheit, insbesondere was die Verweise auf Texte derArbeiterbewegung betrifft, die zur Unterstützung eines Arguments oder für diePolemik benutzt werden. Gerade der Artikel Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen deskeynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus in der Revue Nr. 43 stellt in dieser Hinsicht einProblem dar.

Ein Mangel an Wissenschaftlichkeit

Der fragliche Artikel beginnt mit einem Zitat aus Internationalisme Nr. 46 (Organ der Kommunistischen Linken Frankreichs,GCF): „1952 beendeten unsere Vorgänger in der GCF die Aktivitäten ihrer Gruppe,weil das „Verschwinden der ausserkapitalistischen Märkte (...) zu einerpermanenten Krise des Kapitalismus führt (...) Wir können hier die ins Augefallende Bestätigung von Rosa Luxemburgs Theorie sehen (...) In der Tat sind dieKolonien nicht mehr ein ausserkapitalistischer Markt für das kolonialeMutterland (...) Wir leben in einem Zustand des drohenden Krieges..." Geschriebenam Vorabend des Nachkriegsbooms, enthüllen diese wiederholten Fehler dieNotwendigkeit, über die „ins Auge fallende Bestätigung von Rosa LuxemburgsTheorie" hinauszugehen".

Wenn man diese Stelle liest, so springen die folgendenzwei Ideen ins Auge:

-   1952 (zur Zeit, als der Artikel von Internationalisme geschrieben wurde) waren die ausserkapitalistischenMärkte verschwunden, deshalb die Situation „einer permanenten Krise desKapitalismus".

-   Die Voraussage der Gruppe Internationalisme vom unmittelbar drohenden Krieg ist eine Konsequenz ausder Analyse über das Verschwinden der ausserkapitalistischen Märkte.

Aber dies sind nicht die wirklichen Ideen von Internationalisme, sondern ihre entstellende Transkription in der Formeines Zitats (das wir gerade wiedergegeben haben), das gewisse Stellen desOriginaltextes der Zeitschrift Internationalisme von den Seiten 9, 11, 17 und 1 in dieser Reihenfolgeherauspflückt und neu zusammensetzt.

Auf die erste zitierte Stelle, nach der das „Verschwindender ausserkapitalistischen Märkte (...) zu einer permanenten Krise desKapitalismus führt", folgt in Internationalisme unmittelbar der folgende, nicht zitierte Satz: „RosaLuxemburg zeigte im übrigen auf, dass der Moment des Ausbruchs dieser Kriseeintritt, lange bevor dieses Verschwinden absolut geworden ist". Mit anderenWorten beinhaltete für Internationalisme (wie für Rosa Luxemburg) die Krisensituation, die imZeitpunkt der Verfassung dieses Artikels herrschte, keineswegs die Erschöpfungder ausserkapitalistische Märkte, denn für sie tritt die Krise ein, „langebevor dieses Verschwinden absolut geworden ist". Diese erste Entstellung derPositionen von Internationalisme hat durchaus Konsequenzen für die Debatte, denn sieunterstützt die Idee (welche von der These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus verteidigt wird), dass die ausserkapitalistischenMärkte im Boom der 50er und 60er Jahre eine vernachlässigbare Grösse gewesenseien.

Die zweite Internationalisme untergeschobene Position vom unmittelbar drohenden Kriegals Konsequenz aus der Analyse über das Verschwinden der ausserkapitalistischenMärkte ist in Tat und Wahrheit nicht die Position der Gruppe Internationalisme als solcher, sondern von einigen Genossen in derOrganisation, mit denen die Diskussion im Gange war. Das zeigt sich in derfolgenden Textstelle von Internationalisme, die zwar im Zitat ebenfalls benutzt wird, aber mitwichtigen und bezeichnenden Amputationen: „Für einige unserer Genossen lebenwir in der Tat in einem Zustand des unmittelbar drohenden Krieges, dessenAusbruch nun bevorstehe. Wir lebten in einem Zustand des unmittelbarbevorstehenden Kriegs, und die Frage, die sich der Analyse stelle, sei nicht,die Faktoren zu untersuchen, die zum weltweiten Zusammenstoss führten - dieseFaktoren seien gegeben und wirkten bereits -, sondern vielmehr zu untersuchen,warum der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen sei". Diese zweite Entstellung desGedanken von Internationalisme versucht, die Position von Rosa Luxemburg und Internationalisme zu diskreditieren, da der Dritte Weltkrieg, derangeblich die Folge der Sättigung des Weltmarktes hätte sein sollen, bekanntlichnie stattgefunden hat.

Diese Bemerkungen zielennicht auf die Diskussion der Analyse von Internationalisme ab, die in der Tat Fehler enthält, sondern auf dietendenziösen Interpretationen, die in den Spalten unserer Internationale Revue über die Positionen dieser Gruppe gemacht wurden.Es geht uns hier auch nicht darum, ein grundsätzliches Vorurteil gegen dieAnalyse des Artikels Die Ursprünge,Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus aufzubauen, die absolut zu unterscheiden ist von denstrittigen Argumenten, die wir hier kritisiert haben. Nachdem diese nötigenKlärungen erfolgt sind, können wir uns wieder sachlich der Fortsetzung derDiskussion über die Divergenzen in unserer Organisation zuwenden.



[1] Wie wir ihn inder Einführung zur Debatte dargelegt haben (Internationale Revue Nr. 42).

 

[2] Diese Stelle ist aus derfranzösischen Internet-Version der Internationalen Revue zitiert(fr.internationalism.org/rint133/debat_interne_causes_prosperite_consecutive_seconde_guerre_mondiale_2.html)undübersetzt, da sie in den anderen Ausgaben fehlt. 

 

[3] InternationaleRevue Nr. 43 S. 17

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Staatskapitalismus [5]

Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus

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Derhauptsächliche Zweck dieses Artikels ist es, die Grundmauern für eine Analysedes Nachkriegsbooms nach 1945 zu erarbeiten, die in InternationaleRevue Nr. 42 unter dem Titel „Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus"skizziert worden ist.[1] Dabeierscheint es uns ebenfalls als sinnvoll, kurz einige der Einwände gegen dieseAnalyse zu überprüfen, die von anderen Teilnehmern der Debatte erhoben wurden.

Wie dieeinleitenden Bemerkungen in Internationale Revue Nr.42 richtig hervorheben, geht die Bedeutung der Debatte weit über die Analysedes Nachkriegsbooms als solchen hinaus und umfasst fundamentalere Aspekte dermarxistischen Kritik an der politischen Ökonomie. Die Debatte sollte zu einembesseren Verständnis der Haupttriebkräfte der kapitalistischen Gesellschaftbeitragen. Diese Triebkräfte bestimmen sowohl die ausserordentliche Dynamik desKapitalismus in seiner Aufstiegsperiode, die ihn von seinen Anfängen in denStadtstaaten Italiens und Flanderns bis zur Schaffung der ersten planetarischenGesellschaft vorwärtstrieben, als auch die enormen zerstörerischen Kräfte desKapitalismus in seiner Dekadenzperiode, die die Menschheit zwei Weltkriegenaussetzte, deren Barbarei Dschingis Khan hätte erblassen lassen, und die heutedie unmittelbare Existenz unserer Spezies bedrohen.

 

Was liegtdem dynamischen Expansionsdrang derkapitalistischen Ökonomie zugrunde?

Der Schlüssel zum Verständnis der Dynamikdes Kapitalismus befindet sich im unmittelbaren Kern der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse:

-   die Ausbeutung der produzierenden Klassedurch die herrschende Klasse nimmt die Form des Erwerbs der Ware Arbeitskraftan;

-   das Produkt der Arbeit der ausgebeutetenKlasse nimmt die Form von Waren an (Warenkapital), was folglich bedeutet, dassdie Aneignung der Mehrarbeit notwendigerweise den Verkauf dieser Waren auf demMarkt beinhaltet.[2]

Um es mit einem einfachen Beispielauszudrücken: Der Feudalherr nahm das Mehrprodukt von seinen Leibeigenen undverwendete es direkt zur Aufrechterhaltung seiner Hofhaltung. Der Kapitalistnimmt den Arbeitern den Mehrwert in Gestalt von Waren, die als solche keinenNutzen für ihn haben und auf dem Markt verkauft werden müssen, um inGeldkapital umgewandelt zu werden.

Dies schafft unvermeidlich ein Problemfür den Kapitalisten: Wer soll die Waren kaufen, die den Mehrwert verkörpern,welcher von der Arbeitskraft erst geschaffen worden war? Grob gesagt, hat eshistorisch zwei Antworten auf diese Frage in der Arbeiterbewegung gegeben:

-   Laut einigen Theorien gibt es gar keinProblem: Der Prozess der Kapitalakkumulation und der normale Kreditverkehrerlaube es den Kapitalisten, in einen neuen Produktionszyklus zu investieren,der auf höherer Ebene den Mehrwert absorbiere, der im vorherigen Zyklus produziertwurde, und der ganze Prozess beginne ganz einfach von Neuem.[3]

-   Für die Mehrheit in der IKS ist dieseErklärung inadäquat.[4]Denn wenn der Kapitalismus ohne jegliches Problem auf seinen eigenenFundamenten unendlich expandieren kann, warum war dann die kapitalistischeKlasse von der Manie der Eroberung fremden Territoriums ergriffen? Warumverharrte die Bourgeoisie nicht ruhig daheim und setzte die Ausweitung ihresKapitals ohne das riskante, teure und gewaltsame Geschäft der ständigenErweiterung ihres Zugangs zu neuen Märkten fort? Luxemburg beantwortet dieseFrage in der Anti-Kritik wie folgt: „Es müssen dies also Abnehmer sein, die zuihren Kaufmitteln auf Grund von Warenaustausch, also auch von Warenproduktiongelangen, die ausserhalb der kapitalistischen Warenproduktion stattfindet; esmüssen dies somit Produzenten sein, deren Produktionsmittel nicht als Kapitalanzusehen und die selbst nicht in die zwei Kategorien: Kapitalisten undArbeiter, gehören, die aber dennoch so oder anders Bedarf nach kapitalistischenWaren haben."[5]

Bis zur Veröffentlichung seines letztenArtikels in Internationale RevueNr. 43 schien es so, als könne man von der Annahme ausgehen, das Genosse C.Mcl.diese grundsätzliche Sichtweise der Expansion des Kapitalismus in seineraufsteigenden Phase teilt.[6] Indiesem Artikel allerdings, der den Titel „Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzendes keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus"trägt, scheint der Genosse seine Meinung in dieser Frage geändert zu haben.Deutlicher als alles andere zeigt dies, dass Ideen im Verlauf dieser Debattesich ändern können - dennoch erscheint es uns als notwendig, für einen Momentinnezuhalten, um einige der neuen Ideen zu betrachten, die er vorgestellt hat.

Es muss dazu gesagt werden, dass dieseIdeen auf dem ersten Blick nicht sehr klar sind. Einerseits teilt uns C.Mcl.mit (und wir möchten dem zustimmen), dass die ausserkapitalistische Welt durcheine „Reihe von Möglichkeiten" unter anderem für den Verkauf von überschüssigenGütern sorgt.[7] Andererseitsteilt uns C.Mcl. jedoch mit, dass diese „ausserkapitalistische Sphäre" nichtnur unnötig war, weil der Kapitalismus vollkommen in der Lage sei, seineeigenen „internen Regulierungsmethoden" zu entwickeln, sondern auch, dass dieäussere Expansion des Kapitalismus im Grunde seine eigene Entwicklung bremse.Wenn wir Genosse C.Mcl. richtig verstehen, ist dies so, weil die Waren, die inausserkapitalistischen Märkten verkauft werden, aufhören, als Kapital zufungieren, und folglich nicht zur Akkumulation beitragen, während Waren, dieinnerhalb des Kapitalismus verkauft werden, sowohl die Realisierung vonMehrwert (durch die Umwandlung von Warenkapital in Geldkapital) erlauben alsauch selbst als Elemente der Akkumulation fungieren, ob in Gestalt von Maschinen(Produktionsmittel, konstantes Kapital) oder als Konsumgüter(Konsumptionsmittel für die Arbeiterklasse, variables Kapital). Um diese Ideezu untermauern, setzt uns C.Mcl. darüber in Kenntnis, dass dienicht-kolonialistischen Länder weit höhere Wachstumsraten im 19. Jahrhunderterlebten als die Kolonialmächte.[8]Diese Sichtweise erscheint uns sowohl empirisch als auch theoretisch als völligfalsch. Sie ist eine statische Sichtweise, in der die ausserkapitalistischenMärkte nicht anderes sind als eine Art Überlaufventil für den kapitalistischenMarkt, wenn er zu voll wird.

Die Kapitalisten verkaufen nicht nur anausserkapitalistische Märkte, sie kaufen auch von ihnen. Die Schiffe, diebillige Konsumgüter zu den Märkten Indiens und Chinas[9]transportierten, kamen nicht leer zurück: Sie kehrten beladen mit Tee,Gewürzen, Baumwolle und anderen Rohstoffen zurück. Bis in die sechziger Jahredes 19. Jahrhunderts war die Hauptquelle der englischen Textilindustrie dieSklavenwirtschaft der amerikanischen Südstaaten. Während der durch denBürgerkrieg verursachten „Baumwollnot" wurdenErsatzquellen in Indien und Ägypten gefunden.

„Innerhalb seines Zirkulationsprozesses,wo das industrielle Kapital entweder als Geld oder als Ware fungiert,durchkreuzt sich der Kreislauf des industriellen Kapitals, sei es alsGeldkapital oder als Warenkapital, mit der Warenzirkulation der verschiedenstensozialen Produktionsweisen, soweit letztre zugleich Warenproduktion ist. Ob dieWare das Produkt der auf Sklaverei gegründeten Produktion, oder von Bauern(Chinesen, indische Ryots), oder Gemeinwesen (holländisch Ostindien), oder derStaatsproduktion (wie solche, auf Leibeigenschaft gegründet, in früherenEpochen der russischen Geschichte vorkommt), oder halbwilder Jägervölker etc.:als Waren und Geld treten sie gegenüber dem Geld und den Waren, worin sich dasindustrielle Kapital darstellt, und gehn ein ebensosehr in den Kreislaufdesselben, wie in den des vom Warenkapital getragnen Mehrwerts, sofern letztrerals Revenue verausgabt wird (...) Der Charakter des Produktionsprozesses, aus demsie herkommen, ist gleichgültig; als Waren fungieren sie auf dem Markt, alsWaren gehn sie ein in den Kreislauf des industriellen Kapitals, wie in dieZirkulation des von ihm getragnen Mehrwerts."[10]

Was ist zum Argument zu sagen, dass diekoloniale Expansion die Entwicklung des Kapitalismus bremse? Unserer Ansichtnach gibt es hier zwei Fehler:

1.  Wie die IKS (Marx und Luxemburg folgend)wiederholt betont hat, stellt sich das Problem der ausserkapitalistischenMärkte auf der Ebene des globalen und nicht des individuellen oder auchnationalen Kapitals.[11]

2.  Die Kolonialisierung ist nicht die einzigeForm der Expansion in ausserkapitalistische Märkte.

Die Geschichte der Vereinigten Staatenbietet eine besonders klare - und, angesichts der wachsenden Rolle derUS-Wirtschaft im 19. Jahrhunderts, wichtige - Veranschaulichung dieses Punktes.

Zunächst einmal war die Abwesenheit einesUS-Kolonialreiches nicht irgendeiner „Unabhängigkeit" gegenüber derausserkapitalistischen Welt zuzuschreiben, sondern der Tatsache, dass dieseWelt innerhalb der Grenzen der USA enthalten war.[12]Wir haben bereits die Sklavenwirtschaft des amerikanischen Südens erwähnt. ImAnschluss an die Zerstörung des Letztgenannten im amerikanischen Bürgerkrieg(1861-65) expandierte der Kapitalismus in den nächsten dreissig Jahrenkontinuierlich in den amerikanischen Westen, was in etwa so dargestellt werdenkann: Niedermetzelung und ethnische Säuberung der indigenen Bevölkerung;Einrichtung einer ausserkapitalistischen Ökonomie durch Verkauf und Gewährungvon neu erworbenem „Regierungsland" anKolonisten und Kleinbauern[13],Auslöschung dieser ausserkapitalistischen Ökonomie durch Verschuldung,Schwindel und Gewalt und die Ausweitung der kapitalistischen Ökonomie.[14]

1890 erklärte das Statistische Bundesamtder USA offiziell die inneren Grenzen für geschlossen. 1893 traf eine schwereDepression die US-Wirtschaft. Die US-Bourgeoisie war in den 1890er Jahren inwachsendem Masse mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre nationalen Grenzenauszuweiten.[15]1898 erklärte ein Dokument des State Department: „Es scheint bekannt zu sein,dass wir jedes Jahr mit einem wachsenden Überschuss von Fabrikprodukten für denVerkauf in fremde Märkte konfrontiert sind, wenn amerikanische Facharbeiter undHandwerker das ganze Jahr über beschäftigt bleiben sollen. Die Vergrösserungfremder Konsumtion von Produkten unserer Betriebe und Werkstätten ist daher zueinem ernsten Problem sowohl der Staatsmänner als auch der Geschäftsleute geworden".[16]Es folgte eine rapide imperialistische Expansion: Kuba (1898), Hawaii(ebenfalls 1898), die Philippinen (1899)[17],die Kanalzone Panama (1903). 1900 erklärte Albert Beveridge (ein führenderVertreter der „imperialistischen Interessen" der USA im Senat): „DiePhilippinen sind für immer unser (...) Und über die Philippinen hinaus gibt esChinas unbegrenzte Märkte (...) Der Pazifik ist unser Ozean (...) Wohin sollen wiruns auf der Suche nach den Konsumenten unseres Überflusses wenden? DieGeographie beantwortet die Frage. China ist unser natürlicher Konsument..."[18]

Dekadenz und Krieg

Unter Europäern wird die imperialistischeRaserei am Ende des 19. Jahrhunderts häufig in Begriffen wie das „Rennen umAfrika" betrachtet. Doch die US-Eroberung derPhilippinen war in vielerlei Weise von grösserer Bedeutung, da sie denAugenblick symbolisiert, in dem die imperialistische Expansion Europas genOsten auf die US-Expansion gen Westen traf. Der erste Krieg dieser neuenimperialistischen Epoche wurde zwischen asiatischen Mächten, Russland undJapan, ausgefochten, die um die Kontrolle über Korea und den Zugang zu denchinesischen Märkten rangen. Dies war wiederum ein Schlüsselfaktor in derersten revolutionären Erhebung des 20. Jahrhunderts, 1905 in Russland.

Was beinhaltete dieses neue „Zeitalterder Kriege und Revolutionen" (wie es die Dritte Internationale beschrieb) fürdie Organisation der kapitalistischen Ökonomie?

Sehr schematisch gesprochen, beinhaltetes die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Krieg: Während inder aufsteigenden Periode des Kapitalismus die Kriegsführung eine Funktion derökonomischen Expansion war, steht in der Dekadenz die Ökonomie umgekehrt zuDiensten des imperialistischen Krieges. Die kapitalistische Ökonomie ist in derDekadenz eine permanente Kriegswirtschaft.[19]

Grafik 1: Bruttoschulden der USA in Milliarden Dollar

Dies ist das fundamentale Problem, dasder gesamten Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie seit 1914 undinsbesondere der Wirtschaft während des Nachkriegsbooms nach 1945 zugrundeliegt.

Bevor wir fortfahren, den Nachkriegsboomaus diesem Blickwinkel zu untersuchen, erscheint es uns als notwendig, kurzeinige der anderen Positionen, die in dieser Debatte vorgestellt wurden, zubetrachten. 

1) Die Rolle der ausserkapitalistischenMärkte nach 1945

Es lohnt sich, daran zu erinnern, dassbereits die Dekadenzbroschüre der IKS der fortgesetzten Zerstörungausserkapitalistischer Märkte in dieser Periode eine Rolle einräumte[20]und es für möglich hielt, dass wir ihre Rolle im Nachkriegsboom unterschätzthaben. In der Tat setzt sich die Zerstörung solcher Märkte (in dem klassischenSinn, wie er von Luxemburg beschrieben wurde) bis heute in den dramatischstenFormen fort, wie wir angesichts Zehntausender Selbstmorde unter den indischenBauern in jüngster Zeit sehen können, die nicht in der Lage sind, ihreKreditschulden zurückzuzahlen, die sie zum Kauf von Saatgut und Düngemittel vonMonsanto und anderen Konzernen aufgenommen haben.[21]

Nichtsdestotrotz ist es schwierig, sichvorzustellen, wie diese Märkte entscheidend zum Nachkriegsboom beigetragenhaben könnten, wenn wir folgende Faktoren berücksichtigen:

-   die enorme Zerstörung, die die Kleinbauern invielen Ländern infolge von Krieg und Wirtschaftskatastrophe zwischen 1914 und1945 heimsuchte[22];

-   die Tatsache, dass sämtliche westlichenÖkonomien die Landwirtschaft im Nachkriegsboom massiv subventionierten: Indiesen Ökonomien war die Bauernwirtschaft eher ein Kostenfaktor für denKapitalismus denn ein Markt.

2) Wachsende Verschuldung

Hier bewegen wir uns auf einen weitausfesteren Boden. Es trifft zu, dass das Schuldenwachstum, verglichen mit demastronomischen Ausmass, das es heute nach dreissig Jahren der Krise erreichthat, im Nachkriegsboom auf dem ersten Blick als trivial erscheint. Verglichenjedoch mit dem, was die Schulden zuvor betrugen, war ihr Anstieg spektakulär.In den USA stieg die bundesstaatliche Bruttoverschuldung von 48,2 MilliardenDollar 1938 auf 483,9 Milliarden Dollar im Jahr 1973, d.h. auf das Zehnfache.[23]

Auch die Schulden der US-Konsumentenstiegen massiv an, von ungefähr vier Prozent des BSP im Jahr 1948 auf mehr alszwölf Prozent in den frühen Siebzigern.

Anleihen auf Grundbesitz stiegenebenfalls an, von sieben Milliarden Dollar im Jahr 1947 auf 70,5 MilliardenDollar im Jahr 1970 - ein zehnfaches Wachstum in Zahlen, das die reale Lagesogar unterschätzt, da die massiven Anleihen der Regierung mit ihren niedrigenZinssätzen und günstigen Bedingungen bedeuteten, dass ab 1955 allein dieFederal Housing Administration und die Veterans Administration 41 Prozent allerHypotheken verwalteten.[24] 

3) Steigende Löhne 

Für Genosse C.Mcl. war die Prosperität imNachkriegsboom zu einem grossen Teil dem Umstand geschuldet, dass die Löhne imGleichklang mit der Produktivität stiegen, und zwar als Teil einer bewusstenkeynesianischen Politik, die darauf ausgerichtet war, überschüssige Kapazitätenaufzusaugen und so die fortgesetzte Expansion des Marktes zu erlauben.

Es ist sicherlich richtig, dass, wie Marxbereits im Kapitalhervorgehoben hatte, Löhne steigen können, ohne die Profite zu bedrohen, wenndie Produktivität gleichfalls ansteigt. Es ist ebenfalls zutreffend, dass dieMassenproduktion von Konsumgütern ohne den Massenkonsum durch dieArbeiterklasse unmöglich ist. Und es ist ebenfalls wahr, dass es eine bewusstePolitik war, die Löhne und den Lebensstandard der ArbeiterInnen nach dem II.Weltkrieg anzuheben, um soziale Revolten abzuwenden. Nichts von alledem löstjedoch das Problem, das sowohl von Marx als auch von Luxemburg ausgemachtwurde: dass die Arbeiterklasse nicht den vollen Wert dessen, was sieproduziert, absorbieren kann.

Darüber hinaus stützt sich die Hypothesevon C.Mcl. auf zwei Hauptannahmen, die unserer Ansicht nach empirisch nichtzutreffen:

1.  Die erste ist, dass der Anstieg der Löhnedurch ihre Bindung an die Produktivität garantiert wird. Wir können dafür nochkein Anzeichen einer allgemeinen Praxis erkennen, ausser in unbedeutendenFällen wie in Belgien.[25] Umnur zwei Gegenbeispiele zu nennen: Die italienische Scalamobile, die 1945 eingeführt wurde, band die Löhne an die Inflation(insgesamt natürlich eine andere Sache), und der „Gesellschaftsvertrag", dervon Wilsons Labour-Regierung in Grossbritannien am Ende des Booms eingeführtwurde, war ein verzweifelter Versuch, die Löhne in einer Periode hoherInflation zu senken, indem sie an die Produktivität gebunden wurden.

2.  Die zweite ist die Behauptung, dass daswestliche Kapital bis zum Beginn der Periode der „Globalisierung" in den 1980erJahren keine billige fremde Arbeitskraft verlangte. Dies ist schlicht falsch:In den USA reduzierte die Migration in die Städte die ländliche Bevölkerung von24,4 Millionen im Jahr 1945 auf nur noch 9,7 Millionen 1970.[26]In Europa war das Phänomen noch spektakulärer: Etwa 40 Millionen Menschenmigrierten vom Land oder von ausserhalb Europas in die industriellenHauptregionen.[27]

Grafik 2: Konsumkredite in Prozent des BIP

 

Grafik 3: Immobiliendarlehen von Geschäftsbanken, in Milliarden 

Die Früchte des Krieges

Der II. Weltkrieg war - noch mehr als derI. Weltkrieg - eine schlagende Demonstration der fundamentalen Irrationalitätdes imperialistischen Krieges in der Dekadenz. Weit davon entfernt, die Siegermit der Eroberung neuer Märkte für die Kriegskosten zu entschädigen,hinterliess der Krieg sowohl Besiegte als auch Sieger ruiniert und ausgezehrt.Mit einer Ausnahme: die Vereinigten Staaten, das einzige kriegführende Land,das nicht die Zerstörung auf eigenem Territorium erlebte. Diese Ausnahme wardas Fundament für das ausserordentliche - und somit nicht wiederholbare -Phänomen des Nachkriegsbooms.

Einer der Haupteffekte der anderenPositionen, die in dieser Debatte vorgestellt wurden, ist, dass a) sie dazuneigen, das Problem in rein ökonomischen Begriffen zu sehen und dass b) sielediglich den Nachkriegsboom an sich betrachten und damit übersehen, dassdieser Boom von der durch den Krieg geschaffenen Lage bestimmt wurde.

Wie sah diese Lage nun aus? 

Zwischen 1939 und 1945 verdoppelte sichdie Grösse der US-Wirtschaft.[28]In den existierenden Industrien (wie im Schiffbau) wurden Techniken derMassenproduktion angewendet. Ganze Industrien wurden neu geschaffen:Massenproduktion im Flugzeugbau, Elektronik und Computer (die ersten Computerwurden benutzt, um ballistische Flugbahnen zu kalkulieren), Pharmazeutika (mitder Entdeckung des Penicillins), Kunststoffe - die Liste geht ins   Endlose. Und obwohl die Regierungsschuldenwährend des Krieges massiv nach oben schossen, war für die US-Bourgeoisie dieseEntwicklung zu einem bedeutenden Teil reine Kapitalanhäufung, da sie dasbritische und das französischen Imperium ausbluten liess und sich ihrenangesammelten Reichtum im Austausch gegen Waffen aneignete.

Trotz dieser überwältigendenÜberlegenheit waren die Vereinigten Staaten nach Kriegsende nicht ohneProbleme, um es vorsichtig auszudrücken. Wir können sie folgendermassenzusammenfassen:

1.  Wo befanden sich die Absatzmärkte für dieVerdoppelung der US-Industrieproduktion, die während des Krieges stattgefundenhatte?[29]

2.  Wie sollten die USA ihre nationalen Interessen- nun zum ersten Mal wirklich weltweit - gegen die Bedrohung durch densowjetischen Expansionsdrang schützen?

3.  Wie konnte man grosse soziale Aufstände unddie potenzielle Bedrohung durch die Arbeiterklasse bannen? Keine Fraktion derWeltbourgeoisie hatte den Oktober 1917 vergessen - schon gar nicht in Europa.[30]

Zu verstehen, wie die USA den Versuch inAngriff nahmen, diese Probleme zu lösen, ist der Schlüssel zum Verständnis desNachkriegsbooms - und seines Scheiterns in den 1970er Jahren. Dies muss bis zueinem nächsten Artikel warten; dennoch ist es wert, hervorzuheben, dass RosaLuxemburg bereits vor der vollen Entwicklung der staatskapitalistischenÖkonomie während des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkrieges eine kurzeVorwegnahme der ökonomischen Auswirkungen der Militarisierung der Wirtschaftgeliefert hatte: Nach ihr „tritt hier an Stelle einer grossen Anzahl kleinerzersplitterter und zeitlich auseinanderfallender Warennachfragen, die vielfachauch durch die einfache Warenproduktion befriedigt wären, also für dieKapitalakkumulation nicht in Betracht kämen, eine zur grossen einheitlichenkompakten Potenz zusammengefasste Nachfrage des Staates. Diese setzt aber zuihrer Befriedigung von vornherein die Grossindustrie auf höchster Stufenleiter,also für die Mehrwertproduktion und Akkumulation günstigste Bedingungen voraus.In Gestalt der militaristischen Aufträge des Staates wird die zu einergewaltigen Grösse konzentrierte Kaufkraft der Konsumentenmassen ausserdem derWillkür, den subjektiven Schwankungen der persönlichen Konsumtion entrückt undmit einer fast automatischen Regelmässigkeit, mit einem rhythmischen Wachstumbegabt. Endlich befindet sich der Hebel dieser automatischen und rhythmischenBewegung der militaristischen Kapitalproduktion in der Hand des Kapitals selbst- durch den Apparat der parlamentarischen Gesetzgebung und des zur Herstellungder sogenannten öffentlichen Meinung bestimmten Zeitungswesens. Dadurch scheintdieses spezifische Gebiet der Kapitalakkumulation zunächst von unbestimmterAusdehnungsfähigkeit. Während jede andere Gebietserweiterung des Absatzes undder Operationsbasis für das Kapital in hohem Masse von geschichtlichen,sozialen, politischen Momenten abhängig ist, die ausserhalb der Willenssphäredes Kapitals spielen, stellt die Produktion für den Militarismus ein Gebietdar, dessen regelmässige stossweise Erweiterung in erster Linie in den bestimmendenWillen des Kapitals selbst gegeben zu sein scheint."[31]

Weniger als fünfzig Jahre, nachdem dieAkkumulation des Kapitals geschrieben worden war, konnte die Realität desMilitarismus in folgenden Worten beschrieben werden: Die „Vereinigung einesimmensen militärischen Establishments und einer grossen Waffenindustrie isteine neue Erfahrung für die Amerikaner. Der totale Einfluss - ökonomisch,politisch und sogar geistig - ist in jeder Stadt spürbar, in jedemStaatsgebäude, jedem Amt der Bundesregierung (...) wir müssen ihre folgenschwerenImplikationen begreifen. Unser Schuften, unsere Ressourcen und unser Auskommensind davon betroffen und auch die unmittelbare Struktur unserer Gesellschaft.

Wir müssen in den Regierungsgremienwachsam sein gegenüber einer unerwünschten Einflussnahme durch denmilitärisch-industriellen Komplex, ob sie gewollt oder ungewollt ist. DasPotenzial für eine desaströse Zunahme fehlgeleiteter Macht existiert und wirdweiterexistieren.

(...) Ähnlich und grösstenteilsverantwortlich für die stürmischen Veränderungen unsererindustriell-militärischen Stellung war die technologische Revolution in denletzten Jahrzehnten gewesen.

„In dieser Revolution ist die Forschungin den Mittelpunkt gerückt; sie ist auch formalisierter, komplexer und teurergeworden. Ein ständig wachsender Anteil wird für, von oder in Richtung derBundesregierung betrieben." (eigene Übersetzung) Diese Worte wurden 1961ausgesprochen, nicht von irgendeinem linken Intellektuellen, sondern vonUS-Präsident Dwight D. Eisenhower.

Jens, 10. Dezember 2008

 



[1]  Aus Platzgründen ist es unmöglich, der gesamten Periode von 1945 bis1970 gerecht zu werden. Wir schlagen daher vor, nicht weiter zu gehen, als eineAnalyse der Fundamente des Nachkriegsbooms vorzustellen, mit der wir uns späterdetaillierter, so ist zu hoffen, befassen werden.

 

[2] Es ist kein Zufall, dass das erste Kapitel von DasKapital den Titel „Die Ware" trägt.

 

[3] Wir lassen für einen Augenblick die Frage der zyklischen Krisenbeiseite, wodurch sich dies historisch entwickelt.

 

[4] Wir wollen hier nicht wiederholen, was die IKS bei vielenGelegenheiten bereits geschrieben hat, um unsere Sichtweise zu untermauern,dass für Marx und Engels - und im Besonderen für Luxemburg unter den Marxistender Nachfolgergeneration - das Problem der Unzulänglichkeit derkapitalistischen Märkte ein grundlegendes Problem war, das dem Prozess dererweiterten Reproduktion des Kapitals im Wege steht.

 

[5] Rosa Luxemburg, Antikritik, Gesammelte Werke Band 5 S. 427 f.

 

[6] Siehe besonders den Artikel, den derselbe Genosse in InternationaleRevue, Nr. 127 (eng., franz. und span. Ausgabe)verfasst hat, wo er - unter dem Untertitel „Die Identität der Analyse Rosas mitMarx" - sehr deutlich und gut dokumentiert demonstriert hat, dass die AnalyseLuxemburgs in Kontinuität mit jener von Marx steht.

 

[7] „Auch nachdem die Fundamente des Kapitalismus nach drei Jahrhundertender ursprünglichen Akkumulation (1500-1825) gesichert waren, im Grunde in dergesamten aufsteigenden Periode, bot dieses Milieu weiterhin eine ganze Reihevon Quellen des Profits, als Ventil für den Verkauf von Waren aus derÜberproduktion und als zusätzliche Quelle von Arbeitskräften."

 

[8] „Im 19. Jahrhundert, als die Kolonialmärkte am wichtigsten waren,wuchsen ALLE NICHT-kolonialen Länder schneller als die Kolonialländer (71%schneller im Durchschnitt). Diese Beobachtung ist in der gesamten Geschichtedes Kapitalismus zutreffend. Verkäufe ausserhalb des reinen Kapitalismusermöglichten es sicherlich individuellen Kapitalisten, ihre Waren zurealisieren, doch behinderten sie eine globale Akkumulation des Kapitalismus,da sie, wie die Waffen, materiellen Mitteln entsprechen, die den Kreislauf derAkkumulation verlassen."

 

[9] Bemerkenswerterweise Opium im Fall Chinas. Die äusserst„rechtschaffene" britische Bourgeoisie führte zwei Kriege, um die chinesischeRegierung zur Erlaubnis zu zwingen, ihre Bevölkerung mit britischem Opium zu vergiften.

 

[10] Das Kapital, Zweiter Band, I. Abschnitt „DieMetamorphosen des Kapitals und ihr Kreislauf", 4. Kapitel „Die drei Figuren desKreislaufsprozesses", MEW 24 S. 113

 

[11] Einfach ausgedrückt: Wenn die deutsche Industrie (keine Kolonien) diebritische Industrie (mit Kolonien) auf dem Weltmarkt hinter sich liess unddaher sich einer grösseren Wachstumsrate erfreute, dann deshalb, weil diedeutsche Industrie ebenfalls von den ausserkapitalistischen Märktenprofitierte, die vom britischen Imperialismus erobert worden waren.

 

[12] Nachdem die USA mit Lug und Trug sowie unter Zwang den MexikanernKalifornien (1845-47) und Texas (1836-45) abgenommen hatten, wurden dieseStaaten nicht in ein Kolonialreich einverleibt, sondern in das nationaleTerritorium der USA.

 

[13] Zum Beispiel der „Oklahoma Land Rush" von 1889: Das Rennen um das Landstartete am 22. April 1889 mittags mit geschätzten 50.000 Menschen, dieSchlange standen für einen Anteil an den zur Verfügung gestellten zweiMillionen Acres (8.000 Quadratkilometer).

 

[14] Die Geschichte der Entwicklung des Kapitalismus in den USA während des19. Jahrhunderts verdient an sich eine Reihe von Artikeln, und leider haben wirauch hier nicht den Platz, um mehr ins Detail zu gehen. Es lohnt sich fernerdarauf hinzuweisen, dass sich diese Mechanismen der kapitalistischen Expansionnicht auf die USA beschränkten, sondern - wie wir in Luxemburgs Einführungin die Nationalökonomie sehen können - auch präsentwaren in Russlands Expansion in den Osten und in der Einverleibung Chinas,Ägyptens und der Türkei, von denen keines jemals kolonialisiert worden war, indie kapitalistische Wirtschaft.

 

[15] Diese Konzentration hatte bereits in den Monroe-Doktrin ihren Ausdruckgefunden, die 1823 verabschiedet worden war und unmissverständlich feststellte,dass die USA den gesamten amerikanischen Kontinent, Nord und Süd, als ihreexklusive Interessenssphäre betrachteten - und der Monroe-Doktrin wurde durchwiederholte militärische Interventionen der USA in Lateinamerika Nachdruckverliehen.

 

[16] Zitiert beiHoward Zinn, A people'shistory of the United States (eigene Übersetzung).

 

[17] Die Einnahme der Philippinen, bei der die USA zunächst die spanischeKolonialmacht gewaltsam vertrieben und schliesslich einen fürchterlichen Krieggegen die philippinischen Insurrectos führten, ist ein besonders gelungenes Beispiel der kapitalistischenHeuchelei und Barbarei.

 

[18] Zinn, a.a.O.

 

[19] Ein Beispiel wird helfen, um dies zu veranschaulichen. 1805 war dieindustrielle Revolution in Grossbritannien bereits im Gange. Der Gebrauch derDampfkraft und der mechanisierten Textilproduktion hatte sich seit den 1770erJahren rapide verbreitet. Dennoch war im gleichen Jahr, als die Briten diefranzösischen und spanischen Flotten in der Schlacht von Trafalgar zerstörten,Nelsons Flagschiff HMS Victory fast fünfzig Jahre alt (das Schiff wurde nachEntwürfen gebaut, die 1756 gezeichnet wurden, und 1765 schliesslich vom Stapelgelassen). Man vergleiche dies mit der heutigen Lage, in der diefortgeschrittensten Technologien von der Rüstungsindustrie abhängig sind.

 

[20] Die Dekadenzbroschüre bringt dieses Phänomen - aus unserer Sicht zuRecht - mit dem wachsenden Militarismus in den „Drittwelt"-Ländern inZusammenhang.

 

[21] Man könnten auch die Eliminierung kleiner Händler in denfortgeschrittenen Ökonomien durch die Verbreitung von Supermärkten und derMassenvermarktung gewöhnlicher Haushaltsgegenstände (einschliesslich derErnährung natürlich) erwähnen, beides Phänomene, die sich in den 1950er und1960er Jahren auszubreiten begannen.

 

[22] Stalins Zwangskollektivierungsprogramm in der UdSSR in den 1930erJahren, Chinas Warlords und der Bürgerkrieg in den Zwischenkriegsjahren, dieUmwandlung der Bauernwirtschaften in Marktwirtschaften in Ländern wie Rumänien,Norwegen oder Korea, um sich der Forderungen des deutschen und japanischenImperialismus nach Nahrungsmittelautonomie zu erwehren, die katastrophalenAuswirkungen der Depression auf kleine Farmer in den USA (Oklohoma dust bowl),etc.

 

[23] Zahlen und Graphiken sind den US-Regierungsstatistiken entnommen undverfügbar unter: https://www.economagic.com [6] (Angaben ohne Gewähr). Wirkonzentrieren uns in diesem Artikel auf die US-Wirtschaft zum Teil deshalb,weil ihre Regierungsstatistiken leichter erhältlich sind, aber auch und vorallem wegen des erdrückenden Gewichts der US-Wirtschaft in der Weltwirtschaftin dieser Zeit.

 

[24] James T. Patterson, Grand Exspectations, S. 72.

 

[25] In der Tat existierten laut einer Studie (https://cedar.Barnard.columbia.edu/~econhist/papers/Hanes_sscale4.pdf [7]) in bestimmtenIndustrien in den USA und in Grossbritannien ab Mitte des 19. Jahrhunderts"gleitende" Lohnabkommen; erst nach dem Krieg wurden sie abgeschafft.

 

[26] Patterson, a.a.O. Dies war "eine der dramatischsten demographischenUmschichtungen in der modernen amerikanischen Geschichte".

 

[27] "Zwischen 1955 und 1971 zogen in Italien geschätzte neun MillionenMenschen von einer Region ihres Landes in eine andere (...) Sieben MillionenItaliener verliessen zwischen 1945 und 1970 ihr Land. In den Jahren 1950-1970verliess ein Viertel aller griechischen Arbeitskräfte ihr Land, um im AuslandArbeit zu finden (...) Es wird geschätzt, dass zwischen 1961 und 1974 anderthalbMillionen portugiesische Arbeiter Jobs im Ausland fanden - die grössteBevölkerungsbewegung in der Geschichte Portugals. Sie liessen gerade einmal 3,1Millionen Arbeitskräfte in Portugal zurück (...) Ab 1973 gab es allein inWestdeutschland fast eine halbe Million Italiener, 535.000 Jugoslawen und605.000 Türken." (Tony Judt, Postwar: a history of Europe since 1945, S. 334f., unsere Übersetzung ausdem Englischen)

 

[28] Die Vereinigten Staaten machten ungefähr 40 Prozent derWeltindustrieproduktion aus: 1945 produzierten allein die Vereinigten Staatendie Hälfte aller Kohle weltweit, zwei Drittel des Erdöls und die Hälfte derElektrizität. Hinzu kommt, dass die USA mehr als 80 Prozent derWeltgoldreserven hielten.

 

[29] Zinn (a.a.O.) zitiert einen Beamten aus dem State Department im Jahre1944: „Wie Sie wissen, planen wir nach dem Krieg eine enorme Steigerung derProduktion in diesem Land, und der amerikanische Heimatmarkt kann nichtunendlich all diese Produktion absorbieren. Es wird fraglos so sein, dass wirin stark wachsendem Masse der fremden Märkte bedürfen." (aus dem Englischen)

 

[30] Doch auch in den USA. Laut Zinn (a.a.O.S. 417): „Während des Krieges gab es vierzehntausend Streiks (in den USA) mit6.770.000 Arbeitern, mehr als in jedem anderen vergleichbaren Zeitraum in deramerikanischen Geschichte (...) Als der Krieg endete, setzten sich die Streiks inRekordhöhe fort - in der ersten Hälfte des Jahres 1946 drei Millionen Arbeiterim Streik."

 

[31] Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913, Kapitel „Der Militarismus auf dem Gebiet derKapitalakkumulation"

(unsere Hervorhebungen).

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Staatskapitalismus [5]

Resolution zur internationalen Situation

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Am 6. März 1991 verkündete der damalige Präsident George Bush nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Sieg der Koalition im Irak vor dem US-Kongress die Schaffung einer „neuen Weltordnung", die sich auf den „Respekt des Völkerrechts" stütze. Diese neue Weltordnung sollte der Welt „Frieden und Wohlstand" bringen. Das „Ende des Kommunismus" bedeute den „endgültigen Triumph des liberalen Kapitalismus". Einige, wie der „Philosoph" Francis Fukuyama, sagten gar das „Ende der Geschichte" voraus. Aber die Geschichte, d.h. die wirkliche und nicht die der Propagandareden, hat den Schwindel dieser Scharlatane sehr schnell als lächerlich entblösst. Statt Frieden brach im Jahr1991 ganz im Gegenteil der Krieg im ehemaligen Jugoslawien aus, mit Hunderttausenden Toten im Herzen Europas, auf einem Kontinent, der seit mehr als einem halben Jahrhundert von dieser Geissel verschont geblieben war. Die Rezession von 1993, dann der Zusammenbruch der asiatischen „Tiger" und „Drachen"1997 und schliesslich eine neuerliche Rezession im Jahr 2002 setzten der durch die „Internetblase" aufgekommenen Euphorie ein Ende und kratzten beträchtlich an den Illusionen über den von Bush Senior angekündigten „Wohlstand". Heute dagegen zeichnen sich die offiziellen Reden der herrschenden Klasse dadurch aus, die Reden von gestern zu ignorieren. Zwischen 2003 und 2007 wareneuphorische Töne in den offiziellen Reden der Herrschenden zu vernehmen. Man feierte den Erfolg des „angelsächsischen Modells", das beispiellose Profite, beträchtliche Wachstumsraten des BIP und selbst einen bedeutsamen Rückgang der Arbeitslosigkeit ermöglichte. Man konnte die Triumphe der „liberalen Wirtschaft" und den Nutzen der „Deregulierung" nicht genügend loben. Doch seit dem Sommer 2007 und vor allem seit dem Sommer 2008 ist dieser Optimismus wie Schnee in der Sonne geschmolzen. Jetzt blenden die Herrschenden Begriffe wie„Wohlstand", „Wachstum", „Triumph des Liberalismus" in ihren Reden diskret aus. Am Tisch des grossen Banketts der kapitalistischen Wirtschaft hat sich nun ein Gast niedergelassen, den man für immer verbannt zu haben glaubte: die Krise, das Gespenst einer „neuen weltweiten Depression", ähnlich wie die der 1930erJahre.
 

Die Vertuschung der Krisenursachen

2. Den Reden aller Verantwortlichen der herrschenden Klasse, aller„Wirtschaftsexperten", auch der bedingungslosesten Beweihräucherer des Kapitalismus zufolge ist die gegenwärtige Krise die schlimmste seit der grossen Depression, die 1929 ausgebrochen war. Die OECD meint: „Die Weltwirtschaft befindet sich inmitten der tiefsten Rezession, die wir zu unseren Lebzeiten je erlebt haben." (Zwischenbericht März 2009) Einige zögern nicht einmal, in Erwägung zu ziehen, dass sie noch schlimmer werden wird und dass der Grund, weshalb ihre Folgen nicht so katastrophal sein werden wie während der 1930erJahre, darin liege, dass seither die Führer der Welt aus dieser Erfahrung gelernt hätten und mittlerweile mit solchen Situationen umgehen könnten. Das werde insbesondere daraus ersichtlich, dass sie verhindert hätten, dass „jeder für sich handelt". „Obwohl dieser schwere weltweite Konjunkturabschwung von einigen bereits als ‘Grosse Rezession' bezeichnet wurde, sind wir weit davonentfernt, eine Wiederholung der Grossen Depression der 1930er Jahre zu erleben, was der Qualität und Intensität der gegenwärtig getroffenen staatlichen Massnahmen zu verdanken ist. Die Grosse Depression wurde durch verheerende wirtschaftspolitische Fehler verstärkt, von einer kontraktiven Geldpolitik bis hin zu einer Beggar-thy-Neighbour-Politik in Form einer protektionistischen Handelspolitik und eines Abwertungswettlaufs. Im Gegensatz hierzu hat die gegenwärtige Rezession alles in allem die richtigen Politikreaktionen ausgelöst." (ebenda) (www.oecd.org [8])

Auch wenn alle Teile der herrschenden Klasse die Tragweite der gegenwärtigen Erschütterungen der kapitalistischen Wirtschaft erkannt haben, sind ihre Erklärungen, die oft voneinander abweichen, selbstredend unfähig, die wahre Bedeutung dieser Erschütterungen und die Perspektive, die sich daraus für die gesamte Gesellschaft ergibt, zu begreifen. Einigen zufolge ist die „verrückte Finanzwelt" für die grossen Schwierigkeiten des Kapitalismus verantwortlich, d.h. die Tatsache, dass sich seit Anfang 2000 eine Reihe von „toxischen Finanzprodukten" entwickelt hat, die eine grenzenlose Krediterweiterung ohne ausreichende Zahlungsgarantien ermöglichte. Andere behaupten, dass der Kapitalismus international unter zu viel „Deregulierung" leide, eine Orientierung, die im Zentrum der „Reagonomics" Anfang der 1980er Jahre stand. Andere wiederum, insbesondere die Repräsentanten der Linken des Kapitals, beteuern, die eigentliche Wurzel liege in den zu niedrigen Einkommen der Beschäftigten, was diese insbesondere in den entwickeltsten Ländern dazu zwinge, die Flucht in eine noch grössere Verschuldung anzutreten, um ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Aber ungeachtet all der unterschiedlichen Auffassungen liegt ihre Gemeinsamkeit darin zu behaupten, nicht der Kapitalismus als Produktionsweise sei die Ursache, sondern diese oder jene Erscheinungsform des Systems. Gerade dieses Ausgangspostulat hindert all diese Interpreten daran, die wahren Ursachen der gegenwärtigen Krise und das, was auf dem Spiel steht, zu begreifen.

Die Überproduktionskrise und die Droge der Verschuldung

3. In Wirklichkeit kann man nur durch eine globale und historische Ansicht der kapitalistischen Produktionsweise begreifen, welche Konsequenzen und Perspektiven sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben. Auch wenn dies von allen „Wirtschaftsexperten" vertuscht wird, treten heute die Widersprüche des Kapitalismus offen zutage: die Überproduktionskrise des Systems, seine Unfähigkeit, die Masse der produzierten Waren zu verkaufen. Ergibt keine Überproduktion hinsichtlich der wirklichen Bedürfnissen der Menschheit, die noch weit davon entfernt sind, befriedigt zu werden. Es gibt nur Überproduktion im Verhältnis zu den zahlungsfähigen Märkten; das Geld zur Zahlung der Produkte ist nicht vorhanden. Die offiziellen Reden sowie die Massnahmen, die von den meisten Regierungen ergriffen werden, konzentrieren sich ausnahmslos auf die Finanzkrise, auf die Verhinderung des Bankrotts von Banken, aber in Wirklichkeit ist das, was die Kommentatoren (im Gegensatz zur„fiktiven Wirtschaft") die „reale Wirtschaft" nennen, dabei diese Tatsache zu verdeutlichen: Kein Tag vergeht, an dem nicht neue Werksschliessungen, Massenentlassungen, Pleiten von Industrieunternehmen angekündigt werden. Die Tatsache, dass General Motors, das jahrzehntelang das grösste Unternehmen der Welt war, sein Überleben nur der massiven Unterstützung des amerikanischen Staates verdankt, während Chrysler sich offiziell zahlungsunfähig erklärte und in die Hände der italienischen Firma Fiat fällt, spricht Bände über die tieferliegenden Probleme der kapitalistischen Wirtschaft. Der Rückgang des Welthandels, der zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg registriert wurde und von der OECD für 2009 mit -13.2 Prozent prognostiziert wird, zeigt die Unfähigkeit der Unternehmen, die entsprechenden Abnehmer für ihre Waren zu finden.

Die heute offensichtlich gewordene Überproduktionskrise ist keine einfache Folge der Finanzkrise, wie uns die meisten „Experten" weiszumachen versuchen. Sie hat ihren Ursprung in den inneren Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft selbst, wie es der Marxismus schon vor anderthalb Jahrhunderten aufgezeigt hat. Solange die Eroberung der Welt durch die kapitalistischen Metropolen andauerte, ermöglichten die neuen Märkte die vorübergehende Überwindung der Überproduktion. Aber sobald diese Eroberungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Ende gingen, hatten die Metropolen, insbesondere jene, die beim Run auf die Kolonien zuletzt auf den Zug aufgesprungen war, Deutschland, keine andere Wahl als die Einflussgebiete der Rivalen anzugreifen, was den Ersten Weltkrieg auslöste, lange bevor die Überproduktionskrise zum Ausbruch kam. Diese trat jedoch mit dem Krach von 1929 und der grossen Depression der 1930er Jahre voll ans Tageslicht, wodurch die kapitalistischen Grossmächte zur Flucht in den 2.Weltkrieg getrieben wurden, der den Ersten Weltkrieg hinsichtlich der Massaker und der Barbarei bei weitem übertraf. All die von den Grossmächten nach dem 2.Weltkrieg ergriffenen Massnahmen, insbesondere die Organisierung grosser Bereiche der Wirtschaft unter US-Vorherrschaft wie auf der Ebene der Währung(Bretton Woods) und die Einführung neokeynesianischer Massnahmen durch die Staaten sowie die positiven Auswirkungen der Entkolonisierung auf die Märkte ermöglichten dem Weltkapitalismus, nahezu drei Jahrzehnte lang die Illusion zu verbreiten, er habe letztendlich doch seine Widersprüche überwunden. Doch diese Illusion wurde 1974 durch den Ausbruch einer gewaltigen Rezession erschüttert, die sich besonders stark auf die USA auswirkte. Diese Rezession bildete dabei nicht etwa den Auftakt zu den grossen Kalamitäten des Kapitalismus, da ihr bereits die Krise von 1967 vorausgegangen war und auch der Dollar sowie das britische Pfund Sterling bereits in der Krise steckten, d.h. zwei Hauptwährungen des Bretton Woods-Systems. Schon Ende der 1960er Jahre hatte der Neokeynesianismus sein historisches Scheitern offenbart, wie es seinerzeit die Gruppen betonten, die später die IKS bilden sollten.

Aber für alle bürgerlichen Kommentatoren und die Mehrheit der Arbeiterklasse läutete erst das Jahr 1974den Beginn eines neuen Zeitalters des Kapitalismus nach dem Krieg ein, insbesondere nach dem Wiederauftauchen eines Phänomens, das man in den entwickelten Ländern endgültig gebannt geglaubt hatte – die Massenarbeitslosigkeit. Damals nahm auch die Flucht in die Verschuldung an Fahrt auf. Zu jener Zeit standen die Länder der Dritten Welt an der Spitze der höchstverschuldeten Staaten; sie bildeten eine Zeitlang die "Lokomotive" des Wiederaufschwungs. Zu Beginn der 1980er Jahre, mit dem Ausbruch der Schuldenkrise, ging diese Phase zu Ende, nachdem die Länder der Dritten Weltunfähig waren, ihre Schulden zurückzuzahlen, die es ihnen eine Zeitlangermöglicht hatten, als Absatzmarkt für die Produktion der grossen Industrieländer zu dienen. Aber die Flucht in die Verschuldung ging damit nicht zu Ende. Die USA lösten die anderen Länder als "Lokomotive" ab, allerdings zum Preis eines beträchtlichen Anstiegs ihres Handelsbilanzdefizits und vor allem ihres Haushaltsdefizits. Diese Politik konnten sie aufgrund der privilegierten Rolle ihrer nationalen Währung, des Dollars, als Weltleitwährung betreiben. Auch wenn Reagans Credo zur Liquidierung des Neokeynesianismus lautete: "Der Staat ist nicht die Lösung, er ist das Problem", bildete der amerikanische Staat auf Kosten gewaltiger Haushaltsdefizite die Hauptkraft in der US-Wirtschaft wie auch in der Weltwirtschaft. Aber die Politik der "Reagonomics", die zunächst von Margaret Thatcher in Grossbritannien inspiriert worden war, bedeutete im Wesentlichen den Abbau des "Wohlfahrtstaats", d.h. noch nie dagewesene Angriffe gegen die Arbeiterklasse, wodurch die galoppierende Inflation überwunden werden konnte, die den Kapitalismus seit Ende der 1970er Jahre geprägt hatte.

In den 1990er Jahren bildeten die asiatischen "Tiger" und "Drachen" eine der Lokomotiven der Weltwirtschaft ;dort wurden spektakuläre Wachstumszahlen verbucht, allerdings auf Kosten einer beträchtlichen Verschuldung, die 1997 zu grossen Erschütterungen führte. Gleichzeitig wurde das "neue" und "demokratische" Russland zahlungsunfähig; dies war insbesondere für jene, die "auf das Ende des Kommunismus" gesetzt hatten, um die Weltwirtschaft wieder anzukurbeln, eine gewaltige Enttäuschung. Die "Internetblase" Ende der 1990er Jahre, die in Wirklichkeit eine frenetische Spekulation mit den "High-Tech"-Firmen war, löste sich 2001–2002 auf und brachte damit den Traum einer Ankurbelung der Weltwirtschaft durch die Entwicklung neuer Technologien im Bereich Information und Kommunikation zu Ende. So wurde die Verschuldung erneut angefacht, insbesondere mittels einer gewaltigen Aufblähung der Immobilienkredite in vielen Ländern, insbesondere in den USA. Die USA spielten somit erneut die Rolle der "Lokomotive" der Weltwirtschaft, wieder zum Preis einer grenzenlosen Verschuldung – diesmal insbesondere der amerikanischen Bevölkerung –, die sich auf alle möglichen “Finanzprodukte" stützte, die Risiken der Zahlungsunfähigkeit vermeiden sollten. In Wirklichkeit hat die Streuung der zweifelhaften Kredite keineswegs die Gefahr aus der Welt geschafft, die von ihnen ausgeht, nämlich als Damoklesschwert über der US-Wirtschaft und der Weltwirtschaft insgesamt zuhängen. Im Gegenteil, es kam zu einer Anhäufung von "toxischen Aktiva" in den Vermögen der Banken, die schliesslich den Zusammenbruch 2007 allmählich auslösten.

Eine erneute Flucht in die Verschuldung

4. So ist die Finanzkrise nicht die Wurzel der gegenwärtigen Rezession. Im Gegenteil, die Finanzkrise verdeutlicht nur die Tatsache, dass die Flucht in die Verschuldung, die die Überwindung der Überproduktion ermöglicht hatte, nicht endlos lange fortgesetzt werden kann. Früher oder später rächt sich dies in der "Realwirtschaft", d.h. was die Grundlagen der Widersprüche des Kapitalismus darstellt – die Überproduktion, die Unfähigkeit der Märkte, die Gesamtheit der produzierten Waren zu absorbieren. Diese Widersprüche treten dann wieder deutlich in Erscheinung.

Deshalb können die Massnahmen, die auf dem Gipfel der G20 in London im März 2009 beschlossen wurden – eine Verdoppelung der Reserven des Internationalen Währungsfonds, eine massive staatliche Unterstützung des zerbröckelnden Finanzsystems, eine Ermunterung der Staaten zu einer aktiven Ankurbelungspolitik auf Kosten einer spektakulären Erhöhung der Haushaltsdefizite – auf keinen Fall das grundlegende Problem lösen. Die Flucht in die Verschuldung ist eines der Merkmale für die Brutalität der gegenwärtigen Rezession. Die einzige "Lösung", die die herrschende Klasse umsetzen kann, ist eine weitere Flucht in die Verschuldung. Der G20-Gipfel konnte keine Lösung für die Krise erfinden, aus dem einfachen Grund, weil es keine Lösung für die Krise gibt. Seine Aufgabe war es, die Haltung des Jeder-für-sich zu vermeiden, die in den 1930er Jahren vorgeherrscht hatte. Ebenso wollte er ein wenig Vertrauen in die Träger der Wirtschaft schaffen, wohl wissend, dass das Vertrauen im Kapitalismus ein wesentlicher Faktor für einen zentralen Bestandteil seiner Funktionsweise ist: den Kredit. Diese Tatsache, dass man so stark das Element der "Psychologie" angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Erschütterungen und der materiellen Lage betont, verdeutlicht den zutiefst illusorischen Charakter der Massnahmen, die der Kapitalismus gegenüber der historischen Krise seiner Wirtschaft ergreifen kann. Auch wenn das kapitalistische System nicht wie ein Kartenhaus zusammenstürzen wird, auch wenn der Rückgang der Produktion nicht endlos weitergehen wird, bleibt es bei der Perspektive eines immer tieferen Versinkens in der historischen Sackgasse und der Vorbereitung von noch grösseren Erschütterungen als jene, die wir derzeit erleben. Seit mehr als vier Jahrzehnten hat sich die herrschende Klasse als unfähig erwiesen, die Zuspitzung der Krise zu verhindern. Heute ist die Lage viel verheerender als in den 1960er Jahren. Trotz all der Erfahrungen, die sie während all dieser Jahrzehnte gewonnen hat, kann die herrschende Klasse es nicht besser machen, sondern wird die Dinge nur noch schlimmer machen. Insbesondere die neokeynsianischen Massnahmen, die vom Londoner G20-Gipfel propagiert wurden (die gar bis zur Verstaatlichung von in Schwierigkeiten geratenen Banken gehen können) haben keine Aussicht darauf, den Kapitalismus irgendwie wieder "gesunden" zu lassen, denn der Beginn dieser grossen Schwierigkeiten Ende der 1960er Jahre war just auf das Scheitern dieser neokeynesianischen Massnahmen zurückzuführen, die nach dem 2. Weltkriegergriffen worden waren.

Die Frage der Methode

5. Während die brutale Zuspitzung der kapitalistischen Krise die herrschende Klasse sehr überrascht hat, gilt dies für die Revolutionäre keineswegs. In der Resolution, die von unserem letzten Internationalen Kongress noch vor dem Beginn der Panik im Sommer 2007 verabschiedet wurde, schrieben wir : "Schonjetzt lösen die Gewitterwolken, die sich im Immobiliensektor in den Vereinigten Staaten – einer wichtigen Triebkraft der nationalen Ökonomie – mit der Gefahr von katastrophalen Bankenpleiten zusammenbrauen, grosse Sorgen in den massgeblichen Wirtschaftskreisen aus" (Punkt 4, Internationale Revue Nr. 40,S. 10)

Dieselbe Resolution teilte auch nicht die grossen Erwartungen, die das "chinesische Wirtschaftswunder” hervorgerufen hatte: "Somit ist das ‘chinesische Wunder' und anderer Länder der Dritten Welt weit entfernt davon, einen ‘frischen Wind' für die kapitalistische Wirtschaft darzustellen. Es ist nichts anderes als eine Variante desniedergehenden Kapitalismus. Darüber hinaus stellt die extreme Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft einen empfindlichen Punkt im Falle eines Nachfragerückgangs dar, eines Rückgangs, der unweigerlich kommen wird, insbesondere wenn die amerikanische Wirtschaft gezwungen sein wird, etwas Ordnung in die schwindelerregende Schuldenwirtschaft zu bringen, die es ihr momentan erlaubt, die Rolle der ‘Lokomotive' der weltweiten Nachfrage zuspielen. So wie das ‘Wunder' der asiatischen ‘Tiger' und ‘Drachen', die durchzweistellige Wachstumsraten geglänzt hatten, 1997 ein schmerzhaftes Ende fand, wird das heutige ‘chinesische Wunder', auch wenn es andere Ursachen hat und über wesentliche ernsthaftere Trümpfe verfügt, früher oder später unweigerlich in der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise landen."(Punkt 6, ebenda, S. 11)

Der Rückgang des chinesischen Wachstums und die damit verbundene Explosion der Arbeitslosigkeit sowie die zwangsweise Rückkehr von Abermillionen Bauern, die in den Industriegürteln schufteten, um einer unsagbaren Armut zu entkommen, in ihre Dörfer, bestätigen diese Prognose vollauf.

Die Fähigkeit der IKS, das vorauszusehen, was dann eintrat, stellt kein "besonderes Verdienst" unserer Organisation dar. Das einzige "Verdienst" ist unsere Treue zur marxistischen Methode, die Fähigkeit, sie ständig bei der Analyse der Wirklichkeit anzuwenden, der Wille, den Sirenen standhaft zu widerstehen, die das “endgültige Scheitern des Marxismus" verkünden.

Der Kurs der amerikanischen Bourgeoisie unter Obama

6. Die Aktualität des Marxismus zeigt sich nicht nur in den wirtschaftlichen Vorgängen dieser Gesellschaft. Bei der Verschleierungskampagne, die Anfang der Neunzigerjahre unternommen wurde, ging es im Kern um die angebliche Eröffnung einer Friedensepoche für die ganze Welt. Das Ende des „Kalten Krieges", das Verschwinden des Ostblocks, der seinerzeit von Reagan als das „Reich des Bösen” dargestellt wurde, sollte angeblich die diversen militärischen Konflikte beenden, zu denen seit 1947 die Konfrontation zwischen den beiden imperialistischen Blöcken geführt hatte. Entgegen solchen Illusionen über die Möglichkeit des Friedens innerhalb des Kapitalismus hat der Marxismus stets in Abrede gestellt, dass die bürgerlichen Staaten fähig seien, ihre wirtschaftlichen und militärischen Rivalitäten insbesondere in der Niedergangsperiode des Kapitalismus zu überwinden. Daher konnten wir schon im Januar 1990 schreiben:

„Das Verschwinden desrussischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen‚Hauptpartnern‘ von früher öffnet die Tür für das Aufbrechen von einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstösse können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (...). Weil die vom Block auferzwungene Disziplin nicht mehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist." (Internationale Revue Nr. 12„Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos") Die Weltlage bestätigte diese Analyse sehr schnell, insbesondere mit dem ersten Golfkrieg im Januar 1991 und dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien ab dem Herbstdesselben Jahres. Seitdem haben die blutigen und barbarischen Zusammenstösse nicht mehr aufgehört. Man kann sie hier nicht alle aufzählen, hier nur eine Auswahl von Kriegen:

–   die Fortsetzung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, die 1999 zu einer direkten Intervention der USA und der wichtigsten europäischen Mächte, unter der Schirmherrschaft der NATO, führte;

–   die zwei Kriege in Tschetschenien;

–   die zahlreichen Kriege, die unaufhörlich den afrikanischen Kontinent verwüsten (Ruanda, Somalia, Kongo, Sudan usw.);

–   die Militäroperationen von Israel gegen den Libanon und vor kurzem im Gazastreifen;

–   der Krieg in Afghanistan von 2001;

–   2003 der Krieg im Irak, dessen Folgen weiterhin dramatisch auf diesem Land, aber auch auf der treibenden Kraft dieses Krieges, den USA, lasten.

Die Ausrichtung und die Auswirkungen der Politik dieser Supermacht sind von der IKS schon vor langer Zeitanalysiert worden:

„Zwar hat sich die akute Gefahr eines Weltkrieges vermindert, doch gleichzeitig fand eine wahre Entfesselung imperialistischer Rivalitäten und lokaler Kriege unter direkter Beteiligung der grösseren Mächte statt, allen voran der USA. Das weltweite Chaos, das seit dem Ende des Kalten Krieges um sich griff, zwang die USA, ihre Rolle als ‘Weltpolizist', die sie seit Jahrzehnten spielt, noch zu verstärken. Jedoch führt dies keineswegs zu einer Stabilisierung der Welt; den USA geht es nur noch darum, krampfhaft ihre führende Rolle aufrechtzuerhalten. Eine Führungsrolle, die vor allem durch die ehemaligen Verbündeten permanent in Frage gestellt wird, da die Grundvoraussetzung der ehemaligen Blöcke, die Bedrohung durch den anderen Block, nicht mehr existiert. In Ermangelung der ‘sowjetischen Gefahr' bleibt das einzige Mittel für die USA zur Durchsetzung ihrer Disziplin das Ausspielen ihrer grössten Stärke – der absoluten militärischen Überlegenheit. Dadurch wird die Politik der USA selbst zu einem der stärksten Zerrüttungsfaktoren der Welt." (Resolution des 17. Kongresses der IKS zur internationalen Lage, Punkt 7)

7. Dass der Demokrat Barrak Obama die Regierungsgeschäfte der führenden Weltmachtübernommen hat, hat viele Illusionen über eine mögliche Richtungsänderung ihrer Strategie hervorgerufen, eine Änderung, die ein „Friedenszeitalter" einläuten würde. Ein grundlegender Teil dieser Illusionen beruht auf den Tatsachen, dass Obama einer der wenigen Senatoren war, die gegen die Militärintervention in den Irak im Jahre 2003 stimmten, und dass er sich im Gegensatz zu seinem republikanischen Konkurrenten McCain zu einem Rückzug der amerikanischen Streitkräfte aus diesem Land verpflichtet hat. Doch diese Illusionen sind schnell mit den harten Tatsachen konfrontiert worden. So verfolgt Obama mit dem Rückzug der Truppen aus dem Irak lediglich den Zweck, sie dafür in Afghanistan und Pakistan einzusetzen. Im Übrigen wird die Kontinuität der Kriegspolitik der Vereinigten Staaten gut durch die Tatsache veranschaulicht, dass die neue Administration den von Bush ernannten Verteidigungsminister, Gates, übernommen hat.

In Wirklichkeit stellt die neue Ausrichtung der amerikanischen Diplomatie keineswegs den oben in Erinnerung gerufenen Rahmen in Frage. Sie verfolgt weiterhin das Ziel, mithilfeihrer militärischen Überlegenheit die Vorherrschaft der USA auf dem Planetenzurückzuerobern. So hat Obamas Orientierung zugunsten einer grösseren Rolle der Diplomatie hauptsächlich zum Ziel, Zeit zu gewinnen und somit den Zeitpunktunausweichlicher imperialistischer Interventionen der amerikanischen Truppenhinauszuschieben, die momentan zu zerstreut und erschöpft sind, um gleichzeitig Krieg im Irak und in Afghanistan zu führen.

Es gibt jedoch, wie die IKS oft unterstrichen hat, innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie zwei Optionen, um dieses Ziel zu erreichen:

–   die von der demokratischen Partei vertretene Option, die versucht, andere Staaten in diese Unternehmung zu integrieren;

–   die Mehrheitsoption unter den Republikanern, die darin besteht, durch Militärschläge die Initiative an sich zu reissen und sie den anderen Mächten um jeden Preis aufzuzwingen.

Die erste Option wurde insbesondere Ende der neunziger Jahre durch die Clinton-Regierung im ehemaligen Jugoslawien umgesetzt, als es dieser Administration gelang, die wichtigsten Mächte Westeuropas, insbesondere Deutschland und Frankreich, zur Kooperation und Teilnahme an den Bombardierungen Serbiens durch die NATO zu veranlassen, um diesen Staat zum Auszug aus dem Kosovo zu zwingen. Die zweite Option ist jene, die 2003 der Auslösung des Krieges gegen den Irak zugrunde lag, eines Krieges, der auf den entschlossenen Widerstand Deutschlands und Frankreichs stiess, die sich unter den damaligen Umständen mit Russland im UNO-Sicherheitsrat zusammentaten.

Doch bis heute war keine dieser beiden Optionen in der Lage, den Kurs zum weiteren Verlust der amerikanischen Vorherrschaft zu ändern. Die Politik der „gewaltsamen Durchsetzung", die besonders die zwei Amtszeiten von George Bush junior prägte, führte nicht nur zum irakischen Chaos, das weit davon entfernt ist, sich aufzulösen, sondern auch zu einer wachsenden Isolierung der amerikanischen Diplomatie, was insbesondere durch die Tatsache verdeutlicht wurde, dass einige Länder, wie Spanien und Italien, die die USA 2003 unterstützt hatten, das Schiff des irakischen Abenteuers verliessen (abgesehen von der etwas diskreteren Distanzierung der Regierung von Gordon Brown, jedenfalls im Vergleich zur bedingungslosen Unterstützung, die diesem Abenteuer von Tony Blair gewährt wurde). Umgekehrt sichert die Politik der „Kooperation", der die Demokraten den Vorzug geben, auch nicht wirklich die „Treue" der Mächte, die die USA an ihre kriegerischen Unternehmungen zu binden versuchen, und zwar insbesondere deshalb, weil sie diesen Staaten einen grösseren Spielraum lässt, um ihre eigenen Interessen geltend zu machen.

So hat jetzt zum Beispiel die Obama-Regierung beschlossen, eine konziliantere Politik gegenüber dem Iran zu verfolgen und eine strengere Haltung gegenüber Israel einzunehmen, zwei Leitlinien, die im Sinn der Mehrzahl der Staaten der Europäischen Union sind, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, zweier Länder, die wünschen, einen Teil des Einflusses zurückzugewinnen, den sie in der Vergangenheit im Iran und im Irak gehabt haben. Damit wird aber diese Neuorientierung nicht verhindern, dass wichtige Interessenkonflikte zwischen diesen zwei Ländern einerseits und den Vereinigten Staaten andererseits fortbestehen, insbesondere in Osteuropa (wo Deutschland versucht, „bevorzugte" Beziehungen mit Russland zu pflegen) oder Afrika (wo die beiden Fraktionen, die den Kongo im Blut ertränken, die jeweilige Unterstützung Frankreichs bzw. der USA geniessen).

Allgemeiner gesagt, hat die Auflösung der Blockkonstellation zum Auftauchen aufstrebender, zweitrangiger Imperialisten geführt, die die neuen Vorreiter bei der Destabilisierung der internationalen Lage bilden. Dies lässt sich am Beispiel des Irans aufzeigen, der eine Vormachtstellung im Nahen und Mittleren Osten unter der Fahne des„Widerstandes" gegen den „grossen amerikanischen Satan" und des Kampfes gegen Israel anstrebt. Mit sehr viel beträchtlicheren Mitteln zielt China darauf ab, seinen Einfluss auf andere Kontinente auszudehnen, insbesondere auf Afrika, womit seiner wachsenden wirtschaftlichen Präsenz auch eine diplomatische und militärische Etablierung in dieser Region der Welt einhergeht, wie es bereits im Krieg im Sudan deutlich wurde.

Somit unterscheidet sich die Perspektive, vor der die Welt nach der Wahl von Obama zum Präsidenten der grössten Weltmacht steht, nicht grundsätzlich von der Lage, die bis heute vorgeherrscht hat: fortgesetzte Konfrontationen zwischen erst– und zweitrangigen Imperialisten, fortdauernde kriegerische Barbarei mit immer tragischeren Folgen für die direkt betroffene Bevölkerung (Hungersnöte, Epidemien, Flüchtlingsströme). Es ist sogar zu erwarten, dass die Unbeständigkeit, die die beträchtliche Verschlimmerung der Krise in einer ganzen Reihe von Ländern der Peripherie verursachen wird, zu verstärkten Zusammenstössen zwischen den militärischen Cliquen in diesen Ländern führen wird – bei denen wie immer die verschiedenen imperialistischen Grossmächtekräftig mitmischen werden. Angesichts dieser Lage werden Obama und seine Administration nichts anderes tun können, als die kriegstreiberische Politikihrer Vorgänger fortzusetzen, wie wir es am Beispiel von Afghanistan sehen, eine Politik, die gleichbedeutend ist mit wachsender kriegerischer Barbarei.

Die Beschleunigung der Umweltzerstörung

8. So wenig die „guten Absichten", die Obama auf diplomatischer Ebene bekundet hat, das militärische Chaos eindämmen oder die Nation, an deren Spitze er steht, daran hindern werden, ein aktiver Faktor in diesem Chaos zu sein, wird die amerikanische Neuorientierung, die er heute im Bereich des Umweltschutzes ankündigt, die Verschlimmerung der Lage in diesem Bereich aufhalten. Diese Verschlechterung ist keine Frage des guten oder bösen Willens der Regierungen, so mächtig sie auch sein mögen. Jeder Tag, der vergeht, offenbart ein wenig mehr von der echten Umweltkatastrophe, die den Planeten bedroht: immer gewaltigere Orkane in Ländern, die bis vor kurzem davon verschont geblieben waren, Trockenheit, Hitzewellen, Überschwemmungen, Schmelzen des Packeises, Länder, die in den Fluten des ansteigenden Meeres zu versinken drohen ... die Perspektiven werden immer finsterer. Diese Zerstörung unserer Umwelt führt zu einer weiteren Zuspitzung der kriegerischen Zusammenstösse; insbesondere die versiegenden Trinkwasserreserven werden einen Krisenherd in künftigen Konflikten darstellen.

Wie es die Resolution des letzten internationalen Kongresses unterstrich:

„Wie die IKS schon vor mehr als 15 Jahren hervorgehoben hat, bedeutet der zerfallende Kapitalismus eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit. Die von Engels Ende des 19.Jahrhunderts formulierte Alternative ‘Sozialismus oder Barbarei' ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrecklichen Realität geworden. Was uns das 21.Jahrhundert in Aussicht stellt, ist in der Tat ‘Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit'. Und das ist die Herausforderung, vor der die einzige Klasse in der Gesellschaft steht, die den Kapitalismus überwinden kann, die Arbeiterklasse."(Punkt 10)

Das Wiedererstarken des Klassenkampfes

9. Diese Fähigkeit der Arbeiterklasse, der Barbarei des zerfallenden Kapitalismus ein Ende zu setzen, um aus der Vorgeschichte herauszugelangen und die Tür zum “Reich der Freiheit" zu öffnen, wie es Engels ausdrückte, bildet sich schonheute in den täglichen Kämpfen gegen die kapitalistische Ausbeutung. Nach demZusammenbruch des Ostblocks und der so genannten „sozialistischen Länder", den ohrenbetäubenden Kampagnen vom „Ende des Kommunismus", wenn nicht gar vom „Ende des Klassenkampfes", haben zu einem schweren Rückschlag des Bewusstseins und des Kampfgeistes geführt – einen Rückschlag, dessen Folgen zehn Jahre andauerten. Erst ab 2003 hatte das Proletariat, wie die IKS wiederholt unterstrich, diese Tendenz überwunden und erneut den Weg des Kampfes eingeschlagen, um sich gegen die kapitalistischen Angriffe zu wehren. Seither ist die neue Tendenz nicht umgedreht worden, und in den zwei Jahren seit unserem letzten Kongress sahen wir in allen Teilen der Erde die Fortsetzung von bedeutenden Kämpfen. Bei verschiedenen Gelegenheiten konnte man sogar eine Simultanität von wichtigen Kämpfen auf Weltebene beobachten. Anfang 2008 gab es in folgenden Ländern zeitgleich Kämpfe: Russland, Irland, Belgien, Schweiz, Italien, Griechenland, Rumänien, Türkei, Israel, Iran, Bahrain, Tunesien, Algerien, Kamerun, Swaziland, Venezuela, Mexiko, die USA, Kanada und China.

Die vergangenen Jahren waren Zeuge sehr bedeutender Klassenkämpfe. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wollen wir folgende Beispiele aufzählen:

–   die grossen Streiks in der ägyptischen Textilindustrie im Sommer 2007, mit denen sich zahlreiche andere Sektoren (Hafenarbeiter, Krankenhäuser, Transportwesen) solidarisierten.

–   der Streik der Bauarbeiter in Dubai im November 2007 (hauptsächlich Migranten) mit massiven Mobilisierungen.

–   ein sehr kämpferischer Streik der Bahnarbeiter in Frankreich im November 2007, ausgelöst durch die Angriffe gegen die alten Rentenregelungen, wobei es Beispiele der Solidarisierung mit Studierenden gab, die gleichzeitig gegen die Versuche der Regierung mobilisierten, die gesellschaftliche Trennung an den Universitäten weiter voranzutreiben – ein Streik, der die Sabotagerolle der grossen Gewerkschaftsverbände, namentlich der CGT und der CFDT, entlarvte, so dass die Bourgeoisie gezwungen wurde, das Bild ihres Apparates zur Kanalisierung der Arbeiterkämpfe aufzupolieren.

–   gegen Ende 2007der einmonatige Streik von 26.000 Arbeitern der Türk Telekom, die wichtigste Mobilisierung des türkischen Proletariats seit 1991, und dies, während die türkische Armee in eine Intervention im Irak verwickelt war.

–   in Russland im November 2008, wo der wichtige Streik der Arbeiter der Ford-Werke in St.Petersburg stattfand, der die Fähigkeit unter Beweis stellte, der Einschüchterung durch die Polizei und den Geheimdienst FSB (ehemaliger KGB) zu trotzen.

–   in Griechenland gegen Ende 2008, als in einem Klima grosser Unzufriedenheit, das sich bereits zuvor geäussert hatte, die Arbeiterklasse den Mobilisierungen der Studenten, von denen Teile die offiziellen Gewerkschaften in Frage stellten, gegen die Repression eine tiefe Solidarität entgegenbrachte; eine Solidarität, die nicht in den Grenzen des Landes gefangen blieb, sondern ein grosses Echo in vielen Ländern Europas auslöste.

–   in Grossbritannien, wo der Streik der Lindsay-Raffinerie Anfang 2009 eine der wichtigsten Bewegungen der Arbeiterklasse in Grossbritannien seit zwei Jahrzehnten darstellte – einer Arbeiterklasse, die in den 80er Jahren grosse Niederlagen einstecken musste. Diese Bewegung zeigte die Fähigkeit der Arbeiterklasse, die Kämpfe auszuweiten, und es gab Anzeichen einer Konfrontation mit dem bleiernen Nationalismus, als sich britische und ausländische (polnische und italienische) Arbeiter in Solidaritätsdemonstrationen zusammenfanden.

Die Bedingungen für die Entwicklung einer revolutionären Perspektive

10. Die gegenwärtige Zuspitzung der Krise des Kapitalismus bildet ein wichtiges Element in der Entwicklung der Kämpfe der Arbeiterklasse. Schon jetzt ist die Arbeiterklasse weltweit mit massiven Entlassungen und einer steigenden Arbeitslosigkeit konfrontiert. Das Proletariat macht auf eine enorm konkrete Art und Weise seine Erfahrungen mit der Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, auch nur die grundlegenden Lebensbedingungen der Arbeiter, die es ausbeutet, aufrechtzuerhalten. Noch schlimmer, der Kapitalismus ist immer weniger im Stande, den neuen Generationen der Arbeiterklasse eine Zukunft anzubieten, was nicht nur für die Jungen selber, sondern auch für deren Eltern einen Faktor der Angst und Perspektivlosigkeit darstellt. Damit reifen die Bedingungen für eine mögliche Verbreitung der Einsicht in den Reihen des Proletariates, dass der Kapitalismus überwunden werden muss. Doch es genügt nicht, wenn die Arbeiterklasse feststellt, dass der Kapitalismus in einer Sackgasse steckt und einer anderen Gesellschaft Platz machen sollte, damit sie in die Lage versetzt wird, sich eine revolutionäre Perspektive zu geben. Es braucht auch die Überzeugung, dass eine solche Perspektive möglich ist und dass die Arbeiterklasse die Kraft hat, sie umzusetzen. Genau auf dieser Ebene hat die herrschende Klasse nach dem Zusammenbruch des angeblichen „Realsozialismus" eine wirkungsvolle Kampagne gegen die Arbeiterklasse geführt. Einerseits hat sie die Meinung verbreitet, der Kommunismus sei ein leerer Traum: „Der Kommunismus funktioniert nicht. Der Beweis dafür ist die Tatsache, dass er durch die Leute, die darin gelebt haben, zugunsten des Kapitalismus wieder abgeschafft wurde.” Andererseits ist es der herrschenden Klasse gelungen, innerhalb der Arbeiterklasse ein starkes Gefühl der Machtlosigkeit und der Unfähigkeit, selbst massive Kämpfe führen zu können, zu verbreiten. Diesbezüglich unterscheidet sich die heutige Situation sehr stark von derjenigen vor dem historischen Wiederauftauchen der Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre. Damals zeigten die massiven Arbeiterkämpfe, vor allem der gewaltige Streik im Mai 1968 in Frankreich und der Heisse Herbst in Italien 1969, dass die Arbeiterklasse innerhalb der Gesellschaft eine bestimmende Kraft sein kann und die Idee der Überwindung des Kapitalismus durch sie nicht nur unrealisierbare Träume sind. Doch da die Krise des Kapitalismus erst an ihrem Anfang stand, fehlte dem Bewusstsein über die absolute Notwendigkeit, das System zu überwinden, noch die materielle Grundlage zur Verbreitung in der Arbeiterklasse. Man kann diese Situation wie folgt zusammenfassen: Ende der 1960er Jahre mochte die Idee, dass die Revolution möglich ist, relativ verbreitet gewesen sein, aber die Idee, dass die Revolution unabdingbar ist, drängte sich noch nicht auf. Demgegenüber findet heute die Idee, dass die Revolution nötig ist, ein beträchtliches Echo, aber die Idee, dass sie auch möglich ist, ist ausserordentlich selten anzutreffen.

Gegen falsche Erwartungen an den Klassenkampf

11. Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in der Arbeiterklasse wirklich Wurzeln schlagen kann, muss Letztere Vertrauen in ihre eigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Der gewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, bildet eine objektive Grundlage für solche Kämpfe. Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden – Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe zunächst zuwider. Im Allgemeinen – und dies hat sich in den letzten vierzig Jahren immer wieder gezeigt – finden die wichtigsten Kämpfe nicht in Zeiten eines starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit statt. Die Massenentlassungen und die Arbeitslosigkeit haben die Tendenz, momentan eine gewisse Lähmung der Klasse hervorzurufen. Diese sieht sich durch die Unternehmer erpresst: „Wenn ihr nicht zufrieden seid – es stehen viele andere Arbeiter bereit, um euch zu ersetzen." Die Bourgeoisie kann diese Lageausnutzen, um eine Spaltung der Arbeiterklasse zu bewirken, d.h. eine Gegenüberstellung zwischen denen, die ihre Arbeit verlieren, und denen, die das„Privileg" haben, sie zu behalten. Zudem verstecken sich die Unternehmen und die Regierungen hinter einem „entscheidenden" Argument: „Wir können nichts dafür, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt und ihr entlassen werdet: Die Krise ist schuld." Schliesslich wird die Waffe des Streiks angesichts von Fabrikschliessungen stumpf, was das Gefühl der Ohnmacht der Arbeiter verstärkt. Zwar können angesichts einer historischen Situation, in der das Proletariat keine entscheidende Niederlage eingesteckt hat – im Gegensatz zur Lage in den1930er Jahren -, Massenentlassungen, die bereits begonnen haben, durchaus sehr harte Kämpfe, wenn nicht gar Gewaltausbrüche hervorrufen. Doch zunächst werden es aller Voraussicht nach verzweifelte und vergleichsweise isolierte Kämpfe sein, auch wenn ihnen andere Teile der Arbeiterklasse ehrliche Sympathieentgegenbringen. Selbst wenn es also in der nächsten Zeit keine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wir nicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zu kämpfen. Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsenkann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen Arbeiterinnen bezahlen zulassen -, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in grösserem Ausmass entwickeln können. Das bedeutet nicht, dass die Revolutionäre bei den gegenwärtigen Kämpfen abseits stehen sollten. Vielmehr sind diese Teil der Erfahrungen, die das Proletariat machen muss, um eine neue Stufe im Kampf gegen den Kapitalismus zu nehmen. Und es gehört zu den Aufgaben der kommunistischen Organisationen, in diesen Kämpfen die allgemeine Perspektive des proletarischen Kampfes und die folgenden Schritte, die in diese Richtung unternommen werden müssen, voran zustellen.

Hürden, die die Arbeiterklasse noch nehmen muss...

12. Der Weg, der uns zu revolutionären Kämpfen und zum Umsturz des Kapitalismusführt, ist lang und schwierig. Zwar erweist sich die Frage des Umsturzes mit jedem Tag dringlicher, doch die Arbeiterklasse wird noch wichtige Hürden nehmen müssen, ehe sie in der Lage sein wird, diese Aufgabe zu erfüllen:

–   die Wiedererlangung der Fähigkeit, ihre Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen, denn gegenwärtig sind die meisten Kämpfe, insbesondere in den entwickelten Ländern, unter der festen Kontrolle der Gewerkschaften (im Gegensatz zu dem, was wir im Laufe der 1980er Jahre erlebten);

–   die Entwicklung ihrer Fähigkeit, die bürgerlichen Manöver und Fallen zu durchschauen, die den Weg zu Massenkämpfen verbauen, und die Wiedergewinnung des Selbstvertrauens, denn der Massencharakter der Kämpfe Ende der 1960er Jahre lässt sich zu einemguten Teil dadurch erklären, dass die Bourgeoisie damals, nach Jahrzehnten der Konterrevolution, überrascht war, was heute offensichtlich nicht mehr der Fall ist;

–   die Politisierung ihrer Kämpfe, das heisst die Fähigkeit, sie in ihrer geschichtlichen Dimension zu sehen, sie als ein Moment im langengeschichtlichen Kampfes des Proletariats gegen die Ausbeutung und für die Abschaffung derselben zu begreifen.

Diese Etappe ist offensichtlich die schwierigste, namentlich aufgrund:

–   des Bruchs, den die Konterrevolution in der ganzen Arbeiterklasse bewirkt hat, zwischen den Kämpfen der Vergangenheit und den gegenwärtigen Kämpfen;

–   des organischen Bruchs in der Kontinuität der revolutionären Organisationen, der Ergebnisdieser Situation war;

–   des Rückflusses des Bewusstseins in der gesamten Klasse infolge des Zusammenbruchs des Stalinismus;

–   des drückenden Gewichts des Zerfalls des Kapitalismus auf das Bewusstsein des Proletariats;

–   der Fähigkeit der herrschenden Klasse, Organisationen aus dem Hut zu zaubern (wie die Neue Antikapitalistische Partei NPA in Frankreich oder Die Linke in Deutschland),deren Geschäft darin besteht, den Platz der stalinistischen Parteien, die heute verschwunden oder altersschwach geworden sind, oder der Sozialdemokratie einzunehmen, die nach mehreren Jahrzehnten des kapitalistischen Krisenmanagements entlarvt dasteht – neue Organisationen, die wegen ihrer Unverbrauchtheit in der Lage sind, wesentliche Mystifikationen innerhalb der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten.

Die Politisierung der Kämpfen des Proletariats steht faktisch in Zusammenhang mit einer entwickelten Präsenz der kommunistischen Minderheit in den Kämpfen. Die Feststellung, wie schwach die gegenwärtigen Kräfte des internationalistischen Milieus sind, ist ein Hinweis auf die Länge des Weges, den es noch zu beschreiten gilt, bis die Arbeiterklasse revolutionäre Kämpfe entfachen kann und ihre Weltparteihervorbringt, das wesentliche Organ, ohne das der Sieg der Revolution unmöglich ist.

Der Weg ist lang und schwierig, aber das soll die Revolutionäre nicht entmutigen, soll sie nicht in ihren Bemühungen um den proletarischen Kampf lähmen. Ganz im Gegenteil!

Aktuelles und Laufendes: 

  • Internationale Situation [9]
  • Krise [10]
  • Krieg [11]
  • revolutionäre Perspektive [12]

Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Stalinismus: Die Bourgeoisie nimmt den Mund nicht mehr so voll

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Vor zwanzig Jahren ereignete sich eines derbedeutendsten Geschehnisse der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: derZusammenbruch des imperialistischen Ostblocks und der stalinistischen Regime inEuropa, deren Anführer die UdSSR war.

Diese Ereignisse wurden von der herrschendenKlasse dazu verwendet, eine der massivsten und bösartigsten je gegen dieArbeiterklasse geführten ideologischen Kampagnen zu entfesseln. Noch einmalwurde lügnerisch der zusammenbrechende Stalinismus mit dem Kommunismusgleichgesetzt und der ökonomische Niedergang und die Barbarei derstalinistischen Regime als das Resultat der proletarischen Revolution dargestellt.Die herrschende Klasse wollte damit dem Proletariat jegliche revolutionärePerspektive rauben und den Kämpfen der Arbeiterklasse einen vernichtendenSchlag versetzen.

Gleichzeitig liess die Bourgeoisie eine zweitegrosse Lüge vom Stapel: Mit dem Untergang des Stalinismus trete derKapitalismus in eine Ära des Friedens und der Prosperität ein und könne nunendlich aufblühen. Sie versprach eine strahlende Zukunft.

Am 6. März 1991 verkündete der Präsident der USA George Bushsen. berauscht vom Sieg seiner Armee über Saddam Hussein das Anbrechen einer„neuen Weltordnung" und die Zukunft einer „Welt der Vereinten Nationen, die,befreit von der Sackgasse des Kalten Krieges, auf dem Weg sind, diehistorischen Visionen ihrer Gründer zu realisieren. Eine Welt, in der dieFreiheit und die Menschenrechte von allen Nationen respektiert werden."

Zwanzig Jahre danach könnte man darüber fast lachen, hättennicht das weltweite Chaos und die zunehmenden Konflikte in allen Teilen derErde, die sich seit jenem berühmten Ausspruch ereigneten, dermassen viel Todund Zerstörung mit sich gebracht. Diese Bilanz sieht 20 Jahre danach bitteraus.

Von einer Prosperität kann keine Rede sein. Seit Sommer 2007und verstärkt seit Sommer 2008 „blenden die Herrschenden Begriffe wie „Wohlstand",„Wachstum", „Triumph des Liberalismus" in ihren Reden diskret aus. Am Tisch desgrossen Banketts der kapitalistischen Wirtschaft hat sich nun ein Gastniedergelassen, den man für immer verbannt zu haben glaubte: die Krise, dasGespenst einer „neuen weltweiten Depression", ähnlich wie die der 1930erJahre."[1]Gestern bedeutete der Zusammenbruch des Stalinismus den Triumph des liberalenKapitalismus. Heute ist es derselbe Liberalismus, welcher sich von Seiten derSpezialisten und Politiker aller Übel beschuldigt sieht, selbst von denen, dieeinst seine bedingungslosesten Verteidiger waren wie der französische PräsidentSarkozy!

Man kann sich die Daten von Jahrestagen nicht auswählen, undklar ist, dass dieser hier für die herrschende Klasse kein guter ist. Wenn siebei der jetzigen Gelegenheit keine grosse Kampagne über den „Tod desKommunismus" und das „Ende des Klassenkampfes" vom Stapel lässt, dann nichtdeshalb, weil es ihr an Missgunst fehlen würde, sondern wegen der desolatenLage des Kapitalismus, die sie der Gefahr aussetzt, dass der letzte Schein umihre ideologischen Gebilde durchschaut wird. Aus diesem Grunde hat uns dieherrschende Klasse mit grossen Zeremonien über den Zusammenbruch der „letztenTyrannei" und den grossen Sieg der „Freiheit" verschont. Abgesehen von einigenernsten historischen Beschwörungen gibt es keine Euphorie und keineÜberschwänglichkeit.

Auch wenn der Frieden und die Prosperität, die uns derKapitalismus offenbar hätte bringen müssen, nicht Wirklichkeit wurden, soerscheint die heutige Barbarei und Misere in den Augen vieler Ausgebeuteternoch keinesweg als direkte Konsequenz der unüberwindbaren Widersprüche deskapitalistischen Systems. Die Propaganda der Bourgeoisie, die heute viel mehrauf die Notwendigkeit der „Humanisierung" und „Reformierung" des Kapitalismusausgerichtet ist, verfolgt die Absicht grösstmöglichste Barrieren gegen dieBewusstseinsentwicklung der Ausgebeuteten über die Realität zu errichten. DieWirklichkeit hat aber auch die andere Seite der Lüge, die Gleichsetzung desStalinismus mit dem Kommunismus, nicht wirklich aufgelöst und sie lastet nochimmer auf den Schultern der heutigen Generationen - auch wenn dies nicht imselben abstumpfenden Ausmass wie in den 1990er Jahren der Fall ist. Es istdaher wichtig, einige historische Tatsachen in Erinnerung zu rufen.

Einund dieselbe Krise des Kapitalismus ist Ursache des Zusammenbruchs desOstblocks und der heutigen Rezession

„Die weltweite Krise des Kapitalismus wirkt sich mit einerbesonderen Brutalität auf die Wirtschaft (der Staaten des Ostblocks) aus, dienicht nur rückständig, sondern auch unfähig ist, sich der Verschärfung derKonkurrenz innerhalb des Kapitals anzupassen. Der Versuch, „klassische" Normender kapitalistischen Zwangsverwaltung einzuführen anstelle der Steigerung derProduktivität, führt zu nichts anderem als einem noch grösseren Wirrwarr, fürdas in der UdSSR das Scheitern der „Perestroika" ein gutes Beispiel ist. (...)Die Perspektive aller stalinistischen Regime ist nicht die einer „friedlichenDemokratisierung" und auch nicht einer Straffung der Wirtschaft. Mit derVerschärfung der weltweiten Krise des Kapitalismus sind diese Länder in einePhase von Unruhen eingetreten, die auch in ihrer an gewalttätigen Ereignissen„reichen" Vergangenheit unbekannt sind." (Kapitalistischen Erschütterungen undKlassenkämpfe" (7.9.1989, Internationale RevueNr. 59, engl./franz./span. Ausgabe)

Diese katastrophale Situation in den Ländern des Ostblockshinderte die herrschende Klasse damals nicht daran, sie als immense neu zuerobernde Märkte darzustellen, da sie nun vom Joch des „Kommunismus" befreitseien. Es gelte dort eine moderne Ökonomie zu entwickeln, die die Aufgabe habe,die Auftragsbücher der westlichen Firmen für Jahrzehnte zu füllen. Die Realitätwar eine ganz andere: Es gab gewiss viel aufzubauen, doch niemanden, der esbezahlen konnte.

Der erwartete Boom im Osten trat nicht ein. Dafür wurdenumgekehrt die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die im Westen auftraten,skrupellos auf das Konto der nötigen Anpassung der rückständigen Länder desehemaligen Ostblocks geschoben. Dies war beispielsweise der Fall mit derInflation, die in Europa kaum zu kontrollieren war. Die Lage spitzte sich nichtviel später in der offenen Rezession von 1993 auf dem alten Kontinent zu[2].So änderte der neue Weltmarkt, in den nun die Länder Osteuropas vollständigintegriert waren, nicht das Geringste an den Grundgesetzmässigkeiten desKapitalismus. So nahm insbesondere die Verschuldung einen immer umfangreicherenPlatz bei der Finanzierung der Wirtschaft ein, wodurch diese angesichts jederDestabilisierung immer brüchiger wurde. Die Illusionen der Bourgeoisieverflüchtigten sich schnell, als sie mit der harten wirtschaftlichen Realitätihres Systems konfrontiert wurde. So knickte im Dezember 1994 Mexiko unter demZustrom der Spekulanten ein, die aus dem krisengeschüttelten Europa abgezogenwaren: Der Peso brach zusammen und drohte, einen grossen Teil derVolkswirtschaften des amerikanischen Kontinents mitzureissen. Die Drohung warreal und wurde verstanden. Eine Woche nach Ausbruch der Krise mobilisierten dieUSA 50 Milliarden Dollar, um die mexikanische Währung damit zu stützen. Damalsschien dieser Betrag immens ... Zwanzig Jahre später sollten es vierzehn Mal mehrsein, die die USA für ihre eigenen Wirtschaft aufbringen sollten!

Ab 1997 Neuauflage in Asien. Diesmal waren es die Währungender südostasiatischen Länder, die massiv an Wert verloren. Die berühmten Tigerund Drachen, Vorzeigeländer der wirtschaftlichen Entwicklung, Schaufenster der„Neuen Weltordnung", wo der Fortschritt selbst für die kleinsten Länder möglichschien, erfuhren ebenfalls die Härte des kapitalistischen Gesetzes.

Die Anziehungskraft dieser Volkswirtschaften hatte eineSpekulationsblase gefüllt, die Anfang 1997 platzte. In weniger als einem Jahrwaren alle Länder der Region betroffen. In der gleichen Zeit wurden 24Millionen Menschen arbeitslos. Aufstände und Plünderungen breiteten sich aus,dabei starben 1200 Personen. Selbstmorde nahmen rapide zu. Ab dem folgendenJahr wurde festgestellt, dass eine Ansteckungsgefahr auf Weltebene bestand,ernsthafte Schwierigkeiten entstanden in Russland.

Das asiatische Modell, der berühmte „dritte Weg", wurde nebendem „kommunistischen" Modell begraben. Es musste etwas Neues gefunden werden,um zu beweisen, dass der Kapitalismus der einzige Schöpfer des Reichtums aufErden sei. Dieses neue Wundermittel war das Internet. Wenn sich in derwirklichen Welt alles auflöst, so lasst uns in die virtuelle investieren! Wennden Reichen Geld zu leihen nicht mehr genügt, so lasst es uns denen leihen, dieuns versprechen, reich zu werden! Der Kapitalismus hat Angst vor der Leere,insbesondere vor derjenigen in der Geldbörse, und wenn die Weltwirtschaftunfähig zu sein scheint, immer grössere Profite anzubieten, um auf dieunersättlichen Bedürfnisse des Kapitals zu antworten, wenn keine Rentabilitätmehr zu finden ist, erfindet man einfach einen neuen Markt aus freien Stücken.Das System sollte noch einmal während einer gewissen Zeit weiterfunktionieren,indem sich die Wetten auf die Aktienkurse, die keinen vernünftigen Bezug mehrzur Realität hatten, breit machten. Unternehmen, die Verluste in Millionenhöheerlitten, hatten auf dem Markt einen Wert von mehreren Milliarden Dollar. DieBlase war geschaffen, sie wuchs bereits. Der Wahnsinn bemächtigte sich einerBourgeoisie, die sich Illusionen hingab über die langfristigeDauerhaftigkeit  der „Neuen Ökonomie" unddamit auch die „alte" angriff. Die traditionellen Sektoren der Wirtschaftmachten auch mit, sie hofften damit eine Rentabilität zurück zu gewinnen, diesie in ihrem herkömmlichen Tätigkeitsbereich verloren hatten. Die „NeueÖkonomie" drang in die alte ein[3],und sie sollte sie beim Absturz mitreissen.

Der Sturz tat weh. Der Zusammenbruch eines solchen Konstrukts,das auf nichts anderem beruhte als dem gegenseitigen Vertrauen allerBeteiligten, dass niemand versage, konnte nur brutal sein. Der Platzen derBlase führte zu Verlusten von 148 Milliarden Dollar in den Unternehmen derBranche. Die Pleiten breiteten sich aus, die Überlebenden berichtigten den Wertihrer Aktiven um Hunderte von Milliarden Dollar. Mindestens 500 000Arbeitsplätze wurden in der Telekommunikationsbranche gestrichen. Die „NeueÖkonomie" erwies sich schliesslich als nicht fruchtbarer wie die alte, und dieGuthaben, die gerade noch rechtzeitig dem Untergang entronnen waren, suchtensich eine neue Anlagesphäre.

Und die Wahl traf auf die Immobilienbranche. Denn die Fragestellte sich ernsthaft: Wem konnte man noch Geld leihen, nachdem man es schonmit Ländern getan hatte, die über ihren Verhältnissen lebten, nachdem man dasGeld Unternehmen geliehen hatte, die auf Sand, ja Wind gebaut waren? DieBourgeoisie kennt keine Grenzen bei ihrem Profithunger. Das gute alte Sprichwort,dass „man nur Reichen Darlehen geben soll" ist definitiv ausser Kraft gesetzt,denn Reiche gibt es nicht mehr genug. Die Bourgeoisie nahm sich deshalb einenneuen Markt vor ... denjenigen der Armen. Ganz abgesehen vom Zynismus diesesKalküls, offenbart sich da eine gnadenlose Geringschätzung gegenüber dem Lebenvon Leuten, die bestimmt waren, zur Beute dieser Geier zu werden. Die gewährtenDarlehen wurden mit dem Schuldnervermögen pfandgesichert. Wenn dann diesesVermögen aufgrund einer Börsenhausse an Wert gewinnt, eröffnete sich dieMöglichkeit, den verschuldeten Familien noch mehr Kredite zu gewähren, mitdenen sie potentiell ins Desaster geführt wurden. Diese Möglichkeit wurde 2008zur Wirklichkeit, als das Schiff auf den harten Grund der Realität auflief -die Bourgeoisie beklagte ihre eigenen Opfer (die Geschäftsbanken und andereRefinanzierungsinstitute), aber sie vergass die Millionen von Familien, denenalles, was sie noch hatten (obwohl ohne jeden Marktwert), genommen wurde,Familien, die künftig auf der Strasse oder im Slum leben.    

Die Fortsetzung ist sattsam bekannt, es erübrigt sich, daraufzurück zu kommen, ausser vielleicht in einer Kurzfassung, die eigentlich allessagt: eine offene Weltrezession, die schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg, inder Millionen von Arbeitern in allen Ländern auf die Strasse geworfen werden,eine beträchtliche Ausweitung des Elends.

DieKriege - vor und nach 1990 - sind die Folgen der immer gleichen Widersprüchedes Kapitalismus

Selbstverständlich warf der Zusammenbruch des Ostblocks dieganze imperialistische Konstellation durcheinander. Vor diesem Ereignis war dieWelt in zwei sich gegenüberstehende Blöcke aufteilt, beide um eineFührungsmacht gruppiert. Die ganze Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg bis zumZusammenbruch des Ostblocks war von sehr starken Spannungen zwischen denBlöcken geprägt, die in offenen Kriegen zwischen Stellvertretern in der DrittenWelt ausgetragen wurden. Um nur einige zu zitieren: Koreakrieg zu Beginn der50er Jahre, Vietnamkrieg in den ganzen 60er Jahren bis in die Mitte der 70er,Afghanistankrieg ab 1979, usw. Der Zusammenbruch des stalinistischen Gebäudes1989 war schlicht und einfach die logische Folge seiner wirtschaftlichen undmilitärischen Unterlegenheit gegenüber dem gegnerischen Block.

Aber die Auflösung des „Reichs des Bösen", das der in denAugen der westlichen Propaganda allein verantwortliche russische Blockdarstellte, bedeutete nicht das Ende der Kriege. Die IKS hatte damals, imJanuar 1990, folgende Analyse: „Das Verschwinden des russischenimperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle desamerikanischen Imperialismus gegenüber seinen ‚Hauptpartnern‘ von früher öffnetdie Tür für das Aufbrechen von einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. DieseRivalitäten und Zusammenstösse können gegenwärtig nicht in einen Weltkriegausarten (selbst wenn das Proletariat nicht mehr dazu in der Lage wäre, sichdagegen zur Wehr zu setzen). Weil die vom Block auferzwungene Disziplin nichtmehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger undgewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse amschwächsten ist." (Internationale RevueNr. 12, Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos). Esdauerte nicht lange, bis auf der Weltbühne der Beweis für die Richtigkeitdieser Analyse geführt wurde, so namentlich mit dem ersten Golfkrieg vom Januar1991 und dem Krieg im damaligen Jugoslawien ab Herbst des gleichen Jahres.Seither folgt eine blutige und barbarische Auseinandersetzung der nächsten. Wirkönnen hier nicht alle aufzählen, aber immerhin die folgenden hervorstreichen:die Fortsetzung des Jugoslawienkriegs, in den 1999 die USA und die wichtigsteneuropäischen Mächte unter der Aegide der NATO direkt eingegriffen haben; diebeiden Tschetschenienkriege; zahlreiche Kriege verwüsten anhaltend denafrikanischen Kontinent (Ruanda, Somalia, Kongo, Sudan usw.); dieMilitäroperationen Israels gegen den Libanon und kürzlich gegen denGazastreifen; der Afghanistankrieg von 2001, der immer noch andauert; derIrakkrieg von 2003, dessen Folgen dramatisch auf dem Zweistromland lasten, aberauch auf demjenigen, der den Krieg vom Zaun gerissen hat: Uncle Sam.

DerStalinismus - eine besonders brutale Form des Staatskapitalismus

Was nun folgt und sich auf die Charakterisierung desStalinismus bezieht, ist ein Ausschnitt aus einer Beilage zu den Publikationen,die wir im Januar 1990 breit verteilt haben (diese Beilage wurde vollumfänglichund neu abgedruckt im Artikel 1989-1999 - The world proletariat,the collapse of the Eastern bloc and the bankruptcy of Stalinism(„Das Weltproletariat, der Zusammenbruch des Ostblocks und der Bankrott desStalinismus") in der International Review Nr. 99, engl./franz./span.  Ausgabe). Wir denken, dass dieseCharakterisierung auch 20 Jahre später noch ganz gut passt, und drucken siehier unverändert ab.

„Auf den Trümmern der Oktoberrevolution von 1917 errichteteder Stalinismus seine Herrschaft. Dank der Negation des Kommunismus in derTheorie des „Sozialismus in einem Land" wurde die UdSSR wieder zu einem injeder Hinsicht kapitalistischen Staat. Ein Staat, in der das Proletariatunterworfen war, mit dem Gewehr im Rücken, unterworfen unter die Interessen desnationalen Kapitals, im Namen der Verteidigung des „sozialistischenVaterlandes".

So wie der proletarische Oktober dank der Macht derArbeiterräte dem Ersten Weltkrieg schliesslich ein Ende setzte, kündete diestalinistische Konterrevolution durch die Zerstörung jeden revolutionärenGedankens, durch die Knebelung jedes noch so zögerlichen Klassenkampfes, durchdie Errichtung des Terrors und die Militarisierung des ganzengesellschaftlichen Lebens die Beteiligung der UdSSR am zweiten Weltgemetzel an.

Jeder Schritt des Stalinismus auf dem internationalen Parkettder 30er Jahre war gekennzeichnet durch seine imperialistischen Kuhhändel mitden wichtigsten kapitalistischen Mächten, die sich von Neuem daraufvorbereiteten, Europa in Schutt und Asche zu legen.

Nachdem Stalin zunächst auf ein Bündnis mit dem deutschenImperialismus gesetzt hatte, um dessen Expansionsversuchen gegen Osten zubegegnen, wechselte er Mitte 30er Jahre plötzlich das Hemd und verbündete sichmit dem „demokratischen" Block (1934: Aufnahme der UdSSR in die „Räuberbande",die der Völkerbund war; 1935: Laval-Stalin-Pakt; Beteiligung der KPs an den„Volksfronten" und am Krieg in Spanien, in dessen Verlauf die Stalinisten nichtzögerten, die gleichen blutigen Methoden anzuwenden und die Arbeiter undRevolutionäre, die ihrer Politik Widerstand leisteten, zu massakrieren).Unmittelbar vor dem Krieg streifte sich Stalin wieder das alte Hemd über undverkaufte Hitler die Neutralität der UdSSR im Austausch gegen gewisse Gebiete,bevor er sich doch wieder dem Lager der Alliierten anschloss, um  sich seinerseits am imperialistischenGemetzel zu beteiligen, in dem der stalinistische Staat allein 20 MillionenMenschenleben opferte. Das war das Resultat der Drecksgeschäfte, die derStalinismus mit den verschiedenen imperialistischen Haien Westeuropas schloss.Auf diesen Leichenbergen konnte die stalinistische UdSSR ihr Reich aufbauen,ihre Schreckensherrschaft in allen Staaten errichten, die ihr aufgrund desVertrages von Jalta als ihre ausschliessliche Domäne zufielen. Dank derTeilnahme am allgemeinen Holocaust an der Seite der siegreichenimperialistischen Mächte und zum Blutpreis von 20 Millionen Opfern konnte dieUdSSR in den Rang einer Supermacht aufsteigen.

Doch wenn Stalin der „von der Vorsehung bestimmte Mann" war,dank dem der Kapitalismus als Weltsystem den Bolschewismus bezwingen konnte,war es doch nicht die Tyrannei eines einzigen Individuums, so paranoid diesesauch war, die das Werk dieser schrecklichen Konterrevolution vollbrachte. Derstalinistische Staat wurde wie jeder kapitalistische Staat durch die gleicheherrschende Klasse wie überall sonst gelenkt, durch die nationale Bourgeoisie.Eine Bourgeoisie, die sich mit der inneren Degenerierung der Revolution neugebildet hatte, aber nicht auf der Grundlage der alten zaristischen Bourgeoisie,die das Proletariat 1917 beseitigt hatte, sondern auf der Grundlage derparasitären Bürokratie des Staatsapparats, mit dem die bolschewistische Parteiunter der Führung von Stalin zunehmend verschmolz. Diese Bürokratie desPartei-Staats, die Ende der 20er Jahre all jene Sektoren beseitigte, aus denenallenfalls noch eine neue private Bourgeoisie hätte entstehen können und mitdenen sie sich verbündet hatte, um die Leitung der nationalen Wirtschaftsicherzustellen (Grundeigentümer und Spekulanten der NEP), übernahm dieKontrolle der Wirtschaft. Das sind die historischen Bedingungen, die erklären,weshalb der Staatskapitalismus in der UdSSR, anders als in anderen Ländern,diese totalitäre, karikaturale Form annahm. Der Staatskapitalismus ist die allgemeineHerrschaftsform des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase, in der der Staatsich den Zugriff auf das ganze gesellschaftliche Leben sichert und überallparasitäre Schichten entstehen lässt. Aber in den andere Ländern derkapitalistischen Welt stand diese staatliche Kontrolle über die Gesamtheit derGesellschaft nicht in antagonistischem Widerspruch zur Existenz von privatenund auf Konkurrenz beruhenden Sektoren, die ihrerseits eine totaleVorherrschaft der parasitären Sektoren verhinderten. In der UdSSR dagegenkennzeichnete sich die besondere Form, die der Staatskapitalismus hier annahm,durch eine extreme Vergrösserung seiner parasitären Schichten, die aus derstaatlichen Bürokratie hervorgegangen waren und deren einzige Sorge nicht darinbestand, das Kapital unter Berücksichtigung der Marktgesetze Profite abwerfenzu lassen, sondern sich individuell die Taschen zu füllen auf Kosten derInteressen der nationalen Wirtschaft. Unter dem Gesichtspunkt derFunktionsweise des Kapitalismus war diese Form des Staatskapitalismus eineEntgleisung, die mit der Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise notwendigerweiseim Fiasko enden musste. Und genau dieser Zusammenbruch des russischenStaatskapitalismus, der aus der Konterrevolution hervorgegangen war, zog den Schlussstrichunter den Bankrott dieser ganzen bestialischen Ideologie, die während mehr alseinem halben Jahrhundert das stalinistische System zementiert und Millionen vonMenschen unter einem Bleideckel gehalten hatte.

Egal, was die Bourgeoisie und die ihr hörigen Medien sagen:Die grauenhafte Hydra des Stalinismus gleicht überhaupt nicht - weder im Inhaltnoch in der Form - der Oktoberrevolution von 1917. Diese musste zuerstuntergehen, bevor sich jene aufrichten konnte. Dieses radikalen Bruches, dieserAntinomie zwischen Oktober und Stalinismus, muss sich das Proletariat vollbewusst werden."

Zerstörung entweder desKapitalismus oder der Menschheit

Die Welt gleicht immer mehr einer Wüste, die von Leichenübersät ist, und Milliarden von Menschen kämpfen nur noch ums Überleben. JedenTag verhungern auf der Welt fast 20 000 Kinder, mehrere Tausend Stellen werdenabgeschafft, was die betroffenen Familien in die Verzweiflung stürzt;Lohnkürzungen, die sich ständig breiter machen, für diejenigen, die noch Arbeithaben.

Das ist die „Neue Weltordnung", die vor fast 20 Jahren GeorgeBush sen. versprochen hat. Sie gleicht eher der absoluten Unordnung! Diesesschreckliche Spektakel widerlegt gänzlich die Idee, wonach der Zusammenbruchdes Ostblocks das „Ende der Geschichte" bedeute (stillschweigend: der Anfangdes Ewigen Reiches des Kapitalismus), wie der „Philosoph" Francis Fukuyamaseinerzeit verkündete. Er bedeutete vielmehr einen wichtigen Einschnitt imNiedergang des Kapitalismus, der die Phase einläutete, in der die schwächstenBestandteile dieses System - das mit seinen geschichtlichen Grenzenkonfrontiert ist - unumkehrbar in sich zusammenbrechen. So hat denn auch derZusammenbruch des Ostblocks keineswegs zu einer Genesung des Systems geführt.Jene Grenzen bestehen fort, und sie bedrohen je länger je mehr den Kern desKapitalismus. Jede neue Krise ist ernsthafter als die vorangegangene.

Deshalb ist die einzig nützliche Lehre aus den letzten 20Jahren die, dass es keine berechtigte Hoffnung auf Frieden und Fortschritt imKapitalismus gibt. Es geht nach wie vor und bis auf weiteres um die AlternativeZerstörung des Kapitalismus oder Zerstörung der Menschheit.

Die Kampagnen über den „Tod des Kommunismus" haben zwar in derTat dem Bewusstsein der Arbeiterklasse einen schweren Schlag versetzt, aber sieist nicht geschlagen, die Möglichkeit besteht, das verloren gegangene Terrainzurückzuerobern und sich erneut in einen Prozess der weltweiten Entwicklung desKlassenkampfes zu werfen. Tatsächlich hat die Arbeiterklasse seit Beginn desJahrzehnts, nachdem sich die Kampagnen über den Tod des Kommunismus und desKlassenkampfes langsam abgenützt haben, angesichts von erheblichen Angriffenauf seine Lebensbedingungen den Weg des Kampfes wieder eingeschlagen. DieseWiederaufnahme, die sich schon jetzt in einem internationalen Bemühen einerMinderheit um politische Klärung ausdrückt, stellt die Vorbereitung aufMassenkämpfe dar, die in Zukunft die einzige Perspektive für das Proletariatund die Menschheit eröffnen - die Überwindung des Kapitalismus und dieErschaffung des Kommunismus.

GDS

 

 



[1] Resolution des18. Kongresses der IKS zur internationalen Lage, ebenfalls in der vorliegendenAusgabe der InternationalenRevueveröffentlicht.

 

[2] Vgl. z.B. „la récession de 1993 réexaminée" („Die Rezession von 1993 neuuntersucht"), Persée, Zeitschrift der OECD, 1994, Band49, Nr. 1

 

[3] Sie kaufte siesogar auf: Die Übernahme der Gesellschaft Time Warner durch AOL,Internet-Anbieter, bleibt Sinnbild jener Irrationalität, die sich damals derBourgeoisie bemächtigte.

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Stalinismus [13]

Historische Ereignisse: 

  • Zusammenbruch des Stalinismus [14]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [15]

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Links
[1] https://perso.telecom-paristech.fr/~jld [2] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/von-der-kommunistischen-linken-beeinflusst [3] https://de.internationalism.org/en/tag/2/40/das-klassenbewusstsein [4] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus [5] https://de.internationalism.org/en/tag/2/27/staatskapitalismus [6] https://www.economagic.com [7] https://cedar.Barnard.columbia.edu/~econhist/papers/Hanes_sscale4.pdf [8] http://www.oecd.org [9] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/internationale-situation [10] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/krise [11] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/krieg [12] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/revolutionare-perspektive [13] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/stalinismus [14] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/zusammenbruch-des-stalinismus [15] https://de.internationalism.org/en/tag/2/28/stalinismus-der-ostblock