Noch vor kurzem hat Sarah Palin, die Vizepräsidentschaftskandidatin an der Seite des Wettbewerbers John McCain um das Präsidentenamt in den USA, ohne zu zögern behauptet, dass die Menschen und die Dinosaurier noch vor 6.000 Jahren gleichzeitig auf der Erde lebten, obwohl die Wissenschaft bewiesen hat, dass die letzten Dinosaurier von der Erdoberfläche vor mehr als 65.000.000 Jahren verschwunden sind, lange bevor der erste Homo Sapiens erschienen ist. Diese Ignoranz der historischen Entwicklung der Arten stellt eine direkte Fortsetzung der heute noch weit verbreiteten religiösen kreationistischen Doktrin dar. Wie weit dieses Dogma verbreitet ist, zeigt sich anhand der Neuerfindung der Geschichte des Universums, die zur Eröffnung einer Reihe von christlichen kreationistischen Museen in den USA seit 2005 geführt hat (insbesondere in Kentucky oder in Cincinnati, Ohio, und in einem Vergnügungspark, der 2007 in Lancashire, Großbritannien mittels der Initiative einer Gruppe von amerikanischen Geschäftsleuten eröffnet wurde, in dem versucht wird, die Entstehung des Universums in sieben Tagen in Übereinstimmung mit einer wortgetreuen Interpretation der Bibel zu erklären). Es ist schwierig, in Anbetracht des Hollywood- und operettenartigen Charakters dieser Disneylands oder Jurassic Parks, die die Ignoranz, die Leichtgläubigkeit und religiösen Vorurteile der Leute ausschlachten, dies alles ernst zu nehmen. Dennoch ist der Erfolg dieser obskurantistischen Ideologie besorgniserregend: mehr als 20% der Bevölkerung Flanderns und fast ein Amerikaner von zwei neigen Umfragen zufolge zu einer kreationistischen Sichtweise der Welt und zu einer feindseligen Haltung gegenüber der Evolutionstheorie, wie sie von Charles Darwin aufgestellt worden ist.
Vor 150 Jahren, im November 1859, veröffentlichte Darwin « Der Ursprung der Arten ». Dieses Werk, das auf der Ansammlung von Beobachtungen und Experimenten in der Natur fußte, hat die Sicht vom Ursprung des Menschen und seines Platzes unter den Lebewesen umgewälzt. Er zeigte zum ersten Mal auf, dass es eine gemeinsame Grundlage der Entwicklung der Arten und Lebewesen gab, wobei er sich auf die früheren Arbeiten der Naturalisten wie Buffon und Linné bis zu Lamarck stützte und über diese hinausging. Darwin’s Theorie versuchte auf dialektische, exakte und wissenschaftliche Art und Weise die Anpassungsfähigkeit der Lebewesen innerhalb ihrer Umgebung zu beweisen und diese Theorie in eine neue Auffassung von der Entwicklung der Arten zu integrieren. Dabei entstand die Auffassung eines gemeinsamen Stammbaums aller Lebewesen, bei dem der Mensch nicht mehr ein auserwähltes, von Gott geschaffenes Lebewesen ist, sondern das zufällige Ergebnis einer Herausdifferenzierung der Arten. Dies stellte eine radikale Infragestellung der «Lehren» der Bibel und ihrer Genese dar, denn er verwarf damit die Idee der Schöpfung Gottes und all der monotheistischen religiösen Traditionen (Christentum, Judentum, Islam). Diese materialistische und wissenschaftliche Herangehensweise Darwin’s wurde sofort von allen Seiten aufs heftigste angegriffen, insbesondere von den gleichen religiösen Dogmatikern, die das Gedankengut Galileis und Kopernikus an den Pranger gestellt hatten (beides Theoretiker, von denen der erste in seinen wissenschaftlichen Entdeckungen den religiösen Geozentrismus verwarf, der davon ausging, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums und vor allem das Zentrum der Schöpfung Gottes sei).
Der Skandal dieser Entdeckung Darwin’s bestand nicht so sehr in der Beweisführung der Entwicklung der Arten, sondern in der Tatsache, dass die in der Entwicklung stattfindenden Austausche keineswegs irgendeinem Zweck in der Natur folgten. Der «Stammbaum des Lebens» ähnelt nicht einem großen, hierarchisch aufgebauten genealogischen Baum, mit einer Grundlage und einem Gipfel, dessen Endergebnis der Mensch, Homo Sapiens, ist, sondern einem sich verästelnden Baum, dessen Stamm alle älteren Lebensformen zusammenfasst, und bei dem der Mensch nur ein besonderes Wesen unter unzähligen Millionen anderer Lebewesen ist. Diese Sicht leitet eine Verbindung und eine gemeinsame Abstammung zwischen den Menschen und den elementarsten Lebensformen wie den Amöben ab. All das scheint zahlreichen Leuten, die oft unbewusst unter dem Zwang religiöser Rückständigkeit leiden, unerträglich. Heute noch werden die Methode und die Herangehensweise Darwin’s ganz heftig angegriffen, obwohl alle wissenschaftlichen Beiträge der Paläontologie, Biologie, Genetik und anderer Wissenschaften die Gültigkeit der Theorie Darwin’s bestätigt haben. Die Religionen sind jedoch dazu gezwungen worden, die Fortsetzung ihres Kreuzzuges gegen Darwin zu kaschieren, indem sie eine Ideologie vorschlagen, die den religiösen Glauben unter dem Deckmantel einer alternativen pseudo- "wissenschaftlichen Konstruktion" aufrechterhalten soll: dem "intelligent Design". Der Kreationismus wird von der Kirche nicht mehr in der gleichen Art wie zur Zeit Darwin’s verteidigt. Erinnern wir uns an den Streit von 1860 zwischen dem Bischof von Oxford, Samual Wilberforce, und Thomas Huxley, einem energischen Verteidiger der Evolutionslehre. Man behauptet, dass der erste den zweiten verspottete, indem er ihn fragte: "Stammen Sie großväterlicherseits oder großmütterlicherseits vom Affen ab, Herr Huxley?" Dieser entgegnete ihm. "Niemand braucht sich zu schämen, einen Affen zum Urahn zu haben. Wenn ich mir einen Vorfahr aussuchen sollte und dabei wählen müsste zwischen einem Affen und einem gelehrten Mann, der seine Logik dazu missbraucht, ungeschulte Zuhörer in die Irre zu führen, und der eine schwerwiegende und philosophisch ernstzunehmende Fragestellung nicht mit sachlichen Argumenten angeht, sondern sie wissentlich der Lächerlichkeit preisgibt, wenn ich da wählen müsste, würde ich mich ohne zu zögern für den Affen entscheiden.“ Die katholische Kirche hat nie gewagt, den "Ursprung der Arten" auf die Liste der verbotenen Bücher zu setzen, aber sie hat das Buch halbamtlich verurteilt, indem sie eine heimtückischere und hinterlistigere Doktrin verbreitet: "das intelligente Design". Dieser "Theorie" zufolge hätte es sehr wohl Evolution gegeben, aber sie sei gewünscht und "gesteuert" gewesen durch eine "göttliche Kraft". Auch sei der Mensch kein "Zufallsprodukt der Natur", sondern Ergebnis des Willens eines allmächtigen Schöpfers, der ihn so "konzipiert" und "programmiert" habe.
Diese Variante des Kreationismus profitiert von der gegenwärtig erstarkenden Popularität spiritualistischer, obskurantistischer und sektenhafter Ideologien. Diese reaktionären Ideologien werden oft direkt von bestimmten Fraktionen der Herrschenden verbreitet, die diese als Manipulationsmittel für durch Armut, Barbarei und Perspektivlosigkeit im Kapitalismus desorientierte und verzweifelte Leute benutzen. Dies treibt sie dazu, vor der objektiven Wirklichkeit zu flüchten, indem sie sich in irgendeinen Glauben stürzen, einen blinden Glauben an ein Jenseits, an eine "höhere Ordnung", unsichtbar und allmächtig, welche außerhalb jeglichen verstandesmäßigen Denkens besteht. Der Glaube an einen allmächtigen Schöpfergott, wie auch das Wiederauftauchen aller möglichen Sekten (die übrigens daraus einen typisch kapitalistischen Nutzen ziehen), wird von den Ideologen des New Age ausgeschlachtet, um die Ängste und das Leiden all der Unglücklichen zu kristallisieren, die durch die Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft entstanden sind. Diese Feststellung belegt die Richtigkeit der Analyse, die Marx schon von 1843 an in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ machte. „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ (K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, S. 378). Die Religion ist immer das erste Bollwerk der konservativen und reaktionären Kräfte zur Betäubung des Bewusstseins gegen den wissenschaftlichen Fortschritt. Sie versucht sich anzupassen, um den Status quo aufrechtzuerhalten, indem sie immer behauptet eine Zuflucht für den "Trost der Unglücklichen dieser Gesellschaft" zu sein, damit sie sich einem Glauben und vor allem einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung unterwerfen.
"Intelligent Design" beansprucht in den Rang einer wissenschaftlichen Theorie eingestuft zu werden, weil man die Evolutionslehre und den Kreationismus unter einen Hut bringen wolle. "Intelligent Design" stellt die beiden auf irreführende Weise jeweils als eine "philosophische Wahl" zwischen zwei konkurrierenden Flügeln dar. Der Vorläufer des "intelligent Design", der Jesuit Teilhard de Chardin (1881-1955) versuchte zum Beispiel in den 1920er Jahren zu beweisen, dass es eine Teleologie gäbe, eine Zweckbestimmtheit in der Evolution, die als "Omega-Punkt", als der göttliche Pol der Konvergenz und der Harmonisierung bezeichnet und definiert wird, welcher in der "Noosphäre" gipfelt, einer Art himmlischer Glückseligkeit, die durch den göttlichen Geist getragen wird. Mehr noch als der Katholizismus sammelten sich im Protestantismus und seinen verschiedenen "evangelischer Kirchen", die sich auf eine eher wortgetreue Auslegung der Bibel berufen, die entschlossensten Gegner Darwin’s (dies ist der Grund für den Erfolg des „intelligent Design“ in den USA, insbesondere in der Amtszeit von G.W. Bush, als die Regierung diese quasi offen unterstützte). Die gegenwärtigen Propagandaziele des „intelligent Design“ wurden klar von dem "think tank" der Bewegung, dem Discovery Institute, in einem internen Dokument "The Wedge" zusammengefasst. Aufgrund einer undichten Stelle im Think Tank wurde der Text 1999 bekannt. In diesem Dokument werden die Hauptziele des Discovery Institutes ganz klar definiert: Erstens geht es ihnen darum, "den wissenschaftlichen Materialismus und seine moralischen, kulturellen und wissenschaftlichen Erben zu besiegen; die materialistischen Erklärungen schließlich zu ersetzen durch ein Begreifen, dass die Natur und der Mensch durch Gott geschaffen wurden". Er setzt sich das kurz- und mittelfristige Ziel, "dass die Theorie des „intelligent Design“ zu einer von den Wissenschaften akzeptierten Alternative wird, und dass wissenschaftliche Untersuchungen aus der Perspektive der Theorie des Designs unternommen werden; dass Hilfe beim Anschub geleistet wird für den Einfluss der Theorie des Designs in anderen Bereichen als den Naturwissenschaften; dass neue Grundsatzdebatten in der Bildung begonnen werden, bei denen lebensbezogene Themen aufgegriffen werden, die persönliche Haftung und Verantwortung wieder auf die nationale Tagesordnung gesetzt werden". Die Hauptstoßkraft der Offensive dieses Dogmas richtet sich deshalb auf die schulische Bildung und das Erziehungswesen insgesamt sowie gleichzeitig auf die juristische Ebene, während gleichzeitig versucht wird, in Wissenschaftskreisen Verwirrung zu stiften, um Anhänger in allen Teilen der Gesellschaft zu werben, insbesondere dank intensiver Werbung und einer Kampagne der Meinungsbildung (publicity and opinion making). Das Internet hat ihm ebenfalls neue Möglichkeiten zur Verbreitung seiner Propaganda eröffnet, so wie damals die Missionare zur "Bekehrung" der Welt im Zeitalter der Einverleibung neuer Kolonien aufbrachen. Sie arbeiten nach dem Prinzip, dass „intelligent Design“ als eine "wissenschaftliche" Hypothese dargestellt wird, die mit dem Darwinismus im Wettbewerb stehe. „Intelligent Design“ verfolgt auch das Ziel, «dass die Theorie des “intelligent Design“ als die vorherrschende Perspektive in den Wissenschaften angesehen wird, und dass die Ergebnisse der Theorie des “intelligent Designs“ in spezifischen Bereichen wie Molekularbiologie, Biochemie, Paläontologie, Physik und Kosmologie in den Naturwissenschaft angewandt werden, sowie in der Psychologie, Ethik, Politik, Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaften und im Bereich der Kunst.» Aber diese Offenlegung der fundamentalistischen Absichten des „intelligent Design“ in der Öffentlichkeit hat auch eine Kehrseite der Medaille: seine Hauptverbreiter konnten die Existenz dieses Dokumentes nicht mehr leugnen. Heute verbreiten sie eine etwas entschärftere Version.
Aber dieses Projekt ist vor allem in der muslimischen Welt auf großen Widerhall gestoßen. Von der Türkei aus hat Harun Yahia, sein richtiger Name ist Adnan Oktar, an der Spitze einer mafiösen Lobby alles daran gesetzt, seine Propaganda kostenlos und massiv unter Lehrern und Leitern von Ausbildungseinrichtungen, Schulen usw. zu verbreiten. Er hat Schulen auf der ganzen Welt mit seinem "Atlas der Schöpfung" überflutet, der auch im Internet verbreitet wird. So wurden mehr als 200 Dokumentarfilme vertrieben und 300 Werke in mehr als 60 Sprachen übersetzt. Die Versuche, die Geschichte der Entwicklung der Arten und der Lebewesen zu verfälschen, sind wie all die von den herrschenden Klassen aufgetischten Lügen bezüglich der Geschichte der Menschheit, Teil der gleichen Manipulierungsversuche, um die Bewusstseinsentwicklung zu bremsen (insbesondere die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse), sie daran zu hindern, sich von ihren Fesseln zu befreien. Und der Obskurantismus schlachtet so die Fäulnis der kapitalistischen Gesellschaft und die ideologische Maske, die sie über die Wirklichkeit der Welt legen, aus, um die Ausbeutungsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Die religiöse Herangehensweise ist nur eine dieser Masken.
Religiöser Glauben und Wissenschaft sowie wissenschaftliche Methoden stehen sich völlig gegenüber. Aus der Sicht der Religion und der theologischen Tradition sind Wissen und Erkenntnis letztendlich nur das Resultat einer göttlichen Schöpfung. Den normal Sterblichen sind sie nicht zugänglich. Die materialistische Vorgehensweise in der Wissenschaft: Tatsachen und die Untersuchung von unterschiedlichen oder ähnlichen Reaktionen je nach dem Umfeld sind die Grundlagen jeden wissenschaftlichen Experiments. Sie ist weder eine "Philosophie" noch eine "Ideologie", sondern die notwendige Vorbedingung für eine bewusste und historische Herangehensweise der Untersuchung der Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umgebung, auch indem man das eigene Verhalten als Untersuchungsgegenstand nimmt. Dies ist eine Untersuchung der Grenzen der Erkenntnis, für die keine Grenzen gesetzt werden können. Die Entwicklung der Wissenschaft ist aufs engste verbunden mit der Entwicklung des Gewissens der Menschheit. Die Wissenschaft hat eine Geschichte, die weder linear noch mechanisch mit dem technischen Fortschritt verbunden ist oder mit den technologischen Fortschritten (was jeden "Positivismus", jeden Gedanken eines unaufhörlichen "Fortschritts" ausschließt). Sie ist eng mit den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen verflochten, durch welche sie bestimmt werden. Der Glauben stützt sich auf die Angst vor dem Unbekannten. Im Gegenteil zu den religiösen Vorurteilen (die vor allem eine Ideologie im Dienste der herrschenden Ordnung, der bestehenden Macht sind, welche ihren Fortbestand durch den Konservatismus und die Verteidigung des Status quo sicherstellen) ist die Entwicklung des Bewusstseins die treibende Kraft bei der Entwicklung der Wissenschaft. So fürchtet die wissenschaftliche Methode nicht die Infragestellung ihrer Hypothesen, die Umwälzung ihrer Errungenschaften; aus diesem Grunde hat sie sich weiter entfaltet, deshalb ist sie dynamisch. Wie Patrick Tort (L'effet Darwin, S. 170) schrieb: "Die Wissenschaft erfindet, schreitet voran und wandelt sich. Die Ideologie fängt und saugt alles auf, passt sich an.“
Und wie er in einem Artikel in "Le Monde de l'Education" im Juni 2005 schrieb: "Der "Dialog" zwischen Wissenschaft und Religion ist eine von der Politik erfundene Fiktion. Man kann nämlich zwischen einer Forschung, die der objektiven Erkenntnis immanent ist und Anrufung von etwas Übernatürlichem, die für die Haltung des Gläubigen typisch ist, nichts Gemeinsames aushandeln noch irgendetwas austauschen. Wenn man nur einmal zugibt, dass ein übernatürliches Element zur wissenschaftlichen Erklärung eines Phänomens beitragen könnte, verzichtete man gleichzeitig auf die methodologische Kohärenz der ganzen Wissenschaft. Die wissenschaftliche Methode kann nicht verhandelt werden. Es braucht die List des individualistischen Liberalismus (…), um davon zu überzeugen, dass man eine Wahl treffen kann zwischen einer wissenschaftlichen Erklärung und der theoretischen Interpretation, oder dass diese beiden kombiniert werden könnten, als ob die Anerkennung des Gesetzes des freien Falls eine Angelegenheit persönlicher Überzeugung, der elektiven Demokratie und der "Freiheit" wäre."
"Politik" hat dieser Ansicht nach nur einen Sinn als eine Politik der herrschenden Klasse. Deshalb wurde und wird die wissenschaftliche Herangehensweise eines Kopernikus, Marx, Engels oder Darwin so verbissen von den Verteidigern der "ewig" bestehenden Gesellschaftsordnung des Kapitalismus bekämpft oder entstellt.
W 24.11.09
Was war das für eine Euphorie in den Tagen und Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer! Ein ganzes Volk, Bourgeois und Arbeiter, Ost- und Westdeutsche, schwebte auf Wolke 7. „Wahnsinn“ war das am häufigsten benutzte Wort für die sich überschlagenden Geschehnisse damals. Und „freudetrunken“ der Begriff, der den Geisteszustand der Bevölkerung in Ost und West in jenen Tagen vielleicht am besten umschreibt. Die Erwartungen, die sich an der am 3. Oktober 1990 vollzogenen Wiedervereinigung knüpften, waren riesig. Die Arbeiter und Arbeiterinnen im Osten Deutschlands, also in der ehemaligen DDR, erhofften sich von ihr ein Leben in Freiheit und Wohlstand. Die Kapitalisten im Westen Deutschlands witterten ihrerseits große Geschäfte, riesige Märkte, die ihnen nun wie reife Früchte in den Schoß fielen. Die politische Klasse trug ihr Teil dazu bei, diesen Hoffnungen Auftrieb zu verleihen. Erinnert sei an die mittlerweile zum geflügelten Wort gewordene Formulierung von den „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler Kohl der ostdeutschen Arbeiterklasse versprach.
In diesem Jahr jährt sich der „Tag der deutschen Einheit“ nun zum zwanzigsten Mal. Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Was ist aus all den Hoffnungen und Erwartungen geworden? Sind sie erfüllt worden, oder sind sie in der rauen Realität des Kapitalismus westlicher Prägung zerstoben? Was ist aus den „blühenden Landschaften“ geworden? Hat Ostdeutschland Anschluss gefunden an das Niveau der westdeutschen Gesellschaft, oder hinkt es nicht vielmehr noch immer hoffnungslos hinterher? Kurz: ist die deutsche Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte, ein Impuls, der einen Aufbruch der deutschen Bourgeoisie zu neuen Ufern bewirkt hat? Oder ist sie nicht eher eine Demonstration dafür, dass im Zeitalter des Niedergangs des Weltkapitalismus die bloße territoriale Erweiterung, wie sie sich durch die Vereinigung beider deutscher Staaten ergeben hat, nicht nur zu einem Machtzuwachs der deutschen Bourgeoisie geführt hat, sondern auch ein Kraftakt war (und ist), der die wirtschaftliche und finanzielle Substanz der Bundesrepublik erheblich beeinträchtigt, wenn nicht sogar bedroht.
Als am 1. Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BRD und der DDR in Kraft trat, geschah dies vor dem Hintergrund einer nicht abreißenden Auswanderungswelle von DDR-Bürgern. Täglich strömten Tausende und Abertausende von Menschen über die nun nicht mehr existente Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, um ihr Glück im „goldenen Westen“ zu suchen. Zum Teil verließen sie ihre Heimat Hals über Kopf, alles, in einigen wenigen Fällen sogar die eigenen Kinder, hinter sich lassend, so als befürchteten sie, der Traum von der „grenzenlosen Freiheit“ könne bald wieder zerplatzen.
Die herrschende Klasse Westdeutschlands stand also unter einem mächtigen Zugzwang, wollte sie dem Exodus aus Ostdeutschland Einhalt gebieten. Außerdem ging es darum, die Gunst der Stunde auszunutzen, um die deutsche „Wiedervereinigung“ zu einer nicht mehr rückgängig zu machenden Tatsache werden zu lassen. Ihre Lösung lautete: Angleichung der Lebensumstände Ostdeutschlands an den Westen – und zwar so schnell wie möglich und koste, was es wolle. So kamen über Nacht mehr als 17 Millionen DDR-Bürger (noch bestand die DDR) nicht nur in den Genuss westdeutscher wohlfahrtsstaatlicher Leistungen (Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung), sie wurden auch, was ihre Zahlungsmittel anging, zu Bundesbürgern: Ihre Löhne und Gehälter bzw. Renten wurden fortan in D-Mark ausgezahlt, und ihre Ersparnisse zum Teil 1:1, zum Teil 1:2 in selbige umgewandelt, was angesichts des krassen Verfalls der DDR-Währung jeder finanzwirtschaftlichen Logik zuwider sprach, doch politisch gewollt war.
Noch viel gravierender waren die Folgen dieser mit heißer Nadel gestrickten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion jedoch für die ostdeutsche Wirtschaft. Mit der Umwandlung der Löhne in D-Mark verteuerten sich von einem Tag auf den anderen die DDR-Produkte um ein Mehrfaches ihres ursprünglichen Preises. Nichts machte die hoffnungslose Unterlegenheit der DDR-Erzeugnisse deutlicher als die D-Mark in den Geldbeuteln der ostdeutschen Bevölkerung: Waren aus DDR-Produktion, für deren Erwerb die DDR-Bevölkerung gestern noch Schlange gestanden hatte, erwiesen sich nun als völlig überteuerte Ladenhüter. Konsumartikel westlicher Provenienz, vom Auto bis zum Waschmittel, vom Kaffee bis zur Hifi-Anlage, überschwemmten die (bis dato gähnend leeren) Regale der DDR-Warenhäuser und fanden reißenden Absatz in der nunmehr „solventen“ Bevölkerung Ostdeutschlands. Mit dem Zusammenbruch der ostdeutschen Konsumgüterindustrie brach auch die Grundlage der Produktionsgüterindustrie der DDR auseinander. Die Chemie- und Maschinenbaukombinate waren gleich in doppelter Weise gehandicapt: Neben dem Binnenmarkt brachen ihnen auch die traditionellen osteuropäischen Märkte der ehemaligen COMECON-Länder weg. Die Folge: „Mit Einführung der DM sank das Bruttoinlandsprodukt der Ex-DDR im zweiten Halbjahr 1990 real um 27,5 Prozent und im ersten Halbjahr 1991 nochmals über 25 Prozent.“[1]
Diese Entwicklung war durchaus absehbar. Die zahllosen Kontakte im Rahmen der deutsch-deutschen Handelsbeziehungen hatten der herrschenden Klasse der Bundesrepublik einen relativ tiefen Einblick in den hoffnungslosen Zustand der DDR-Ökonomie verschafft. Seit Anfang der 80er Jahre schwebte das Damoklesschwert des Staatsbankrotts über dem DDR-Regime, der zuletzt allein durch die Milliardenkredite der Bundesrepublik abgewendet werden konnte.[2] Die Wirtschaft befand sich größtenteils in einem völlig desolaten Zustand. Versorgungsengpässe und Mangelerscheinungen allerorten, überholte Technologien, marode Industrieanlagen, ruinierte Infrastrukturen und eine verwüstete Umwelt – dies alles waren trotz aller Geheimniskrämerei der DDR-Behörden schon lange unübersehbare Anzeichen dafür, dass sich die DDR-Wirtschaft spätestens seit den 70er Jahren im freien Fall befand.
Die Währungsunion vom 1. Juni 1990 war somit der Versuch, eine Wirtschaft, deren industrielle Substanz marode geworden war[3], ohne jeglichen Übergang in die „freie Marktwirtschaft“ der westlichen Industrienationen zu katapultieren. Dieser Versuch musste scheitern, und er sollte scheitern.
Waren die Konstrukteure der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – neben dem Bestreben, die imperialistischen Rivalen so schnell wie möglich vor vollendete Tatsachen zu stellen - noch primär von der Sorge getragen, nur durch eine schnelle Angleichung der Lebensumstände in Ost und West eine weitere Entvölkerung der DDR zu verhindern, so standen bei der Treuhand-Anstalt andere Interessen im Vordergrund.
Die Treuhand-Anstalt, ursprünglich auf Initiative von DDR-Bürgerrechtlern per Beschluss vom DDR-Ministerrat im März 1990 gegründet, entwickelte sich spätestens nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 schnell zur größten Staatsholding der Welt. In ihrer kurzen Existenz (1994 wurde sie aufgelöst) übernahm sie die Geschicke von 8.000 sog. „Volkseigenen Betrieben“ (VEB) und vielen tausend Immobilien sowie Betriebsteilen. Ihre zentrale Aufgabe bestand darin, die „früheren volkseigenen Betriebe wettbewerblich zu strukturieren und zu privatisieren“[4]. Dabei sollte sie sich selbst über die Verkäufe dieser VEB’s finanzieren. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass sich die herrschende Klasse Westdeutschlands die Beute, die ihr da wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen war, prächtiger ausgemalt hatte, als sie in Wahrheit war. Schnell musste man anfängliche Schätzungen, die von einem Verkaufswert der DDR-Unternehmen in Höhe von 800 bis 1.000 Mrd. D-Mark ausgingen, nach unten revidieren. Im Treuhandbericht des Bundesfinanzministeriums vom 31. Oktober 1991 war nur noch von rund 200 Mrd. DM die Rede, die man aus der Liquidation der DDR-Wirtschaft einzunehmen gedenke. Aber auch dies waren Zahlen aus dem Wolkenkuckucksheim. Als die Treuhand 1994 aufgelöst wurde, hinterließ sie offiziell ein Defizit von 256,4 Mrd. DM. Und es sollte nicht die einzige Hinterlassenschaft der Treuhand sein...
Anfangs beherrschte ein interner Richtungsstreit den Kurs der Treuhand. Personifiziert wurde dieser Konflikt auf der einen Seite von Detlev Karsten Rohwedder – klassischer Vertreter des sozialdemokratisch geprägten Staatsinterventionismus, legendärer Sanierer des Stahlwerks Hoesch und seit August 1990 Vorsitzender der Treuhand-Anstalt – und auf der anderen Seite von Birgit Breuel – Verfechterin des Neoliberalismus, ehemalige CDU-Wirtschafts- und Finanzministerin in Niedersachsen und nun Stellvertreterin Rohwedders im Treuhand-Vorstand. Der eine legte das Hauptgewicht auf die staatliche Sanierung der Ostbetriebe vor ihrer Privatisierung; die andere drängte auf die schnelle Privatisierung vor der Sanierung. Neben den vielen ungeklärten Eigentumsfragen sollte vor allem diese Auseinandersetzung die Arbeit der Treuhand in den ersten Monaten lähmen. Erst der Tod Rohwedders[5] löste diesen Stau auf.
Mit Breuel als neue Treuhand-Vorsitzende setzte sich letztendlich die Mehrheitsfraktion innerhalb der deutschen Bourgeoisie durch. Nun begann der Ausverkauf der soeben verblichenen DDR. Privatisierungen wie am Fließband: „Bis Ende März 1991 geschah das in rund 1.200 Fällen; bis Ende Mai registrierte man 1.900 Privatisierungen, und dann folgten etwa 300 bis 400 Privatisierungen im Monat; im Oktober 1991 durchschnittlich 24 pro Tag!“[6] Am Ende waren es über 15.000 Betriebe, Betriebsteile und Immobilien, die verramscht wurden. Oberste Priorität bei der Veräußerung des DDR-Nachlasses war nicht, wie die Treuhand vorgab, der Erhalt der Arbeitsplätze oder etwa der industriellen Struktur Ostdeutschlands, sondern das Bestreben, eben jene „industriellen Kerne“ in Ostdeutschland zu verhindern. Das westdeutsche Kapital hatte nicht die Absicht, sich seine eigene Konkurrenz heranzuzüchten. Was es benötigte, waren nicht neue Produzenten, die die allseitige Überproduktion nur noch weiter verschärft hätten, sondern neue Märkte. So tat denn die Treuhand alles, Versuche einer eigenständigen industriellen Entwicklung in Ostdeutschland zu torpedieren. Verhandlungen mit Investoren wurden solange hinausgezögert, bis diese absprangen. Betriebe wurden gegen den Willen der Belegschaften zerstückelt und ausgeschlachtet, wobei die Rosinen verhökert, der Rest hingegen in sog. „Beschäftigungsgesellschaften“ umgewandelt wurde. Anderen Betrieben wiederum wurde buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen, indem das Betriebsgelände an die Alteigentümer ausgehändigt wurde. Erfolg versprechende „Management-Buy-Out“-Konzepte (also der Erwerb des eigenen Betriebes durch leitende Angestellte und Vorstand) wurden von der Treuhand unter fadenscheinigen Gründen abgelehnt. Am Ende waren 85 Prozent des von der Treuhand privatisierten DDR-Vermögens in westdeutscher Hand, nur zehn Prozent in ausländischem Besitz und ganze fünf Prozent im Besitz ostdeutscher Eigentümer.
Als die Treuhand am 31. Dezember 1994 aufgelöst wurde, hinterließ sie nicht nur Schulden in Milliardenhöhe (s.o.), sondern auch ein Land, das seiner industriellen Struktur beraubt war. Die „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler Kohl auf seiner Wahlkampftour durch Ostdeutschland im Sommer 1990 versprochen hatte, sind nie über kleine Oasen (Jena, Dresden, Leipzig) hinausgewachsen, umgeben von einer einzigen industriellen Wüstung. Die Autoindustrie in Zwickau? Von der Bildfläche verschwunden. Der traditionsreiche Maschinenbau Mitteldeutschlands? Ersatzlos „abgewickelt“. Die Elektroindustrie Ostberlins? Gibt es nicht mehr. Bereits im zweiten Halbjahr 1991 erwirtschaftete die ostdeutsche Industrie nur noch ein Viertel des Bruttoinlandproduktes vom 1. Halbjahr 1990. Mit anderen Worten: Was sich zwischen 1990 und 1994 zwischen Rostock und Leipzig, zwischen Erfurt und Frankfurt/Oder ereignet hatte, war nichts Geringeres als eine der massivsten Wellen der De-Industrialisierung in der Geschichte des modernen Kapitalismus.
Es ist keine Überraschung, dass die Treuhand-Anstalt zu einer der meist verhassten Institutionen in Ostdeutschland avancierte. In der Tat ist die Treuhand eines der Synonyme schlechthin für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung geworden – für eine Wiedervereinigung, die nicht auf Augenhöhe stattfand, sondern eher die Form einer Annexion annahm. Mit der Arroganz eines Siegers und im Stile eines Kolonialherrn fiel das westdeutsche Kapital, in seinem Schlepptau Heerscharen von Glücksrittern, Hochstaplern und Abenteurern, über Ostdeutschland her, machte alles platt, was noch nicht kaputt war, und sog alles aus diesem Land, was sich aus dessen Konkursmasse noch verwerten ließ. Übrig blieb ein Torso, der auf unabsehbare Zeit am Tropf westdeutscher Transferleistungen hängen wird.
(Fortsetzung folgt – Nächster Teil: Die Kosten der Wiedervereinigung)
[1] Martin Flug, „Treuhand-Poker. Die Mechanismen des Ausverkaufs“, Ch.Links-Verlag, Berlin, S. 54.
[2] "... Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt ...: von 2 Mrd. VM 1970 auf 49 Mrd. VM 1989." [VM: ValutaMark = DM West] (aus dem sog. „Schürer-Papier“ vom 18.10.89, benannt nach der Analyse des Chefs der staatlichen Planungskommission der DDR, Gerhard Schürer)
[3] Darüber können auch die internationalen Statistiken nicht hinwegtäuschen, die die DDR noch in den 80er Jahren als zehntstärkste (!) Industrienation aufführten.
[4] aus: Artikel 25 des Einigungsvertrages
[5] Rohwedder wurde am 1. April 1991 unter mysteriösen Umständen ermordet. Trotz eines angeblichen Bekennerschreibens bestehen erhebliche Zweifel an der offiziellen Version, die von der RAF als Täter ausgeht. Neben vielen anderen Ungereimtheiten entsprach auch das Tatmuster (Rohwedder wurde aus größerer Entfernung von einem Scharfschützen mit einem einzigen Schuss getötet) nicht dem üblichen Vorgehen der RAF-Terroristen. Die Täter sind bis heute nicht gefasst.
[6] Martin Flug: „Treuhand-Poker“, S. 44.
Der Artikel wurde erstmals in der Internationalen Revue Nr. 24 veröffentlicht.
In der Internationalen Revue Nr. 19 haben wir aufgezeigt, dass die Arbeiterklasse 1919 nach dem Scheitern des Januaraufstands in einer Reihe von zerstreuten Kämpfen schwerwiegende Niederlagen hinnehmen musste. Mit der blutrünstigsten Gewalt schlug die herrschende Klasse in Deutschland gegen die Arbeiter zu.
1919 war der Spitze der revolutionären Welle überschritten. Und nachdem die Arbeiterklasse in Russland gegenüber dem Ansturm der konterrevolutionären Truppen, die die demokratischen Staaten gegen Russland organisiert hatten, isoliert blieb, wollte in Deutschland die Bourgeoisie die Arbeiterklasse, die durch die 1919 erlittenen Niederlagen angeschlagen war, weiter angreifen und vollständig auf den Boden werfen.
Nach dem Desaster des Krieges, als die Wirtschaft dabei war zusammenzubrechen, wollte die herrschende Klasse die Situation ausnutzen, um der Arbeiterklasse die ganzen Kosten des Krieges aufzubürden. In Deutschland waren zwischen 1913 und 1920 die Ernten in der Landwirtschaft und die industrielle Produktion um mehr als die Hälfte gefallen. Von der vorhandenen Produktion sollte noch ein Drittel an die Siegerländer abgeführt werden. In vielen Wirtschaftszweigen brach die Produktion weiter zusammen. Unterdessen schossen die Preise rasant in die Höhe; betrugen die Lebenshaltungskosten 1913 100 Einheiten, waren sie 1920 auf 1.100 Einheiten angestiegen. Nach dem Hungern im Krieg stand jetzt wieder der Hunger im ‘Frieden’ auf dem Programm. Die Unterernährung dehnte sich weiter aus. Chaos und Anarchie der kapitalistischen Produktion, Verarmung und Hunger in den Reihen der Arbeiter herrschten überall.
Gleichzeitig wollten die Siegermächte des Westens die deutsche Bourgeoisie als Verlierer des Krieges zur Kasse bitten. Zu dem Zeitpunkt bestanden jedoch große Interessensgegensätze zwischen den Siegermächten.
Während die USA daran interessiert waren, dass Deutschland als Gegenpol gegen England wirken könnte und sich deshalb gegen eine Zerschlagung Deutschlands stellten, wollte Frankreich die möglichst nachhaltigste militärische, wirtschaftliche und territoriale Schwächung und gar eine Zerstückelung Deutschlands. Im Versailler Vertrag (28. Juni 1919) wurde deshalb beschlossen, dass in Deutschland das Militär bis zum 10. April 1920 von 400.000 auf 200.000 Mann, bis 10. Juli auf 100.000 Mann reduziert werden solle. Von 24.000 Offizieren würden nur 4.000 in die neue republikanische Armee, die Reichswehr, übernommen werden. Die Reichswehr fasste diesen Beschluss als eine lebensgefährliche Bedrohung für sie auf und wollte sich mit allen Mitteln dagegen zur Wehr setzen. Unter allen bürgerlichen Parteien – von SPD über Zentrum bis zu den Rechten– herrschte Einigkeit, dass der Versailler Vertrag wegen nationaler Interessen verworfen werden sollte. Nur aufgrund des von den Siegermächten ausgeübten Zwangs beugten sie sich. Gleichzeitig benutzte die Bourgeoisie den Versailler Vertrag dazu, die schon im Krieg vorhandene Spaltung in der internationalen Arbeiterklasse noch weiter zu vertiefen: in Arbeiter der Siegermächte und der Verliererstaaten.
Vor allem große Teile des Militärs fühlten sich durch den Versailler Vertrag bedroht und wollten sofort ihren Widerstand organisieren. Erneut strebten sie einen Krieg mit den Siegermächten an. Dazu musste aber der Arbeiterklasse eine weitere entscheidende Niederlagen schnell beifügt werden.
Aber das Großkapital wollte die Militärs nicht an die Macht kommen lassen. Die SPD hatte bislang an der Spitze des Staates ganze Arbeit geleistet. Seit 1914 hatte sie die Arbeiterklasse gefesselt, in den revolutionären Kämpfen im Winter 1918/1919 die Sabotage und Repression organisiert. Das Kapital brauchte nicht die Militärs, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten, es hatte die Diktatur der Weimarer Republik und setzte weiter auf sie. So schossen von der SPD befehligte Polizeitruppen am 13. Januar 1920 auf eine Massendemo vor dem Reichstag. 42 Tote blieben auf der Strecke. In einer Streikwelle im Ruhrgebiet Ende Februar wurde von der ‘demokratischen Regierung’ die Todesstrafe gegen revolutionäre Arbeiter angedroht.
Als im Februar Teile des Militärs Putschbestrebungen in Gang setzten, wurden diese deshalb nur von wenigen Kapitalfraktionen gestützt. Vor allem der agrarische Osten bildete ihren Stützpunkt, da er besonders stark an einer Rückeroberung durch den Krieg verloren gegangener Gebiete interessiert war.
Dass ein Putschversuch in Vorbereitung war, pfiffen die Spatzen von den Dächern. Aber die SPD-geführte Regierung unternahm zunächst nichts gegen diese Bestrebungen. Am 13. März zog eine ‘Marine-Brigade’ unter dem Kommando des Generals von Lüttwitz in Berlin ein, umstellte das Regierungsgebäude und rief den Sturz der Ebert-Regierung aus. Nachdem Ebert die Generale Seeckt und Schleicher um sich versammelte, um mit ihnen die Niederschlagung des rechtsradikalen Putsches durch die SPD-geführte Regierung zu besprechen, weigerten sich die Militärs, denn wie der oberste Militärchef sagte: ‘Die Reichswehr will keinen ‘Bruderkrieg’ Reichswehr gegen Reichswehr zulassen’.
Die Regierung floh zunächst nach Dresden und dann nach Stuttgart. Zwar erklärte Kapp die bürgerliche Regierung für abgesetzt, aber sie wurde nicht einmal verhaftet. Vor ihrer Flucht nach Stuttgart konnte die Regierung noch einen Aufruf zum Generalstreik erlassen, der ebenfalls von den Gewerkschaften unterstützt wurde, und zeigte damit erneut, wie heimtückisch dieser linke Flügel des Kapitals gegen die Arbeiter vorzugehen verstand.
”Kämpft mit jedem Mittel um die Erhaltung der Republik. Lasst allen Zwist beiseite! Es gibt nur ein Mittel gegen die Diktatur Wilhelm II.:
- Lahmlegung jeden Wirtschaftslebens
- Keine Hand darf sich nicht mehr rühren
- Kein Proletarier darf der Militärdiktatur helfen
- Generalstreik auf der ganzen Linie
- Proletarier vereinigt Euch. Nieder mit der Gegenrevolution.
Die sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung: Ebert, Bauer, Noske,
Der Parteivorstand der SPD– O. Wels”
Gewerkschaften und SPD traten sofort für den Schutz der bürgerlichen Republik ein – auch wenn sie dabei eine ‘arbeiterfreundliche Sprache’ benutzten.[i] [10] Kapp erklärte die Nationalversammlung für aufgelöst, kündigte Neuwahlen an und drohte jedem streikenden Arbeiter mit der Todesstrafe.
Die Empörung unter den Arbeitern war riesig. Ihnen war sofort klar, dass es sich um einen Angriff gegen die Arbeiterklasse handelte. Überall entflammte heftigster Widerstand. Natürlich ging es nicht darum, die für abgesetzt erklärte, verhasste Scheidemann-Regierung zu verteidigen, die vorher so blutig gegen die Arbeiterklasse gewütet hatte.
Von der Waterkant über Ostpreußen, Mitteldeutschland, Berlin, Baden-Württemberg, Bayern bis zum Ruhrgebiet, keine Großstadt, in der es nicht Demonstrationen gab, kein Industriezentrum, wo nicht die Arbeiter in den Streik traten und versuchten, Polizeistationen zu stürmen und sich zu bewaffnen. Keine Fabrik, wo es keine Vollversammlung gab, um über den Widerstand zu entscheiden. In den meisten Großstädten fingen die putschistischen Truppen oder die Reichswehr an, auf demonstrierende Arbeiter zu schießen. Dutzende von Arbeitern fielen am 13. und 14. März unter den Schüssen der Putschisten.
In den Industriezentren wurden Aktionsausschüsse, Vollzugsräte, Arbeiterräte gebildet. Die Arbeitermassen strömten auf die Straße.
Seit dem November 1918 war die Mobilisierung der Arbeiter noch nie so stark gewesen.
Überall bäumte sich die heftigste Wut der Arbeiter gegen die rechten Militärs gleichzeitig auf.
Am 13. März, dem Tag des Einmarsches der Kapp-Truppen in Berlin, reagierte die KPD-Zentrale in Berlin mit Abwarten. In einer ersten Stellungnahme riet die KPD-Zentrale noch vom Generalstreik ab, ”Das Proletariat wird keinen Finger rühren für die demokratische Republik ... Die Arbeiterklasse, die gestern noch in Banden geschlagen war von den Ebert-Noske, und waffenlos, .. ist in diesem Augenblick nicht aktionsfähig. Die Arbeiterklasse wird den Kampf gegen die Militärdiktatur aufnehmen in dem Augenblick und mit den Mitteln, die ihr günstig erscheinen. Dieser Augenblick ist noch nicht da ...” Doch die KPD-Zentrale täuschte sich. Die Arbeiter selber wollten nicht abwarten, sondern innerhalb von wenigen Tagen reihten sich mehr Arbeiter in diesen Abwehrkampf ein, als sich seit Beginn der revolutionären Welle in den vielen zerstreuten Bewegungen zuvor mobilisiert hatten. Überall hieß die Parole ‘Bewaffnung der Arbeiter’, ‘Niederschlagung der Putschisten’.
Während 1919 in ganz Deutschland zerstreut gekämpft worden war, hatte der Putsch an vielen Orten die Arbeiterklasse gleichzeitig mobilisiert. Dennoch kam es abgesehen vom Ruhrgebiet kaum zu Kontaktaufnahmen der Arbeiter in den verschiedenen Städten untereinander. Landesweit erhob sich der Widerstand spontan, ohne eine ihn zentralisierende Bewegung.
Das Ruhrgebiet, die größte Konzentration der Arbeiterklasse, war zentrale Zielscheibe der Kappisten gewesen. So wurde das Ruhrgebiet zum Zentrum des Abwehrkampfes. Von Münster aus wollten die Kappisten die Arbeiter im Ruhrgebiet einkesseln. Nur die Arbeiter im Ruhrgebiet bündelten ihre Kämpfe in mehreren Städten und bildeten eine zentrale Streikleitung. Überall wurden Aktionsausschüsse gebildet. Es wurden systematisch bewaffnete Arbeiterverbände aufgestellt. Man spricht von 80.000 bewaffneten Arbeitern im gesamten Ruhrgebiet. Dies war die größte militärische Mobilisierung in der Geschichte der Arbeiterbewegung neben dem Abwehrkampf in Russland.
Obwohl der Widerstand der Arbeiter auf militärischer Ebene nicht zentral geleitet wurde, gelang es den bewaffneten Arbeitern, den Vormarsch der Kapp-Putschisten zu stoppen. In einer Stadt nach der anderen konnten die Putschisten verjagt werden. Diese Erfolge hatten die Arbeiter 1919 in den verschiedenen Erhebungen nicht verbuchen können. Am 20. März musste sich das Militär gar aus dem Ruhrgebiet ganz zurückziehen. Am 17. März war Kapp schon zurückgetreten, sein Putsch hatte keine 100 Stunden gedauert. Der Widerstand der Arbeiterklasse hatte ihn zu Fall gebracht.
Ähnlich der Entwicklung ein Jahr zuvor hatten sich die stärksten Widerstandszentren in Sachsen, Hamburg, Frankfurt und München gebildet.[ii] [10] Die machtvollste Reaktion der Arbeiter kam jedoch im Ruhrgebiet zustande.
Während in den anderen Orten Deutschlands die Bewegung nach dem Rücktritt Kapps und dem Scheitern des Putsches sofort wieder stark abflachte, war im Ruhrgebiet mit dem Rücktritt des Putschisten die Bewegung nicht zu stoppen. Viele Arbeiter glaubten, dass man jetzt weitergehen müsse.
Während sich spontan und in Windeseile eine große Abwehrfront der Arbeiter gegen die blutrünstigen Putschisten erhoben hatte, war klar, dass die Frage des Sturzes der Bourgeoisie keineswegs auf der Tagesordnung stand, sondern es ging in den Augen der meisten Arbeiter nur um ein Zurückschlagen eines bewaffneten Angriffs.
Und welcher Schritt der erfolgreichen Abwehr des Putschistenangriffes hätte folgen sollen, war damals unklar.
Abgesehen vom Ruhrgebiet erhoben die Arbeiter in anderen Regionen kaum Forderungen, die der Bewegung der Klasse eine größere Dimension hätte geben können. Solange sich der Druck aus den Betrieben gegen den Putsch richtete, gab es eine einheitliche Linie unter den Arbeitern, aber sobald die putschistischen Truppen niedergeworfen wurden, trat die Bewegung auf der Stelle und suchte ein klares Ziel. Einen Teil des Militärs zurückschlagen, ihn in einer Gegend zum Rückzug zu zwingen, heißt noch nicht, die Kapitalistenklasse gestürzt zu haben,
An verschiedenen Orten gab es Versuche von anarcho-syndikalistisch-rätistischen Kräften, erste Maßnahmen in Richtung Sozialisierung der Produktion in Gang zu setzen, weil man glaubte, nachdem man in einer Stadt die rechtsradikalen Kräfte vertrieben hatte, die Tür zum Sozialismus öffnen zu können. So wurden vielerorts durch die Arbeiter eine Reihe von ‘Kommissionen’ gebildet, die dem bürgerlichen Staat Anweisungen geben wollten, was zu tun sei. Erste Maßnahmen der Arbeiter nach einer erfolgreichen ‘Schlacht’ auf dem Weg zum Sozialismus, erste winzige Ansätze einer Doppelmacht – als solche wurden sie dargestellt. Aber diese Auffassungen sind ein Zeichen der Ungeduld, die in Wirklichkeit von der dringendsten Aufgabe ablenkt. Solche Maßnahmen ins Auge zu fassen, nachdem man nur LOKAL ein günstiges Kräfteverhältnis aufgebaut hat, sind eine große Gefahr für die Arbeiterklasse, weil sich die Machtfrage zunächst für ein ganzes Land und in Wirklichkeit nur international stellt. Deshalb müssen solche Zeichen kleinbürgerlicher Ungeduld und des ‘sofort alles haben wollen’ bekämpft werden.
Während die Arbeiter wegen der Bedrohung durch die Militärs sich sofort militärisch mobilisierten, fehlte jedoch der unabdingbare Druck aus den Fabriken. Ohne den entsprechenden Impuls aus den Betrieben, ohne die Masseninitiative, die auf die Straße drängt und sich in Arbeiterversammlungen äußert, wo gemeinsam die Lage diskutiert wird und Entscheidungen getroffen werden, kann die Bewegung nicht wirklich von der Stelle kommen. Dazu ist aber die größtmögliche Eigeninitiative, das Bestreben nach der Ausdehnung und dem Zusammenschluss der Bewegung erforderlich, was wiederum mit einer tiefgreifenden Bewusstseinsentwicklung verbunden ist, wo die Feinde des Proletariats entlarvt werden.
Deswegen reicht nicht einfach die Bewaffnung und die entschlossene militärische Abwehrschlacht – die Arbeiterklasse selber muss ihr wichtigstes Geschütz auffahren: ihr Bewusstsein über ihre eigenen Rolle, ihre Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, vorantreiben. Dazu stehen die Arbeiterräte an zentraler Stelle. Die Arbeiterräte und Aktionsausschüsse, die in den Abwehrkämpfen wieder spontan entstanden waren, waren jedoch noch zu schwach entwickelt, um der Bewegung als Sammelpunkt und als Speerspitze zu dienen.
Hinzu kam, dass die SPD von Anfang an alles unternahm, um gerade ihren Sabotagehebel gegen die Räte anzusetzen. Während die KPD den Schwerpunkt ihrer Intervention auf die Neuwahl der Arbeiterräte setzte, die Initiative in den Räten selber verstärken wollte, blockierte die SPD diese Versuche ab.
Im Ruhrgebiet saßen wiederum viele SPD-Vertreter in den Aktionsausschüssen und in der zentralen Streikleitung. So versuchte die SPD erneut wie zwischen November 1918 und Ende 1919 die Bewegung sowohl von Innen wie auch von Außen her zu sabotieren, um, sobald die Arbeiter entscheidend geschwächt waren, mit der Repression gegen sie vorzugehen.
Denn nachdem am 17. März Kapp zurückgetreten war und seine Truppen aus dem Ruhrgebiet am 20. März abzogen, und nachdem die ‘geflüchtete’ SPD-geführte Regierung um Ebert-Bauer wieder die Geschäfte übernommen hatte, konnte die Regierung und mit ihr das Militär ihre Kräfte neu gruppieren.
Wieder einmal kamen SPD und Gewerkschaften dem Kapital zu Hilfe. Sie verlangten das sofortige Ende der Kämpfe. Die Regierung stellte ein Ultimatum. Mit großer demagogischer Kunst wollten sie die Arbeiter zum Einstellen der Kämpfe bewegen. Ebert und Scheidemann riefen sofort zur Wiederaufnahme der Arbeit auf: ”Kapp und Lüttwitz sind erledigt, aber junkerliche und syndikalistische Empörung bedrohen noch immer den deutschen Volksstaat. Ihnen gilt der weitere Kampf, bis auch sie sich bedingungslos unterwerfen. Für dieses große Ziel ist die republikanische Front noch inniger und fester zu schließen. Der Generalstreik trifft bei längerer Dauer nicht nur die Hochverräter, sondern auch unsere eigene Front. Wir brauchen Kohlen und Brot zur Fortführung des Kampfes gegen die alten Mächte, deshalb Abbruch des Volksstreiks, dafür aber stets Alarmbereitschaft.”
Gleichzeitig bot die SPD politische Scheinkonzessionen an, mit deren Hilfe sie der Bewegung die Spitze brechen wollte. So versprach sie ”mehr Demokratie” in den Betrieben, einen ”entscheidenden Einfluss auf die Neuregelung der wirtschaftlichen und sozialen Gesetzgebung” und die Säuberung der Verwaltung von putschfreundlich gesinnten Kräften. Vor allem die Gewerkschaften legten sich ins Zeug, damit ein Waffenstillstand unterzeichnet wurde. Im sogenannten Bielefelder Abkommen wurden dann Konzessionen versprochen, die aber nur ein Vorwand sein konnten, um nach dem Bremsen der Bewegung um so heftiger die Repression zu organisieren
Gleichzeitig wurde wieder mit der ‘ausländischen Intervention’ gedroht. Sollte es zu einer weiteren Ausdehnung der Kämpfe kommen, würden ausländische Truppen – vor allem die USA – eingreifen. Lebensmittellieferungen aus Holland an die hungernde Bevölkerung wurden von den Militärs unterbunden.
So sollten SPD und Gewerkschaften wieder zum Drahtzieher der Repression gegen die Arbeiter werden. Dieselbe SPD, deren Minister einige Tage zuvor noch, am 13. März, zum Generalstreik gegen die Putschisten aufgerufen hatten, nahmen jetzt wieder die Zügel in die Hand für die Repression. Denn während die ‘Waffenstillstandsverhandlungen’ stattfanden, die Regierung scheinbare Konzessionen machte, war die volle Mobilisierung der Reichswehr in Absprache mit der SPD schon im Gange. So gingen viele Arbeiter von der fatalen Illusion aus, da man Regierungstruppen vor sich habe, die der ‘demokratische Staat’ der Weimarer Republik gegen die Putschisten geschickt habe, würden diese keine Kampfhandlungen gegen die Arbeiter unternehmen. So rief das Verteidigungskomitee in Berlin-Köpenick die Arbeiterwehren dazu auf, den Kampf einzustellen. Nach dem Einzug der ‘regierungstreuen Truppen’ wurden sofort Standgerichte gebildet, deren Wüten sich in nichts von dem blutrünstigen Vorgehen der Freikorps ein Jahr zuvor unterschied. Jeder, der im Besitz von Waffen war, wurde sofort erschossen. Tausende Arbeiter wurden misshandelt, gefoltert und erschossen und unzählige Frauen vergewaltigt. Man spricht von mehr als 1.000 ermordeten Arbeitern allein im Ruhrgebiet.
Es waren die Truppen des frisch gegründeten demokratischen Staates, die gegen die Arbeiterklasse geschickt wurden.
Und während die Schergen der Putschisten es nicht geschafft hatten, die Arbeiter zu Boden zu werfen, sollten dies die Henker der Demokratie bewerkstelligen.
In der dekadenten Phase des Kapitalismus hat die Arbeiterklasse seitdem diese Erkenntnis immer wieder gewinnen müssen: Es gibt keine Fraktion der herrschenden Klasse, die weniger reaktionär oder der Arbeiterklasse gegenüber weniger feindselig eingestellt ist. Im Gegenteil: Die linken Kräfte, wie die SPD es wieder einmal unter Beweis stellen sollte, sind nur noch hinterlistiger und heimtückischer in ihren Angriffen gegen die Arbeiter.
Im dekadenten Kapitalismus gibt es keine Fraktion der Bourgeoisie, die noch irgendwie fortschrittlich und unterstützungswert wäre. Deshalb sollten die Illusionen über die Sozialdemokratie in Wirklichkeit mit dem Blut der Arbeiterklasse bezahlt werden. Bei der Niederschlagung der Bewegung gegen den Kapp-Putsch zeigte die SPD erneut ihre ganze heimtückische List, wie sie im Dienste des Kapitals handelt.
Einmal trat sie als ”radikaler Vertreter der Arbeiter” auf. Nicht nur schaffte sie es, die Arbeiter zu täuschen, sondern auch die Arbeiterparteien ließen sich durch die SPD Sand in die Augen streuen. Denn während die KPD laut und deutlich vor der SPD auf Reichsebene warnte, vorbehaltlos den bürgerlichen Charakter ihrer Politik aufzeigte, wurde sie vor Ort selber Opfer der Heimtücke der SPD. Denn in den verschiedenen Städten unterzeichnete die KPD mit der SPD Aufrufe zum Generalstreik:
In Frankfurt z.B. riefen SPD, USPD und KPD dazu auf: ”Nun gilt es den Kampf aufzunehmen, nicht zum Schutze der bürgerlichen Republik, sondern zur Aufrichtung der Macht des Proletariats. Verlaßt sofort die Betriebe und die Büros!”
In Wuppertal beschlossen die Bezirksleitungen von SPD, USPD und KPD den Aufruf: ”Der einheitliche Kampf muss geführt werden mit dem Ziel:
1. Erringung der politischen Macht durch die Diktatur des Proletariats, bis zur Festigung des Sozialismus auf der Grundlage des reinen Rätesystems.
2. Sofortige Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftsbetriebe.
Dieses Ziel zu erreichen, rufen die unterzeichneten Parteien (USPD, KPD, SPD) dazu auf, am Montag, den 15. März, geschlossen in den Generalstreik zu treten ...”
Die Tatsache, dass KPD und USPD die wahre Rolle der SPD hier nicht entblößten, sondern der Illusion einer möglichen Einheitsfront mit dieser Partei Vorschub leisteten, die die Arbeiterklasse verraten hatte und der soviel Blut an den Fingern wegen der von ihr organisierten Repression gegen die Arbeiter klebte, sollte für die Arbeiterklasse verheerende Auswirkungen haben.
Die SPD wiederum zog in Wirklichkeit alle Fäden der Repression gegen die Arbeiter. Sie sorgte sofort nach Rückzug der Putschisten mit Ebert an der Regierungsspitze dafür, dass die Reichswehr einen neuen Chef – von Seeckt – bekam, der sich als ausgekochter Militär einen Ruf als Henker der Arbeiterklasse verdient hatte. Mit grenzenloser Demagogie stachelte das Militär den Hass gegen die Arbeiter an: ”Während der Putschismus von rechts zerschlagen abtreten muss, erhebt der Putschismus von links aufs neue das Haupt (..). wir führen die Waffen gegen jeden Putsch.” So wurden die Arbeiter, die gegen die Putschisten gekämpft hatten, als die eigentlichen Putschisten beschimpft. ”Lasst euch nicht irremachen durch bolschewistische und spartakistische Lügen. Bleibt einig und stark. Macht Front gegen den alles vernichtenden Bolschewismus. Im Namen der Reichsregierung: von Seeckt und Schiffer.”
Das wirkliche Blutbad gegen die Arbeiter übte die Reichswehr aus, die von der SPD dirigiert wurde. Es rückte die ‘demokratische Armee’, die Reichswehr gegen die Arbeiter vor, die Kappisten hatten längst die Flucht ergriffen!
Während die Arbeiterklasse sich mit großem Heldenmut dem Angriff der Militärs entgegenwarf und nach einer weiteren Orientierung für ihre Kämpfe suchte, hinkten die Revolutionäre selbst der Bewegung hinterher. So wurde das Fehlen einer starken Kommunistischen Partei zu einer der entscheidenden Ursachen des erneuten Rückschlags, den die proletarische Revolution in Deutschland erleiden sollte.
Wie wir in früheren Artikeln aufgezeigt haben, war die KPD durch den Ausschluss ihrer Opposition auf dem Heidelberger Parteitag im Oktober 1919 entscheidend geschwächt worden, und im März 1920 gab es in Berlin gerademal einige Hundert Mitglieder, die Mehrzahl der Mitglieder war ausgeschlossen worden.
Zudem lastete über der Partei das Trauma der verheerenden Fehler der Revolutionäre aus der blutigen Januarwoche 1919, als die KPD nicht geschlossen die Falle, die die Bourgeoisie für die Arbeiter aufgestellt hatte, aufdecken und die Arbeiter nicht daran hindern konnte, in diese zu laufen.
So schätzte die KPD jetzt am 13. März das Kräfteverhältnis falsch ein, denn sie meinte, es sei zu früh zum Zurückschlagen. Fest stand, dass die Arbeiterklasse gegenüber einer Offensive der Bourgeoisie nicht die Wahl des Zeitpunktes hatte, und die Abwehrbereitschaft der Arbeiter war groß. In dieser Lage war die Orientierung der Partei vollkommen richtig: ”Sofortiger Zusammentritt in allen Betrieben zur Neuwahl von Arbeiterräten. Sofortiger Zusammentritt der Räte zu Vollversammlungen, die die Leitung des Kampfes zu übernehmen und die über die nächsten Maßnahmen zu beschließen haben. Sofortiger Zusammentritt der Räte zu einem Zentralkongreß der Räte. Innerhalb der Räte werden die Kommunisten kämpfen: für die Diktatur des Proletariats, für die Räterepublik ...” (15. März 1920).
Aber nachdem die SPD nach dem 20. März die Zügel der Regierungsgeschäfte wieder in die Hand genommen hatte, erklärte die KPD-Zentrale am 21. März 1920:
”Für die weitere Eroberung der proletarischen Massen für den Kommunismus ist ein Zustand, wo die politische Freiheit unbegrenzt ausgenützt werden, wo die bürgerliche Demokratie nicht als die Diktatur des Kapitals auftreten könnte, von der größten Wichtigkeit für die Entwicklung in der Richtung zur proletarischen Diktatur.
Die KPD sieht in der Bildung einer sozialistischen Regierung unter Ausschluß von bürgerlich-kapitalistischen Parteien einen erwünschten Zustand für die Selbstbetätigung der proletarischen Massen und ihr Heranreifen für die Ausübung der proletarischen Diktatur.
Sie wird gegenüber der Regierung eine loyale Opposition treiben, solange diese Regierung die Garantien für die politische Betätigung der Arbeiterschaft gewährt, solange sie die bürgerliche Konterrevolution mit allen ihr zu Gebot stehenden Mitteln bekämpft und die soziale und organisatorische Kräftigung der Arbeiterschaft nicht hemmen wird” (21. März 1920, Zentrale der KPD).
Wenn die KPD der SPD gegenüber eine ‘loyale Opposition’ versprach, was erwartete sie von dieser? War es nicht die gleiche SPD gewesen, die während des Krieges und seit Beginn der revolutionären Welle alles unternommen hatte, um die Arbeiter zu täuschen, sie an den Staat zu binden und immer wieder kaltblütig die Repression organisiert hatte!
Indem die KPD-Zentrale diese Haltung einnahm, ließ sie sich auf das gefährlichste durch die Manöver der SPD täuschen.
Wenn die Avantgarde der Revolutionäre sich schon so irreführen ließen, war es nicht verwunderlich, dass unter den Massen der Arbeiter die Illusionen über die SPD noch größer waren!
Diese Politik der Einheitsfront ‘von unten’, die im März 1920 von der KPD-Zentrale schon praktiziert wurde, sollte dann von der Komintern Zug um Zug übernommen werden. Die KPD hatte damit einen tragischen Anfang gesetzt.
Für die aus der KPD im Oktober 1919 ausgeschlossenen Genossen sollten die Fehler der KPD-Zentrale dann der Anlass sein, nur kurze Zeit später, Anfang April 1920, in Berlin die KAPD zu gründen.
Wieder einmal hatte die Arbeiterklasse in Deutschland heldenhaft gegen das Kapital gekämpft. Während international die Kampfeswelle schon stärker abgeklungen war, hatte sich die Arbeiterklasse in Deutschland ein weiteres Mal den Angriffen des Kapitals entschlossen entgegengeworfen. Aber erneut musste die Arbeiterklasse ohne eine wirklich schlagkräftige Organisation an ihrer Seite auskommen.
Das Zögern und die politischen Fehler der Revolutionäre in Deutschland verdeutlichen, wie schwerwiegend die Unklarheit und das Versagen einer revolutionären Organisation ins Gewicht fällt.
Diese von der Bourgeoisie angezettelte Provokation nach dem Kapp-Putsch endete leider in einer neuen und schwerwiegenden Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland. Trotz des heldenhaften Mutes und der Entschlossenheit, mit der sich die Arbeiter in den Kampf stürzten, mussten die Arbeiter erneut ihre weiterhin bestehenden Illusionen über die SPD und die bürgerliche Demokratie teuer bezahlen. Durch die chronische Schwäche ihrer revolutionären Organisation politisch gehandikapt, durch die Politik und das heimtückische Vorgehen der Sozialdemokratie getäuscht, erlitten sie eine Niederlage und wurden schließlich nicht den Kugeln der rechtsextremen Putschisten ausgeliefert, sondern der sehr demokratischen Reichswehr, die unter dem Befehl der SPD-geführten Regierung stand.
Aber diese neue Niederlage des Proletariats in Deutschland war vor allem ein Schlag gegen die weltweite revolutionäre Welle, wodurch Sowjetrussland noch weiter in die Isolation geriet.
Dv
[i] [10] Die Frage ist bis heute ungeklärt, ob es sich nicht um eine gezielte Provokation gehandelt hat, wo es eine Absprache zwischen den Militärs und Regierung gab. Man kann keinesfalls als ausgeschlossen betrachten, dass die herrschende Klasse einen Plan hatte, um die Putschisten als provozierenden Faktor einzusetzen nach dem Konzept: die ‘Rechten’ locken die Arbeiter in die Falle, die ‘demokratische’ Diktatur schlägt dann zu!
[ii] [10] In Mitteldeutschland trat zum ersten Mal Max Hoelz in Erscheinung, der durch die Organisierung von bewaffneten Kampfverbänden der Arbeiter Polizei und Militär viele Gefechte lieferte, bei seinen Aktionen in Geschäften Waren beschlagnahmte und sie an Arbeitslose verteilte. Wir werden in einem späteren Artikel erneut auf ihn zurückkommen.
Der Kapitalismus, seine Staaten, seine herrschende Klasse sind nichts anderes als Mörder. Zehntausende Menschen sind aufgrund dieses unmenschlichen Systems ums Leben gekommen.
Dienstag, 16.53 h Ortszeit, hat ein Erdbeben der Stärke 7 auf der Richterskala Haiti erschüttert. Die Hauptstadt Port-au-Prince, eine Monsterslumstadt von ca. 2 Millionen Einwohnern, ist schlicht und ergreifend vernichtet worden. Die Bilanz ist schrecklich. Und sie verschlimmert sich noch Stunde für Stunde. Vier Tage nach der Katastrophe, an diesem Freitag, den 15. Januar, rechnete das Rote Kreuz schon mit 40.000-50.000 Toten und einer « gewaltigen Zahl Schwerverletzter ». Dem Roten Kreuz zufolge sind mindestens drei Millionen Menschen [1]direkt von dem Erdbeben betroffen. Innerhalb weniger Sekunden haben 200.000 Familien ihr « Haus » verloren, das ohnehin oft genug nur aus einer Hütte besteht. Die großen Gebäude sind ebenfalls wie Kartenhäuser zusammengebrochen. Die eh schon im schlechten Zustand sich befindlichen Straßen, der Flughafen, die alten Eisenbahnstrecken … nichts hat dem Erdbeben widerstanden.
Die Ursache dieses Gemetzels ist empörend. Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt.75% der Menschen überleben dort mit weniger als 2 Dollar pro Tag und 56% mit weniger als einem Dollar. Auf dieser von der Geißel des Elends erfassten Insel gab es natürlich keine Vorkehrungen gegen Erdbeben. Dabei ist Haiti ein für Erdbeben bekanntes Gebiet. All diejenigen, die heute vorgeben, dass dieses Erdbeben von außergewöhnlicher Stärke und unvorhersehbar war, lügen. Der Professor Eric Calais, der 2002 in diesem Land Geologievorlesungen hielt, unterstrich, die Insel sei von « Seismen der Größe 7.5-8 auf der Richterskala » [2]bedroht. Die politischen Behören Haitis waren auch offiziell über diese Risiken informiert worden, wie ein Auszug aus der Webseite des Bergbau- und Energieamtes (das vom Ministerium für öffentliche Arbeiten abhängt) beweist : « Hispaniola (der spanische Name für die heute in zwei Teile -Haiti und Dominikanische Republik- gespaltene Insel) wurde in jedem Jahrhundert von mindestens einem großen Erdbeben erschüttert. Port-au-Prince wurde 1751 und 1771 durch Beben zerstört, Cap Haiti wurde 1842 vernichtet, 1887 und 1904 bebte die Erde im Norden mit großen Schäden in Port de Paix und Cap Haiti, 1946 kam es im Nord-Osten der Dominikanischen Republik zu einem großen Beben, das von einem Tsunami in der Region Nagua begleitet wurde. Es hat in der Vergangenheit große Beben in Haiti gegeben, und es wird in der Zukunft innerhalb von einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten weitere neue Beben geben – das ist wissenschaftlich erwiesen. [3]». Und welche Maßnahmen wurden in Anbetracht dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse getroffen? Überhaupt keine ! Im März 2008 noch hatte eine Gruppe Geologen vor der Gefahr eines großen Bebens innerhalb der nächsten beiden Jahre gewarnt, und einige Wissenschaftler hatten gar im Mai 2008 Konferenzen mit der Regierung Haitis abgehalten[4]. Weder der haitianische Staat, noch irgendein anderer Staat, die heute Krokodilstränen vergießen und Aufrufe zur « internationalen Solidarität » starten, mit den USA und Europa an der Spitze, haben auch nur irgend eine vorbeugende Maßnahme zur Vermeidung solch eines vorhersehbaren Dramas getroffen. Die in diesem Land errichteten Gebäude sind so zerbrechlich, dass eigentlich gar nicht erst ein Erdbeben eintreten muss, um sie zum Einsturz zu bringen: „2008 schon war eine Schule in Pétionville ohne besonderen geologischen Grund eingestürzt, dabei waren 90 Kinder verschüttet worden. [5].
Jetzt ist es zu spät. Obama, Merkel & Co. mögen wohl eine « große internationale Konferenz zum Wiederaufbau und der Entwicklung des Landes » ankündigen , der chinesische, englische, französische oder spanische Staat mögen zwar alle ihre Pakete und ihre Hilfsorganisationen schicken, aber sie bleiben trotzdem Kriminelle, denen das Blut an den Fingern klebt.
Wenn Haiti heute so im Elend lebt, wenn seine Bevölkerung in solcher Armut dahinvegetiert, wenn Infrastruktur gar nicht vorhanden ist, liegt der Grund darin, dass seit mehr als 200 Jahren die örtliche und die herrschende Klasse Spaniens, Frankreichs und der USA sich um dieses Gebiet und die Kontrolle über diesen kleinen Flecken der Erde streiten. Die englische Zeitung « The Guardian » brachte diese Stimme der britischen herrschenden Klasse zum Ausdruck, die auf die zum Himmel schreiende Verantwortung der imperialistischen Rivalen hinwies : « Die noble internationale Gemeinschaft », die sich heute gegenseitig übertreffen will um Haiti « humanitäre Hilfe » zu leisten, ist zum Großteil verantwortlich für all das Leiden, das sie heute zu lindern versucht. Seit dem Tag, als die USA 1915 in das Land einmarschiert sind und es besetzt haben, wurden alle Anstrengungen durch die US-amerikanische Regierung und ihre Verbündeten gewaltsam und bewusst sabotiert. Die Regierung Aristide, die im Jahre 2004 durch einen Staatsstreich mit internationaler Rückendeckung gestürzt wurde, wurde deren letztes Opfer. Während des Staatsstreichs kamen mehrere Tausend Menschen zu Tode. […] Seit dem Putsch von 2004 regiert die internationale Gemeinschaft Haiti. Diese Länder, die jetzt um Hilfeleistungen am Krankenbett Haitis wetteifern, haben aber in den letzten fünf Jahren systematisch dagegen gestimmt, dass das UN-Mandat über sein hauptsächlich militärisches Ziel ausgedehnt wird. Die Projekte zur Verwendung eines Teils dieser « Investitionen » mit dem Zweck der Armutsbekämpfung und der Förderung der Landwirtschaft sind blockiert worden, was typisch ist für die langfristigen Tendenzen bei der Verteilung der « internationalen Hilfe ». [6]
Aber das ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Die USA und Frankreich kämpfen seit Jahrzehnten um die Kontrolle dieser kleinen Insel mit Hilfe von Putschen, Manövern und Korruption der örtlichen Bourgeoisie, und fördern damit das Elend, die Gewalt und die bewaffneten Milizen, welche ständig Männer, Frauen und Kinder terrorisieren.
Das Medienspektakel um die « internationale Solidarität » ist unausstehlich und widerwärtig. Sie wetteifern darum, welcher Staat die größte Werbung für seine « Hilfsorganisationen », « seine Geschenke » machen kann, welche Rettungsteams die besten Bilder erheischen, wenn sie einen Überlebenden aus den Trümmern ziehen. Schlimmer noch, selbst über die Leichen und Trümmerhaufen hinweg kämpfen Frankreich und die USA noch gnadenlos um Einfluss. Im Namen der humanitären Hilfe schicken sie ihre Marine vor Ort und versuchen die Kontrolle der Hilfsoperationen an sich zu reißen unter dem Vorwand der « Notwendigkeit der Koordinierung der Hilfsleistungen durch einen Orchesterchef. » Tatsächlich reißen die USA die Führung über die Hilfsmaßnahmen gänzlich an sich und übernehmen auch die Kontrolle über das Land mittels ihres Militärs. Es geht der Obama-Administration unter anderem darum zu versuchen, das in den letzten Jahren entstandene sehr schlechte weltweite Image des US-Militärs wieder aufzupolieren, indem dessen Einsatz wieder vermehrt mit scheinbar hehren Zielen wie humanitärer Hilfe und der Rettung von Menschenleben in Verbindung gebracht wird. Damit will man nicht nur den US-Führungsanspruch in der Welt wieder unterstreichen, sondern ideologisch den Weg vorbereiten für ganz andere Militäroperationen unter US-Führung, welche vermutlich vermehrt -wie unter dem Vorläufer von G.W. Bush, Bill Clinton - im Namen von humanitären Zielen durchgeführt werden.
Wie bei jeder Katastrophe werden all die Zusagen einer langfristigen Hilfe, all die Wiederaufbauversprechungen leere Worte bleiben. In den letzten 10 Jahren beklagte man bei den jüngsten Erdbeben
· 15 000 Tote in der Türkei 1999.
· 14 000 Tote in Indien 2001.
· 26 200 Tote im Iran 2003.
· 210 000 Tote in Indonesien 2004 (das unterirdische Beben hatte den gewaltigen Tsunami ausgelöst, der selbst noch an der afrikanischen Küste Opfer forderte).
· 88 000 Tote in Pakistan 2005.
· 70 000 Tote in China 2008.
Jedes Mal hat sich die « internationale Gemeinschaft » « erschüttert » gezeigt und eine erbärmliche Hilfe geschickt ; aber nie wurden wirksame Investitionen vorgenommen, um dauerhafte Verbesserungen herbeizuführen wie z.B. erdbebensichere Gebäude zu bauen. Die humanitäre Hilfe, die wirkliche Unterstützung für die Opfer, die Prävention sind für den Kapitalismus keine rentablen Aktivitäten. Die humanitäre Hilfe, wenn sie geleistet wird, dient aber auch nur dazu, einen ideologischen Schleier zu errichten, um uns glauben zu machen, dass dieses Ausbeutungssystem menschlich sein könnte; meist aber ist sie ohnehin ein direktes Alibi zur Rechtfertigung des Einsatzes von Truppen und sie dient dazu, um Einfluss in dem jeweiligen Gebiet der Welt zu erringen.
Ein Beleg für die Heuchelei der Herrschenden und der vorgetäuschten internationalen Hilfe der Staaten ist der Beschluss des französischen Einwanderungsministers, Eric Besson, der « vorübergehend » die Ausweisungen von Illegalen aus Haiti ausgesetzt hat. Das spricht für sich selbst.
Der Horror, der über die Bevölkerung Haitis gekommen ist, ruft eine ungeheure Traurigkeit in uns hervor. Die Arbeiterklasse wird wie bei jeder dieser Katastrophen durch ihre Spendenbereitschaft reagieren. Sie wird erneut zeigen, dass ihr Herz für die Menschheit schlägt, dass ihre Solidarität keine Grenzen kennt. Aber vor allem muss dieser Horror ihre Wut und ihre Kampfbereitschaft steigern. Die wahren Verantwortlichen der unzähligen Toten in Haiti sind keine Folge eines fatalen Naturereignisses, sondern der Politik des Kapitalismus und seiner Staaten, die allesamt imperialistische Aasgeier sind.
Pawel, 15. 1.2010,
[1] Libération , https://www.liberation.fr/monde/0101613901-pres-de-50-000-morts-en-haiti... [14]
[2] Libération (https://sciences.blogs.liberation.fr/home/2010/01/s%C3%A9isme-en-ha%C3%A... [15]).
[3] https://www.bme.gouv.ht/alea%20sismique/Al%E9a%20et%20risque%20sismique%... [16]
[4] Científicos alertaron en 2008 sobre peligro de terremoto en Haití sur le site Yahoomexico (Assiociated Press du 15/01/2010)
[5] PressEurop (https://www.presseurop.eu/fr/content/article/169931-bien-plus-quune-cata... [17]).
[6] https://www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/jan/13/our-role-in-haitis-... [18]
Die Gruppe Proletarische Revolution GPR aus Österreich hat uns gebeten den folgenden Nachruf auf ihren am 7. Dezember verstorbenen Genossen Robert zu veröffentlichen. Die IKS hat mit grösster Betroffenheit vom überraschenden Tod Roberts erfahren. Wir möchten seinen Nächsten, und im Besonderen seiner Lebensparternerin, unsere tiefste Solidarität ausdrücken.
Mit dem Tod von Robert hat auch die IKS einen langjährigen engen Freund verloren. Mit seiner Offenheit, seinem Drang nach politischer Klärung und seiner grossen Geduld spielte er eine wichtige Rolle in der Entstehung eines Pols von Genossen, der sich Ende der 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum linkskommunistischen Positionen annäherte. Dies besonders in der Schweiz, wo später eine Sektion der IKS daraus entstand.
Robert hatte nicht denselben Weg eingeschlagen. Doch Robert und die anderen Genossen der GPR blieben der IKS immer nächste politische Begleiter und Freunde in die wir vollstes Vertrauen haben.
Eine der grössten Qualitäten Roberts war sein solidarisches Auftreten und seine konsequente Haltung gegen jegliche Konkurrenzgefühle unter den verschiedenen Organisationen der Kommunistischen Linken.
Die IKS vermisst Robert.
Unser Genosse Robert ist in der Nacht vom 6. auf den 7. 12. 09 tragisch aus dem Leben geschieden. Er war einer der Gründungsmitglieder der Gruppe, die sich damals 1983 Gruppe Internationalistische Kommunisten nannte und die politische und theoretische Tradition der Autonome Gruppe Kommunistische Politik, die durch Selbstauflösung endete, fortsetzte. Die Gründungsmitglieder fanden sich in der Gemeinsamkeit zusammen, dass die politischen und theoretischen Errungenschaften der AGKP, die sich aus dem linkskapitalistischen Wirrwarr der ausklingenden 68er-Bewegung gelöst und sich linkskommunistische politische Positionen erarbeitet hatte. Den Gründungsmitgliedern schien das theoretisch-politische Rüstzeug des Linkskommunismus als die einzig mögliche politische Orientierung, wenn man sich auf den politischen Klassenboden des Proletariats stellen und die Sache des Proletariats, seine unabkömmliche politische und organisatorische Autonomie als Bedingung für zukünftig Erfolge fördern und voranbringen wollte. Nur die linkskommunistische Strömung hatte der horriblen Konterrevolution, die sich in der fast lückenlosen politischen Kontrolle über die Arbeiterklasse durch Sozialdemokratie, Stalinismus, Maoismus und der Hauptströmung des Trotzkismus ausdrückt, politisch erfolgreich getrotzt und uns die aus dieser gigantischen Konterrevolution gezogenen politischen Lehren überliefert. Genosse Ro. und Mitstreiter fühlten die Verantwortung auf ihren Schultern liegen, dass sie dafür sorgen müssten, die gegen die an vorderster Stelle stalinistische Konterrevolution von den Linkskommunisten verteidigte revolutionäre Theorie vor der Arbeiterklasse in Österreich zu vertreten und gegenüber den Arbeiterinnen und Arbeitern nach Kräften die Möglichkeit zu bieten, wieder an ihre revolutionäre Tradition anzuknüpfen. Da wir alle bloss aus dem Sympathisantenkreis der AGKP kamen, stellte sich uns die Aufgabe das ganze theoretische Rüstzeug der AGKP kritisch prüfend anzueignen und soweit es uns unzureichend schien, es mit dem aus dem Studium des Linkskommunismus gezogenen Erkenntnissen weiterzuentwickeln, um die Gruppe auf eine möglichst gefestigte politische Grundlage zu stellen. Da in den 80er Jahren massive Angriffe auf die Arbeiterklasse im Zuge der Restrukturierung der Industrie (Stichwort VÖST) stattfanden, sah sich die Gruppe vor die Aufgabe gestellt, durch politische Einmischung mittels Flugblätter usw. die dort und da aufkeimenden Kampfansätze der Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterstützen. Die mühsame theoretische Arbeit, die Diskussionen mit dem revolutionären Milieu, die allmähliche für die Formulierung in einer Plattform herangereiften politischen Positionen betrieb Genosse Robert in vorderster Reihe. Seiner Akribie des Fragens, Nachfragens und Hinterfragens und der unnachgiebigen Suche nach Klarheit ist es zu verdanken, dass die GIK, die wegen der späteren Umbenennung heute Gruppe Proletarische Revolution heisst, eine kohärente klar auf den Errungenschaften des Marxismus und der historischen Erfahrungen des Klassenkampfes und deren Analyse beruhende Plattform hat, die wir unsere Leitlinien nennen. Robert hinterlässt die GPR, die er durch seinen unermüdlichen Einsatz massgeblich geprägt hat und deren politisches Rüstzeug er massgebend erarbeitet hat im Zustand theoretischer Festigkeit. Der Verlust durch Roberts Tod ist gewaltig. Die Gruppe verliert einen ihrer besessensten Mitarbeiter, der durch sein geschultes politisches Urteilsvermögen, seine politische Weitsicht, seine politische Erfahrung und seine unermüdlichen Untersuchungen und Analysen der politischen Ereignisse die Gruppe und ihre politische Arbeit bereichert hat. Wir hofften alle auf seine Wiederkehr nach seiner überstandenen Krankheit und freuten uns auf seine wiedergewonnene geistige Präsenz. Wir bedauern den für unsere politische Praxis folgenschweren Verlust des Genossen Robert.
Wir ersuchen die Gruppen des revolutionären Milieus der Arbeiterklasse, die Trauer über den Weggang des Genossen Robert mit uns zu teilen und uns bei der Fortsetzung unserer politischen Arbeit für die vielleicht noch in weiter Ferne liegende Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrer ökonomischen Ausquetschung und politischen Niederhaltung durch die Bourgeoisie solidarisch zu unterstützen. Wir danken.
GPR
In den letzten Wochen standen die Vorfälle von Kundus immer wieder im bundesdeutschen Rampenlicht. Nachdem durchsickerte, dass das wahre Ausmaß des Massakers von Anfang September 2009 ziemlich schnell den deutschen Einsatzkräften vor Ort bekannt wurde, über die Ereignisse auch nach Berlin an die höchsten Stellen (im unterschiedlichen Maße) berichtet wurde, der gesamte Vorfall aber von den beteiligten Stellen dann doch heruntergespielt bzw. mit allen Tricks gemauert wurde, mussten die ersten Köpfe rollen. Rücktritt des Generalinspekteurs, eines Staatssekretärs – schließlich des damaligen Verteidigungsministers Jung und nunmehr wachsender Druck auf den neu eingesetzten Verteidigungsminister, den Shooting-Star zu Guttenberg. Mittlerweile wurde – der demokratischen Zeremonie folgend - ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Angelegenheit eingesetzt (der dem Militär sichtlich wohl gesonnene Verteidigungsausschuss).
Wozu all diese Aufregung?
Nachdem uns in den letzten Jahren eingetrichtert worden war, bei all den Auslandseinsätzen des deutschen Militärs gehe es nicht um eine Kriegsbeteiligung, sondern um „friedenserhaltende“, „Stabilisierungsmaßnahmen“ usw., lässt sich heute die Wirklichkeit der deutschen Kriegsbeteiligung in Afghanistan nicht mehr leugnen. Krieg ist die Entfesselung einer Vernichtungsmaschinerie –und bei nichts anderem ist auch das deutsche Militär in Afghanistan oder anderswo involviert. Man tritt dort nicht martialisch ausgerüstet auf, um mit den todbringenden Waffen in die Luft zu ballern, sondern um damit Menschen und Material zu vernichten. Es gibt keinen Krieg ohne Töten. Um zu töten, muss man gezielt schießen, versuchen, den Gegner auszuschalten, ihn mit möglichst großem Schaden treffen. All das sollte uns verheimlicht werden.
Die Geschichte des Krieges seit mehr als einem Jahrhundert zeigt, dass dabei hauptsächlich nicht Soldaten, d.h. erkennbare Truppen des Gegners auf der Strecke bleiben, sondern meist Zivilisten. Während im 19. Jahrhundert noch das Verhältnis 1:10 (ein getöteter feindlicher Soldat zu 10 Zivilisten) lautete, hat sich dieses Verhältnis genau ins Gegenteil umgekehrt: 10:1. Diese Entwicklung wiederholt sich nahezu regelmäßig in allen, im Militarismus versinkenden Gesellschaften. Ob im zerfallenden römischen Reich, das begleitet von einer Reihe von Kriegen erschöpft niederging, oder im dreißigjährigen Krieg in Deutschland 1618-48, als die Zivilbevölkerung durch den Krieg dezimiert wurde. Aber all die Anstrengungen der Herrschenden, bei den letzten Kriegen nicht offen ihre Kriegsziele zu proklamieren, sondern ihre jeweiligen Mobilisierungen unter dem Deckmantel der „humanitären“ Hilfe zu verstecken, weil die Bevölkerung sich eigentlich nicht für den Krieg einspannen lassen will, haben am Ende wenig gefruchtet.
Erzählte uns nicht „Rot-Grün“ 1998, kaum nachdem sie die Regierungsgeschäfte übernommen hatten, dass man beim Balkankrieg und der Bombardierung Serbiens „einem verbrecherischen System“ auch unter Verwendung modernster mörderischer Waffen wie z.B. Streubomben den Garaus machen müsse? Wenn nun die Bundeswehr auch in Afghanistan die Politik des „shoot-to-kill“ praktiziert, dann gehört dies vollkommen zu den Gesetzen des Krieges. Dagegen entpuppen sich diejenigen, die behaupten, dies widerspreche dem Mandat der Bundeswehr, als Vertuscher des wahren Charakters des Krieges und seiner Gesetze. Tatsache ist, keine Armee kann sich den Mechanismen des Militarismus entziehen. So kommt es, dass die Machthabenden in Deutschland und anderswo immer mehr in Bedrängnis geraten, wenn es um die Rechtfertigung der Kriegseinsätze geht.
Vor diesem Problem steht auch der Friedensnobelpreisträger, Barack Obama. War er nicht in der Wahlkampagne angetreten, um den u.a. wegen des Irakkrieges sehr unpopulär gewordenen US-Präsidenten G.W. Bush abzulösen? Hatte er nicht eine atomare Abrüstung vorgeschlagen? Aber eigentlich geht es dem Friedensnobelpreisträger nur darum, die Kräfte des US-Militärs besser zu bündeln, sie wirksamer einzusetzen. Denn schon während der Wahlkampagne hatte er die Entsendung von zusätzlichen Truppen nach Afghanistan angekündigt. Auf der bevorstehenden Afghanistankonferenz möchten die USA denn auch andere Länder zum Einsatz weiterer Truppen verpflichten – obwohl ernst zu nehmende Militärexperten eingestehen, dass der Konflikt überhaupt nicht militärisch gelöst werden kann.
Während die USA unter dem an seinem Mandatsende stark verschlissenen G.W. Bush nach 2001 in Afghanistan und im Irak ab 2003 eine Politik der Bombardierung betrieben, die nirgendwo eine Stabilisierung herbeigeführt hat, sondern die US-Politik in einen noch größeren Schlamassel hineingerissen hat, hat der „Kampf gegen den Terror“ in Pakistan nur noch einen neuen Kriegsherd eröffnet. In dem mit Atomwaffen hochgerüsteten Pakistan reißt die Attentatsserie nicht ab, die sich immer mehr gegen die Regierung und „ausländische“ Einflüsse richtet. Auch hier hinterlässt der Militarismus immer mehr verbrannte Erde – und große Flüchtlingsströme…
Wenn nun die USA in Anbetracht des missglückten Attentats auf eine US-Passagiermaschine angekündigt haben, ihren „Krieg gegen den Terror“ auch auf den Jemen auszudehnen, in dem sich der Attentäter aufgehalten haben soll, dann ziehen die USA damit nur noch ein weiteres Land in ihren Kampf zur Aufrechterhaltung ihrer Vormachtstellung. Am Ende seines Mandats wird der Friedensnobelpreisträge Obama wohl mit so viel Blut an den Fingern dastehen wie sein Vorgänger Bush…. (1)
Dabei ist die Ausdehnung der Bombardierungen auf den Jemen aber nicht irgendein sekundärer Schritt, sondern von großer Bedeutung, denn das Land liegt an der strategisch wichtigen Schiffspassage – dem Horn von Afrika und der Route zum Suez-Kanal, wo –ohnehin schon bedrängt von Piraten aus dem failed-state Somalia – ein Großteil des Weltschiffverkehrs zwischen Asien und Europa abgewickelt wird. Das Eingreifen auf jemenitisches Territorium durch US-Truppen wird sicherlich von den Rivalen argwöhnisch beobachtet werden. Inzwischen wird darüber spekuliert, dass in Washington ein Militärschlag gegen den Iran vorbereitet wird, um die Entwicklung eines Atompotenzials dieses Landes noch zu verhindern.
In der Zwischenzeit unterlassen die USA aber keine Gelegenheit, dem deutschen Rivalen eins vor den Bug zu schießen. Denn wenn die ISAF in ihrem Bericht die Politik des Bundeswehrkommandos hinsichtlich des Vorfalls von Kundus kritisierte, dann geschieht dies nicht ohne die direkte „Zuarbeit“ der USA, welche im Auftrag der Bundeswehr die Bombardierung bei Kundus ausgeführt haben, und somit bestens in der Lage sind, die deutschen Medien mit Enthüllungen darüber zu versorgen. So ruft die verbleibende Supermacht USA den herrschenden Politikern wie in Deutschland in Erinnerung, dass sie immer noch in der Lage sind, aussichtsreiche Politikerkarrieren scheitern zu lassen und jede x-beliebige Regierung der Welt innenpolitisch unter Druck zu setzen.
(1) In Kolumbien, wo die USA den Kampf gegen die Drogenbarone auch und vor allem mit militärischen Mitteln führen, wurden 2009 über 15.000 Menschen getötet, davon gingen allein 6.000 auf das Konto von Killerkommandos. Die US-Strategie, mit Waffengewalt für „Befriedung“ und „Sicherheit“ sorgen zu wollen, verschlimmert die Spirale der Gewalt nur noch mehr.
"Kopenhagen-Gipfel gescheitert" (Guardian, England), "Fiasko in Kopenhagen", "Groteskes Ergebnis", "Schlimmer als unnütz" (Financial Times, England), "Ein nutzloser Gipfel" (The Asian Age, Indien), "Kalte Dusche", "Das schlechteste Abkommen der Geschichte" (Libération, Frankreich). Die internationale Presse ist also fast einhelliger Meinung. 1 Dieser als historisch angekündigte Gipfel ist zu einer wahren Katastrophe geworden. Am Ende haben die Teilnehmerstaaten einer Reihe von vagen Zielen zugestimmt, die niemanden zu irgendetwas verpflichten. Die Erderwärmung auf unter 2°C bis 2050 reduzieren. "Das Scheitern des Kopenhagener Gipfels ist schlimmer als alles befürchtete", meinte Herton Escobar, der Wissenschaftsexperte der Zeitung O Estado De São Paulo (Brasilien). "Das größte diplomatische Ereignis der Geschichte hat zu überhaupt keiner Verpflichtung geführt." 2 Wer auch immer an ein Wunder geglaubt hatte, an die Geburt eines grünen Kapitalismus, wird jetzt damit konfrontiert, dass die Illusionen dahinschmelzen, genau wie das Eis in der Arktis und Antarktis.
Dem Kopenhagener Gipfel ging eine gewaltige, ohrenbetäubende internationale Medienkampagne voraus. Alle Fernsehkanäle, alle Zeitungen, alle Zeitschriften haben dieses Ereignis zu einem historischen Augenblick hochstilisiert. Eine Vielzahl von Beispielen zeigt das auf. Schon am 5. Juni 2009 wurde der Dokumentarfilm von Yann Arthus Bertrand, Home, der eine dramatische und schonungslose Bestandaufnahme des Ausmaßes der weltweiten Ökokatastrophe erstellt, gleichzeitig und kostenlos in 70 Ländern ausgestrahlt (im Fernsehen, im Internet, in den Kinos).
Hunderte Intellektuelle und Umweltverbände haben hochtrabende Erklärungen veröffentlicht, um "das Bewusstsein wachzurütteln" und "einen Druck der Bürger auf die Entscheidungsträger auszuüben". In Frankreich hat die Stiftung Nicolas Hulot von einer Art Ultimatum gesprochen: "Die Zukunft des Planeten und mit ihr das Schicksal von Milliarden Hungernder wird in Kopenhagen entschieden. Wir müssen wählen zwischen Solidarität oder Chaos, die Menschheit muss ihr Schicksal in die Hand nehmen". In den USA die gleiche dringliche, warnende Botschaft: "Die Staaten der Welt versammeln sich in Kopenhagen vom 7.-18. Dezember 2009 zu einer Klimakonferenz, die als ein Gipfel der letzten Chance angesehen wird. Entweder wird sie zu einem Erfolg, oder alles bricht zusammen, wörtlich genommen – schwimm oder geh unter. Man kann behaupten, dass es sich um das wichtigste Diplomatentreffen der Geschichte der Welt handelt." (Bill McKibben, Schriftsteller und amerikanischer Umweltaktivist, in Mother Jones) 3
Zu Beginn des Gipfels veröffentlichten 56 Zeitungen aus 44 Ländern – in einer bislang noch nie dagewesenen Initiative in ein und demselben Editorial einen Aufruf. „Der Klimawandel wird unseren Planeten und damit auch Wohlstand und Sicherheit zerstören, falls wir uns nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen.[…] Der Klimawandel ist über Jahrhunderte hinweg verursacht worden, seine Folgen werden weitere Jahrhunderte andauern. Lässt er sich zähmen? Das wird sich in den kommenden zwei Wochen entscheiden. Wir appellieren an die Vertreter der 192 Staaten in Kopenhagen, nicht zu zögern, nicht im Streit auseinanderzugehen und sich nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben […] Der Klimawandel betrifft alle, die Strategien dagegen müssen von allen getragen werden. 4
All diese Reden enthalten eine Halbwahrheit. Forschungsergebnisse belegen, dass der Planet dabei ist zerstört zu werden. Die Erderwärmung schreitet voran und damit auch der Vormarsch der Wüsten, Wirbelstürme, Brände… Die Verschmutzung und die intensive Ausbeutung der Ressourcen führen zu einem gewaltigen Artensterben. Es wird erwartet, dass 15-37% der Arten bis 2050 ausgestorben sein werden. Heute steht eins von vier Säugetieren, einer von acht Vögeln, ein Drittel der Amphibien und 70% der Pflanzen vor dem Aussterben 5. Prognosen des Weltforums zufolge wird der „Klimawandel“ für ca. 300.000 Menschen pro Jahr den Tod bedeuten (darunter wird die Hälfte an Unterernährung sterben). 2050 rechnet man mit ca. „250 Millionen Klimaflüchtlingen“ 6. Ja, die Sache wird dringlich. Ja, die Menschheit steht vor einer Schicksalsfrage, ja es geht ums Überleben!.
Aber die andere Hälfte der Botschaft ist eine riesige Lüge, die dazu dient der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt Illusionen einzuflößen. Alle riefen sie die Regierung zu einem verantwortlichen Handeln und zur internationalen Solidarität gegenüber den „Klimagefahren“ auf. Als ob die Staaten ihre eigenen nationalen Interessen vergessen oder überwinden und sich zusammenschließen, zusammenarbeiten und im Interesse der Menschheit gegenseitig helfen könnten. All dies sind nur Märchengeschichten, die dazu dienen, eine Arbeiterklasse zu beruhigen, die sich Sorgen macht, dass die Erde schrittweise zerstört wird und Hunderte Millionen Menschen darunter leiden werden 7. Die Umweltkatastrophe führt deutlich vor Augen, dass nur eine internationale Lösung ins Auge gefasst werden kann. Um zu verhindern, dass die Arbeiter zu viel nachdenken und sich auf die Suche nach einer „Lösung“ begeben, haben die Herrschenden unter Beweis stellen wollen, dass sie dazu in der Lage wären, ihre nationalen Spaltungen zu überwinden, oder wie das internationale Editorial der 56 Zeitungen erklärte, „nicht im Streit auseinanderzugehen und sich nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben“ und „Der Klimawandel betrifft alle, die Strategien dagegen müssen von allen getragen werden.“
Das Geringste, was man sagen kann, ist dass dieses Ziel völlig verfehlt wurde. Wenn Kopenhagen etwas gezeigt hat, dann dass der Kapitalismus nur eine Dreckschleuder ist und sein kann.
Man durfte keine Illusionen haben; aus diesem Gipfel konnte nichts Gutes hervorgehen. Der Kapitalismus zerstört seit jeher die Umwelt. Schon im 19. Jahrhundert war London eine gewaltige Fabrik, die mit Rauch die Luft verpestete und ihren Müll in die Themse schmiss. Dieses System produziert einzig mit dem Ziel, mit allen möglichen Mitteln Profit zu erwirtschaften und Kapital anzuhäufen. Egal, wenn es dazu Wälder abholzen, die Meere plündern, Flüsse verschmutzen, das Klima durcheinander bringen muss….
Kapitalismus und Ökologie stehen sich notwendigerweise unversöhnlich gegenüber. All die internationalen Treffen, die Komitees, Gipfel (wie der von Rio de Janeiro 1992 oder der von Kyoto 1997) waren immer nur Masken, in den Medien aufgebauschte Inszenierungen, um uns glauben zu machen, dass die „Großen dieser Welt“ sich Gedanken machen über die Zukunft des Planeten. All die Nicolas Hulot, Yann Arthus Bertrand, Bill McKibben und andere wie Al Gore 8 wollten uns glauben machen, dass es dieses Mal anders werden würde, und dass sich in Anbetracht der Dringlichkeit der Lage die großen Führer der Welt „zusammenreißen“ würden. Während all diese Ideologen nur heiße Luft verbreiten, zogen dieselben „Führer“ ihre ökonomischen Waffen. Denn so sieht die Wirklichkeit aus: der Kapitalismus ist in Nationen gespalten, alle konkurrieren miteinander, stehen immerfort im Handelskrieg miteinander, und wenn nötig auch in militärischen Kriegen.
Nur ein Beispiel. Der Nordpol ist dabei zu schmelzen. Die Wissenschaftlicher sehen eine wahre Ökokatastrophe heraufziehen: der Meeresspiegel wird ansteigen, der Salzgehalt zunehmen, die Meeressströmungen werden verändert, die Infrastrukturen destabilisiert und die Küsten leiden unter Erosionen aufgrund des Schmelzens des Permafrosts, Freisetzung von CO2 und Methan aus den Permafrostböden, Zerstörung der arktischen Ökosysteme…9 Die Staaten dagegen sehen darin eine große Gelegenheit neue, bislang unzugänglich gebliebene Ressourcen auszubeuten und neue, eisfreie Schifffahrtswege zu gewinnen. Russland, Kanada, die USA, Dänemark (über Grönland) führen gegenwärtig einen gnadenlosen diplomatischen Krieg und zögern nicht, zum Zweck der militärischen Einschüchterung mit Waffen zu drohen. So „beteiligten sich letzten August ungefähr 700 kanadische Soldaten aus den drei Bereichen Heer, Marine und Luftwaffe an der kanadischen Operation NANOOK 09. Das militärische Manöver versucht zu beweisen, dass Kanada in der Lage ist, in der Arktis, auf die auch die USA, Dänemark und vor allem Russland Ansprüche erheben, seine Souveränität sicherzustellen. Russland hat in der jüngsten Zeit Ottawa irritiert, nachdem es Flugzeuge und U-Boote in die Arktis geschickt hat“. 10. In der Tat schickt Russland seit 2007 regelmäßig Jagdflugzeuge in den Luftraum über der Arktis und auch manchmal über kanadische Gewässer wie zur Zeit des Kalten Krieges.
Kapitalismus und Ökologie stehen sich immer diametral gegenüber
„Das Scheitern von Kopenhagen“ ist deshalb alles andere als eine Überraschung. Wir hatten dies schon in unserer letzten „Internationalen Revue“ (3. Quartal 2009) vorhergesehen: „Der Weltkapitalismus ist völlig unfähig um gegen die Gefahren der Umweltzerstörung gemeinsam anzutreten. Insbesondere in der Zeit seines gesellschaftlichen Zerfalls mit der wachsenden Tendenz, dass jede Nation im Konkurrenzkampf aller gegen alle auf internationaler Ebene ihre eigenen Karten spielt, ist solch eine Zusammenarbeit unmöglich.“ Es ist dagegen überraschender, dass all diese Staatschefs es nicht einmal geschafft haben, den Schein zu bewahren. Normalerweise wird am Schluss ein Abkommen mit großem Prunk unterzeichnet, wobei vorgetäuschte Ziele präsentiert werden, und solche Abkommen werden dann von allen begrüßt. Diesesmal wurde der Gipfel offiziell als „historisch gescheitert“ erklärt. Die Spannungen und das Geschacher konnten nicht mehr verborgen werden; sie sind groß auf der Bühne ausgebreitet worden. Selbst das traditionelle Gruppenphoto mit den Staatschefs, bei dem sie sich beglückwünschen und umarmen und immer eifrig in die Kameras lächeln, wurde nicht mal aufgenommen. Allein das spricht schon Bände!
Dieses Eingeständnis ist so offenkundig, lächerlich und beschämend, dass die Herrschenden ein niedriges Profil wahren. Dem Lärm um die Vorbereitungen des Kopenhagener Gipfels folgte ein ebenso betretenes Schweigen. So begnügten sich die Medien nach dem Gipfel mit einigen diskreten Zeilen der „Bilanz“ des Scheiterns (wobei übrigens systematisch der eine dem andere in die Schuhe schob), und man vermied in den darauf folgenden Tagen sorgfältig, auf diese schmutzige Angelegenheit zurückzukommen.
Warum haben die Staatschefs im Gegensatz zu früher nicht einmal mehr den Schein bewahren können? Die Antwort lautet: die Wirtschaftskrise. Im Gegensatz zu allem, was überall auf der Welt behauptet wird, treibt die schwere Wirtschaftskrise die Staatschefs nicht dazu, die „ausgezeichnete Gelegenheit“ zu ergreifen, um die ganze Welt in das „Abenteuer der green economy“ zu stürzen. Im Gegenteil, die Brutalität der Krise verschärft die Spannungen und die internationale Konkurrenz. Der Kopenhagener Gipfel hat bewiesen, dass sich die Großmächte einen gnadenlosen Kampf gegeneinander führen. Die Zeit ist vorbei, als sie vortäuschen konnten, dass sie sich gut verstehen und Abkommen (auch wenn sie verlogen sind) präsentieren. Sie haben die Messer gezogen, Pech gehabt, wenn das alles in den Medien verfolgt wurde.
Seit dem Sommer 2007 und dem Absturz der Weltwirtschaft in die tiefste Rezession der Geschichte des Kapitalismus, gibt es eine wachsende Versuchung, den Verlockungen des Protektionismus zu verfallen und eine zunehmende Tendenz des Jeder für sich. Natürlich ist der Kapitalismus aufgrund seiner Grundeigenschaften immer in Nationen gespalten, die sich einen gnadenlosen Konkurrenzkampf liefern. Aber der Krach von 1929 und die Krise der 1930er Jahre hatten den Herrschenden vor Augen geführt, wie gefährlich es war, wenn es überhaupt keine Regeln und internationale Absprachen im Welthandel gibt. Insbesondere nach dem 2. Weltkrieg hatte man im Ostblock und im westlichen Block organisatorische Maßnahmen ergriffen und ein Mindestmaß an Gesetzen verabschiedet, um die Wirtschaftsbeziehungen untereinander zu regeln. Überall wurde zum Beispiel der grenzenlose Protektionismus verboten, nachdem man ihn als einen schädlichen Faktor für den Welthandel und damit auch für alle Länder erkannt hatte. Die großen Abkommen (wie das von Bretton Woods 1944) und die Institutionen, welche die Einhaltung der neuen Regeln überwachen sollten (wie der Internationale Währungsfond), haben in der Tat dazu beigetragen, die wirtschaftliche Verlangsamung des kapitalistischen Wachstums seit 1967 abzufedern.
Aber die Tragweite der gegenwärtigen Krise hat all diese Regeln der Funktionsweise über Bord geworfen. Die Herrschenden haben gleichwohl versucht, gemeinsam und vereint vorzugehen, als sie z.B. den berühmten G 20 von Pittsburgh und von London organisiert haben, aber die Tendenz des Jeder für sich hat jeden Monat mehr an Boden gewonnen. Die Ankurbelungspläne werden immer weniger miteinander unter den Staaten abgesprochen und der Wirtschaftskrieg wird immer aggressiver. Der Kopenhagener Gipfel bestätigte diese Tendenz ganz deutlich.
Man muss unterstreichen, dass im Gegensatz zu einem angeblichen “Ende der Durststrecke” und einem bevorstehenden Wiederaufschwung der Weltwirtschaft die Rezession sich in Wirklichkeit immer weiter verschärft und sich sogar Ende 2009 weiter beschleunigt hat. „Dubai – Pleite des Emirs“, „Griechenland am Rande des Bankrotts“ (Libération, 27.11., 9.12.). 11 Diese Meldungen wirkten wie ein Blitz. Jeder Staat spürt, dass seine Wirtschaft in Gefahr ist und ist sich dessen bewusst, dass wir vor einer immer tieferen Rezession stehen. Um zu verhindern, dass die kapitalistische Wirtschaft zu schnell in einer Depression versinkt, haben die Herrschenden seit dem Sommer 2007 keine andere Wahl als massenhaft Geld zu drucken und in die Wirtschaft zu pumpen, womit die öffentliche und Staatsverschuldung nur weiter angeheizt wird. Die Bank Société Générale hat im November 2009 in einem Bericht darauf hingewiesen: „Das Schlimmste steht uns noch bevor“. Dieser Bank zufolge „haben die jüngsten Rettungspakete der Regierungen auf der Welt einfach den Schuldenberg der Privathaushalte auf die öffentlichen Haushalte übertragen, wodurch nur eine neue Reihe von Problemen entstanden ist. Das erste sind die Defizite. […] Das gegenwärtige Verschuldungsniveau kann langfristig nicht aufrechterhalten werden. Wir haben praktisch einen Punkt der öffentlichen Verschuldung erreicht, wo es kein zurück mehr gibt.“ 12. Die globale Verschuldung ist in den meisten hochentwickelten Staaten viel zu groß geworden im Verhältnis zum BIP. In den USA und in der Europäischen Union werden die Schulden in zwei Jahren auf 125% des BIP angewachsen sein. In Großbritannien werden sie 105% betragen, in Japan 270%. Und die Bank Société Générale ist nicht die einzige Bank, die die Alarmglocke läutet. Im März 2009 hatte die Crédit Suisse eine Liste der 10 am stärksten vom Bankrott gefährdeten Länder erstellt, indem man den Umfang der Verschuldung und das BIP verglich. Im Augenblick hat diese Liste der „Top 10“ den Nagel auf den Kopf getroffen; sie lautet: Island, Bulgarien, Litauen, Estland, Griechenland, Spanien, Lettland, Rumänien, Großbritannien, USA, Irland, Ungarn. 13 Ein anderes Zeichen der Sorgen auf den Finanzmärkten ist eine neu aufgekommene Abkürzung: PIGS. „Heute sind es die PIGS: Portugal, Italien, Griechenland, Spanien, die die Welt erschüttern. Nach Island und Dubai betrachtet man diese vier Länder der Eurozone als mögliche Zeitbomben der Weltwirtschaft.“ 14.
In Wirklichkeit werden alle Staaten aufgrund ihrer phänomenalen Defizite eine rigorose Sparpolitik betreiben müssen. Konkret heißt dies, dass sie:
- die Steuern erhöhen werden
- die Ausgaben noch drastischer kürzen werden, und dabei unzählige Arbeitsplätze streichen und eine Vielzahl von Kürzungen vornehmen werden bei Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und medizinischer Versorgung.
- Natürlich eine immer aggressivere, rücksichtslose Politik auf dem Weltmarkt betreiben müssen.
Diese katastrophale Wirtschaftslage verschärft natürlich den Konkurrenzkampf. Jeder Staat sträubt sich heute davor, irgendwelche Konzessionen zu machen; jeder Staat führt einen Überlebenskampf seiner Volkswirtschaft gegen die anderen Rivalen. Diese Spannung, dieser Wirtschaftskrieg wurden in Kopenhagen greifbar.
In Kopenhagen sind die Staaten zusammengekommen, nicht um den Planeten zu retten, sondern um sich mit Händen und Füßen zu wehren. Ihr Ziel bestand einzig darin, die Frage des Umweltschutzes zu verwenden, um damit Maßnahmen zu ihren Gunsten durchzusetzen, und die vor allem anderen Schaden zufügen.
Die USA und China werden von den meisten Ländern beschuldigt für das Scheitern hauptsächlich verantwortlich zu sein. Diese beiden Länder haben sich in der Tat gegen eine Zielvereinbarung einer CO2-Reduzierung ausgesprochen, das als Hauptverantwortlicher des Treibhauseffektes gilt. Die beiden größten Umweltverschmutzer hatten natürlich auf dieser Ebene auch am meisten zu verlieren.15 "Wenn die Ziele der Expertengruppe des Climate Change 16 verfolgt werden (d.h. eine CO2-Reduzierung um 40% bis 2050), darf jeder Erdenbürger nur noch maximal 1,7 Tonnen CO2 pro Jahr ausstoßen. Aber im Durchschnitt produziert jeder US-Amerikaner pro Jahr 20 Tonnen! 17 Und die chinesische Wirtschaft funktioniert heute hauptsächlich dank der Energiezufuhr von Kohlekraftwerken, die insgesamt 20% der weltweiten CO2-Emissionen verursachen. Das entspricht mehr als dem Ausstoß des gesamten Verkehrs, (Autos, LKW, Züge, Schiffe und Flugzeuge zusammengenommen)." 18. Man kann verstehen, warum all die anderen Länder so darauf erpicht waren, "Zahlenwerte" bei der CO2-Reduzierung vorzuschreiben.
Aber man darf dennoch nicht glauben, dass die USA und China irgendwie gemeine Sache gemacht hätten. Das Reich der Mitte hat nämlich ebenso eine CO2-Reduzierung von 40% bis 2050 gefordert, und zwar für die USA und Europa. Und China sollte natürlich als "Schwellenland" davon ausgespart bleiben. "Die Schwellenländer, insbesondere Indien, China, forderten von den reichen Ländern ein starkes Engagement zur Reduzierung der Treibhausgase, aber sie weigerten sich, sich irgendwelchen Einschränkungen zu unterwerfen." 19
Indien hat ungefähr die gleiche Strategie eingeschlagen, eine Reduzierung für die anderen einzufordern, aber von sich selbst keine zu erwarten. Es rechtfertigte seine Haltung damit, dass "Hunderte Millionen Arme im Land leben und das Land könne keine zusätzlichen Belastungen vertragen." Die "Schwellenländer" oder in "der Entwicklung befindlichen Länder" werden oft in der Presse als die ersten Opfer des Fiaskos von Kopenhagen dargestellt. Diese zögerten in Wirklichkeit nicht davor zurück, die Armut ihrer Bevölkerung für die Verteidigung ihrer bürgerlichen Interessen zu instrumentalisieren. Der Delegierte Sudans, der Afrika vertrat, verglich die Lage gar mit dem Holocaust: "Diese Lösung stützt sich auf die Werte, die sechs Millionen Menschen in die Krematorien in Europa geschickt haben." 20 Diese Führer, die ihre Bevölkerungen Hunger leiden lassen und auch ab und zu Massaker ausüben, wagen heute schamlos an deren "Unglück" zu erinnern. Im Sudan zum Beispiel sterben die Menschen schon heute durch Waffengewalt und nicht erst durch die zukünftigen Klimafolgen.
Und wie hat Europa, das die tugendhafte Dame spielt, die "Zukunft des Planeten" verteidigt? Schauen wir uns einige Beispiele an. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat eine lautstarke Erklärung am vorletzten Tag des Gipfels abgegeben. "Wenn wir so weitermachen, wird der Gipfel scheitern. […] Wir müssen alle Kompromisse eingehen. […] Europa und die reichen Länder müssen anerkennen, dass sie eine größere Verantwortung übernehmen müssen. Wir müssen uns mehr engagieren. […] Wer würde wagen zu behaupten, dass Afrika und die ärmeren Länder kein Geld brauchen?[…] Wer würde wagen zu sagen, dass man keine Organisation braucht, um die Umsetzung der Verpflichtungen der einzelnen Länder zu überprüfen?" 21 Hinter diesen großen Worten verbirgt sich eine ganz andere Wirklichkeit. Der französische Staat und Nicolas Sarkozy haben sich für eine Senkung der CO2-Emissionen eingesetzt, damit Atomkraft, eine lebenswichtige Ressource für die französische Wirtschaft, in keinster Weise begrenzt werde! Aber von dieser Energie geht eine große Gefahr aus, die wie ein Damoklesschwert über der Menschheit hängt. Der Unfall in Tschernobyl hinterließ den Schätzungen zufolge zwischen 4.000 und 200.000 Tote – je nachdem, ob man die Krebstoten infolge der Verstrahlungen berücksichtigt oder nicht. Mit der Wirtschaftskrise werden die Staaten in der Zukunft viel weniger Mittel haben, AKWs zu unterhalten; die Wahrscheinlichkeit von Unfällen und Störfällen in AKWs wird zunehmen. Dabei wirkt Atomstrom heute schon als großer Umweltverschmutzer. Der französische Staat will glauben machen, die radioaktiven Abfälle würden "sauber" in La Hague entsorgt. In Wirklichkeit werden aus Kostenersparnisgründen radioaktive Abfälle heimlich nach Russland verschickt. "Ca. 13% unserer nuklearen Abfälle schlummern irgendwo auf sibirischem Boden. Insbesondere im atomaren Komplex Tomsk-7, eine geheime Stadt mit 30.000 Einwohnern, wo man Journalisten den Zutritt versagt hat. Dort werden seit Mitte der 1990er Jahre 108 Tonnen abgereichertes Uran aus französischen AKWs in Containern auf einem großen Parkplatz bei offenen Himmel gelagert." 22. Ein anderes Beispiel. Skandinavische Staaten brüsten sich an der Spitze der Umweltschützer zu stehen; sie stellen sich gerne als kleine Modelle dar. Aber wenn es um den Kampf gegen die Rodung der Wälder geht, "blockieren Schweden, Finnland aber auch Österreich, damit auf dieser Ebene nichts geschieht". 23. Der Grund: ihre Energieproduktion hängt sehr stark von Holz ab, zudem sind sie große Papierexporteure. Deshalb standen in Kopenhagen Schweden, Finnland und Österreich Seite an Seite mit China, das als der Welt führender Möbelhersteller aus Holz auch keine Begrenzung der Rodung der Wälder zulassen wollte. Dabei geht es keineswegs um ein Ideal. "Die Entwaldung ist verantwortlich für ein Fünftel der weltweiten CO2 Emissionen." 24 und "die Zerstörung von Wäldern belastet die Klimabilanz sehr […] Ungefähr 13 Millionen Hektar Wald werden jedes Jahr gefällt, d.h. soviel wie die Fläche Englands, dadurch sind Indonesien und Brasilien zum dritt- und viertgrößten CO2- Emittenten der Welt geworden." 25. Diese drei europäischen Länder, die sich als lebendiger Beweis dafür ausgeben, dass die kapitalistische Wirtschaft mit Ökologie vereinbar ist, "erhielten am ersten Tag der Verhandlungen den Preis der „Fossilien des Tages“ 26, weil sie sich weigern, ihre Verantwortung bei der Neuaufforstung der Waldböden anzuerkennen." 27
Ein Land verkörpert schon ganz alleine den Zynismus der Herrschenden hinsichtlich der Frage der Ökologie. Seit Monaten verkündete Russland lauthals, dass es für eine zahlenmäßige Festlegung auf eine CO2-Reduzierung sei. Diese Position mag als überraschend erscheinen, wenn man das Wesen des russischen Staates kennt. Sibirien ist radioaktiv verseucht. Seine Atomwaffen (Bomben, U-Boote usw.…) verrosten auf "Friedhöfen". Hätte nun der russische Staat Gewissensbisse bekommen? „Russland stellt sich als Modellnation hinsichtlich der CO2-Emissionen dar. Aber das ist nur ein Taschenspielertrick. Im November verpflichtete sich der russische Präsident Dimitri Medvedev zu einer Reduzierung der russischen Emissionen um 20% bis 2020 (auf der Grundlage der Ausgangswerte von 1990) 28, d.h. mehr als die EU. Aber dadurch entsteht keine wirkliche Verpflichtung, denn tatsächlich sind die russischen Emissionen schon seit 1990 um ….33% gesunken, weil das russische BSP nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ebenfalls zusammengebrochen ist. In Wirklichkeit versucht nämlich Moskau in der Zukunft mehr CO2 auszustoßen, um sein Wachstum nicht zu bremsen (falls es wieder ansteigt…) Die anderen Länder werden solch eine Haltung nicht leicht übernehmen." 29".
Der Kapitalismus wird niemals "grün" werden. Morgen wird die Wirtschaftskrise uns noch härter treffen. Das Schicksal des Planeten ist die letzte Sorge der Herrschenden. Sie wird nur nach einem streben: Ihre eigenen nationalen Interessen fördern. Dabei wird es zu mehr und mehr Zusammenstößen zwischen den Ländern kommen, unrentable Betriebe werden geschlossen oder man lässt sie einfach herunterkommen, die Produktionskosten werden gesenkt, die Sicherheit und Wartung der Betriebe und der Energieerzeuger (Atomkraft – und Kohlekraftwerke) wird eingeschränkt. All dies bedeutet mehr Verschmutzung und Unfälle in der Industrie. Das ist die Zukunft im Kapitalismus – eine sich zuspitzende Wirtschaftskrise, eine verrottende und umweltverschmutzende Infrastruktur und ein immer größeres Leiden für die Menschheit.
Es ist Zeit, dass wir den Kapitalismus überwinden, bevor er den Planeten zerstört und die Menschheit dezimiert.
Pawel, 6.1.2010.
(aus Platzgründen haben wir hier die Fußnoten nicht mit aufgeführt. Sie sind auf unserer Webseite zugänglich).
1 Nur amerikanische und chinesische Journalisten sprachen von einem "Erfolg", "einem Schritt vorwärts“. Wir werden später erklären, warum das der Fall war.
2 www.estadao.com.br/estadaodehoje/20091220/not_imp484972,0.php [27]
3 https://www.courrierinternational.com/article/2009/11/19/un-sommet-plus-important-que-yalta [28]
4 https://www.courrierinternational.com/article/2009/12/07/les-quotidiens-manifestent-pour-la-planete [29]
5 https://www.planetoscope.com/biodiversite [30]
6 www.futura-sciences.com/planete/actualites/climatologie-rechauffement-climatique-vers-30000-morts-an-chine-2-c-19468 [31]
7 Man kann nicht ausschließen, dass ein großer Teil der Intellektuellen und Verantwortlichen der Umweltverbände selbst an die Geschichten glaubt, die sie erfinden. Dies ist ziemlich wahrscheinlich der Fall.
8 Er erhielt den Friedensnobelpreis für seinen Kampf gegen die Klimaerwärmung mit einem Dokumentarfilm "Eine unbequeme Wahrheit".
9 m.futura-sciences.com/2729/show/f9e437f24d9923a2daf961f70ed44366&t=5a46cb8766f59dee2844ab2c06af8e74
10 ici.radio-canada.ca/nouvelle/444446/harper-exercice-nord [32]
11 Die Liste müsste fortgesetzt werden, denn seit Ende 2008, Anfang 2009 wurden Island, Bulgarien, Litauen und Estland schon als "insolvente Staaten" eingestuft.
12 Bericht [33] – von Telegraph (englische Zeitung) am 18. November 2009 veröffentlicht worden.
13 Quelle : weinstein-forcastinvest.net/apres-la-grece-le-top-10-des-faillites-a-venir
14 Le nouvel Observateur, französisches Zeitschrift, 3. – 9. Dezember.
15 Deshalb der Siegesschrei der amerikanischen und chinesischen Presse (in unserer Einführung hervorgehoben), für die das Nichtzustandekommen eines Vertrages "ein Schritt nach vorne" darstellt.
16 IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change)
17 Le nouvel Observateur, 3. -9. 12.2009, Sondernummer Kopenhagen.
18 Idem.
19 www.rue89.com/planete89/2009/12/19/les-cinq-raisons-de-lechec-du-sommet-... [34]
20 Les Echos 19-12-2009.
21 Le Monde 17-12-2009.
22 "Nos déchets nucléaires sont cachés en Sibérie", Libération du 12 octobre 2009.
23 Euronews 15-12-2009 (fr.euronews.net/2009/12/15/copenhague-les-emissions-liees-a-la-deforestation-font-debat)
24 www.rtl.be/info/monde/international/wwf-l-europe-toujours-faible-dans-la-lutte-contre-la-deforestation-143082.aspx [35]
25 La Tribune (quotidien français) du 19 décembre 2009.
26 Dieser Preis wird von einer Gruppe von 500 NGO verliehen, die Einzelpersönlichkeiten oder Staaten "würdigen", die euphemistisch gesagt, "die Entscheidungen im Kampf gegen die Erderwärmung hinauszögern". Auf dem Kopenhagener Gipfel konnte allen Ländern der Preis des "Fossil of the Day [36].verliehen werden.
27 Le Soir (belgische Tageszeitung) 10-12- 2009.
28 1990 ist das Referenzjahr für alle Treibhausgasemissionen für alle Länder seit dem Kyoto-Protokoll
29 Le nouvel Observateur 3.- 9.12.2009.
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/darwin
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kreationismus
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/intelligent-design
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/20-jahre-mauerfall
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/deutsche-wiederverereinigung
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/rohwedder
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/treuhand
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/birgit-breuel
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/deutsche-wiedervereinigung
[10] https://de.internationalism.org/content/1410/deutsche-revolution-viii
[11] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/grundung-der-kapd
[12] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1919-deutsche-revolution
[13] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/kapp-putsch-1920
[14] https://www.liberation.fr/monde/0101613901-pres-de-50-000-morts-en-haiti-selon-la-croix-rouge
[15] https://sciences.blogs.liberation.fr/home/2010/01/s%C3%A9isme-en-ha%C3%AFti-les-causes.html
[16] https://www.bme.gouv.ht/alea%20sismique/Al%E9a%20et%20risque%20sismique%20en%20Ha%EFti%20VF.pdf
[17] https://www.presseurop.eu/fr/content/article/169931-bien-plus-quune-catastrophe-naturelle
[18] https://www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/jan/13/our-role-in-haitis-plight
[19] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/erdbeben-haiti
[20] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/osterreich
[21] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/robert
[22] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/von-der-kommunistischen-linken-beeinflusst
[23] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kundus
[24] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/guttenberg-afghanistan
[25] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/anschlage-jemen
[26] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/konflikt-usa-iran
[27] http://www.estadao.com.br/estadaodehoje/20091220/not_imp484972,0.php
[28] https://www.courrierinternational.com/article/2009/11/19/un-sommet-plus-important-que-yalta
[29] https://www.courrierinternational.com/article/2009/12/07/les-quotidiens-manifestent-pour-la-planete
[30] https://www.planetoscope.com/biodiversite
[31] https://www.futura-sciences.com/planete/actualites/climatologie-rechauffement-climatique-vers-30000-morts-an-chine-2-c-19468/
[32] https://ici.radio-canada.ca/nouvelle/444446/harper-exercice-nord
[33] https://www.telegraph.co.uk/finance/economics/6599281/Societe-Generale-tells-clients-how-to-prepare-for-global-collapse.html
[34] http://www.rue89.com/planete89/2009/12/19/les-cinq-raisons-de-lechec-du-sommet-de-copenhague-130640?page=3#comment-1198267
[35] https://www.rtl.be/art/info/monde/international/wwf-l-europe-toujours-faible-dans-la-lutte-contre-la-deforestation-143082.aspx
[36] https://www.naturavox.fr/
[37] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/okologie
[38] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kopenhagen-klimagipfel
[39] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kapitalismus-okologie
[40] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/okologie-okonomie