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Internationale Revue 47

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19. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Situation

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Im Mai dieses Jahres hat die IKS ihren 19. internationalen Kongress abgehalten. Wie wir es bis jetzt immer getan haben, und in der Tradition der Arbeiterbewegung vermitteln wir den Lesern und Leserinnen unserer Presse die wichtigsten Resultate dieses Kongresses, da diese Lehren nicht eine interne Angelegenheit unserer Organisation sind, sondern die ganze Arbeiterklasse betreffen, von der wir ein Bestandteil sind.

1. Die am letzten Kongress der IKS angenommene Resolution unterstrich zunächst, wie die Fakten die optimistischen Voraussagen der Führer der bürgerlichen Klasse zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts widerlegt hatten, insbesondere die Voraussagen nach dem Zusammenbruch des „Reichs des Bösen“, als welches der so genannte „sozialistische“ Block galt. Die Resolution zitierte die bereits berühmte Erklärung von George Bush sen. im März 1991, in der er die Geburt einer „neuen Weltordnung“ ankündigte, die auf dem „Respekt vor dem Völkerrecht“ beruhe, und sie hob hervor, wie surrealistisch solche Voraussagen angesichts des sich ausbreitenden Chaos in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sind. Zwanzig Jahre nach dieser „prophetischen“ Rede, insbesondere nach Beginn dieses neuen Jahrzehnts, bietet die Welt ein chaotischeres Bild als je seit dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von einigen wenigen Wochen wurden wir Zeugen eines neuen Kriegs in Libyen, der die Liste all der blutigen Konflikte, die den Planeten in der letzten Zeit überzogen haben, verlängert, von weiteren Massakern an der Elfenbeinküste und der Tragödie, die eines der mächtigsten und modernsten Länder der Welt heimsuchte, nämlich Japan. Das Erdbeben, das einen Teil dieses Landes verwüstete, unterstrich einmal mehr, dass es nicht „Naturkatastrophen“ gibt, sondern katastrophale Folgen von natürlichen Erscheinungen. Es zeigte, dass die Gesellschaft heute über die Mittel verfügt, Gebäude zu erstellen, die den Erschütterungen widerstehen, Mittel, die es erlauben würden, Tragödien wie diejenige vom letzten Jahr in Haiti zu vermeiden. Aber es zeigte ebenso, wie wenig selbst ein so fortgeschrittener Staat wie Japan Gefahren voraussieht: Das Erdbeben selber forderte nur wenige Opfer, aber der darauf folgende Tsunami tötete beinahe 30‘000 Menschen in wenigen Minuten. Darüber hinaus offenbarte das neue Tschernobyl in Fukushima, dass es der herrschenden Klasse nicht nur an Voraussicht mangelt, sondern dass sie schlicht dem Zauberlehrling gleicht, der nicht in der Lage ist, die Geister zu bändigen, die er rief. Das Unternehmen Tepco, welches das Atomkraftwerk betreibt, ist nicht der hauptsächliche, und schon gar nicht der einzige Verantwortliche der Katastrophe. Vielmehr ist das kapitalistische System als ganzes, das auf dem unbändigen Streben konkurrierender nationaler Einheiten nach Profit, statt auf der Bedürfnisbefriedigung der Menschheit beruht, für die gegenwärtigen und noch kommenden Katastrophen, welche die menschliche Gattung erleiden muss, verantwortlich. In letzter Instanz ist das japanische Tschernobyl ein neuer Beweis für den endgültigen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise, eines Systems, dessen Überleben eine zunehmende Gefahr für das Überleben der Menschheit selber darstellt.

2. Offensichtlich drückt die Krise, die gegenwärtig der Weltkapitalismus durchmacht, am unmittelbarsten die geschichtliche Hinfälligkeit dieser Produktionsweise aus. Vor zwei Jahren ergriff eine helle Panik die Bourgeoisie aller Länder angesichts der Ernsthaftigkeit der wirtschaftlichen Lage. Die OECD schrieb unverblümt: „Die Weltwirtschaft befindet sich inmitten der tiefgreifendsten Rezession, die wir zu unseren Lebzeiten je gesehen haben“ (Zwischenbericht März 2009). Wenn man weiß, mit welcher Zurückhaltung sich diese hochehrwürdige Institution normalerweise ausdrückt, kann man ermessen, wie sehr die herrschende Klasse vom Schrecken gepackt war angesichts des möglichen Bankrotts des internationalen Finanzsystems, des brutalen Einbruchs des Welthandels (im Jahre 2009 mehr als 13%), der Gewalt der Rezession in den wichtigsten Ländern, der Welle von Pleiten, die Vorzeigeunternehmen der Industrie wie General Motors oder Chrysler erfasste oder bedrohte. Dieser Schrecken der Bourgeoisie veranlasste sie, Gipfeltreffen der G20 einzuberufen, wobei derjenige vom März 2009 in London die Verdoppelung der Reserven des Weltwährungsfonds und die massive Einschießung von Liquidität in die Wirtschaft durch die Staaten beschloss, um das Bankensystem vor dem Absturz zu bewahren und die Produktion wieder anzukurbeln. Das Gespenst der „Großen Depression der 1930er Jahre“ ging um, was die gleiche OECD veranlasste, solche Dämonen mit den Worten zu beschwören: „Obwohl dieser schwere weltweite Konjunkturabschwung von einigen bereits als ‚Große Rezession’ bezeichnet wurde, sind wir weit davon entfernt, eine Wiederholung der Großen Depression der 1930er Jahre zu erleben, was der Qualität und der Intensität der gegenwärtig getroffenen staatlichen Maßnahmen zu verdanken ist“ (a.a.O.). Doch wie die Resolution des 18. Kongresses sagte, besteht „ein Wesensmerkmal der offiziellen Reden der herrschenden Klasse heute darin, die Reden von gestern in Vergessenheit geraten zu lassen“, und der gleiche Zwischenbericht der OECD vom Frühjahr 2011 verleiht einer wahren Erleichterung Ausdruck angesichts der Wiederherstellung  des Bankensystems und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die herrschende Klasse kann nicht anders. Unfähig zu einer klaren, umfassenden und historischen Sicht auf die Schwierigkeiten, in denen ihr System steckt - da umgekehrt eine solche Klarsicht sie dazu führen würde, die endgültige Sackgasse des Systems zu entdecken -, ist sie dazu verdammt, die Wechsel der unmittelbaren Lage von Tag zu Tag zu kommentieren und zu versuchen, darin Momente des Trostes zu finden. Bei diesem Unterfangen unterschätzt sie immer wieder die Bedeutung des Hauptphänomens der letzten beiden Jahre: die Krise der Staatsanleihen in gewissen europäischen Ländern - auch wenn die Medien manchmal bei diesem Thema einen alarmierten Ton anschlagen. In der Tat stellt diese potentielle Pleite einer wachsenden Reihe von Staaten eine neue Phase im Versinken des Kapitalismus in der unüberwindlichen Krise dar. Sie verdeutlicht die Grenzen der Maßnahmen, mit denen es der Bourgeoisie gelungen ist, den Fortgang der kapitalistischen Krise seit mehreren Jahrzehnten zu bremsen.

3. Seit mittlerweile mehr als 40 Jahren steht das kapitalistische System der Krise gegenüber. Der Mai 68 in Frankreich und die Gesamtheit der proletarischen Kämpfe, die weltweit darauf folgten, breiteten sich nur deshalb so aus, weil sie genährt wurden durch eine globale Verschärfung der Lebensbedingungen, die ihrerseits auf den Auswirkungen der kapitalistischen Krise beruhte, insbesondere der Anstieg der Arbeitslosigkeit. Diese Krise verschärfte sich 1973-75 brutal mit der ersten großen internationalen Nachkriegs-Rezession. Seither folgten neue Rezessionen, welche die Weltwirtschaft jedes Mal tiefer und weiterreichender trafen und schließlich in der derjenigen von 2008-2009 einen vorläufigen Tiefpunkt erreichten, der das Gespenst der 1930er Jahre hervorrief. Die Maßnahmen, die der G20 im März 2009 zur Vermeidung einer neuen „Großen Depression“ ergriffen, zeigen die Politik auf, welche die herrschende Klasse seit einigen Jahrzehnten anwendet: Sie lässt sich zusammenfassen als Einschießung von beträchtlichen Kreditmassen in die Wirtschaft. Solche Maßnahmen sind nicht neu. Tatsächlich stellen sie seit 35 Jahren den Kern der Wirtschaftspolitik der herrschenden Klasse dar beim Versuch, dem großen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zu entgehen: der Unfähigkeit, zahlungsfähige Märkte zu finden, die ihre Produktion aufnehmen. Die Rezession von 1973-75 wurde durch massive Kredite an die Länder der Dritten Welt überwunden, doch ab Beginn der 1980er Jahre, mit der Schuldenkrise dieser Länder, musste die Bourgeoisie der am meisten entwickelten Länder auf diese Lunge für ihre Wirtschaft verzichten. Die Staaten der am weitesten entwickelten Länder, allen voran die USA, übernahmen nun die Rolle der „Lokomotive“ der Weltwirtschaft. Die „Reaganomics“ (neoliberale Politik der Reagan-Administration) zu Beginn der 80er Jahre, die einen bedeutenden Aufschwung der Wirtschaft dieses Landes erlaubten, beruhten auf einer noch nie dagewesenen Ausschöpfung der Budgetdefizite, während Ronald Reagan gleichzeitig erklärte: „Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“ Zugleich ermöglichten es die ebenfalls beträchtlichen Handelsdefizite dieser Großmacht, dass die in anderen Ländern produzierten Waren hier einen Absatz fanden. In den 1990er Jahren standen die asiatischen „Tiger“ und „Drachen“ (Singapur, Taiwan, Südkorea usw.) eine Weile den USA in dieser Rolle als „Lokomotive“ bei: Ihre spektakulären Wachstumsraten verwandelten jene in wichtige Absatzmärkte für die Waren der am meisten industrialisierten Länder. Aber diese „Erfolgsgeschichte“ hatte den Preis einer beträchtlichen Verschuldung, die jene Länder 1997 in große Schwierigkeiten führte vergleichbar mit denen des „neuen“ und „demokratischen“ Russland, das vor der Zahlungsunfähigkeit stand und grausam diejenigen enttäuschte, die auf das „Ende des Kommunismus“ setzten, um einen dauerhaften Aufschwung der Weltwirtschaft vorauszusagen. Zu Beginn der 2000er Jahre erfuhr die Verschuldung eine neue Beschleunigung, insbesondere dank der enormen Wucherung der Hypothekardarlehen im Bausektor von mehreren Ländern, vor allem in den USA. Dieses Land trieb seine Rolle als „Lokomotive der Weltwirtschaft“ auf die Spitze, aber zum Preis eines schwindelerregenden Wachstums der Schulden - insbesondere der US-amerikanischen Bevölkerung -, die auf allen möglichen „Finanzprodukten“ beruhten, die angeblich die Risiken einer Zahlungsunfähigkeit vermindern sollten. In Tat und Wahrheit führte die Verteilung von zweifelhaften Krediten keineswegs dazu, das über der amerikanischen Wirtschaft und derjenigen der Welt hängende Damoklesschwert in Sicherheit zu bringen. Im Gegenteil häuften sich im Kapital der Banken „toxische Guthaben“ an, die schließlich 2007 zu ihrem Zusammenbruch und 2008-2009 zur brutalen Weltrezession führten.

4. Die vom letzten Kongress angenommene Resolution sagte: „So ist die Finanzkrise nicht die Wurzel der gegenwärtigen Rezession. Im Gegenteil, die Finanzkrise verdeutlicht nur die Tatsache, dass die Flucht nach vorne in die Verschuldung, welche die Überwindung der Überproduktion ermöglicht hatte, nicht endlos lange fortgesetzt werden kann. Früher oder später  rächt sich die « reale Wirtschaft », d.h. was die Grundlagen der Widersprüche des Kapitalismus darstellt – die Überproduktion, die Unfähigkeit der Märkte, die Gesamtheit der produzierten Waren aufzusaugen. Diese Widersprüche treten dann wieder deutlich in Erscheinung.“ Und die gleiche Resolution präzisierte nach dem Gipfel des G20 vom März 2009, dass „die Flucht in die Verschuldung (…) eines der Merkmale der Brutalität der gegenwärtigen Rezession (ist). Die einzige « Lösung », die die herrschende Klasse umsetzen kann, ist eine erneute Flucht in die Verschuldung. Der G20 konnte keine Lösung für die Krise erfinden, ganz einfach, weil es keine Lösung für die Krise gibt.“

Die Krise der Staatsanleihen, die sich heute ausweitet, die Tatsache, dass die Staaten unfähig werden, den Schuldendienst zu leisten, illustriert drastisch diese Realität. Der mögliche Zusammenbruch des Bankensystems und die Rezession zwangen alle Staaten, beträchtliche Summen in ihre Wirtschaft einzuschießen, während umgekehrt die Einnahmen sich im freien Fall befinden, weil die Produktion zurückgeht. Aus diesem Grund nahmen die Staatsdefizite in den meisten Ländern beträchtlich zu. Für die am meisten gefährdeten unter ihnen wie Irland, Griechenland oder Portugal bedeutete dies der potentielle Bankrott, die Unfähigkeit, die Staatsangestellten zu bezahlen und die Schulden zu begleichen. Seither weigern sich die Banken, ihnen neue Darlehen zu geben, außer gegen exorbitant hohe Zinsen, da diese Länder keine Gewähr bieten, die Darlehen wieder zurück zu zahlen. Die „Rettungspläne“, welche die Europäische Bank und der Weltwährungsfond für sie ausarbeiteten, stellen lediglich neue Schulden dar, die ebenso wie die früheren zurück bezahlt werden müssen. Es ist mehr als ein Teufelskreis, es ist eine Höllenspirale. Die einzige „Effizienz“ dieser Pläne besteht in den noch nie dagewesenen Angriffen gegen die ArbeiterInnen, gegen die Staatsangestellten, deren Löhne und Stellen drastisch abgebaut wurden, aber auch gegen die Gesamtheit der Arbeiterklasse durch die Kürzungen von Ausgaben bei den Schulen, der Gesundheit und den Altersrenten wie auch durch starke Steuererhöhungen. Doch all diese Angriffe gegen die Arbeiterklasse beschneiden einmal mehr die Kaufkraft der ArbeiterInnen und leisten so einen weiteren Beitrag zur nächsten Rezession.

5. Die Krise der Staatsschulden in den PIIGS (Portugal, Island, Irland, Griechenland und Spanien) ist nur ein kleiner Teil des Erdbebens, das die Weltwirtschaft bedroht. Nur weil die großen Industriemächte gegenwärtig noch über die Note AAA auf der Bewertungsskala der Rating-Agenturen verfügen (der gleichen Agenturen, die am Vorabend des Debakels der Banken von 2008 diesen ebenfalls die Bestnote erteilt haben), heißt nicht, dass sich jene besser aus der Affäre ziehen würden. Ende April 2011 äußerte sich die Agentur Standard and Poor’s negativ über ein bevorstehendes Quantitative Easing Nr. 3, das heißt einen 3. Aufschwungsplan des amerikanischen Staats zur Ankurbelung der Wirtschaft. Mit anderen Worten läuft die größte Weltmacht Gefahr, dass ihr das „offizielle“ Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Bezahlung der Schulden entzogen wird - mindestens mit Dollars, die noch etwas wert sind. Tatsächlich hat dieses Vertrauen halb-offiziell schon zu schwinden begonnen mit dem Entscheid Chinas und Japans seit dem letzten Herbst, massiv Gold und Rohstoffe zu kaufen an Stelle von amerikanischen Staatsanleihen, was die Amerikanische Zentralbank dazu zwang, jetzt 70% bis 90% der ausgegebenen Anleihen selber zu kaufen. Und dieser Vertrauensverlust ist vollkommen gerechtfertigt, wenn man das unglaubliche Ausmaß der Verschuldung der amerikanischen Wirtschaft betrachtet: Im Januar 2010 betrug die öffentliche Verschuldung (Bundesstaat, Gliedstaaten, Gemeinden usw.) schon fast 100% des BIP, was aber nur einen Teil der Gesamtverschuldung des Landes im Umfang von 300% des BIP ausmachte (die auch die Schulden der Haushalte und der nicht im Finanzsektor tätigen Unternehmen beinhaltet). Und die Lage in den anderen großen Ländern ist nicht besser, in denen die Gesamtschuld im gleichen Zeitpunkt für Deutschland 280% des BIP ausmachte, für Frankreich 320%, für Großbritannien und Japan 470%. In Japan erreichte die öffentliche Schuld allein 200% des BIP. Und seither hat sich die Lage in allen Ländern mit den verschiedenen Aufschwungplänen nur noch verschlimmert.

So stellt der Bankrott der PIIGS nur die Spitze des Eisbergs des Bankrotts einer Weltwirtschaft dar, die ihr Überleben seit Jahrzehnten nur der verzweifelten Flucht nach vorn in die Verschuldung verdankt. Die Staaten, die über ihre eigene Währung verfügen wie Großbritannien, Japan und natürlich die USA, konnten diesen Bankrott verstecken, indem sie die Notenpresse heiß laufen ließen (im Gegensatz zu denjenigen der Euro-Zone wie Griechenland, Irland oder Portugal, die nicht über diese Möglichkeit verfügen). Aber diese ständigen Betrügereien der Staaten, die tatsächlich zu wahrhaften Falschmünzern mit dem Bandenboss USA wurden, können nicht endlos auf gleiche Art fortgesetzt werden, so wie auch die Betrügereien im Zusammenhang mit dem Finanzsystem mit dem Ausbruch der Krise von 2008 Schiffbruch erlitten haben und es fast ganz in den Abgrund getrieben hätten. Eines der sichtbaren Zeichen dieser Realität ist die gegenwärtige Beschleunigung der weltweiten Inflation. Die Krise der Verschuldung verschob sich von der Bankensphäre in diejenige der Staaten, wodurch die kapitalistische Produktionsweise in eine neue Phase ihrer zugespitzten Krise eingetreten ist, in der sich die Gewalt und die Ausdehnung ihrer Erschütterungen noch einmal beträchtlich verschärfen werden. Es gibt für den Kapitalismus keinen „Ausgang aus dem Tunnel“. Dieses System kann die Gesellschaft nur noch in eine ständig wachsende Barbarei ziehen.

6. Der imperialistische Krieg ist der wichtige Ausdruck der Barbarei, in welche der dekadente Kapitalismus die menschliche Gesellschaft stößt. Die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist der schlagendste Beweis dafür: Angesichts der historischen Sackgasse, in der sich ihre Produktionsweise befindet, angesichts der Zuspitzung der Handelskonkurrenz zwischen Staaten, ist die herrschende Klasse zu einer Flucht nach vorn in ihrer Kriegspolitik gezwungen, zu militärischen Konfrontationen. Für die meisten Historiker - auch solche, die sich nicht auf den Marxismus berufen - ist klar, dass der Zweite Weltkrieg ein Abkömmling der Großen Depression der 1930er Jahre war. Ebenso hatte die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zwischen den damaligen Blöcken, dem amerikanischen und dem russischen (Invasion der UdSSR in Afghanistan 1979, Kreuzzug der Reagan-Regierung gegen das „Reich des Bösen“), ihre Beweggründe zu einem wesentlichen Teil in der Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise Ende der 1960er Jahre. Doch hat die Geschichte gezeigt, dass diese Verbindung zwischen der Zuspitzung der imperialistischen Zusammenstöße und der wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus nicht direkt oder unmittelbar ist. Die Intensivierung des „Kalten Krieges“ führte schließlich zum Sieg des westlichen Blocks durch die Implosion des Gegners, was wiederum die Auflösung des ersteren zur Folge hatte. Die Welt entging zwar der Gefahr eines neuen verallgemeinerten Krieges, der zur Vernichtung der menschlichen Gattung hätte führen können, aber dafür explodierten überall militärische Spannungen und offene Zusammenstöße: Das Ende der rivalisierenden Blöcke bedeutete auch das Ende der Disziplin, die sie zuvor noch in ihren jeweiligen Gebieten hatten durchsetzen können. Seither wird die globale imperialistische Bühne durch den Versuch der größten Weltmacht beherrscht, ihre Führerrolle über den Rest der Welt und insbesondere über ihre früheren Bündnispartner aufrecht zu erhalten. Der erste Golfkrieg von 1991 offenbarte bereits diese Zielsetzung, aber die Geschichte der 1990er Jahre zeigte insbesondere mit dem Krieg in Jugoslawien, dass dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Der „Krieg gegen den Weltterrorismus“, den die USA nach den Attentaten des 11. September 2001 erklärten, hatte den Anspruch, diese Führerrolle erneut zu behaupten, aber die festgefahrene Situation in Afghanistan und im Irak haben verdeutlicht, dass sie diese Rolle nicht mehr zurück erobern können.

7. Die Misserfolge der USA haben diese Macht nicht davon abgebracht, ihre Offensivpolitik, die sie seit Beginn der 1990er Jahre führte und sie zum wichtigsten destabilisierenden Faktor im Weltmaßstab machte, fortzusetzen. Die Resolution des letzten Kongresses sagte dazu: „Angesichts dieser Lage werden Obama und seine Administration nichts anderes tun können, als die kriegstreiberische Politik ihrer Vorgänger fortzusetzen“ (…) „So verfolgt Obama mit dem Rückzug der Truppen aus dem Irak lediglich den Zweck, sie dafür in Afghanistan und Pakistan einzusetzen.“ Dies hat sich kürzlich mit der Exekution Bin Ladens durch ein amerikanisches Kommando auf pakistanischem Gebiet bewahrheitet. Diese „heldenhafte“ Operation ist natürlich im Rahmen der Vorbereitung auf die nächsten Wahlen, die in anderthalb Jahren stattfinden, zu sehen. Sie zielte insbesondere darauf ab, den republikanischen Kritikern Wind aus den Segeln zu nehmen, da sie ihm vorwarfen, er sei zu weich bei der Bekräftigung der Vorreiterrolle der USA auf militärischer Ebene, wobei diese Kritiken anlässlich der Intervention in Libyen lauter wurden, als die Führerrolle bei dieser Operation dem französisch-britischen Tandem überlassen wurde. Sie bedeutete auch, dass es nach 10 Jahren, in denen Bin Laden als der Böse schlechthin herhalten musste, Zeit wurde, sich seiner zu entledigen, wenn man nicht als ohnmächtig dastehen wollte. Mit dieser Kommandoaktion stellten die USA unter Beweis, dass sie die einzige Macht sind, die die Mittel hat, eine solche Operation in militärischer, technologischer und logistischer Hinsicht durchzuführen, und zwar genau zu der Zeit, als Frankreich und Großbritannien Mühe mit ihrer Operation gegen Ghaddafi bekunden. Sie zeigte aller Welt, dass die USA nicht zögern, die „nationale Souveränität“ eines „Bündnispartners“ zu verletzen, dass sie die Spielregeln bestimmen, wenn immer sie es für nötig erachten. Schließlich zwang diese Aktion die meisten Regierungen der Welt dazu, ihren erfolgreichen Ausgang zu begrüßen, obwohl dies vielen gegen den Strich ging.

8. Trotzdem ist dieser Schlag Obamas in Pakistan keineswegs geeignet, die Lage in der Region, insbesondere in Pakistan selber zu stabilisieren; vielmehr besteht gerade hier die Gefahr, dass diese Ohrfeige für den „nationalen Stolz“ alte Konflikte zwischen verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie und dem Staatsapparat schürt. Weiter wird der Tod Bin Ladens nicht dazu führen, dass nun die USA und die anderen in Afghanistan engagierten Staaten die Kontrolle in diesem Land zurück gewinnen und die Autorität eines Karzai-Regimes konsolidieren könnten, das durch Korruption und Stammesfehden vollständig untergraben ist. Allgemeiner gesagt, wird der Tod Bin Ladens die Tendenzen des „Jeder-für-sich“ nicht bremsen, ebenso wenig wie den Widerstand gegen die Autorität der ersten Weltmacht, wie er weiterhin beispielsweise in erstaunlichen punktuellen Allianzen zum Ausdruck kommt: in der Annäherung zwischen der Türkei und dem Iran; in den Allianzen zwischen dem Iran, Brasilien und Venezuela (strategisch und gegen die USA gerichtet); zwischen Indien und Israel (militärisch und zum Aufbrechen der Isolation); zwischen China und Saudi-Arabien (militärisch und strategisch); usw. Insbesondere wird er China nicht davon abhalten, seine imperialistischen Ansprüche zur Geltung zu bringen, die ihm sein neuer Status als industrielle Großmacht zu haben erlaubt. Es ist klar, dass dieses Land trotz seiner demographischen und wirtschaftlichen Stärke überhaupt nicht die militärischen oder technologischen Mittel hat und in absehbarer Zeit nicht haben wird, um selber ein Blockführer zu werden. Doch hat es die Mittel, um die amerikanischen Ansprüche noch mehr zu durchkreuzen - sei dies in Afrika, im Iran, in Nordkorea, Burma - und seinen Teil zur wachsenden Instabilität beizutragen, welche die imperialistischen Beziehungen prägen. Die „neue Weltordnung“, die Vater George Bush vor 20 Jahren prognostizierte und die er sich unter der Vorherrschaft der USA erträumte, entlarven sich je länger je mehr als ein „Weltchaos“ - ein Chaos, das die Konvulsionen der kapitalistischen Wirtschaft nur noch verschlimmern werden.

9. Angesichts des Chaos das die bürgerliche Gesellschaft auf allen Ebenen, der Ökonomie, des Krieges und auch auf der Ebene der Umwelt, so wie wir es kürzlich in Japan erlebt haben, ergriffen hat, hat nur die Arbeiterklasse eine Lösung anzubieten. Ihre Lösung ist die kommunistische Revolution. Die unüberwindbare Krise der kapitalistischen Wirtschaft, die Erschütterungen, welche sie in immer schärferer Form kennt, bilden die objektiven Bedingungen dafür. Einerseits ist die Arbeiterklasse gezwungen, ihre Kämpfe gegen die dramatischen Angriffe von Seiten der ausbeutenden Klasse zu verstärken. Andererseits erlaubt dies der Arbeiterklasse zu verstehen, dass ihre Kämpfe eine große Bedeutung haben, als Vorbereitung zur entscheidenden Auseinandersetzung mit einer Produktionsweise, dem Kapitalismus, der von der Geschichte verdammt ist unterzugehen. Wie in der Resolution des letzten internationalen Kongress beschrieben: „Der Weg, der uns zu revolutionären Kämpfen und zum Umsturz des Kapitalismus führt, ist lang und schwierig. (…) Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in der Arbeiterklasse wirklich Wurzeln schlagen kann, muss Letztere Vertrauen in ihre eigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Der gewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, bildet eine objektive Grundlage für solche Kämpfe.“ Zum Unmittelbaren stellte die damalige Resolution fest: „Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden - Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe zunächst zuwider. (…) Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann - namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen -, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“

10. Die zwei Jahre, die uns vom letzten Kongress trennen, haben dies vollauf bestätigt. Diese Periode war nicht gezeichnet von verbreiteten Kämpfen gegen die massiven Entlassungen oder gegen die steigende Arbeitslosigkeit, welche die Arbeiterklasse in den am meisten fortgeschrittenen Ländern über sich ergehen lassen muss. Gleichzeitig gibt es aber bedeutende Kämpfe gegen die „notwendigen Kürzungen der Sozialausgaben“. Doch diese Antwort ist immer noch schüchtern, vor allem dort, wo die Sparmaßnahmen die brutalsten Formen angenommen haben, in Ländern wie z.B. Griechenland oder Spanien, auch wenn die Arbeiterklasse dort in letzter Zeit ein bedeutendes Niveau an Kampfbereitschaft gezeigt hat. In gewisser Weise scheint die Brutalität der Angriffe in den Reihen der Arbeiterklasse ein Gefühl der Machtlosigkeit ausgelöst zu haben, vor allem auch, weil sie durch „linke“ Regierungen durchgesetzt wurden. Paradoxerweise hat sich dort, wo die Angriffe am wenigsten stark waren, wie z.B. in Frankreich, die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse am massivsten manifestiert – mit der Bewegung gegen die Rentenreform im Herbst 2010.

11. Die massivsten Bewegungen, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, entfalteten sich nicht in den am höchsten industrialisierten Ländern, sondern in Ländern der Peripherie des Kapitalismus, vor allem in einigen Ländern der arabischen Welt wie in Tunesien und Ägypten. Dort war die herrschende Klasse, nachdem sie erst mit einer brutalen Repression geantwortete hatte, gezwungen, die Diktatoren abzusetzen. Diese Bewegungen waren nicht klassische Arbeiterkämpfe, wie sie sich in diesen Ländern kurz zuvor ereignet hatten (z.B. die Arbeitskämpfe in Gafsa in Tunesien 2009 oder die massiven Streiks in der ägyptischen Textilindustrie während des Sommers 2007, die eine große Solidarität von anderen Sektoren erhielten). Sie haben oft die Form sozialer Revolten angenommen, in denen sich verschiedenste Teile der Gesellschaft wiederfanden: Beschäftigte des Staates und der Privatwirtschaft, Arbeitslose, aber auch Kleinhändler und Bauern und Freiberufliche, die Jugend usw. Aus diesem Grund ist die Arbeiterklasse über die meiste Zeit hinweg nicht direkt als solche erkennbar aufgetreten (wie zum Beispiel in den Streiks in Ägypten in der Endphase der Revolte) und konnte noch weniger eine führende Rolle einnehmen. Dennoch ist der Ursprung dieser Revolten (was sich in vielen Forderungen widerspiegelte) derselbe wie derjenige von Arbeiterkämpfen in anderen Ländern: die dramatische Zuspitzung der Krise und die zunehmende Misere, welche innerhalb der gesamten nichtausbeutenden Bevölkerung um sich greift. Wenn die Arbeiterklasse in diesen Kämpfen im arabischen Raum im Allgemeinen nicht als Klasse aufgetreten ist, so war ihr Einfluss in den Ländern, in denen sie ein stärkeres Gewicht hat, dennoch spürbar. Dies vor allem durch die Atmosphäre einer großen Solidarität in den Revolten und die Fähigkeit, Fallen von blinder und verzweifelter Gewalt zu vermeiden, auch dann, wenn sie mit einer starken Repression konfrontiert waren. Wenn schlussendlich die herrschende Klasse in Tunesien und Ägypten auf den Ratschlag der USA hin die alten Diktatoren über die Klinge springen ließ, so geschah dies weitgehend wegen der starken Präsenz der Arbeiterklasse in diesen Bewegungen. Beweis dafür ist die Entwicklung der Bewegung in Libyen: nicht die Absetzung des alten Diktators Ghaddafi, sondern eine militärische Konfrontation zwischen bürgerlichen Cliquen, in der die Ausgebeuteten als Kanonenfutter dienen. In Libyen ist ein großer Teil der Arbeiterklasse aus eingewanderten Arbeitern zusammengesetzt (aus Ägypten, Tunesien, China, Schwarzafrika, Bengalen), deren überwiegende Reaktion die Flucht vor der blindwütigen Repression war, welche in den ersten Tagen entfesselt wurde.

12. Das militärische Resultat der Ereignisse in Libyen durch das Eingreifen der NATO in den Konflikt erlaubte es der herrschenden Klasse, Kampagnen der Verschleierung gegenüber der Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder vom Stapel zu reißen, deren spontane Reaktion die Solidarität und das Begrüßen des Mutes und der Entschlossenheit der Demonstranten in Tunis und Kairo war. Vor allem die massive Präsenz der gut ausgebildeten Jugend, welche mit einer Zukunft in Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert ist, ist ein Echo auf die kürzlich erfolgten Bewegungen der jungen Generation in verschiedenen europäischen Ländern: die Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich im Frühling 2006, Revolten und Streiks in Griechenland Ende 2008, Demonstrationen und Streiks in den Hochschulen und Universitäten in Großbritannien Ende 2010, Studentenbewegungen in Italien und in den USA 2009-2010, usw. Die Kampagnen der herrschenden Klasse, welche darauf abzielen, die Bedeutung der Revolten in Tunesien und Ägypten zu verwischen, werden erleichtert durch die großen demokratischen Illusionen, die tatsächlich noch auf der Arbeiterklasse in diesen Ländern lasten: Nationalismus, demokratische und vor allem gewerkschaftliche Illusionen, ähnlich wie es 1980-81 im Kampf der Arbeiterklasse in Polen der Fall war.

13. Vor 30 Jahren sah sich die IKS angesichts dieser Bewegung in Polen gezwungen, eine kritische Analyse gegenüber der Theorie des „Schwächsten Gliedes“, welche vor allem von Lenin in der Zeit der Russischen Revolution vertreten wurde, zu formulieren. Damals argumentierte die IKS auf der Basis der Positionen, die von Marx und Engels entwickelt wurden, dass der Funke zur proletarischen Revolution vor allem in den zentralen Ländern des Kapitalismus entspringen wird. Dies aufgrund der großen Konzentration der Arbeiterklasse in diesen Ländern und vor allem aufgrund ihrer historischen Erfahrung, welche sie eher in die Lage versetzt, von der herrschenden Klasse gestellte ideologische Fallen zu durchschauen. Einer der wichtigsten Schritte für die weltweite Arbeiterklasse in der Zukunft wird nicht nur die Entfaltung massiver Kämpfe in den zentralen Ländern Westeuropas sein, sondern auch die Fähigkeit, die demokratischen und gewerkschaftlichen Fallen zu vermeiden, indem sie den Kampf in die eigenen Hände nimmt. Diese Bewegungen werden für die weltweite Arbeiterklasse ein Orientierungspunkt sein, einschließlich für die Arbeiterklasse im mächtigsten kapitalistischen Land, den USA, wo das Abgleiten in die zunehmende Armut, das schon heute Millionen von Beschäftigten betrifft, den „amerikanischen Traum“ in einen Albtraum verwandelt hat.

 

14. Die Bewegung im Herbst 2010 gegen die Rentenreform in Frankreich, in einem Land, in dem das Proletariat seit dem Mai 1968 als eine Art Bezugspunkt für viele Arbeiter in anderen europäischen Ländern gilt, hat gezeigt, dass wir noch ein weites Stück entfernt sind von einer Überwindung der gewerkschaftlichen Kontrolle und dem eigenen in die Hände Nehmen der Kämpfe. Dies wurde noch deutlicher ersichtlich während den massiven „Mobilisierungen“ der britischen Gewerkschaften gegen die Sparpläne der Cameron-Regierung im März 2011. Dennoch, die Tatsache, dass innerhalb dieser Bewegungen gegen die Rentenreform in Frankreich trotz des allgegenwärtigen Klammergriffs von Intersyndical sich in verschiedenen Städten eine Anzahl von „überberuflichen Vollversammlungen“ bildete, ist Ausdruck des Willens der Arbeiterklasse, auf die gewerkschaftliche Umklammerung zu reagieren und selbst eine direkte Kontrolle mittels für alle offenstehende Vollversammlungen zu suchen und damit die berufliche Aufsplitterung zu überwinden. Es ist ein Anzeichen, dass die Arbeiterklasse beginnt, den Weg in Richtung dieser wesentlichen Etappe einzuschlagen. Überdies sind die in der letzten Zeit ausgebrochenen Kämpfe in peripheren Ländern Zeichen für die Entwicklung einer Situation, in der in der Zukunft entscheidende Kämpfe in den zentralen Ländern sofort Signal für die weltweite Ausbreitung der Bewegung der Arbeiterklasse sein können. Die Krise erschüttert die Arbeiterklasse auf der ganzen Welt mit enormer Brutalität. Wie auch immer die Fallen der herrschenden Klasse aussehen werden, wie heftig auch immer das Zögern der Arbeiterklasse angesichts der bevorstehenden Aufgaben sein wird, das Proletariat ist gezwungen, immer massiver und bewusster zu kämpfen - und es ist die Aufgabe der Revolutionäre, sich an diesen Kämpfen in entschlossener Art und Weise zu beteiligen. Das Proletariat soll fähig werden, seine historische Aufgabe zu erfüllen: die Überwindung des Kapitalismus mit all seiner Barbarei, der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft, der Weg der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in dasjenige der Freiheit.

Mai 2011

Historische Ereignisse: 

  • Kongress; Roslution; International [1]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

Dekadenz des Kapitalismus (VI) Die Theorie des kapitalistischen Niedergangs und der Kampf gegen den Revisionismus

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Engels und das Herannahen der historischen Krise des Kapitalismus 

Laut einer bestimmten Denkschule gewisser akademischer Marxologen, Rätisten und Anarchisten trat nach dem Tode von Marx 1883 eine Periode der Sterilität der marxistischen Theorie ein. Die sozialdemokratischen Parteien und die Zweite Internationale waren in dieser Sichtweise im Grunde vom „Engelsianismus“ beherrscht, einem Versuch der zweiten Geige von Marx und dessen Schlachtenbummlers, die Untersuchungsmethode von Marx in ein halb-mechanistisches System zu verwandeln, das die radikale Sozialkritik fälschlicherweise mit der Vorgehensweise der Naturwissenschaften gleichsetze. Auch wurde der „Engelsianismus“ angegriffen, ein Rückschritt gegenüber quasi-mystischen hegelianischen Dogmen zu sein, insbesondere im Zusammenhang mit Engels‘ Bemühungen, eine „Dialektik der Natur“ zu entwickeln. In dieser Sichtweise ist das Natürliche nicht sozial und das Soziale nicht natürlich. Die Dialektik könne, sofern sie existiert, nur auf die soziale Sphäre angewendet werden.

Dieser Bruch in der Kontinuität zwischen Marx und Engels – der in seiner extremsten Form nahezu die gesamte Zweite Internationale als ein Vehikel abtut, das die proletarische Bewegung den Bedürfnissen des Kapitals angepasst habe – wird häufig benutzt, um jeglichen Gedanken an eine Kontinuität in der politischen Geschichte der Arbeiterklasse zu verwerfen. Wir werden dazu ermuntert, nach Marx, dessen Werk freilich einige unserer Anti-Engelsianer verleugnen (was sie allerdings nicht daran hindert, gelegentlich den Experten in Detailfragen der Wert-Preis-Umwandlung oder in anderen Teilaspekten der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu mimen), Engels, Kautsky, Lenin, die Zweite und Dritte Internationale zu überspringen. Und obgleich Teilen der Kommunistischen Linken - ungeachtet dessen, dass sie Sprösslinge dieser zweifelhaften Sippschaft sind - widerwillig eingeräumt wird, dass sie zu einigen Einsichten gelangt waren, werde die wirkliche Kontinuität der Theorie Marx‘ allein von jenem losen Haufen brillanter Individuen fortgesetzt, die ihn als einzige in den letzten Jahrzehnten wirklich verstanden hätten – niemand anders also als den Befürwortern der „anti-engelsistischen“ Thesen.

Wir können hier auf diese Ideologie nicht in aller Ausführlichkeit eingehen. Wie alle Mythen stützt sie sich auf ein gewisses Körnchen Wahrheit, die allerdings verzerrt und über alle Maßen überhöht wird. Zur Zeit der Zweiten Internationale, eine Zeit, in der sich die Arbeiterbewegung als gesellschaftliche Kraft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft organisierte, gab es tatsächlich eine Neigung, den Marxismus zu schematisieren und ihn in eine Form des Determinismus zu verwandeln. Gleichzeitig sah sich die Arbeiterbewegung einem starken Druck reformistischer Ideen ausgesetzt. Selbst die besten Marxisten, einschließlich Engels selbst, waren nicht völlig gefeit dagegen. [1]Doch auch wenn Engels in jener Zeit einige gewichtige Irrtümer beging, ist es angesichts der äußerst engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Männern vom Anfang bis zum Ende ihrer Beziehungen eine Absurdität, Engels‘ Werk nach dem Tod Marx‘ rundweg als eine Negation und Perversion der wirklichen Ideen von Marx abzulehnen. Es war Engels, der die immense Arbeit auf sich nahm, das Kapital von Marx zu redigieren und zu veröffentlichen; und ironischer weise sind viele von jenen, die einen Keil zwischen Marx und Engels treiben wollen, überglücklich, wenn sie aus dem zweiten und dritten Band vom Kapital zitieren können, ungeachtet der Tatsache, dass diese erst durch den angeblich verständnislosen Engels der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

Einer der Hauptexponenten dieser „anti-engelsianistischen“ Denkschule ist die Gruppe Aufheben in Großbritannien, deren Serie „Die Dekadenz: Theorie des Niedergangs oder Niedergang der Theorie“[2] von einigen als letzter Sargnagel für den Begriff der kapitalistischen Dekadenz betrachtet wird, wenn man sieht, wie häufig diese Serie von jenen zitiert wird, die diesem Begriff ablehnend gegenüberstehen. Nach ihrer Auffassung ist die Dekadenz des Kapitalismus im Wesentlichen eine Erfindung der Zweiten Internationale: „Die Theorie der kapitalistischen Dekadenz tauchte zuerst in der Zweiten Internationale auf. Das Erfurter Programm etablierte, unterstützt von Engels, die Theorie des Niedergangs und Zusammenbruchs des Kapitalismus als Kernbestandteil des Parteiprogramms.“.[3]

Und sie zitieren folgenden Passagen: „So verwandelt das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht bloß für die Produzenten der Kleinbetriebe, sondern für die ganze Gesellschaft sein ursprüngliches Wesen in sein Gegenteil. Aus einer Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung wird es zu einer Ursache der gesellschaftlichen Versumpfung, des gesellschaftlichen Bankerotts.

Heute fragt sich’s nicht mehr, ob man das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufrechterhalten will oder nicht. Sein Untergang ist gewiss. Es fragt sich nur: Soll es die Gesellschaft mit sich in den Abgrund reißen, oder soll diese sich der verderblichen Bürde entledigen, um frei und neugestärkt den Weg weiterwandeln zu können, den die Gesetze der Entwicklung ihr vorschreiben?“

„Die Produktivkräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt haben, sind unvereinbar geworden mit der Eigentumsordnung, auf der dieselbe beruht. Diese Eigentumsordnung aufrechterhalten wollen, heißt jeden weiteren gesellschaftlichen Fortschritt unmöglich machen, heißt die Gesellschaft zum Stillstand, zur Verwesung verurteilen…“

„Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet; ihre Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit; die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankerott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform anstelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden.“

„Ein Beharren in der kapitalistischen Zivilisation ist unmöglich; es heißt entweder vorwärts zum Sozialismus oder rückwärts in die Barbarei.“

In der Zusammenfassung, mit welcher der nächste Artikel aus der Reihe (Aufheben, Nr. 3) beginnt, ist das Argument, dass das Konzept der Dekadenz im „Marxismus der Zweiten Internationale“ verwurzelt sei, gar noch ausdrücklicher: „In Teil 1 schauten wir uns an, inwieweit diese Idee des Niedergangs oder der Dekadenz ihre Wurzeln im Marxismus der Zweiten Internationale hat und von beiden Anklägern gegen die Kulisse der reinen Fortführer der ‚klassischen marxistischen Tradition‘ aufrechtgehalten wurde – dem trotzkistischen Leninismus und dem Links- oder Rätekommunismus.“

Obwohl die Zitate, von denen Aufheben sagt, sie stammten aus dem Erfurter Programm, offensichtlich aus Kautskys Kommentaren zum Programm stammen statt aus dem Dokument selbst, enthält die Präambel des eigentlichen Programms einen Bezug auf den Begriff des kapitalistischen Niedergangs, in dem in der Tat behauptet wird, dass diese Epoche bereits angebrochen sei: „Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.“ Fakt ist jedoch, dass trotz der Ansicht von Aufheben, wonach das Erfurter Programm sich so sehr auf die Dekadenztheorie stütze, schon ein flüchtiges Durchlesen des Programms den Eindruck erweckt, dass es so gut wie keine Verbindung zwischen der oben genannten allgemeinen Diagnose und den Forderungen gibt, die im Programm aufgestellt werden und die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erkämpft werden sollen. Und selbst die vielen detaillierten Kritiken von Engels an diesen Forderungen nehmen nahezu keinen Bezug auf den historischen Kontext, in welchem diese Forderungen gestellt werden.[4]

Dies einmal festgestellt, ist es sicherlich zutreffend, dass im Werk von Engels und anderer Marxisten im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend Bezugnahmen auf den Begriff eines Kapitalismus anzutreffen sind, der in eine Alterskrise, in eine Epoche des Niedergangs eingetreten ist.

Doch während dies für Aufheben eine Abkehr von Marx war – der, wie sie verfechten, den Kapitalismus lediglich als ein „Übergangssystem“ betrachtet und keinen Gedanken an einem objektiven Prozess des Niedergangs oder Zusammenbruchs als Fundament für den revolutionären Kampf gegen das System verschwendet habe -, haben wir versucht, in den vorherigen Artikeln dieser Reihe aufzuzeigen, dass die Konzeption der kapitalistischen Dekadenz (wie der Dekadenz früherer Klassengesellschaften) völlig in Einklang stand mit den Ansichten von Marx.

Außerdem verhält es sich so, dass Marx seine Schriften über die politische Ökonomie in einer Epoche verfasste, als der Kapitalismus sich noch auf seinem triumphalen Aufstieg befand. Seine periodischen Krisen waren Jugendkrisen, die dazu dienten, den unaufhaltsamen Vormarsch dieser dynamischen Produktionsweise auf dem gesamten Globus anzutreiben. Dennoch war Marx in der Lage gewesen, in diesen Zuckungen auch die Vorboten des letztendlichen Untergangs des Systems zu erkennen, und hatte bereits die ersten Anzeichen dafür erblickt, dass das Kapital seine historische Mission erfüllt hat, als es immer entferntere Gebiete erschloss, während im „alten Europa“ nach an den Ereignissen rund um die Pariser Kommune die Phase der heroischen Nationalkriege, wie er behauptete, zu einem Ende gekommen waren.

Darüber hinaus wurden in der Zeit nach dem Tod von Marx die nahenden Anzeichen einer Krise von historischen Proportionen, und nicht nur einer Wiederholung der alten zyklischen Krisen, immer deutlicher.

So sinnierte zum Beispiel Engels über die Bedeutung des offenkundigen Endes der Zehn-Jahres-Krisenzyklen und über den Beginn dessen, was er als chronische Depression bezeichnete, von der die kapitalistische Herkunftsnation, Großbritannien, bereits erfasst war. Und während sich neue mächtige kapitalistische Nationen ihren Weg zum Weltmarkt bahnten, vor allem Deutschland und die USA, sah Engels bereits, dass dies unvermeidlich in eine weitaus tiefere Überproduktionskrise münden wird: „Amerika wird Englands Industriemonopol brechen – was noch davon übriggeblieben ist – aber Amerika allein kann das Erbe dieses Monopols nicht antreten. Und wenn ein Land nicht allein das Monopol auf den Weltmärkten besitzt, zumindest in den entscheidenden Handelszweigen, können die verhältnismäßig günstigen Bedingungen, die in England von 1848 bis 1870 bestanden, nirgends reproduziert werden, und selbst in Amerika muss Lage der Arbeiterklasse nach und nach immer schlechter werden. Denn wenn drei Länder (sagen wir England, Amerika und Deutschland) unter verhältnismäßig gleichen Bedingungen um den Besitz des Weltmarkts konkurrieren, dann gibt es keinen Ausweg als chronische Überproduktion, da jedes der drei Länder imstande ist, den gesamten Bedarf zu decken.“[5] Gleichzeitig erkannte Engels die Tendenz des Kapitalismus, seinen eigenen Ruin durch die beschleunigte Eroberung des nicht-kapitalistischen Hinterlandes, das die kapitalistischen Metropolen umgab, in die Wege zu leiten: „Denn es ist eine der notwendigen Folgeerscheinungen der grande industrie, dass sie ihren eigenen inneren Markt durch denselben Prozess zerstört, durch den sie ihn schafft. Sie schafft ihn, indem sie die Basis der bäuerlichen Hausindustrie vernichtet. Aber ohne Hausindustrie kann die Bauernschaft nicht leben. Die Bauern werden als Bauern ruiniert; ihre Kaufkraft wird auf ein Minimum reduziert; und bis sie sich als Proletarier in die neuen Existenzbedingungen hineingefunden haben, geben sie für die neuentstandenen Fabriken einen sehr schlechten Markt ab.

Die kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. Ein anderer liegt in der ausweglosen Lage, zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Russland, eher eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. Diese letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor einer Sackgasse. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, dessen Erschließung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerstörung der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen unmöglich sein, ihr Dasein zu fristen. Die Folge wird eine Massenauswanderung sein, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine Überflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verhassten Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europäischen Arbeiter auf der Grundlage des chinesischen Lebensstandards, des niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird – und wenn die Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgewälzt ist, so wird ihre Umwälzung dann  notwendig werden. Die kapitalistische Produktion erzeugt ihren eigenen Untergang, und Sie können sicher sein, sie wird das auch in Russland tun…“[6]

Die Zunahme des Militarismus und Imperialismus, die vor allem darauf abzielten, die Eroberung der nicht-kapitalistischen Gebiete des Planeten zu vervollständigen, versetzte ihn auch in die Lage, mit bemerkenswerter Klarheit die Gefahren dieser Entwicklungen zu sehen, die auf das Zentrum des Systems – auf Europa – zurückzufallen und die Zivilisation in die Barbarei zu stürzen drohen, bei gleichzeitiger Beschleunigung des Reifungsprozesses der Revolution.

„Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie erahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse.“[7]

Als dies jedoch eintrat, meinte Engels nicht, dass solch ein Krieg unvermeidlich den Sozialismus bringen werde: Er hatte die wohlbegründete Sorge, dass der allgemeine Erschöpfungszustand auch das Proletariat betreffen und es unfähig machen könnte, seine Revolution zu vollziehen (somit, würden wir hinzufügen, eine gewisse Attraktion für etwas utopische Entwürfe, die den Krieg hinauszögern oder auf Eis legen wollen, wie die Ersetzung der stehenden Heere durch eine Volksmiliz). Doch Engels hatte Anlass zu hoffen, dass die Revolution vor einem paneuropäischen Krieg ausbricht. Ein Brief an Bebel (24.-26. Oktober 1891) verleiht dieser „optimistischen“ Sichtweise Ausdruck: „Die Berichte lassen Dich sagen, ich hätte den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft auf 1898 geweissagt. Da ist ein kleiner Irrtum irgendwo. Ich habe nur gesagt, bis 98 könnten wir möglicherweise ans Ruder kommen. Die alte bürgerliche Gesellschaft könnte, falls dies nicht geschähe, noch einige Zeit fortvegetieren, solange nicht ein äußerer Anstoß den morschen Kasten zusammenkrachen lässt. So eine faule Kiste kann ein paar Jahrzehnte vorhalten nach ihrem wesentlichen inneren Tod, wenn die Luft ruhig bleibt.“

In dieser Passage findet man sowohl die Illusionen der damaligen Bewegung als auch ihre grundlegende theoretische Stärke. Die dauerhaften Errungenschaften der sozialdemokratischen Partei vor allem an der Wahlfront und in Deutschland führten zu der übertriebenen Hoffnung, dass es eine Art von unaufhaltsamem Prozess zur Revolution geben könnte (und sogar die Revolution selbst in halb-parlamentarischen Begriffen betrachtet werden könnte, trotz der so häufig wiederholten Warnungen vor dem parlamentarischen Kretinismus, der ein zentraler Gesichtspunkt der schnell aufkeimenden Ideologie des Reformismus war). Gleichzeitig waren die Konsequenzen eines Scheiterns des Proletariats bei der Machtergreifung klar: ein Kapitalismus, der einige Jahrzehnte als „faule Kiste“ überlebt – wenngleich Engels, wie die meisten damaligen Revolutionäre, wahrscheinlich nicht angenommen hätte, dass dieser Kapitalismus mehr als ein Jahrhundert in seiner Niedergangskrise ausharren kann. Doch die theoretische Untermauerung, um solch einen Zustand zu antizipieren, kommt in diesen Zeilen deutlich zum Ausdruck.

Luxemburg führt den Kampf gegen den Revisionismus an

Und dennoch ist diese Phase, eben weil die große imperialistische Expansion in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts es dem Kapitalismus ermöglicht hatte, exorbitante Wachstumsraten zu erzielen, in der Erinnerung vor allem eine Zeit beispiellosen Wohlstands und Fortschritts, eines sich stetig verbessernden Lebensstandards für die Arbeiterklasse nicht nur dank der günstigen objektiven Bedingungen, sondern auch aufgrund des wachsenden Einflusses der in Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien organisierten Arbeiterbewegung. Dies war besonders in Deutschland der Fall, und hier war die Arbeiterbewegung auch mit der Hauptherausforderung konfrontiert: dem Aufstieg des Revisionismus.

Mit den Schriften Eduard Bernsteins Ende der 1890er Jahre vorneweg, stritten die Revisionisten dafür, dass die Sozialdemokratie anerkennen sollte, dass die Entwicklung des Kapitalismus einige fundamentale Elemente in der Analyse von Marx außer Kraft gesetzt habe – vor allem die Voraussage ständig wachsender Krisen und folgerichtig der Verarmung des Proletariats. Der Kapitalismus habe gezeigt, dass er mittels der Mechanismen des Kredits und der Bildung riesiger Trusts und Kartelle und durch den Anstoß einer gut organisierten Arbeiterbewegung seine Tendenzen zu Anarchie und Krise überwinden und der Arbeiterklasse wachsende Zugeständnisse machen könne. Das „Maximalziel“ der Revolution, das im Programm der sozialdemokratischen Partei wie in einem Schrein eingeschlossen war, sei daher überflüssig geworden; und die Partei sollte sich selbst als das anerkennen, was sie in Wahrheit sei: eine „demokratisch-sozialistische Reformpartei“, die eine allmähliche und friedliche Umwandlung des Kapitalismus zum Sozialismus anstrebe.

Eine Reihe von Leuten aus dem linken Flügel der Sozialdemokratie antwortete auf diese Argumente. In Russland polemisierte Lenin gegen die Ökonomisten, die die Arbeiterbewegung auf den „Brot-und-Butter“-Kampf reduzieren wollten; in Holland führten Gorter und Pannekoek die Polemik gegen den wachsenden Einfluss des Reformismus in den Gewerkschaften und in der parlamentarischen Arena an. In den USA schieb Louis Boudin ein wichtiges Buch, The Theoretical System of Karl Marx (1907) als Antwort auf die revisionistischen Argumente – wir werden später darauf zurückkommen. Doch es war vor allem Rosa Luxemburg in Deutschland, die mit dem Kampf gegen den Revisionismus assoziiert wird und die im Kern den marxistischen Begriff des Niedergangs und katastrophalen Zusammenbruchs des Kapitalismus bekräftigte.

Beim Studium der Polemik Rosa Luxemburgs gegen Bernstein, Sozialreform oder Revolution (1900), fällt auf, wie oft die vom Letztgenannten vorgebrachten Argumente jedes Mal, wenn sich der Kapitalismus den Anschein gab, die Krise – wenn auch nur oberflächlich – überwunden zu haben, wiedergekäut wurden: „Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische System einerseits immer mehr Anpassungsfähigkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehr differenziert. Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus äußert sich nach Bernstein erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen, dank der Entwicklung des Kreditsystems, der Unternehmerorganisationen und des Verkehrs sowie des Nachrichtendienstes, zweitens in der Zähigkeit des Mittelstandes infolge der beständigen Differenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung großer Schichten des Proletariats in den Mittelstand, drittens endlich in der ökonomischen und politischen Hebung der Lage des Proletariats infolge des Gewerkschaftskampfes.“[8]

Wie oft ist uns nicht nur von den offiziellen Ideologen der Bourgeoisie, sondern auch von jenen, die eine weitaus radikalere Ideologie parat zu haben meinen, erzählt worden, dass Krisen eine Sache der Vergangenheit seien, weil der Kapitalismus heute auf nationaler oder gar internationaler Ebene vernetzt sei, weil er unbegrenzten Zugriff zum Kredit und zu anderen finanziellen Manipulationen habe. Wie oft ist uns erzählt worden, dass die Arbeiterklasse aufgehört habe, eine revolutionäre Kraft zu sein, weil sie nicht mehr mit der absoluten Verelendung konfrontiert sei, die Engels in seinem Buch über die Bedingungen der Arbeiterklasse in Manchester 1844 geschildert hatte, oder weil sie immer weniger unterscheidbar gegenüber den Mittelschichten sei. So hörten sich die lautstarken soziologischen Refrains der 1950er und 1960er Jahre an vom Schlage eines Herbert Marcuse und Cornelius Castoriadis. Und sie waren erneut zu vernehmen in den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und mit dem kreditfinanzierten Boom, der sich erst kürzlich als Mogelpackung entlarvt hatte.

Entgegen dieser Argumente bestand Luxemburg darauf, dass die „Organisation“ des Kapitals durch Kartelle und Kredite, weit entfernt davon, die Krisen zu überwinden, eine Antwort auf die Widersprüche des Systems war und dazu neigte, diese Widersprüche auf eine höhere und verheerendere Stufe zu heben.

Der Kredit wurde von Luxemburg im Kern als ein Mittel zur Erleichterung der Ausweitung des Marktes verstanden, während das Kapital sich in immer weniger Händen konzentrierte. Zu diesem historischen Zeitpunkt war dies sicherlich der Fall – es gab eine reale Möglichkeit für den Kapitalismus, außerhalb seiner Sphäre zu expandieren, und der Kredit beschleunigte größtenteils diese Expansion. Doch Luxemburg begriff gleichzeitig auch die zerstörerische Seite des Kredits, da diese Expansion des Marktes auch die Grundlage für den zukünftigen Konflikt mit den Massen von in Bewegung gesetzten Produktivkräften legte: „So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonders mächtiger Faktor der Krisenbildung. Und dies ist auch gar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des Kredits ist – ganz allgemein ausgedrückt – doch nichts anderes, als den Rest von Stabilität aus allen kapitalistischen Verhältnissen zu verbannen und überall die größtmögliche Elastizität hineinzubringen, alle kapitalistischen Potenzen in höchsten Maße dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Dass damit die Krisen, die nichts anderes als der periodische Anprall der einander widerstrebenden Potenzen der kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt auf der Hand.“[9]

Damals war der Kredit noch nicht das, was er heute zum größten Teil geworden ist – nicht so sehr ein Mittel zur Beschleunigung der Expansion in einen realen Markt, sondern ein künstlicher Markt an sich, von dem der Kapitalismus in zunehmendem Maße abhängig geworden ist. Doch die Funktion des Kredits als eine Medizin, die die Krankheit noch verschlimmert, ist dabei in dieser Epoche und vor allem seit dem Ausbruch des so genannten „credit crunch“ von 2008 noch evidenter geworden.

Auch in der Tendenz der Kapitalisten, sich selbst auf nationaler und gar internationaler Ebene zu organisieren, erkannte Luxemburg nicht eine Lösung der Antagonismen des Systems, sondern eine wirksame Kraft, diese Antagonismen noch schroffer und zerstörerischer zu gestalten: „… (Kartelle) verschärfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates, indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so den Antagonismus zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten aufs höchste steigern. Dazu kommt die direkte revolutionäre Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion, technische Vervollkommnung etc. So erscheinen die Kartelle in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur als  kein ‚Anpassungsmittel‘, das ihre Widersprüche verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung der eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Unterganges geschaffen hat.“[10]

Diese Vorhersagen sollten sich – vor allem als die Organisation des Kapitals von der Ebene der Kartelle zu den nationalen „staatskapitalistischen Trusts“ wechselte, die sich 1914 gegenseitig die Kontrolle über den Weltmarkt streitig machten – angesichts der gesamten Geschichte des 20. Jahrhunderts zutiefst bewahrheiten.

Luxemburg antwortete ebenfalls auf Bernsteins Argument, dass das Proletariat keine Revolution zu machen braucht, weil es einen immer höheren Lebensstandard infolge seiner effektiven Organisierung in Gewerkschaften und durch die Aktivitäten seiner Repräsentanten im Parlament genieße. Sie warnte, dass die gewerkschaftlichen Aktivitäten enge Grenzen haben; sie beschreibt diese Aktivitäten als „Sisyphusarbeit“, notwendig, aber ständig frustriert in ihren Bemühungen, den Anteil des Arbeiters an dem Produkt seiner Arbeit zu erhöhen, dies wegen der unvermeidlichen Steigerung der Ausbeutungsrate, die von der Entwicklung der Produktivität bewirkt wird. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus sollte die historischen Grenzen der Gewerkschaften gar noch deutlicher aufzeigen. Selbst wenn die Aktivitäten in den Gewerkschaften (wie auch parallel auf dem Tätigkeitsfeld des Parlaments und der Kooperativen) noch ihre Gültigkeit für die Arbeiterklasse hatten, so waren die Revisionisten jedoch bereits dabei, die Realität zu verfälschen, indem sie argumentierten, dass solche Tätigkeiten der Arbeiterklasse ständige und unbegrenzte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen sichern könnten.

Und während Bernstein eine Tendenz zur Abmilderung der Klassenverhältnisse durch die starke Zunahme kleiner Unternehmen und somit zum Wachstum der Mittelschichten erblickte, bekräftigte Luxemburg die Existenz jener Tendenz, die allerdings erst im folgenden Jahrhundert vorherrschend wurde: die Entwicklung des Kapitalismus zu immer gigantischeren Formen der Konzentration und Zentralisierung sowohl auf der Ebene der „Privat“-Unternehmen als auch auf der Ebene des Staates und der imperialistischen Bündnisse. Andere Linksrevolutionäre wie Boudin antworteten auf die Behauptung, dass das Proletariat selbst zur Mittelschichte werde, mit dem Argument, dass viele Angestellte und technische Berufe, die angeblich die Arbeiterklasse schlucken werden, in Wahrheit selbst ein Produkt des Proletarisierungsprozesses sind – auch diese Tendenz hat sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher abgezeichnet. Boudins Worte aus dem Jahr 1907 klingen vertraut, wie auch die fadenscheinigen Argumente, die gegen sie gerichtet werden: „Ein großer Teil dessen, was als neue Mittelklasse bezeichnet wird und als solche in den Einkommensstatistiken erscheint, ist in Wirklichkeit Teil des regulären Proletariats. Die neue Mittelklasse ist, wie immer sie aussehen mag, ein gehöriges Stück kleiner, als man aus den Einkommenstabellen entnehmen könnte. Diese Konfusion ist einerseits dem alten und fest verwurzelten Vorurteil geschuldet, dem zufolge Marx angeblich allein der Handarbeit Wert schaffende Eigenschaften zuschrieb, und andererseits auf die Trennung der Aufsicht vom Eigentumsbesitz zurückzuführen – praktiziert in den Aktiengesellschaften, wie oben angeführt. Aufgrund dieser Umstände werden große Teile des Proletariats als Angehörige der Mittelklasse, d.h. der niederen Schichten der kapitalistischen Klasse, gezählt. Dies ist bei nahezu all jenen zahllosen und an Zahl zunehmenden Berufen der Fall, in denen das Arbeitsentgelt als ‚Gehalt‘ statt als ‚Lohn‘ bezeichnet wird. All diese Gehaltsempfänger, die möglicherweise das Gros, aber mit Sicherheit einen großen Anteil an der ‚neuen‘ Mittelklasse stellen, sind, gleich, wie hoch ihr Gehalt ist, in Wirklichkeit genauso Teil des Proletariats wie die untersten Tagelöhner.“[11](eigene Übersetzung)

Kurs auf das Debakel der bürgerlichen Zivilisation

Die heutige offene Wirtschaftskrise findet in einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Fäulnis des Kapitalismus statt. Luxemburg antwortete auf Bernstein in einer Zeit, die sie, auch hier mit bemerkenswerter Klarheit, als eine Periode charakterisierte, die noch nicht die Niedergangsepoche war, aber eine, in der das Nahen dieser Epoche immer offensichtlicher wurde. Diese Passage taucht in Luxemburgs Entgegnung auf Bernsteins empirische (und empirizistische) Frage auf: Warum haben wir seit den frühen 1870er Jahren keinerlei Manifestationen des alten Zehn-Jahres-Krisenzyklus mehr erlebt? Luxemburgs Antwort bestand darin, darauf zu bestehen, dass dieser Zyklus das Produkt der Jugendphase des Kapitalismus war; der Weltmarkt befand sich damals in einer „Übergangsperiode“ zwischen der Periode seines maximalen Wachstums und dem Anbruch der Niedergangsepoche: „Der Weltmarkt ist immer noch in der Ausbildung begriffen. Deutschland und Österreich traten erst in den 70er Jahren in die Phase der eigentlichen großindustriellen Produktion, Russland erst in den 80er Jahren, Frankreich ist bis jetzt noch zum großen Teil kleingewerblich, die Balkanstaaten haben noch zum beträchtlichen Teil nicht einmal die Fesseln der Naturalwirtschaft abgestreift, erst in den 80er Jahren sind Amerika, Australien und Afrika in einen regen und regelmäßigen Warenverkehr mit Europa getreten. Wenn wir deshalb einerseits die plötzlichen sprungweisen Erschließungen neuer Gebiete der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie bis zu den 70er Jahren periodisch auftraten und die bisherigen Krisen, sozusagen die Jugendkrisen, im Gefolge hatten, bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Erschöpfung des Weltmarkts vorgeschritten, der einen fatalen periodischen Anprall der Produktivkräfte an die Marktschranken, die wirklichen kapitalistischen Alterskrisen, erzeugen würde. Wir befinden uns in einer Phase, wo die Krisen nicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und noch nicht seinen Untergang begleiten.“[12]

Interessanterweise ließ Luxemburg in der zweiten Ausgabe, die 1908 veröffentlicht wurde, diese Passage und das folgende Kapitel aus und erwähnte stattdessen die Krise von 1907-08, die sich gerade auf die mächtigsten Industrienationen konzentrierte: Für Luxemburg neigte sich die „Übergangsperiode“ offenbar ihrem Ende zu.

Ferner ließ sie anklingen, dass die frühere Erwartung, wonach die neue Epoche von einer „großen kommerziellen Krise“ eingeleitet werde, sich als falsch erweisen könnte – bereits in Sozialreform oder Revolution wies sie auf das Wachstum des Militarismus hin, eine Entwicklung, die sie immer mehr beschäftigen sollte. Hinter folgender Beobachtung lag sicherlich das Kalkül, dass die neue Epoche möglicherweise von einem Krieg statt von einer offenen Wirtschaftskrise eingeleitet werden könnte: „Wenn die bisherige sozialistische Theorie annahm, der Ausgangspunkt der sozialistischen Umwälzung würde eine allgemeine und vernichtende Krise sein, so muss man unseres Erachtens dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenen Gedanken und dessen äußere Form. Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistische Ordnung würde von sich aus, kraft eigener Widersprüche, den Moment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfach unmöglich wird. Dass man sich diesen Moment in der Form einer allgemeinen und erschütternden Handelskrise dachte, hatte unseres Erachtens seine guten Gründe, bleibt aber nichtsdestoweniger für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich.“[13]

Doch welche Form diese „Senilitätskrise“ auch immer annehmen sollte, Luxemburg bestand darauf, dass ohne diese Vision des katastrophalen Niedergangs des Kapitalismus der Sozialismus zu einer bloßen Theorie wird: „Vom Standpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus äußert sich die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vor allem in der wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die ihn auch in eine ausweglose Sackgasse drängt. Nimmt man jedoch mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in der Richtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein.“

„Die Bernsteinsche Theorie steht vor einem Entweder – Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die ‚Anpassungsmittel‘ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie  richtig. Oder es sind die ‚Anpassungsmittel‘ wirklich solche, die einen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht das Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus: Entweder hat Bernstein in bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muss aber die Theorie der ‚Anpassungsmittel‘ nicht stichhaltig sein. That is the question, das ist die Frage.“[14]

In diesem Passus schildert Luxemburg mit völliger Klarheit die innige Beziehung zwischen der revisionistischen Anschauung und der Ablehnung der Marxschen Theorie des kapitalistischen Niedergangs – und umgekehrt die Notwendigkeit einer solchen Theorie als Grundstein einer zusammenhängenden Revolutionskonzeption.

Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir uns anschauen, wie Luxemburg und andere danach strebten, die Ursprünge der nahenden Krise im grundlegenden Prozess der kapitalistischen Akkumulation zu lokalisieren.

Gerrard, 2009

[1] Siehe zum Beispiel den Artikel „1895 – 1905: Parlamentarische Illusionen verhüllen die Perspektive der Revolution“ (Internationale Revue, Nr. 88, engl., franz., span. Ausgabe), oder das Schlusskapitel unseres Buches Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit.

[2] Aufheben Nr. 2/3: https://libcom.org/aufheben [3]

[3] Aufheben Nr. 2

[4] https://www.marxists.org/archive/marx/works/1891/06/29.htm [4].

[5] Engels an Florence Kelley-Wischnewetzky, 3. Februar 1886, MEW Bd. 36

[6] Brief an Nikolai Danielson, 22. September 1892, MEW Bd. 38

[7] Engels, Einleitung (zu Sigismund Borkheims Broschüre Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten, 15. Dezember 1887, MEW Bd. 21

[8] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 1, „Die Bernsteinsche Methode“.

[9] ebenda. Kapitel 2, „Anpassung des Kapitalismus“

[10] ebenda

[11] Das theoretische System von Karl Marx, 1907

[12] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 2

[13] ebenda, Kapitel 1

[14] ebenda

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [5]

Die ungarische Revolution 1919: Das Beispiel Russlands 1917 inspirierte die ungarische Arbeiterklasse, Teil 1

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Die ungarische Revolution 1919

Der revolutionäre Ansturm des ungarischen Proletariats wurde sehr stark durch eine internationale Triebkraft bestimmt. Er war das Ergebnis zweier Faktoren: die durch den Krieg unhaltbar gewordene Lage und die inspirierende Ausstrahlung der russischen Oktoberrevolution 1917.

Die ungarische Revolution 1919

Der revolutionäre Ansturm des ungarischen Proletariats wurde sehr stark durch eine internationale Triebkraft bestimmt. Er war das Ergebnis zweier Faktoren: die durch den Krieg unhaltbar gewordene Lage und die inspirierende Ausstrahlung der russischen Oktoberrevolution 1917.

Wie in der Einleitung zu dieser Serie gesagt, brachte der Erste Weltkrieg eine wahre Explosion der Barbarei mit sich. Aber noch gewaltiger war der „Frieden“, der seitens der kapitalistischen Großmächte in aller Eile geschlossen wurde, nachdem im November 1918 in Deutschland die Revolution ausbrach.[1] Denn der Frieden brachte auch nicht die geringste Erleichterung für das Leiden der Massen mit sich und auch keine Minderung des Chaos und des sich auflösenden gesellschaftlichen Lebens infolge der Kriegswirren.  Der Winter 1918 und der Frühling 1919 wirkten wie ein Schreckgespenst: Hunger, Lähmung des Transportwesens, gewaltige Konflikte unter Politikern, Besetzung von Ländern durch Siegermächte, Krieg gegen Sowjetrussland, ein gewaltiges Chaos auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, Ausbruch und Verbreitung einer Epidemie, die „Spanische Grippe“ genannt wurde, die fast ebenso viele Tote hinterließ wie der Krieg selbst. In den Augen der europäischen Bevölkerung war der „Frieden“ noch schlimmer als der Krieg.

Der Wirtschaftsapparat war bis aufs Äußerste ausgeblutet worden, so dass das ungewöhnliche Phänomen der Unterproduktion zu beobachten war, wie Bela Szantò[2] im Falle Ungarns feststellte: „Infolge der Kriegsanstrengungen der Kriegswirtschaft, die durch die Jagd nach Extraprofiten verursacht wurde, waren die Produktionsmittel vollständig verschlissen, Maschinen ruiniert worden. Deren Erneuerung hätte gewaltige Investitionen erfordert, während sie gleichzeitig nie hätten amortisiert werden können. Es gab keine Rohstoffe mehr. Die Fabriken standen still. Infolge der Demobilisierung und infolge der Schließung von Fabriken war eine riesige Massenarbeitslosigkeit entstanden“[3].

Am 19.7.1919 schrieb die Londoner Times: „Der Geist des Chaos regiert überall auf der Welt, von Amerika im Westen bis China im Osten, vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee; keine Gesellschaft, keine Zivilisation, so stark sie auch noch sein mögen, keine Verfassung, so demokratisch sie auch sein mag, kann sich diesem bösartigen Einfluss entziehen. Überall Anzeichen eines Zusammenbruchs der grundlegenden gesellschaftlichen Beziehungen, die durch diese fortgesetzten Spannungen hervorgerufen werden“[4]). Auf diesem Hintergrund löste das russische Beispiel eine Welle des Enthusiasmus und der Hoffnung für die Weltarbeiterklasse aus. Die Arbeiter hatten dem tödlichen Virus eines immer tiefer im Chaos versinkenden Kapitalismus etwas entgegen zu halten: den weltweiten revolutionären Kampf, der dank des Beispiels vom  Oktober 1917 richtungsweisend wirkte.

Die demokratische Republik des Oktober 1918

Ungarn, das immer noch dem Österreichisch-Ungarischen Reich angehörte und zu den besiegten Mächten im Krieg zählte, litt sehr  unter diesen Folgen. Gleichzeitig sollte das ungarische Proletariat, das äußerst stark in Budapest zusammengeballt war, wo ein Siebtel der Bevölkerung lebte und fast 80% der Industrie konzentriert war, eine gewaltige Kampfbereitschaft an den Tag legen.

Den Aufständen von 1915, die durch die dreiste Hilfe der Sozialdemokratischen Partei niedergeschlagen worden waren, folgte eine Phase der Apathie mit zaghaften Regungen in den Jahren 1916 und 1917. Aber im Januar 1918 schlug die soziale Unruhe um in das, was wahrscheinlich der erste internationale Massenstreik der Geschichte war, welcher zahlreiche Länder Mitteleuropas erfasste und in dessen Zentrum Budapest und Wien standen. Am 14. Januar brach die Bewegung los, am 16. Januar erreichte sie Niederösterreich und die Steiermark, am 17. Januar Wien, und am 23. Januar die großen Rüstungsbetriebe in Berlin. Die Bewegung hatte auch einen großen Widerhall in Slowenien, der Tschechoslowakei, Polen und Kroatien[5]. Der Kampf polarisierte sich um drei Ziele: Kampf gegen den Krieg, gegen die Nahrungsmittelknappheit und Solidarität mit der russischen Revolution. Zwei Schlachtrufe waren in verschiedenen Sprachen immer wieder zu hören: „Nieder mit dem Krieg“ und „Es lebe das russische Proletariat“.

In Budapest brach der Streik in zahlreichen Fabriken außerhalb der Kontrolle der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften aus, jeweils angespornt durch das Beispiel Russlands. Resolutionen zugunsten der Arbeiterräte waren verabschiedet worden… ohne dass sie jedoch selbst ins Leben gerufen wurden. Die Bewegung gab sich keine Organisationsform, was die Gewerkschaften wiederum ausnutzten, um an die Spitze der Bewegung zu treten und Forderungen aufzwingen, die nichts mit den Sorgen und Nöten der Massen zu tun hatten, insbesondere die Forderung nach allgemeinen Wahlen. Die Regierung wollte den Streik mit Hilfe von Soldaten niederschlagen lassen, die Kanonen und Maschinengewehre zum Einsatz bringen sollten. Der geringe Erfolg der Machtdemonstrationen und die wachsenden Zweifel der Soldaten, die weder an der Front kämpfen noch die Arbeiter unterdrücken wollten, schreckte die Regierung ab, welche dann innerhalb von 24 Stunden ihre Haltung änderte und den Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht ‚nachgab‘, welche niemand erhoben hatte - außer eben Gewerkschaften und Sozialdemokratie.

Ermuntert durch diesen Erfolg drangen diese in die Betriebe ein, um sich den Streiks entgegenzustellen. Sie wurden sehr kühl empfangen. Nichtsdestotrotz führten die Erschöpfung, die mangelnden Nachrichten aus Österreich und Deutschland und die schrittweise Wiederaufnahme der Arbeit durch die schwächsten Teile der Klasse dazu, die Moral der Beschäftigten der großen Metallbetriebe zu untergraben, die schließlich dann auch wieder die Arbeit aufnahmen.

Gestärkt durch diesen Sieg, begannen die Sozialdemokraten “eine Repressionskampagne gegen all die Kräfte, die sich für die Wiederbelebung des revolutionären Klassenkampfes unter den Massen einsetzten. In Népszava, der größten Zeitung der Partei, wurden verleumderische Artikel veröffentlicht, die viel Nahrung lieferten für politische Verfolgungen durch die reaktionäre Wkerle-Vaszonyi-Regierung“[6].

Ungeachtet der Repression nahmen die Unruhen weiter zu. Im Mai meuterten die Soldaten des Ojvideck-Regimentes gegen ihre Entsendung an die Front. Sie besetzten die Telefonzentrale und den Bahnhof. Die Arbeiter aus der Stadt eilten ihnen zu Hilfe. Die Regierung entsandte Sondertruppen, die drei Tage die Stadt bombardieren mussten, um wieder die Kontrolle herzustellen. Die Repression war gnadenlos: jeder zehnte Soldat – gleich ob er sich aktiv an dem Aufstand beteiligt hatte oder nicht, wurde erschossen; Tausende Menschen ins Gefängnis gesteckt.

Im Juni schoss die Polizei auf die streikenden Arbeiter einer Metallfabrik in der Hauptstadt, mehrere Arbeiter wurden getötet und verletzt. Die Arbeiter zogen schnell zu den benachbarten Betrieben, in denen sofort die Produktion eingestellt wurde und versammelten sich auf der Straße. Innerhalb von wenigen Stunden war ganz Budapest lahm gelegt. Am nachfolgenden Tag dehnte sich die Bewegung auf das ganze Land aus. Improvisierte Vollversammlungen, inmitten einer revolutionären Atmosphäre, stimmten über die zu treffenden Maßnahmen ab. Die Regierung verhaftete Delegierte, schickte wichtige Arbeiter an die Front, die Straßenbahnen wurden unter Begleitung von mit Bajonetten bewaffneten Soldaten wieder in Betrieb genommen. Nach acht Tagen Kämpfen endeten diese in einer Niederlage.

In der Arbeiterklasse kam es jedoch zu einer Bewusstseinsentwicklung: „Unter immer mehr Arbeitern breitete sich die Überzeugung aus, dass die Politik der Sozialdemokratischen Partei und das Verhalten der Führer der Partei nicht angebracht waren, um eine revolutionäre Orientierung zu verfolgen (…). Die revolutionären Kräfte hatten angefangen, sich zusammen zu schließen; die Beschäftigten der großen Fabriken nahmen direkt Kontakt zueinander auf. Fast ständig wurden geheime Treffen und Versammlungen  abgehalten; die Konturen einer unabhängigen proletarischen Politik fingen an sich abzuzeichnen“[7]. Diese Zirkel wurden langsam als die Revolutionäre Gruppe bekannt.

Trotz der Repression nahmen die Meutereien der Soldaten immer mehr zu. Täglich kam es zu neuen Streiks. Die Regierung, die unfähig war, einen verlorenen Krieg weiterzuführen, und die konfrontiert war mit einer immer stärker zerfallenden Armee, einer gelähmten Wirtschaft und einem totalen Versorgungsmangel, brach zusammen. Um solch ein gefährliches Machtvakuum zu verhindern, beschloss die Sozialdemokratische Partei, die damit wiederum unter Beweis stellte, für wessen Interessen sie eintrat, die bürgerlich demokratischen Parteien in einem Nationalrat zusammenzubringen.

Am 28. Oktober war der Soldatenrat gegründet worden, der sich mit der revolutionären Gruppe abstimmte; beide riefen zu einer großen Demonstration in Budapest auf, die sich zur historischen Burgstadt begeben sollte, um dem königlichen Gesandten einen Brief zu übergeben. Vor dieser hatte eine riesige Zahl Soldaten und Polizei Stellung bezogen. Die Soldaten ließen die Menge durch, aber die Polizei eröffnete das Feuer auf sie und tötete dabei viele Demonstranten. „Die Wut über die Polizei war riesengroß. Am nächsten Tag stürmten Arbeiter die Waffenschmieden und bewaffneten sich“ [8].

Die Regierung versuchte, die Armeeeinheiten aus Budapest zu verbannen, die an der Spitze der Arbeiterräte gestanden hatten, was wiederum einen Aufruhr hervorrief. Tausende Arbeiter und Soldaten versammelten sich in der Rakóczi Straße, die Hauptarterie der Stadt, um deren Abtransport zu verhindern. Eine Kompanie Soldaten, die den Befehl zur Abreise hatte, weigerte sich und verbrüderte sich mit der Menge vor dem Astoria Hotel. Gegen Mitternacht wurden die beiden Telefonzentralen besetzt.

Am Morgen und während des darauf folgenden Tages wurden öffentliche Gebäude, Kasernen, der Hauptbahnhof, Lebensmittelgeschäfte von Soldaten und bewaffneten Arbeitern besetzt. Massendemonstrationen zogen zu den Gefängnissen und befreiten die politischen Gefangenen. Die Gewerkschaften, die im Namen der Massen zu sprechen vorgaben, forderten, die Macht dem Nationalrat zu übergeben. Am Vormittag des 31. Oktober  übergab Herzog Haik – der Regierungschef – die Macht einem anderen Herzog, Károlyi, Chef der Partei der Unabhängigkeit und Präsident des Nationalrates.

Ohne einen Finger gerührt zu haben, fiel ihm die gesamte Macht in die Hände. Aber wegen der Bedrohung durch die noch unorganisierten und wenig bewussten, arbeitenden Massen konnte er die Macht nicht fest in seinen Händen halten, Deshalb verwarf die Regierung jeglichen revolutionären Anspruch und suchte ihre Legitimität durch die ungarische Monarchie, die ein Teil des niedergehenden Österreichisch-Ungarischen Reiches war. Während der König abwesend war, begaben sich Mitglieder des Nationalrates, mit den Sozialdemokraten an ihrer Spitze, auf die Suche nach dem Repräsentanten des Kaisers, Erzherzog Josef, der die neue Regierung ernannte.

Diese Nachricht empörte viele Arbeiter. Eine Kundgebung wurde auf dem Tisza Calman-Tér abgehalten. Trotz strömenden Regens versammelte sich eine große Menge und beschloss zum Sitz der Sozialdemokratischen Partei zu ziehen, um die Ausrufung der Republik zu verlangen.

Im 19. Jahrhundert war die Ausrufung der Republik eine Forderung der Arbeiterbewegung, die diese Regierungsform als offener und günstiger für ihre Interessen als die konstitutionelle Monarchie ansah. Aber in Anbetracht der neuen Situation, in der die Wahl einzig zwischen bürgerlicher oder proletarischer Macht bestand, stellte die Republik die letzte Schutzmauer des Kapitals dar. Die Republik wurde mit Unterstützung der Monarchie geboren und die hohen Kirchenführer, an deren Spitze der Erzbischof von Ungarn stand, wurden von dem ganzen Nationalrat aufgesucht. Der Sozialdemokrat Kunfi hielt die folgende berühmte Rede: „Ich als überzeugter Sozialdemokrat habe die außerordentliche Verantwortung übernommen zu sagen, dass wir nicht handeln, indem wir uns leiten lassen von Klassenhass oder Klassenkampf. Und wir rufen jeden dazu auf, die Klasseninteressen und eigenen Interessen beiseite zu schieben und uns bei der Bewältigung der vor uns stehenden Aufgaben zu helfen.“[9] Die ganze ungarische Bourgeoisie schloss sich hinter ihrem neuen Retter, dem Nationalrat, zusammen, deren treibende Kraft die Sozialdemokratische Partei war. Am 16. November wurde die neue Republik feierlich ausgerufen.

Die Gründung der Kommunistischen Partei

Die Arbeiterklasse kann ihren revolutionären Ansturm nicht erfolgreich abschließen, wenn sie in ihren Reihen nicht das lebensnotwendige Werkzeug der Kommunistischen Partei schafft. Aber es reicht nicht, dass diese einige internationalistische programmatische Positionen bezieht,  denn die Positionen müssen auch in konkreten Vorschlägen an das Proletariat umgesetzt werden. Die Partei muss sich durch die Fähigkeit auszeichnen, mit großem Weitblick die Ereignisse und die notwendigen Orientierungen sorgfältig zu analysieren. Daher ist es wichtig, dass die Partei international aufgebaut ist und keine einfache Summe von nationalen Parteien ist, somit kann sie besser das erdrückende Gewicht und die irreführenden Folgen einer  momentbezogenen und lokalen Sichtweise und die Fixierung auf nationale Besonderheiten bekämpfen, aber auch besser Solidarität, gemeinsame Debatten, eine globale Sicht und Perspektiven vorschlagen.

Das Drama der revolutionären Anstürme in Deutschland und Ungarn war die Abwesenheit einer Internationale. Sie wurde ziemlich spät gegründet, im März 1919, als der Aufstand in Berlin schon niedergeschlagen und der revolutionäre Ansturm in Ungarn gerade begonnen hatte[10].

Die ungarische Kommunistische Partei kämpfte besonders mit dieser Schwierigkeit. Wir erwähnten schon, dass einer ihrer Gründer die Revolutionäre Gruppe war, die von Delegierten und anderen aktiven Arbeitern der Budapester Großfabriken gebildet worden war[11]. Dieser schlossen sich GenossInnen an, die im November 1918 aus Russland gekommen waren, und die die von Béla Kun angeführte kommunistische Gruppe gegründet hatten, sowie die Revolutionäre Sozialistische Union mit anarchistischer Tendenz und die Mitglieder der sozialistischen Opposition, einem Kern, der innerhalb der ungarischen Sozialdemokratischen Partei nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegründet worden war.

Vor der Ankunft Béla Kuns und seiner GenossInnen hatten die Mitglieder der Revolutionären Gruppe die Möglichkeit erörtert, eine Kommunistische Partei zu gründen. Die Debatte über diese Frage führte zu einer Blockade, da es zwei Tendenzen gab, welchen keine Einigung gelang: einerseits die Anhänger der Bildung einer internationalistischen Fraktion innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, und andererseits diejenigen, die die Gründung einer neuen Partei als dringlich erachteten. Schließlich wurde beschlossen, eine Union mit dem Namen Ervin Szabó zu bilden[12], welche die Diskussion fortsetzen wollte. Mit dem Eintreffen der Militanten aus Russland änderte sich die Lage schlagartig. Das Prestige der Russischen Revolution und die Überzeugungskünste Béla Kuns ließen das Pendel zugunsten der unmittelbaren Bildung der Kommunistischen Partei ausschlagen. Am 24. November wurde diese schließlich gegründet. Das programmatische Dokumente der Partei enthielt viele wertvolle Punkte[13]: „Während die Sozialdemokratische Partei versuchte, die Arbeiterklasse zugunsten des Wiederaufbaus des Kapitalismus wirken zu lassen, besteht die Aufgabe der neuen Partei darin, den Arbeitern aufzuzeigen, dass dem Kapitalismus schon ein tödlicher Schlag versetzt wurde, und dieser eine Entwicklungsstufe erreicht hat, in welcher er sowohl moralisch als auch wirtschaftlich in den  Ruin getrieben wird“; „Massenstreik und bewaffneter Aufstand: dies sind die von den Kommunisten befürworteten Mittel der Machtergreifung. Sie arbeiten nicht auf die Gründung einer bürgerlichen Republik hin (…) sondern auf die Diktatur des Proletariats mittels der Arbeiterräte.“ Die Partei wollte, „die bewusste Entwicklung des ungarischen Proletariats unterstützen, es aus seinen alten Bindungen, die es an die unehrliche, ignorante und korrupte herrschende Klasse fesselten, lösen und (…) den Geist der internationalen Solidarität wiederbeleben, der bislang systematisch geknebelt wurde.“ Und das ungarische Proletariat sollte mit der „russischen Rätediktatur verbunden werden sowie mit allen anderen Ländern, wo eine ähnliche Revolution ausbrechen könnte.“

Eine Zeitung - Vörös Ujsàg (Rote Zeitung) wurde gegründet, und die Partei stürzte sich in eine fieberhafte Agitation, die in Anbetracht des entscheidenden Moments, den die Bewegung durchlief, unabdingbar war[14]. Aber diese Agitation wurde nicht weiter durch eine tiefer gehende programmatische Debatte und durch eine methodische, kollektive Einschätzung der Ereignisse untermauert. Die Partei war in Wirklichkeit noch ziemlich jung und unerfahren, sie verfügte über wenig Zusammenhalt, weshalb sie – wie wir im nächsten Artikel sehen werden – zahlreiche schwere Fehler beging.

Gewerkschaften oder Arbeiterräte?

In der historischen Phase zwischen 1914-23 stand das Proletariat vor einer komplizierten Frage. Einerseits hatten sich die Gewerkschaften während des imperialistischen Krieges als Rekrutierungskräfte für das Kapital verhalten, und die aufkommenden Reaktionen der Arbeiter entfalteten sich außerhalb der Gewerkschaften. Gleichzeitig lagen die heldenhaften Zeiten, in denen die Arbeiterkämpfe von den Gewerkschaften ausgetragen wurden, noch nicht so lange zurück; diese hatten große wirtschaftliche Entbehrungen, viel Repression, viele Anstrengungen gemeinsamer Treffen bedeutet. Die Arbeiter betrachteten die Gewerkschaften noch immer als auf ihrer Seite stehend und meinten sie wieder zurückerobern zu können.

Gleichzeitig gab es einen enormen Enthusiasmus für die Arbeiterräte in Russland, die dort 1917 die Macht ergriffen hatten. In Ungarn, Österreich, Deutschland strebten die Kämpfe nach der Bildung von Arbeiterräten. Während in Russland die Arbeiter eine umfangreiche Erfahrung hinsichtlich des Wesens, der Funktionsweise, der sie schwächenden Hürden und der Sabotageversuche seitens der herrschenden Klasse gesammelt hatten, verfügten die Arbeiter in Ungarn und Deutschland nicht über so viel Erfahrung.

All diese historischen Faktoren trugen zu dieser “hybriden” Situation bei, die von der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften geschickt ausgenutzt wurde, um am 2. November den Arbeiterrat Budapests zu bilden, der durch eine seltene Mischung von Gewerkschaftsführern, Sozialdemokratischen Führern zusammen mit Delegierten aus einigen der großen Betriebe Budapests einberufen worden war. In den darauf folgenden Tagen blühten alle möglichen „Räte“ auf, die aber nichts anderes waren als gewerkschaftliche Organisationen und Kooperativen, welche sich diesen in der Mode befindlichen Namen gaben: Polizeirat (er wurde am 2. November gegründet und total von der Sozialdemokratie kontrolliert), Beamtenrat, Studentenrat. Selbst ein Priesterrat wurde am 8. November gegründet. Diese Ausbreitung von „Räten“ verfolgte das Ziel, die eigenständige Gründung von Räten durch die Arbeiter selbst zu verhindern.

Die Wirtschaft war gelähmt. Der Staat konnte nicht viel einfordern, und da jeder von ihm Hilfe verlangte, bestand seine Reaktion im Drucken von Papiergeld um Subventionen zu leisten, die Löhne der staatlich Beschäftigten auszuzahlen und die laufenden Kosten zu übernehmen. Im Dezember 1918 traf der Finanzminister sich mit den Gewerkschaften, um sie zu bitten, die Lohnforderungen fallen zu lassen, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, damit die Wirtschaft wieder angekurbelt werden könne und die Zügel bei der Verwaltung der Wirtschaft in die Hand zu nehmen. Die Gewerkschaften waren sehr kooperationswillig.

Aber dies empörte die Arbeiter. Erneut wurden Massenversammlungen abgehalten. Die Kommunistische Partei, die erst kurz zuvor gegründet worden war, trat an die Spitze des Protestes. Sie hatte beschlossen, in den Reihen der Gewerkschaften zu wirken, bald darauf sollte sie die Mehrheit der Arbeiter der großen Betriebe für sich gewinnen. In ihrem Programm war die Bildung von Arbeiterräten geplant, aber deren Bildung war als vereinbar mit der Existenz von Gewerkschaften angesehen worden[15]. Dies führte zu einem ständigen Zickzackkurs. Der Arbeiterrat von Budapest, der von der Sozialdemokratie als Präventivmaßnahme ins Leben gerufen worden war, hatte sich in einen leblosen Körper verwandelt. Zu diesem Zeitpunkt gab es einige Bemühungen der Organisierung und Bewusstwerdung in einem Rahmen, wo die Gewerkschaften immer wenig kontrollieren konnten, wie zum Beispiel die Massenversammlung der Metallarbeitergewerkschaft als Reaktion auf die Pläne des Ministers. Nach zwei Tagen Debatten nahm diese eine sehr radikale Position ein. „Aus der Sicht der Arbeiterklasse kann die staatliche Kontrolle der Produktion keine Wirkung zeigen, da die Volksrepublik nur eine abgewandelte Form der kapitalistischen Herrschaft ist, wo der Staat weiterhin das ist, was er vorher war: das kollektive Organ der Klasse, die die Produktionsmittel besitzt und die Arbeiterklasse unterdrückt.“[16].

Die Radikalisierung der Arbeiterkämpfe

Die Desorganisierung und Lähmung der Wirtschaft trieb die ArbeiterInnen und die große Mehrheit der Bevölkerung an den Rand des Hungers. Unter diesen Umständen beschloss die Versammlung, dass „in allen großen Betrieben Fabrikkontrollräte gebildet werden sollen, die in ihrer Eigenschaft als Organe der Arbeitermacht die Produktion in den Betrieben, die Versorgung mit Rohstoffen und ebenso die Funktionsweise und den ganzen Ablauf in den Betrieben  kontrollieren“[17]. Aber sie verstanden sich nicht als Partnerorganisationen des Staates oder als „Selbstverwaltungsorgane“, sondern als Hebel und als Ergänzung im Kampf um die politische Macht: „Die Arbeiterkontrolle stellt nur eine Übergangsphase zum System der Arbeiterverwaltung dar, die wiederum die Übernahme der politischen Macht zur Voraussetzung hat (…) In Anbetracht all dessen verurteilen die Delegiertenversammlung und die Mitglieder der Organisation jegliche „Aussetzung“ des Klassenkampfes, auch wenn diese nur vorübergehend sein soll; sie verurteilen ebenso jede Unterstützung der konstitutionellen Prinzipien und betrachten als unmittelbare Aufgabe der Arbeiterklasse, die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte als Faktor der Diktatur des Proletariats zu organisieren“[18].

Am 17. Dezember beschloss der Arbeiterrat von Szeged, der zweitgrößten Stadt, die Kommunalverwaltung aufzulösen und die “Macht zu ergreifen”. Dies war ein isolierter Schritt, der die Nervosität in Anbetracht der sich verschlechternden Lage zum Ausdruck brachte. Die Regierung reagierte vorsichtig und nahm Verhandlungen auf, die zu einer Wiedereinsetzung der Kommunalverwaltung mit „sozialdemokratischer Mehrheit“ führten. Weihnachten 1918 verlangten die ArbeiterInnen einer Budapester Fabrik Zusatzlohn. Sofort schlossen sich ArbeiterInnen aus Nachbarbetrieben dieser Forderung an. Innerhalb von wenigen Tagen wurde in Budapest überall diese Forderung erhoben, die auch in den Provinzen aufgegriffen wurde. Den Unternehmern blieb nichts anderes übrig als nachzugeben[19].

Anfang Januar bildeten die Bergarbeiter von Salgótarján einen Arbeiterrat, welcher entschied, die Macht zu übernehmen und eine Miliz auf die Beine zu stellen.  Dies brachte die Zentralregierung in Rage, die sofort Elitetruppen schickte, welche den Bezirk militärisch besetzten und 18 Menschen erschossen und 50 verletzte. Zwei Tage später fassten die Arbeiter aus Sátoralja-Llihely den gleichen Beschluss – wiederum reagierte die Regierung auf die gleiche Weise und erneut kam es zu einem Blutbad. In Kiskunfélegyhaza organisierten die Frauen eine Demonstration insbesondere gegen zu hohe Lebensmittelpreise und allgemein gegen zu hohe Lebenshaltungskosten; die Polizei schoss auf die Menge und tötete 10 Demonstranten und verletzte 30. Zwei Tage später traten die Arbeiter von Pozsony auf den Plan; der Arbeiterrat der Stadt proklamierte die Diktatur des Proletariats. Aufgrund von mangelnden Kräften bat die Regierung die tschechoslowakische Regierung um die militärische Besetzung der Stadt (es handelt sich um eine Grenzregion).[20].

Das Bauernproblem wurde immer akuter. Aus der Armee entlassene Soldaten kehrten in ihre Dörfer zurück, damit breitete sich die Agitation aus. Auf Versammlungen wurde die Aufteilung des Bodens gefordert. Der Budapester Arbeiterrat[21] bekundete seine große Solidarität, eine Versammlung wurde vorgeschlagen mit dem Ziel, der „Regierung eine Lösung der Agrarfrage aufzuzwingen.“ Im ersten Treffen wurde keine Einigung erzielt, erst nach einem weiteren Anlauf wurde der Vorschlag der Sozialdemokraten akzeptiert, wonach „einzelne Bauernhöfe übernommen werden können bei gleichzeitiger Entschädigung der früheren Besitzer“. Dies beruhigte die Lage vorübergehend, aber nur wenige Wochen, wie wir im nächsten Artikel sehen werden. In Arad, in der Nähe der rumänischen Grenze, besetzten die Bauern Ende Januar das Land, und die Regierung schickte ein Großaufgebot Militär, um sie davon abzuhalten, was wiederum ein neues Massaker hervorrief.

Februar 1919: Repression gegen die Kommunisten

Im Februar verwandelte sich die Journalistengewerkschaft in eine Rat und verlangte die Zensur aller Artikel die sich gegen die Revolution richteten. Die Versammlungen der Drucker und der verwandten Berufe erhielten Zulauf und unterstützten diese Maßnahme. Auch die Metallarbeiter beteiligten sich an Aktionen  die das Ziel hatten die Mehrheit der Presse unter die Kontrolle der Arbeiter zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt war die Publikation von  Mitteilungen und geschriebenen Artikeln unter der Kontrolle der kollektiven Entscheidung der Arbeiter.        

Budapest war zu einem gewaltigen Ort von Debatten geworden[22]. Jeden Tag, jede Stunde fanden Diskussionen zu einer Reihe von Themen statt. Überall wurden Gebäude und Anlagen besetzt. Nur Generälen und großen Bossen wurde das Versammlungsrecht verweigert; und wenn sie es versuchten, wurden sie von Gruppen von Metallarbeitern und Soldaten auseinander getrieben, die dann ihre Luxuswohnungen besetzten.

Neben der Entwicklung der Arbeiterräte und auf dem Hintergrund des Chaos und der Unterbrechung der Produktion entstand eine zweite Organisationsform in den Betrieben – die Fabrikräte, die die Produktion und die Verteilung lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen übernahmen, um Mängel zu vermeiden. Ende Januar ergriff der Budapester Arbeiterrat eine kühne, zentralisierende Initiative: die Gasproduktion, Rüstungsbetriebe, die größten Baustellen, die Zeitung Deli Hirlap und das Ungarn-Hotel wurden unter Arbeiterkontrolle gestellt.

Dies stellte eine Herausforderung für die Regierung dar, und der Sozialist Garami reagierte mit einem Gesetzesvorschlag, der die Fabrikräte zu einer Handlangerrolle der Bosse verurteilte, nachdem die Unternehmer wieder die Produktion und die Verwaltung ihrer Betriebe übernehmen konnten. Gegen diese Maßnahme erhoben sich massive Proteste. In den Budapester Arbeiterräten waren die Diskussionen sehr lebhaft. Am 20. Februar „warf die Sozialdemokratie eine Bombe“ bei der dritten Sitzung zu diesem Gesetzesvorschlag. Ihre Delegierten unterbrachen das Treffen mit der sensationellen Nachricht: „Die Kommunisten haben einen Angriff gegen Népszava gestartet. Die Redaktionsräume sind mit Maschinengewehren gestürmt worden. Mehrere Redakteure sind schon gestorben. Auf den Straßen liegen viele Tote und Verletzte“[23].

Dadurch konnte der Gesetzesvorschlag gegen die Fabrikräte mit einer knappen Mehrheit verabschiedet werden, und dadurch wurde auch eine neue Stufe eingeleitet: die des Versuchs der gewaltsamen Niederschlagung der Kommunistischen Partei.

Die Erstürmung der Zeitung Népszava stellte sich bald als eine von der Sozialdemokratie inszenierte Provokation heraus. Diese Operation fand zu einem besonders wichtigen Zeitpunkt statt – überall entstanden mehr Arbeiterräte, die sich zunehmend gegen die Regierung richteten, gleichzeitig wurde dadurch der Höhepunkt einer Kampagne der Sozialdemokratie gegen die Kommunistische Partei erreicht, die diese seit Monaten eingefädelt hatte.

Schon im Dezember 1918 hatte die Regierung nach einem Vorschlag der Sozialdemokratie die Benutzung von Druckmaterialien verboten, weil sie damit den Druck und den Vertrieb von Vörös Ujsàg unterbinden wollte. Im Februar 1919 ging die Regierung gewaltsam vor. „Eines Morgens umstellte eine Gruppe von 160 mit Granaten und Maschinengewehren bewaffneten Polizisten das Sekretariat. Unter dem Vorwand einer Hausdurchsuchung drangen die Polizisten in das Gebäude ein, zerschlugen Möbel und Ausrüstung und schleppten alles in acht großen Fahrzeugen fort.“ [24]

Szanto berichtete, dass “die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs durch die weiße Konterrevolution in Deutschland von den ungarischen Konterrevolutionären als Signal für den Kampf gegen den Bolschewismus aufgefasst wurde.“[25]. Ein sehr einflussreicher bürgerlicher Journalist, Ladislas Fényes, startete eine hartnäckige Kampagne gegen die Kommunisten. Er forderte: „Sie müssen entwaffnet werden.“  Die Sozialdemokratie behauptete weiter, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg “ihren Versuch, die Einheit der Arbeiterbewegung zu untergraben, mit ihrem Leben bezahlt hatten.“ Alexander Garbai, der später Vorsitzender der ungarischen Arbeiterräte werden sollte, meinte, “Die Kommunisten sollten an die Wand gestellt und erschossen werden, weil niemand die Sozialdemokratische Partei spalten darf ohne dafür mit seinem Leben zu zahlen.“[26]. Man berief sich betrügerisch auf die Einheit der Arbeiter, die für das Proletariat grundlegend ist, um die bürgerliche Offensive zu unterstützen und auszuweiten.[27]

Die Frage der “Bedrohung der Einheit der Arbeiter” wurde von der Sozialdemokratie vor dem Arbeiterrat aufgeworfen. Die Arbeiterräte, die gerade erst ihre Aktivitäten aufgenommen hatten, wurden mit einer heiklen Frage konfrontiert, die sie schlussendlich lähmen sollte: mehrfach stellten die Sozialdemokraten den Antrag auf Ausschluss der Kommunisten aus Versammlungen, weil sie „die Arbeiterbewegung gespalten haben“. Sie setzten eigentlich nur die Kampagne ihrer deutschen Gesinnungsbrüder fort, die nach November 1918 die Frage der Einheit als Vorwand zum Ausschluss der Spartakisten genommen hatten, um somit eine Pogromatmosphäre gegen sie zu stiften.

Der Angriff gegen die Zeitung Népszava muss im gleichen Zusammenhang gesehen werden. Sieben Polizisten kamen dabei ums Leben. Im Verlauf der gleichen Nacht am 20. Februar wurde eine ganze Reihe von kommunistischen Militanten verhaftet. Die Polizei, die erzürnt war wegen des Todes ihrer Kollegen, folterte Gefangene. Am 21. Februar verbreitete Népszava eine Erklärung, in der Kommunisten als „konterrevolutionäre Söldner im Dienst der Kapitalisten“ angeprangert wurden und rief aus Protest zu einem Generalstreik auf. Zu einer Demonstration noch am Nachmittag vor dem Parlament wurde aufgerufen. 

Die Beteiligung an der Demonstration war enorm. Viele Arbeiter, die aufgrund der Vorwürfe gegen die Kommunisten erbost waren, beteiligten sich, aber insbesondere die Sozialdemokraten hatten viele Beamte, Kleinbürger, Armeeoffiziere, Geschäftsleute usw. mobilisiert, die strenge Maßnahmen seitens der bürgerlichen Justiz gegen die Kommunisten forderten.

Am 22. Februar berichtete die Presse über Folter an Gefangenen. Die Népszava verteidigte die Polizei. „Wir verstehen die Wut der Polizei und fühlen tiefe Sympathie für die Trauer über ihre gefallenen Kollegen, die die Arbeiterpresse verteidigten. Wir können dankbar dafür sein, dass die Polizei unsere Partei unterstützt hat, dass sie organisiert ist und Solidaritätsgefühle gegenüber dem Proletariat zeigt.“[28]

Diese widerwärtige Sprache lieferte die Schlüsselbegriffe für eine zweistufige Offensive gegen das Proletariat, die von der Sozialdemokratie angeführt wurde: erstens die Kommunisten als revolutionäre Avantgarde niederschlagen, anschließend immer gewalttätiger gegen die proletarischen Massen vorgehen. Am gleichen Tag, den 22. Februar, wurde der Antrag auf Ausschluss der Kommunisten von den Arbeiterräten angenommen. Sollten die Kommunisten damit vollständig enthauptet werden? Es sah danach aus, dass die Konterrevolution gewinnen würde.

Im nächsten Artikel werden wir sehen, wie diese Offensive durch eine starke Reaktion durch das Proletariat zurückgeschlagen wurde.

C. Mir, 3. März 2009

[1] Der allgemeine Waffenstillstand wurde am 11. November 1918, wenige Tage nach dem Ausbruch der Revolution in Kiel (Norddeutschland) und der Abdankung Kaiser Wilhelms unterzeichnet. Siehe die Artikelserie zu diesem Thema, die in International Review Nr. 133 begann.

[2] Siehe das Buch dieses Autors: Die ungarische Räterepublik, S. 40, spanische Ausgabe.

[3] So wurden Erscheinungen wie Unterproduktion, die durch die totale und vollständige Mobilisierung aller Ressourcen für Rüstung und Krieg verursacht wurde, auch von Gers Hardach in seinem Buch Der Erste Weltkrieg (S. 86, spanische Ausgabe) aufgegriffen. In Deutschland wurden von 1917 an Zeichen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs mit einer Unterbrechung der Versorgung und einem wachsenden Chaos festgestellt, das schließlich gar in einer Blockade der Kriegsproduktion mündete.

[4] Karl Radek, von Szantò zitiert (S. 10, spanische Ausgabe).

[5] In seinem Buch Weltkommunismus, schrieb der aus Österreich stammende alte kommunistische Militant Franz Borkenau: „Es war auf verschiedenen Ebenen die grösste revolutionäre Bewegung mit rein proletarischem Ursprung welche die moderne Welt je gesehen hatte.  (…) Die internationale Koordination welche die Komintern später zu erreichen versuchte entstand hier automatisch, innerhalb der Grenzen der zentralen Staaten, aus der Gemeinschaft der Interessen in allen Ländern heraus, und durch die Dringlichkeit von zwei Hauptproblemen, Brot und die Verhandlungen von Brest-Litovsk (dies waren Friedensverhandlungen zwischen der Sowjetregierung und den Deutschen Reich im Januar-März 1918). Es waren überall die Forderungen nach einem Frieden ohne Annexionen und Zahlungen mit Russland, nach mehr Nahrung und politischer Demokratie zu hören.“ (Seite 92 der englischen Ausgabe, von uns übersetzt)

[6] Béla Szantò, Die ungarische Revolution 1919, Spanische Ausgabe, S. 21.

[7] Szantò, S. 24.

[8] Szantò, S. 28.

[9] Szantò, S. 35.

[10] Siehe: “Deutschland 1918 – Bildung der Partei, Abwesenheit der Internationale”, International Review Nr. 135

[11] Sie ähnelten den revolutionären Obleuten in Deutschland. Es gibt einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Bildung der Bolschewistischen Partei in Russland, der KPD in Deutschland und der Ungarischen KP: „Die Tatsache, dass die drei erwähnten Kräfte die wir erwähnt haben eine entscheidende Rolle im Szenario der Entstehung der Partei bildeten war keinesfalls eine Eigenheit der Situation in Deutschland. Eine der Charakteristiken des Bolschewismus während der Russischen Revolution war der Weg mit dem er grundsätzlich die Kräfte die innerhalb der Arbeiterklasse existierten vereinte: die Partei der Vorkriegszeit, welche das Programm und die organisatorische Erfahrung repräsentierte; die fortgeschrittensten Arbeiter, welche in den Fabriken und an den Arbeitsplätzen  über ein Klassenbewusstsein verfügten; und die revolutionäre Jugend, welche durch den Kampf gegen den Krieg politisiert worden war.“ (International Review Nr. 135)

[12] Ein Militanter des linken Flügels der Sozialdemokratie, der 1910 die Partei verließ und sich auf anarchistische Positionen zubewegte. Er starb 1918, nachdem er sich mit einer internationalistischen Position energisch gegen den Krieg gestellt hatte.

[13] Wir zitieren die Zusammenfassung der Prinzipien durch Béla Szantó im oben erwähnten Buch.

[14] Bei der Agitation und der Aufnahme von neuen Militanten war die Partei sehr erfolgreich. Innerhalb von vier Monaten wuchs sie von 4.000 auf 70.000 Mitglieder an.

[15] Die gleiche Position herrschte im russischen Proletariat und unter den Bolschewiki vor. Aber während die Gewerkschaften in Russland sehr schwach waren, waren sie in Ungarn und in anderen Ländern viel stärker.

[16] Szantò, S 43.

[17] ebenda.

[18] ebenda

[19] Als Ausgleich schlug der Sozialdemokratische Minister vor, dass die Fabrikbesitzer 15 Millionen Kronen als Kredit bekommen sollten. Dies bedeutete, dass die Lohnerhöhungen, die den Arbeitern zugestanden worden waren, innerhalb weniger Tage aufgrund der Inflation aufgefressen sein würden.

[20] Dieses Gebiet sollte unter tschechischer Herrschaft bis zum Ausbruch der Revolution im August 1919 bleiben.

[21] Von Januar an lebte er mit all den Wendungen wieder auf, die wir oben erwähnt haben. Die großen Betriebe schickten Delegierten, viele von ihnen waren Kommunisten, die die Wiederaufnahme dieser Treffen forderten.

[22] Dies war eines der entscheidenden Merkmale der Russischen Revolution, wie sie zum Beispiel John Reed in seinem Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten, hervorhob.

[23] Szantò, S. 60.

[24] Szantò, S. 51.

[25] ebenda

[26] Szantò, S 52.

[27] Wir werden in einem späteren Artikel sehen, dass die Frage der Einheit das trojanische Pferd der Sozialdemokratie war, um die Kontrolle über die Arbeiterräte aufrechtzuerhalten, als diese die Macht ergriffen.

[28] Szantò, S 63.

Historische Ereignisse: 

  • Ungarn; Revolution; 1919 [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [7]

Die ungarische Revolution 1919: Das Beispiel Russlands inspirierte die ungarische Arbeiterklasse, Teil 2

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Im ersten Teil dieses Artikels[1] haben wir gesehen, wie die Sozialdemokratische Partei, Hauptbollwerk des Kapitalismus, ein widerwärtiges Manöver vollzog, um den überall zunehmenden Arbeiterkämpfen entgegenzutreten. Dieses Manöver zielte darauf ab, die Kommunisten für einen seltsamen Ansturm verantwortlich zu machen, der gegen die Reaktion der sozialdemokratischen Zeitung Népszava ausgeführt wurde, um sie zu kriminalisieren und später eine Welle der Unterdrückung auszulösen. Dies sollte, angefangen bei den Kommunisten, durch die Vernichtung der entstehenden Arbeiterräte und die Niederschlagung jeglicher revolutionärer Bestrebungen im ungarischen Proletariat enden.

Im zweiten Teil werden wir nun sehen, wie dieses Manöver scheiterte. Als die revolutionäre Situation weiter reifte, leitete die Sozialdemokratische Partei ein weiteres, ebenso riskantes Manöver ein, das schlussendlich zu einem Erfolg für die Kapitalisten wurde: Der Zusammenschluss mit der Kommunistischen Partei, „die Machtergreifung“, und die Organisierung der „Diktatur des Proletariats“, wodurch die aufsteigende Kampfbewegung und die Selbstorganisierung des Proletariats aufgefangen werden konnte. Dadurch wurde das Proletariat in eine Sackgasse und in eine Niederlage geführt.

März 1919: Krise der bürgerlichen Republik

Die Wahrheit über den Angriff auf die Zeitung Népszava wurde bald bekannt. Die Arbeiter fühlten sich getäuscht, ihre Wut wurde noch größer, als sie von den Folterungen an den Kommunisten erfuhren. Die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratischen Partei wurde untergraben. All das begünstigte die Popularität der Kommunisten. Die Forderungskämpfe nahmen seit Ende Februar 1919 immer mehr zu; die Bauern besetzten das Land ohne die Umsetzung der schon lange versprochenen „Agrarreform“ abzuwarten.[2] Immer mehr ArbeiterInnen beteiligten sich an den Sitzungen des Arbeiterrates von Budapest, in tumultartigen Diskussionen wurde heftige Kritik an den Führern der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften geübt. Die bürgerliche Republik, die im Oktober 1918 so viele Illusionen geweckt hatte, enttäuschte immer mehr. Die von den Kriegsschauplätzen zurückgeführten 25.000 Soldaten waren in ihren Kasernen eingesperrt worden; sie organisierten sich nunmehr in Soldatenräten. In der ersten Märzwoche wählten nicht nur die Vollversammlungen in den Kasernen ihre Delegierten, wobei der Anteil der kommunistischen Delegierten zunahm. Es gab auch immer mehr Abstimmungen, wo man kundtat, dass man „nicht mehr den Befehlen der Regierung folgen wird, solange diesen nicht vom Soldatenrat Budapests zugestimmt worden ist“.

Am 7. März wurde eine außerordentliche Sitzung des Budapester Arbeiterrates eröffnet, der eine Resolution verabschiedete. Darin wurde „die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und die Übernahme der Leitung der Produktion durch die Räte“ gefordert. Aber auch wenn die Vergesellschaftung des bürgerlichen Staatsapparates ohne dessen Zerstörung nur eine lahme Maßnahme sein kann, spiegelte diese Resolution dennoch das große Selbstvertrauen der Räte wider und war eine Antwort auf zwei dringende Fragen: Erstens: die durch die Unternehmer ausgeübte Sabotage eines immer stärker desorganisierten Teils der Produktion und deren Kriegstreiben; Zweitens: der schreckliche Mangel an Lebensmitteln und lebensnotwendiger Produkte.

Die Ereignisse überstürzten sich. Der Arbeiterrat der Metallarbeiter stellte der Regierung ein Ultimatum. Ihr wurden fünf Tage bis zur Übergabe der Macht an die Parteien der Arbeiterklasse eingeräumt[3]. Am 19. März fand die bis zum damaligen Zeitpunkt größte Demonstration statt, zu der vom Budapester Arbeiterrat aufgerufen worden war. Die Arbeitslosen forderten Zahlungen und Lebensmittelkarten sowie kostenlose Wohnungen. Am 20. März streikten die Schriftsetzer; deren Streik wurde am folgenden Tag mit zwei Forderungen ausgedehnt: Freilassung der kommunistischen  Führer und Einsetzung einer „Arbeiterregierung“.

Während diese Ereignisse eine Reifung der revolutionären Situation zeigen, bringen sie aber auch zum Ausdruck, dass die Arbeiterklasse bei weitem noch nicht das politische Niveau erreicht hatte, das für den Sturm auf die Macht erforderlich ist.  Um die Macht zu ergreifen und in den Händen zu halten, muss das Proletariat auf zwei Kräfte bauen: die Arbeiterräte und die Kommunistische Partei. Im März 1919 steckten  die Arbeiterräte in Ungarn noch in ihrer Anfangsphase. Sie hatten gerade erst ihre Macht und ihre Selbständigkeit verspürt; sie waren noch dabei, sich aus der erstickenden Umklammerung durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zu lösen.

Ihre beiden Hauptschwächen waren:

–  ihre Illusionen über die Möglichkeit einer “Arbeiterregierung”, in der Sozialdemokraten und Kommunisten vereint wären. Wie wir später sehen werden, erwies sich dies als Grab für die weitere revolutionäre Entwicklung;

– ihre Organisation erfolgte noch nach Wirtschaftsbereichen: Räte der Metallindustrie, Schriftsetzer, Textilarbeiter usw. Seit 1905 erfolgte die Organisierung der Räte auf horizontaler Ebene, alle Arbeiter waren ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer Branche, einer Region, Land usw. übergreifend  organisiert. In Ungarn bestanden die Räte auf der Grundlage von Wirtschaftsbezirken und Städten; dies birgt die Gefahr der Zerstreuung und des Branchenegoismus in sich.

Im ersten Teil des Artikels hoben wir hervor, wie schwach und heterogen die Kommunistische Partei noch war,  und dass die Debatten in ihren Reihen erst angefangen hatten. Ihr fehlte eine solide internationale Struktur, welche sie hätte leiten können; die Kommunistische Internationale hielt gerade ihren Gründungskongress ab. Aus diesem Grund litt sie unter großen Schwächen, wie wir sehen werden. Es mangelte ihr an Klarheit, weshalb sie leicht in die Falle lief, die von der Sozialdemokratie gestellt wurde.

Der Zusammenschluss mit der Sozialdemokratischen Partei und die Ausrufung der Sowjetrepublik

Oberst Vix, Repräsentant der Entente[4], stellte ein Ultimatum, in dem die Schaffung einer entmilitarisierten Zone auf ungarischem Gebiet verlangt wurde, das direkt vom alliierten Militärkommando befehligt wurde und eine Fläche von 200 km umfasste, d.h.  ungefähr die Hälfte des Landes.

Die herrschende Klasse tritt der Arbeiterklasse nie mit offenem Visier entgegen. Die Geschichte zeigt, dass sie versucht, die Arbeiterklasse in Sackgassen zu treiben. Die Rechte eröffnete das Feuer mit der Drohung einer militärischen Besetzung, die im April konkret in einer richtigen Invasion umgesetzt wurde. Die Linke wiederum trat sofort mit einer pathetischen Erklärung des Präsidenten Károlyi auf: „Das Land ist in Gefahr. Die schwierigste Stunde unserer Geschichte ist gekommen. (…) Der Moment ist gekommen, wo die ungarische Arbeiterklasse mit ihrer Macht, der einzig organisierten Kraft im Land, mit ihren internationalen Beziehungen  das Vaterland vor Anarchie und Zerstückelung retten muss. Ich schlage deshalb eine homogene sozialdemokratische Regierung vor, die den Imperialisten entgegentreten wird. Bei diesem Kampf geht es um das Überleben unseres Landes. Um diesen Kampf erfolgreich zu führen, muss die Arbeiterklasse unbedingt wieder vereint werden, die von den Extremisten hervorgerufene Agitation und Unordnung müssen aufhören. Zu diesem Zweck müssen die Sozialdemokraten eine gemeinsame Linie mit den Kommunisten finden.“[5]

Das Kreuzfeuer seitens der Rechten gegen den Klassenkampf, die die militärische Besetzung ins Spiel brachten, und der Linken, die die Verteidigung der Nation in den Vordergrund stellten, verfolgte das gleiche Ziel: Rettung der Herrschaft der Kapitalisten. Die militärische Besetzung – die schlimmste Kränkung, die ein Nationalstaat erleiden kann – zielte in Wirklichkeit auf die Niederschlagung der revolutionären Tendenzen des ungarischen Proletariats ab. Zudem bot sie der Linken die Möglichkeit, die Arbeiter auf die Verteidigung des Vaterlandes einzuschwören. Diese Falle war schon im Oktober 1917 in Russland gestellt worden,  als die russische Bourgeoisie in Anbetracht ihrer Unfähigkeit, das Proletariat niederzuschlagen, die Besetzung Petrograds durch deutsche Truppen bevorzugte. Die Arbeiterklasse konnte aber dieses Manöver geschickt vereiteln, indem sie die Macht ergriff. Im Fahrwasser des Grafen Károlyi sich bewegend, legte der rechte Sozialdemokrat Garami die einzuschlagende Strategie dar: „Die Regierung den Kommunisten übertragen, ihren totalen Bankrott abwarten, und erst dann, wenn die Lage  heran gereift ist und die Gesellschaft von diesem Abschaum  befreit ist, können wir eine homogene Regierung bilden“[6]. Der zentristische Flügel der Partei[7] präzisierte diese Politik. „Wir müssen feststellen, dass Ungarn von der Entente geopfert wird;  da sie entschieden hat, die Revolution zu liquidieren, bleibt die einzige Waffe, über die diese verfügt, Sowjetrussland und die Rote Armee. Um deren Unterstützung zu gewinnen, muss die ungarische Arbeiterklasse in der Tat die Macht in ihren Händen halten, und Ungarn muss eine wahre Volksrepublik und Sowjetrepublik sein.“   Sie fügten an: „Um zu verhindern, dass die Kommunisten die Macht missbrauchen, müssen wir sie besser mit ihnen ergreifen.“ [8].

Der linke Flügel der sozialdemokratischen Partei nahm eine proletarische Position ein und bewegte sich auf die Kommunisten zu.  Dem gegenüber manövrierten die Rechten um Garami und die Zentristen um Garbai geschickt. Garami trat von all seinen Ämtern zurück. Der rechte Flügel opferte sich zugunsten des zentristischen Flügels, der „sich für ein kommunistisches Programms aussprach“,  damit gelang es ihm, die Linken zu verführen.[9]

Mit diesem Schwenk schlug die neue zentristische Führung die unmittelbare Verschmelzung mit der Kommunistischen Partei vor und nichts anderes als die Machtergreifung! Eine Delegation der Sozialdemokratischen Partei begab sich zum Gefängnis, um Béla Kun zu treffen und schlug ihm den Zusammenschluss der beiden Parteien und die Bildung einer „Arbeiterpartei“, den Ausschluss aller „bürgerlichen“ Parteien und ein Bündnis mit Russland vor. Die Gespräche dauerten weniger als einen Tag; im Anschluss daran verfasste Béla Kun ein Protokoll mit sechs Punkten, die besonders hervorgehoben wurden: „Die Führungsspitzen der ungarischen Sozialdemokratischen Partei und der ungarischen Kommunistischen Partei haben den vollständigen und unmittelbaren Zusammenschluss ihrer jeweiligen Organisationen beschlossen. Der Name der neuen Organisation wird Vereinigte Sozialistische Partei Ungarns PSUH) sein. (…) Die PSUH ergreift sofort die Macht im Namen der Diktatur des Proletariats. Diese Diktatur wird von den Arbeiter–, Bauern– und Soldatenräten ausgeübt.  Es wird keine Nationalversammlung mehr geben (…) Das engst mögliche politisch–militärische Bündnis  mit Russland wird geschlossen“[10].

Präsident Károlyi, der die Verhandlungen aufmerksam verfolgte, reichte seinen Rücktritt ein und richtete eine Erklärung “an das Proletariat der Welt, um Hilfe und Gerechtigkeit zu erhalten. Ich trete zurück und übergebe die Macht an das Proletariat des ungarischen Volkes“[11].

Während der Demonstration am 22. März schloss sich „der ex–Homo Regius, der Erzherzog Joseph–August sowie Philippe Egalité der Demonstration auf Seiten der Arbeiter an.“[12]. Die neue, am nächsten Tag gebildete Regierung mit Béla Kun und anderen, aus dem Gefängnis befreiten kommunistischen Führern, wurde vom zentristischen Sozialdemokraten Garbai geleitet[13]. Sie verfügte über eine zentristische Mehrheit mit zwei für den linken Flügel reservierten Posten und zwei anderen, für die Kommunisten vorgesehenen Stellen, darunter eine für Béla Kun. Eine sehr riskante Operation begann, indem die Kommunisten als Geiseln der Politik der sozialdemokratischen Politik genommen wurden und die gerade gegründeten Arbeiterräte mit dem vergifteten Geschenk der „Machtübernahme“ sabotiert werden sollten. Die Sozialdemokraten überließen das Hauptamt Béla Kun, der voll in die Falle lief und zum Sprecher und Unterstützer einer ganzen Reihe von Maßnahmen wurde, welche sein Ansehen untergruben[14].

Die “Einheit” führt zur Spaltung der revolutionären Kräfte

Die Proklamierung der ‚Vereinigten‘ Partei bewirkte vor allem, dass die Annäherung zwischen den linken Sozialdemokraten und den Kommunisten aufgehalten wurde, die durch die Radikalisierung der Zentristen verführt worden waren. Aber das Schlimmste war, dass eine Pandora–Büchse unter den Kommunisten geöffnet worden war, die sich in verschiedene Tendenzen spalteten. Die Mehrheit um Béla Kun wurde zur Geisel der Sozialdemokraten; eine andere Tendenz bildete sich um Szamuelly, der in der Partei verblieb aber eine unabhängige Politik betreiben wollte. Die Mehrzahl der Anarchisten spaltete sich ab und bildete die Anarchistische Union, welche jedoch die Regierung mit einer Oppositionshaltung unterstützte[15].

Die einige Monate zuvor gegründete Partei, welche erst jetzt eine wirkliche Organisation schuf und zu intervenieren anfing, löste sich vollständig auf. Die Debatte wurde unmöglich, ihre Mitglieder gerieten in ständige Auseinandersetzungen. Diese hielten sich an keine Prinzipien oder eine unabhängige Analyse der Lage. Stattdessen lief man ständig den Ereignissen hinterher und ließ sich durch die subtilen Manöver der zentristischen Sozialdemokraten irreführen.

Die Desorientierung über die wirkliche Lage in Ungarn erfasste auch einen so erfahrenen und klaren Militanten wie Lenin. In seinen Gesammelten Werken sind die Gespräche mit Béla Kun am 22. und 23. März 1919 veröffentlicht[16]. Lenin bat Béla Kun: „Bitte mitzuteilen welche reellen Garantien Sie dafür haben, dass die neue ungarische Regierung wirklich kommunistisch und nicht nur einfach sozialistisch, das heißt sozialverräterisch wird? Haben die Kommunisten Mehrheit in der Regierung?Wann kommt der Rätekongress zusammen? Worin besteht reell die Anerkennung der Diktatur des Proletariats durch die Sozialisten?“. Lenin stellte die richtigen grundsätzlichen Fragen. Aber alles stützte sich auf persönliche Kontakte und nicht auf eine kollektive internationale Debatte. Lenin zog die Schlussfolgerung: „Die Antwort, die Genosse Béla Kun gab, war völlig zufriedenstellend und zerstreute alle unsere Zweifel. Es stellte sich heraus, dass die linken Sozialisten zu Béla Kun ins Gefängnis gekommen waren, um über die Regierungsbildung zu beraten. Und nur diese mit den Kommunisten sympathisierenden linken Sozialisten sowie Leute des Zentrums haben die neue Regierung gebildet, während die rechten Sozialisten, die sozusagen unversöhnlichen und unverbesserlichen Sozialverräter, völlig aus der Partei ausgeschieden sind, ausgeschieden sind, ohne dass ihnen ein einziger Arbeiter gefolgt wäre.“. Man kann hier erkennen, dass Lenin zumindest schlecht informiert war und die Lage nicht richtig einschätzte, denn das Zentrum der Sozialdemokratie verfügte in der Regierung über die Mehrheit und die linken Sozialdemokraten befanden sich in den Händen ihrer “Freunde” des Zentrums.

Von einem entwaffnenden Optimismus mitgerissen, zog Lenin die Schlussfolgerung: „Die Bourgeoisie selber hat die Macht den Kommunisten Ungarns abgetreten. Die Bourgeoisie hat der ganzen Welt gezeigt, dass sie, wenn eine schwere Krise eintritt, wenn die Nation in Gefahr ist, nicht reagieren kann. Es gibt nur eine einzige wirklich vom Volk getragene, vom Volk geliebte Macht – die Macht der Arbeiter–, Soldaten– und Bauernräte.“    

Einmal an der Macht wurden die Arbeiterräte sabotiert

Diese Macht bestand in Wirklichkeit nur auf dem Papier. Vor allem die Vereinigte Sozialistische Partei ergriff die Macht, ohne dass der Budapester Sowjet oder irgendein anderer Sowjet im Lande sich irgendwie daran beteiligte[17]. Auch wenn die Regierung sich formell dem Budapester Arbeiterrat „untergeordnet“ erklärte, präsentierte diese jegliche Dekrete, Befehle und Entscheidungen als Tatbestände, gegenüber denen der Rat nur ein relatives Vetorecht besaß. Die Arbeiterräte befanden sich in der Zwangsjacke der parlamentarischen Praxis. „Die Angelegenheiten des Proletariats wurden weiter verwaltet – oder besser gesagt – durch die alte Bürokratie sabotiert, anstatt durch die Arbeiterräte selbst vertreten zu werden; diesen gelang es nie, zu einem aktiven Organ zu werden“ [18].

Der schlimmste Schlag gegen die Räte war die Wahlaufruf seitens der Regierung, um eine „Nationalversammlung der Arbeiterräte“ zu bilden. Das von der Regierung aufgezwungene Wahlsystem bestand in der Durchführung der Wahlen an zwei Daten – (7. Und 14. April 1919), „den Modalitäten der formellen Demokratie folgend (Listenwahlen, mit Wahlkabinen usw.)“[19]. Dies war die Wiederauflage der typischen Mechanismen der bürgerlichen Wahlen, wodurch das Wesen der Arbeiterräte ausradiert wird. Während in der bürgerlichen Demokratie die gewählten Organe das Ergebnis einer Stimmabgabe durch atomisierte, voneinander getrennte Individuen sind, stützen sich die Arbeiterräte auf ein radikal neues und unterschiedliches Konzept politischen Handelns: Über Entscheidungen, zu treffende Maßnahmen wird in den Debatten beratschlagt und abgestimmt, an denen sich die organisierten Massen beteiligen. Die Massen begnügen sich nicht damit, Entscheidungen zu treffen, sondern setzen sie auch in die Praxis um.

Aber der Triumph des Wahlmanövers war nicht nur auf die Geschicklichkeit der Sozialdemokratie bei Manövern zurückzuführen, sie beuteten nur die bestehenden Verwirrungen nicht nur unter den Massen aus, sondern auch die der Mehrzahl der kommunistischen Militanten, insbesondere die der Gruppe um Béla Kun.  Die jahrelange Beteiligung an Wahlen und die parlamentarische Tätigkeit – eine während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus für den Fortschritt des Proletariats notwendige Tätigkeit – hatte Gewohnheiten und Sichtweisen aufkommen lassen, die mit einer eindeutig abgeschlossenen Phase verbunden waren, und jetzt eine klare Reaktion auf die neue Lage verhinderten, die den endgültigen Bruch mit dem Parlamentarismus und der Wahlbeteiligung verlangten.

Der Wahlmechanismus und die Disziplin der „Vereinigten“ Partei führten dazu, dass bei „der Vorstellung der Kandidaten für die Wahlen zu den Räten die Kommunisten die Sache der Sozialdemokraten vertreten mussten; einige von ihnen wurden noch nicht einmal gewählt.“ Szantó stellte fest, dass dies den Sozialdemokraten die Möglichkeit bot, „eine wortradikale, revolutionär–kommunistische Sprache zu sprechen, um revolutionärer zu erscheinen als die Kommunisten“[20].

Diese Politik rief einen heftigen Widerstand hervor. Die Aprilwahlen wurden im 8. Budapester Bezirk angezweifelt. Szamuelly gelang es, die offizielle Liste seiner eigenen Partei (!) zu annullieren und Wahlen aufzuzwingen, die sich auf die Ergebnisse der Debatten in den Vollversammlungen stützten, die wiederum einen Sieg einer Koalition von Dissidenten der PSUH und Anarchisten ermöglichten, die sich um Szamuelly zusammengeschlossen hatten.

Andere Versuche,  wirkliche Arbeiterräte ins Leben zu rufen, wurden Mitte April gestartet. Einer Bewegung der Stadtviertel–Räte gelang es, eine Konferenz der Stadtviertel–Räte in Budapest einzuberufen, welche die „sowjetische Regierung“ scharf kritisierte und eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Versorgungslage, zur Niederschlagung der Konterrevolutionäre und hinsichtlich des Verhältnisses zu den Bauern und der Fortsetzung des Krieges  machte.  Und sie schlug – gerade ein Monat nach den Wahlen – eine Neuwahl der Räte vor. Béla Kun, der als Geisel der Sozialdemokratie wirkte, erschien auf der letzten Sitzung der Konferenz und übte die Feuerwehrrolle aus; seine Sprache grenzte an Demagogie: „Wir stehen schon so weit links, dass man nicht noch weiter links rücken kann. Eine noch stärkere Linkswende könnte nur eine Konterrevolution werden“[21].

Die wirtschaftliche Umorganisierung stützte sich auf die gegen die Räte eingestellten Gewerkschaften

Der revolutionäre Ansturm hatte mit dem wirtschaftlichen Chaos, dem Warenmangel und der Sabotage durch die Unternehmer zu kämpfen. Während der Schwerpunkt einer jeden proletarischen Revolution die politische Macht der Räte ist, heißt dies aber nicht, dass man die Kontrolle der Produktion vernachlässigen darf. Auch wenn es unmöglich ist, eine revolutionäre Umwälzung der Produktion hin zum Kommunismus zu starten, solange die Revolution nicht weltweit gesiegt hat, darf man daraus nicht schlussfolgern, dass das Proletariat auf eine besondere Wirtschaftspolitik von Beginn der Revolution an verzichten könnte. Diese muss insbesondere zwei prioritäre Fragen berücksichtigen. Die erste ist – alle möglichen Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Ausbeutung der ArbeiterInnen zu reduzieren und sicherzustellen, dass sie so viel Zeit wie möglich haben,  um ihre Energie für die aktive Beteiligung an den Arbeiterräten zur Verfügung zu stellen.

Unter dem Druck des Budapester Arbeiterrates beschloss die Regierung die Abschaffung der Akkordarbeit und die Kürzung des Arbeitstages mit dem Ziel, „es den Arbeitern zu ermöglichen, sich am politischen und kulturellen Leben der Revolution zu beteiligen“[22].

Die zweite Maßnahme war der Kampf für eine bessere Versorgung und gegen die Sabotage, so dass Hunger und das unvermeidbare wirtschaftliche Chaos nicht das Ende der Revolution einläuten konnten. Nachdem sie mit diesem Problem konfrontiert wurden, schufen die Arbeiter schon vom Januar 1919 an Fabrikräte und Bereichsräte. Wie wir im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, verabschiedete der Budapester Rat einen mutigen Plan zur Kontrolle der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Aber die Regierung, die sich auf sie stützen musste, unternahm systematisch Anstrengungen, um ihnen die Kontrolle über die Produktion und die Versorgung zu entreißen und diese immer mehr den Gewerkschaften zu übertragen. Béla Kun beging damals schwerwiegende Fehler. So erklärte er im Mai 1919: “Unser Industrieapparat fußt auf den Gewerkschaften. Diese müssen sich mehr emanzipieren und zu gewaltigen Betrieben werden, die die Mehrheit der Beschäftigten umfassen, dann alle Beschäftigten einer Industriebranche insgesamt. Die Gewerkschaften beteiligen sich an der technischen Leitung; sie müssen sich darauf ausrichten, langsam die Führungsaufgaben zu übernehmen. So garantieren sie, dass die für das Regime zentralen Wirtschaftsorgane und die arbeitende Bevölkerung zusammen wirken und die Arbeiter sich an die Leitung des Wirtschaftslebens gewöhnen“[23]. Roland Bardy kommentiert diese Analyse kritisch: „Als Gefangener eines abstrakten Schemas, konnte sich Béla Kun nicht der Logik seiner Position bewusst sein, und dass die Sozialisten die Macht übernahmen, die ihnen vorher entrissen worden war (…) Eine Zeit lang werden die Gewerkschaften die Bastion der reformistischen Sozialdemokratie sein, und sich ständig in Konkurrenz mit den Sowjets befinden“[24].

Der Regierung gelang es durchzusetzen, dass nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Bauern Zugang zu den Kooperativen und den Konsumgenossenschaften erhielten. Dies gab den Gewerkschaften einen wichtigen Hebel zur Kontrolle in die Hand.

Béla Kun theoretisierte dies: „Die kommunistische Herrschaft ist die der organisierten Gesellschaft. Wer leben und Erfolg haben will, muss einer Organisation angehören. Die Gewerkschaften dürfen den Mitgliederbeitritt nicht erschweren“[25]. Wie Bardy meint: „Die Gewerkschaften für alle zu öffnen, war ein sicherer Weg, um das zahlenmäßige Übergewicht des Proletariats in seinen Reihen abzuschaffen und somit langfristig die „demokratische“ Funktionsweise der Klassengesellschaft wieder herzustellen.“ (…) „Die alten Arbeitgeber, Grundbesitzer und ihre Diener beteiligten sich nicht an der aktiven Produktion (Industrie und Landwirtschaft), sondern an den Dienstleistungen. Das Aufblähen dieses Bereiches ermöglichte es der alten herrschenden Klasse als Parasitenklasse zu überleben und von der Verteilung der Produkte zu profitieren, ohne jedoch in den aktiven Produktionsprozess integriert zu sein“[26]. Dieses System begünstigte die Spekulation und den Schwarzmarkt, ohne auch nur in der Lage zu sein, die Probleme des Hungers und des Mangels, unter denen die ArbeiterInnen der großen Städte litten, zu lösen.

Die Regierung ermunterte die Schaffung von großen Agrarbetrieben, die von einem System der „Kollektivierung“ beherrscht wurden. Dies war ein großer Betrug. ‚Produktionskommissare’ wurden an die Spitze der kollektivierten Bauernhöfe gestellt, und wenn sie keine arroganten Bürokraten waren, handelte es sich um die alten Großgrundbesitzer! Diese lebten übrigens immer noch auf ihrem Gut und forderten von den Bauern, dass diese sie weiterhin mit „Herr“ anredeten.

Von den kollektivierten Bauernhöfen erwartete man die Ausdehnung der Revolution auf dem Land und die garantierte Versorgung, aber sie leisteten weder das eine noch das andere. Die Tagelöhner und die armen Bauern, die zutiefst von der Wirklichkeit der kollektivierten Betriebe enttäuscht waren, nahmen immer mehr von ihnen Abstand. Übrigens verlangten deren Führer einen Tausch, den die Regierung unmöglich eingehen konnte: landwirtschaftliche Produkte im Austausch für Dünger, Traktoren und Maschinen zu liefern. Sie verkauften deshalb ihre Waren an Spekulanten und Aufkäufer; das hatte zur Folge, dass der Hunger und der Mangel solche Ausmaße erreichten, dass der Budapester Arbeiterrat verzweifelt die Umwandlung von Parks und Gärten in landwirtschaftlich benutzten Boden anordnete.

Die Entwicklung des weltweiten revolutionären Kampfes und die Lage in Ungarn

Die einzige Möglichkeit für das ungarische Proletariat, der Falle, in die es geraten war, zu entrinnen, bestand im Vorantreiben des Kampfes des Weltproletariats. In der Zeit von März bis Juni 1919 gab es große Hoffnungen trotz des heftigen Gegenschlags, den die Niederschlagung des Aufstands im Januar 1919 in Berlin hervorgerufen hatte[27]. Im März 1919 wurde die Kommunistische Internationale gegründet, im April die Bayrische Räterepublik ausgerufen, die durch die sozialdemokratisch geführte Regierung niedergeschlagen wurde. Die revolutionäre Agitation in Österreich, wo sich die Räte konsolidierten, wurde ebenfalls durch das Manöver eines Provokateurs namens Bettenheim abgewürgt, welcher die junge kommunistische Partei zu einem verfrühten Aufstand trieb, der im Mai 1919 leicht nieder geworfen werden konnte. In Großbritannien brach der große Streik in den Clyde Schiffswerften aus, bei dem Arbeiterräte gebildet wurden, und der auch Meutereien in der Armee auslöste. Streikbewegungen entstanden in Holland, Norwegen, Schweden, Jugoslawien, Rumänien, Tschechoslowakei, Polen, Italien und selbst in den USA. Aber diese Bewegungen steckten erst in ihrer Anfangsphase. Damit verfügten die Armeen Frankreichs und Großbritanniens, die am Ende des Krieges noch mobilisiert geblieben waren, noch über einen großen Spielraum, um die Polizistenrolle zu übernehmen und die revolutionären Erhebungen niederzuschlagen. Zunächst konzentrierten sie sich auf Russland (1918–20) und Ungarn (von April 1919 an). Als die ersten Meutereien in der Armee gemeldet wurden, und als Folge der Kampagnen, die im Krieg gegen das revolutionäre Russland geführt wurden, ersetzte man die Rekruten schnell  durch Kolonialtruppen, die gegenüber dem Proletariat viel resistenter waren.

Im Falle Ungarns zog die französische Kommandantur die Lehre aus der Weigerung der Soldaten, die Aufständischen von Szeged gewaltsam niederzuschlagen. Frankreich blieb ein wenig im Hintergrund und hetzte die Nachbarstaaten gegen Ungarn auf: Rumänien und die Tschechoslowakei wurden zur Speerspitze bei den Operationen gegen die ungarischen Arbeiter. Diese Staaten übten die Gendarmenrolle aus, aber sie wollten auch dem ungarischen Staat Gelände entreißen.

Das belagerte Russland konnte nicht die geringste militärische Hilfe leisten. Der Versuch der Roten Armee und der Guerilla–Kämpfer um Nestor Machno, im Juni 1919 eine Offensive im Westen zu starten, um eine Verbindung zu Ungarn aufzubauen, wurde durch den gewaltsamen Gegenangriff des Generals Denikin vereitelt.

Aber das zentrale Problem bestand darin, dass der Hauptfeind des Proletariats “in seinem eigenen Haus” wohnte[28]. Am 30. März schuf die Regierung der „Diktatur des Proletariats“ pompös die Rote Armee in Ungarn. Es war die gleiche alte, aber umgetaufte Armee. All die Schaltstellen waren weiterhin besetzt von den alten Generälen, die von einem Korps politischer Kommissare überwacht wurden, welche von den Sozialdemokraten beherrscht wurden, und aus dem die Kommunisten ausgeschlossen worden waren.

Die Regierung verwarf einen Vorschlag der Kommunisten, die Polizeikräfte aufzulösen. Die Arbeiter dagegen entwaffneten selbst die Wächter. Die Belegschaft mehrerer Budapester Betriebe verabschiedete Resolutionen zu diesem Thema, die sofort umgesetzt wurden: „Nur die Sozialdemokraten erteilten Erlaubnisse. Aber sie ließen es nicht zu, dass die Entwaffnung tatsächlich vollzogen wurde, und nur nach einem langen Widerstand stimmten sie der Entlassung der Polizei, der Gendarmerie und der Sicherheitsgarde zu“[29]. Die Rote Armee wurde per Dekret gebildet; und sie nahm in ihre Reihen entlassene Polizeikräfte auf.

Die Armee und Polizei, Rückgrat des bürgerlichen Staates, blieben somit dank dieser Taschenspielertricks intakt. Es überraschte deshalb nicht, dass die Rote Armee so leicht bei der April–Offensive auseinander brach,  die von den rumänischen und tschechischen Truppen lanciert worden war. Mehrere Regimenter wechselten gar die Seite.

Den mobilisierten Arbeitern gelang es am 30. April gegen die Invasionstruppen vor den Toren Budapests das Blatt zu wenden. Die Anarchisten und die Gruppe um Szamuelly betrieben eine verstärkte Agitation. An der 1. Mai Demonstration beteiligten sich viele Arbeiter; man rief nach der ‚Bewaffnung des Volkes’, und die Gruppe um Szamuelly verlangte, „Alle Macht den Räten“. Am 2. Mai wurde eine Massenveranstaltung organisiert, in der die Arbeiter zur Mobilisierung aufgerufen wurden. Innerhalb weniger Tage schlossen sich allein in Budapest 40.000 Freiwillige der Roten Armee an.

Die Rote Armee, die durch die Aufnahme vieler Arbeiter und die Ankunft von internationalen Brigaden mit französischen und russischen Freiwilligen verstärkt worden war, startete eine Großoffensive, bei der eine Reihe von Siegen über die rumänischen, serbischen und besonders tschechischen Truppen errungen wurden, die eine große Niederlage erlitten und deren Soldaten massiv desertierten. In der Slowakei führten die Aktionen der Arbeiter und rebellierenden Soldaten zur Bildung eines Arbeiterrates, die mit Unterstützung der Roten Armee die Slowakische Räterepublik ausrief (16. Juni). Der Rat schloss ein Bündnis mit der ungarischen Republik und verfasste ein Manifest, das an alle tschechischen Arbeiter gerichtet wurde.

Dieser Erfolg alarmierte die Weltbourgeoisie. „Die Pariser Friedenskonferenz, die über den Erfolg der Roten Armee besorgt ist, richtete am 8. Juni ein neues Ultimatum an Budapest, in dem gefordert wurde, dass die Rote Armee ihren Vormarsch einstelle, und die ungarische Regierung aufforderte nach Paris zu kommen, um „über die ungarischen Grenzen“ zu diskutieren.“ Später wurde ein zweites Ultimatum gestellt, in dem der Einsatz von Gewalt in Erwägung gezogen wurde, wenn das Ultimatum nicht eingehalten würde[30].

Der von Béla Kun unterstützte Sozialdemokrat Bohm wollte um jeden Preis Verhandlungen mit dem französischen Staat aufnehmen, der als ersten Schritt die Aufgabe der Slowakischen Sowjetrepublik forderte, dem am 24. Juni zugestimmt wurde. Diese Republik wurde dann am 28. Juni niedergeschlagen und alle Militanten ab dem darauf folgenden Tag gehängt.

Die Entente vollzog einen taktischen Wandel. Die Ausschreitungen der rumänischen Truppen und ihre territorialen Ansprüche waren die Ursache für ein stärkeres Zusammenrücken um die Rote Armee, was im Mai deren Siege begünstigt hatte. Eine provisorische Regierung wurde in aller Eile um zwei Brüder des früheren Präsidenten Károlyi gebildet, die ihre Regierungsgeschäfte in der von den Rumänen besetzten Zone aufnahm, aber sich wiederum zurückziehen musste. Sie murrte,  um den Anschein einer „unabhängigen Regierung“ zu erwecken. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie trat dann wieder in Erscheinung und unterstützte offen diese Regierung.

Am 24. Januar kam es in Budapest zu einem Aufstandsversuch, der von den rechten Sozialdemokraten organisiert wurde. Die Regierung verhandelte mit den Aufständischen und gab der Forderung nach einem Verbot der « Kumpel Lenins », den internationalen Brigaden und den von den Anarchisten kontrollierten Regimentern nach. Diese Repression beschleunigte das Auseinanderbrechen der Roten Armee : in ihren Reihen kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen, immer mehr Soldaten desertierten und die Meutereien nahmen zu. 

Die endgültige Niederlage und die brutale Niederschlagung

Die Demoralisierung erreichte in der Budapester arbeitenden Bevölkerung ihren Höhepunkt. Viele Arbeiter flüchteten mit ihren Familien aus der Stadt. Auf dem Land nahmen die Bauernaufstände gegen die Regierung zu. Rumänien begann erneut seine Militäroffensive. Von Mitte Juni an hatten die Sozialdemokraten wieder ihre Kräfte zusammengeschlossen, sie verlangten den Rücktritt Béla Kuns und die Bildung einer neuen Regierung unter Beteiligung der Kommunisten. Am 20. Juli befahl Béla Kun eine verzweifelte militärische Gegenoffensive gegen die rumänischen Truppen mit den verbliebenen Überresten der Roten Armee, welche sich dann aber am 23. Juli ergeben mussten. Am 31. Juli trat Béla Kun schließlich zurück. Eine neue Regierung mit den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften an der Spitze wurde gebildet, die sofort eine blutige Repression gegen die Kommunisten, Anarchisten und all die Arbeitermilitanten startete, die noch nicht hatten flüchten können. Szamuelly wurde am 2. August ermordet. 

Am 6. August wurde diese Regierung wiederum durch eine Handvoll Militärs gestürzt, die dabei auf keinen Widerstand stießen. Die rumänischen Truppen zogen in Budapest ein. Die Gefangenen wurden mit mittelalterlichen Foltermethoden gepeinigt, bevor sie getötet wurden. Verletzte oder kranke Soldaten wurden aus den Krankenhäusern geholt und auf die Straße geschleppt, wo sie auf alle möglichen Arten erniedrigt wurden, um dann getötet zu werden. In den Dörfern zwangen die Truppen die Bauern, Prozesse gegen ihre eigenen Nachbarn zu organisieren, die sie als verdächtig  betrachteten, diese Verdächtigen zu foltern und anschließend zu töten. Wer sich weigerte, dessen Haus wurde angezündet, mit den im Haus eingesperrten Bewohnern.

Während 129 Konterrevolutionäre in den 133 Tagen der Räterepublik erschossen worden waren, wurden zwischen dem 15. und 31. August mehr als 5.000 Menschen ermordet. 75.000 Menschen wurden verhaftet. Massenprozesse begannen im Oktober. 15.000 Arbeiter wurden von Militärtribunalen verurteilt, von denen viele die Todesstrafe erhielten oder zu Zwangsarbeit verurteilt wurden.

Zwischen 1920 und 1944 genoss die grausame Diktatur Hortys trotz ihrer Sympathien für den Faschismus die Unterstützung der westlichen Demokratien, dies geschah aus Dank für ihr Vorgehen gegen die Arbeiterklasse.

C. Mir, 4. September 2010

 

[1] siehe Teil 1 in derselben Ausgabe (Internationale Revue 47)

[2] Durch eine koordinierte Aktion besetzten die Bauernkomitees die landwirtschaftlichen Güter des größten Adligen, Graf Esterhazy.

[3] Dies spiegelt die wachsende Politisierung der Arbeiter wider, aber auch ihre unzureichende Bewusstseinsentwicklung, da sie eine Regierung forderten, in der die sozialdemokratischen Verräter und die Kommunisten zusammenarbeiten sollten, obwohl die Kommunisten wegen der Manöver der Sozialdemokraten eingesperrt worden waren.

[4] Während des Ersten Weltkriegs gehörte der Entente das imperialistische Lager um Großbritannien, Frankreich und Russland bis zur Oktoberrevolution 1917 an.

[5] Roland Bardy, 1919, La Commune de Budapest, S. 83. Der Großteil der in diesem Artikel verwerteten Informationen stützt sich auf die französische Ausgabe dieses Buches, das sehr reichhaltig dokumentiert ist.

[6] ebenda

[7] Der zentristische Flügel der ungarischen Partei bestand aus ebenso reaktionären Kadern wie die des rechten Flügels, aber sehr viel gerissener und fähig, sich an die Lage anzupassen.

[8] Roland Bardy, S. 84.

[9] In seinem Buch  Die Ungarische Revolution von 1919 zitiert Béla Szanto in der spanischen Ausgabe S. 88 (Kapitel – «Mit wem hätten sich die Kommunisten verbünden sollen?» einen Sozialdemokraten, Buchinger, der meinte, «das Bündnis mit den Kommunisten auf der Grundlage ihres gesamten Programms sei ohne die geringste Überzeugung umgesetzt worden».

[10] Roland Bardy, S. 85.

[11] ebenda, S. 86.

[12] ebenda, S. 99.

[13] Dieser Mensch hatte im Februar 1919 geschrien: «Die Gewehrläufe müssen auf die Kommunisten gerichtet werden», und im Juli 1919 erklärte er: «Ich kann die geistige Welt, auf die sich die Diktatur des Proletariats stützt, nicht verstehen» (Szanto, op.cit., S. 99).

[14] Béla Szanto, op. cit, S. 82 (spanische Ausgabe), berichtet, dass am darauf folgenden Tag Béla Kun seinen ParteigenossenInnen eingestand, «Die Dinge laufen zu gut, ich hab die ganze Nacht darüber nachgedacht, welche Fehler wir gemacht haben könnten», Kapitel: «Im Sturmlauf zur Diktatur des Proletariats».

[15] In der Anarchistischen Union hob sich eine eigenständig organisierte Tendenz ab, die sich «Die Kumpel Lenins» nannten, und die für die «Verteidigung der Macht der Arbeiterräte» eintrat. Sie spielte eine bedeutsame Rolle während der militärischen Verteidigung der Revolution.

[16] Band 29 der deutschen Ausgabe, S. 213, 230 und 231. Die Dokumente heißen «Niederschrift eines Funktelegramms an Béla Kun» und «Mitteilung über ein Funkgespräch mit Béla Kun».

[17] Der Arbeiterrat Szegeds  – eine Stadt in der entmilitarisierten Zone, die aber tatsächlich von 16.000 französischen Soldaten besetzt war – handelte auf revolutionäre Art und Weise. Am 21. März organisierte der Rat den Aufstand und besetzte alle strategisch wichtigen Punkte. Die französischen Soldaten weigerten sich gegen sie zu kämpfen, die Militärführung beschloss daher den Rückzug. Am 23. März wählte der Rat einen Regierungsrat, an dem sich ein Arbeiter aus der Glasindustrie, einer aus der Bauindustrie und ein Rechtsanwalt beteiligten. Am 24. März wurde Kontakt mit der neuen Budapester Regierung aufgenommen.

[18] Szantó, op. cit., S. 106, Kapitel «Theoretische und prinzipielle Widersprüche und ihre Folgen».

[19] Roland Bardy, op. cit., S. 101.

[20] Béla Szanto, op. cit., S. 91, Kapitel «Mit wem hätten sich die Kommunisen verbünden sollen?»

[21] Roland Bardy, op. cit., S. 105.

[22] ebenda, S. 117.

[23] ebenda, S. 111.

[24] ebenda, S. 112.

[25] ebenda, S. 127.

[26] ebenda, S. 126

[27] Siehe den vierten Teil unserer Serie zur Revolution in Deutschland in: International Review Nr. 136

[28] Béla Szanto, op. cit., S. 146: „Die Konterrevolution fühlte sich so stark, dass sie in ihren Veröffentlichungen Männer als ihnen zugehörig bezeichnen konnte, die an der Spitze der Arbeiterbewegung standen und wichtige Ämter in der Diktatur der Räte innehatten.“

[29] ebenda, S. 104, Kapitel  “Theoretische und prinzipielle Widersprüche und ihre Folgen”.

[30] Alan Woods, La République soviétique hongroise de 1919, la révolution oubliée. Auf spanisch: https://www.marxist.com/republica–sovietica–hungara–1919.htm [8]

Historische Ereignisse: 

  • Ungarn; Revolution; 1919 [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [7]

Editorial: Soziale Revolten im Maghreb und im Nahen Osten, nukleare Katastrophe in Japan, Krieg in Libyen:

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Die letzten Monate waren reich an historischen Ereignissen. Auch wenn die Revolten im Maghreb und im Nahen Osten keinen Zusammenhang haben mit dem Tsunami, der über Japan hinweggefegt ist und eine nukleare Katastrophe zur Folge gehabt hat, so zeigen doch all diese Ereignisse mit aller Deutlichkeit auf, welche Alternative sich mehr denn je für die Menschheit stellt: Sozialismus oder Barbarei. Während die Erhebungen in vielen Ländern ein Echo gefunden haben, entlarvt sich die kapitalistische Gesellschaft als vollkommen unfähig, die Kernkraft unter Kontrolle zu halten. Umgekehrt steht der Heroismus der japanischen Arbeiter, die ihr Leben in den Trümmern der Atomanlage von Fukushima riskieren, in schreiendem Gegensatz zur Heuchelei der großen imperialistischen Staaten im Konflikt in Libyen. Nur die proletarische Revolution kann die Menschheit vor dem kapitalistischen Horror retten

Die letzten Monate waren reich an historischen Ereignissen. Auch wenn die Revolten im Maghreb und im Nahen Osten keinen Zusammenhang haben mit dem Tsunami, der über Japan hinweggefegt ist und eine nukleare Katastrophe zur Folge gehabt hat, so zeigen doch all diese Ereignisse mit aller Deutlichkeit auf, welche Alternative sich mehr denn je für die Menschheit stellt: Sozialismus oder Barbarei. Während die Erhebungen in vielen Ländern ein Echo gefunden haben, entlarvt sich die kapitalistische Gesellschaft als vollkommen unfähig, die Kernkraft unter Kontrolle zu halten. Umgekehrt steht der Heroismus der japanischen Arbeiter, die ihr Leben in den Trümmern der Atomanlage von Fukushima riskieren, in schreiendem Gegensatz zur Heuchelei der großen imperialistischen Staaten im Konflikt in Libyen.

Massenmobilisierungen haben Regierungen gestürzt

Seit einigen Monaten haben Protestbewegungen in einem geografisch noch nie da gewesenen Ausmaß verschiedene Länder erfasst . Die ersten Revolten im Maghreb haben schnell eine Ausbreitung erfahren und einige Wochen später sind auch in Jordanien, Jemen, Bahrain, im Iran und in afrikanischen Ländern südlich der Sahara Demonstrationen ausgebrochen. All diese Bewegungen sind in ihrem Klassencharakter, und auch in der Reaktion der herrschenden Klasse, nicht identisch. Doch die ökonomische Krise welche die Bevölkerung seit 2008 in eine immer erdrückendere Misere stürzt, machte die korrupten und repressiven Regime in dieser Region immer unerträglicher. Die Arbeiterklasse hat bis anhin noch nicht als eine selbständige Kraft auftreten können in dem Sinne, dass sie die Richtung der Revolten, welche sich oft als Revolten aller ausgebeuteten Schichten, der ruinierten Bauernschaft und der verarmenden Mittelschichten manifestierten, hätte in die Hände nehmen können. Doch war der Einfluss der Arbeiter auf das Bewusstsein bei den Parolen und Organisationsformen, die sich die Bewegungen gaben, spürbar. Eine Tendenz zur Selbstorganisierung hat sich beispielsweise bei den Komitees zum Schutz der Quartiere gezeigt, welche sich in Ägypten und Tunesien gegen die Repression der Polizei und die absichtlich aus Gefängnissen entlassenen Diebesbanden, die ein Chaos anrichten sollten, formierten. Sicher, viele dieser Revolten haben offen versucht, die Bewegung durch Massendemonstrationen, Versammlungen und Treffen zur Koordination und Zentralisierung der Entscheide zu verstärken. Anderseits spielte die Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Ereignisse. In Ägypten ist die Arbeiterklasse wohl die geballteste und erfahrenste der Region, und die Streiks waren dort am massivsten. Die schnelle Ausbreitung der Bewegung und die Zurückweisung der versuchten gewerkschaftlichen Kontrolle haben entscheidend dazu geführt, dass die Militärführung zusätzlich unter dem Druck der USA gezwungen war, Hosni Mubarak zu feuern.               

Da die Mobilisierungen zahlreich sind und der Sturm der Revolte auch in anderen Ländern aufkommt, hat die herrschende Klasse größte Schwierigkeiten alles im Griff zu behalten. Gerade in Tunesien und Ägypten, wo der „Frühling des Volkes“ angeblich triumphiert, gehen die Konfrontationen gegen den „demokratischen Staat“ weiter. Alle diese Revolten sind eine großartige Erfahrung auf dem Weg hin zu einem revolutionären Bewusstsein. Wenn diese Welle von Aufständen, das erste Mal seit langer Zeit, eine Verbindung schuf zwischen ökonomischen Problemen und politischen Fragen, so machte deren Antwort noch Halt vor den Illusionen welche auf der Arbeiterklasse lasten, vor allem vor den demokratischen und nationalistischen Verblendungen. Diese Schwäche hat den demokratischen Pseudo-Oppositionellen erlaubt, sich als eine Alternative zu den korrupten Regierungs-Cliquen darzustellen. In Wirklichkeit stammen diese „neuen“ Regierungen meist aus dem Harem der alten Regime und die Situation grenzt oft an Clownerie. In Tunesien hat die Bevölkerung einen Teil der Regierung zum Rücktritt gezwungen, weil sie allzu offensichtlich eine Neuauflage des Ben Ali Regimes war. In Ägypten hält das Militär, welches die historische Stütze Mubaraks war, die Geschicke des Staates in den Händen und manövriert aus dieser Position heraus. In Libyen wird der „Nationale Übergangsrat“ vom ehemaligen Innenminister Gaddafis  Abdel Fattah Yunes al Abidi und einer Bande von alten hochrangigen Funktionären angeführt, welche über Jahre die Repression organisiert haben und von der Gunst ihres Führers profitierten und jetzt flugs auf den Geschmack gekommen sind, sich als Verteidiger der Menschenrechte und der Demokratie ausgeben.

In Libyen tobt der Krieg auf den Trümmern der Revolte der Massen

Aufgrund dieser Schwächen hat sich auch die Situation in Libyen in eine besondere Richtung entwickelt. Was anfänglich eine Erhebung der Bevölkerung gegen das Regime von Gaddafi war, hat sich in einen Krieg zwischen verschiedenen Lagern der herrschenden Klasse verwandelt, auf den sich die großen imperialistischen Staaten wie Geier stürzen und ein surrealistisches und blutiges Schmierentheater veranstalten. Diese Verschiebung von der Ebene des Klassenkampfes auf die Ebene der Interessen der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen um die Kontrolle des libyschen Staates war vor allem deshalb möglich, weil die Arbeiterklasse in Libyen relativ schwach ist. Die lokale Industrie ist rückständig und vor allem auf die Erdölförderung konzentriert, welche direkt vom Gaddafi-Clan kontrolliert wird, der nie das Interesse hatte, die nationalen Interessen über seine eigenen Interessen zu stellen. Die Arbeiterklasse in Libyen ist zu großen Teilen aus ausländischen Arbeitskräften zusammengesetzt, welche sich anfänglich an den Protesten beteiligen konnten, aber dann aus Angst vor den Massakern flüchten mussten und sich wohl kaum mit einer „Revolution“ mit nationalistischen Akzenten identifizieren können. Libyen beweist heute auf tragische Art und Weise, wie notwendig es für die Arbeiterklasse ist, bei Volksaufständen eine zentrale Rolle zu spielen. Das Fehlen dieser Fähigkeit erklärt weitgehend die Entwicklung der Lage in Libyen.

Seit dem 19. März, nach mehreren Wochen von Massakern, hat unter der Fahne einer humanitären Intervention zum „Schutz der tyrannisierten libyschen Bevölkerung“ eine eigenartige Koalition Kanadas, der USA, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens usw. direkt militärisch interveniert, um den Nationalen Übergangsrat zu unterstützen. Täglich werden Marschflugkörper abgeschossen und Flugzeuge werfen Bombenteppiche ab, vor allem über den Gebieten, die von den Gaddafi-treuen Truppen kontrolliert werden. Dies ist nichts anders als ein Krieg. Was sofort ins Auge sticht, ist die Verlogenheit der Regierungen dieser großen imperialistischen Mächte, welche sich einerseits mit der Flagge der Humanität schmücken, um ihren Krieg zu rechtfertigen, und andererseits angesichts der Massaker an den revoltierenden Massen in Bahrain, Jemen und Syrien keinen Finger rühren. Wo war diese großartige Koalition, als Gaddafi 1996 im Gefängnis von Abu Salim in Tripolis 1000 Insassen umbringen ließ? Dieses Regime hat über 40 Jahre lang eingekerkert, gefoltert, terrorisiert, Leute verschwinden lassen und umgebracht… ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wo war diese Koalition als Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten oder Bouteflika in Algerien im Januar und Februar auf die Aufständischen schießen ließ? Hinter der verlogenen Rhetorik der Großmächte häufen sich die Toten in den Leichenhallen. Die NATO hat schon jetzt vorgesehen, ihre Militäroperation fortzusetzen, bis zum Triumph des Friedens und der Demokratie.

In Wahrheit beteiligt sich heute jede Großmacht im Namen der eigenen Interessen am Krieg in Libyen. Die Spannungen innerhalb dieser Kriegskoalition, die unfähig ist, geeint vorzugehen, illustrieren, wie diese Staaten am Abenteuer in Libyen mit unterschiedlichem Engagement teilnehmen und sich wie Hyänen über den Kadaver hermachen, nur um ihren eigenen Einfluss in der Region zu verstärken. Für die USA ist Libyen kein strategischer Hauptplatz, weil sie in der Region schon über Verbündete wie Ägypten und Saudi-Arabien verfügen. Dies erklärt auch die anfängliche Unentschlossenheit der USA bei den Verhandlungen der UNO. Die USA haben als historischer Verbündeter Israels in der arabischen Welt einen katastrophalen Ruf, den die Invasionen in Afghanistan und Irak nur verstärkt haben. Dazu kommt, dass während der Revolten Regierungen an die Macht kamen, welche offener sind für anti-amerikanische Tendenzen, und wenn sich die USA ihre Zukunft in der Region nicht verbauen wollen, müssen sie bei den neuen Regierungscliquen ihren Ruf aufpolieren. Doch die USA können Großbritannien und Frankreich das Feld nicht allein überlassen. Diese haben, in unterschiedlicher Form, auch den Zwang, ihren Ruf aufzubessern, vor allem Großbritannien nach den Interventionen in Afghanistan und im Irak. Die französische Regierung verfügt trotz all ihrer Missgeschicke in den arabischen Ländern über eine gewisse Beliebtheit, die unter De Gaulle aufgebaut und durch die Weigerung, sich 2003 am Krieg im Irak zu beteiligen, verstärkt wurde. Eine Intervention gegen einen Gaddafi, der für die Nachbarstaaten allzu unkontrollierbar und unberechenbar ist, eröffnet für Frankreich die Möglichkeit, seinen Einfluss zu verstärken. Hinter den schönen Parolen und der verlogenen Freundlichkeit interveniert jede herrschende Klasse dieser Länder zu ihren eigenen Gunsten in Libyen und beteiligt sich, neben Gaddafi, an diesem makaberen Todestanz.

In Japan und anderswo: die Natur kennt Phänomene, der Kapitalismus produziert Katastrophen

Einige Tausend Kilometer von Libyen entfernt, in Japan, der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, streut der Kapitalismus ebenfalls den Tod und zeigt, dass auch in den industrialisiertesten Ländern die Menschheit vor der Irrationalität und dem Leichtsinn der Bourgeoisie nicht sicher ist. Die Medien haben das Erdbeben und den Tsunami, die in Japan Zerstörung anrichteten, wie immer als ein Schicksal dargestellt, gegen das niemand etwas anrichten könne. Zweifellos, es ist nicht möglich zu verhindern, dass Naturgewalten ausbrechen, doch die Besiedlung von Hochrisikozonen mit Holzhäusern ist kein „Schicksal“ - und schon gar nicht der Bau von Atomkraftwerken in solch gefährdeten Zonen! Die herrschende Klasse ist direkt verantwortlich für die Tragweite dieser Katastrophe. Den Bedürfnissen der Produktion unterworfen, hat der Kapitalismus die Bevölkerung und die Industrie in krankhaftester Weise konzentriert. Japan ist eine Karikatur dieses geschichtlichen Phänomens: Millionen von Leuten sind an der Küste eines dünnen Landstrichs konzentriert, der besonders anfällig ist auf Erdbeben und dadurch ausgelöste Flutwellen. Erdbebensichere Infrastruktur existiert für die Reichen und für Bürogebäude, die zwar viele vor den Fluten beschützten, doch die Arbeiterklasse haust in hölzernen Hasenställen, in Gebieten von denen jeder weiß, dass sie hoch gefährdet sind. Es wäre logisch, die Bevölkerung weiter von den Küsten weg anzusiedeln. Doch Japan ist ein Exportland, und um den Profit zu maximieren, baut man die Fabriken in der Nähe der Häfen. Fabriken sind von den Wassermassen weggespült worden, was zusätzlich zur nuklearen Katastrophe ein ökonomisches Desaster bedeutet. Eine menschliche Katastrophe spielt sich in einem Zentrum des Weltkapitalismus ab. Größte Teile der Infrastruktur und Ausrüstung sind außer Betrieb und Zehntausende von Leuten ihrem Schicksal überlassen, ohne zureichende Wasserversorgung und Essen.

Doch die Irrationalität und der Leichtsinn der herrschenden Klasse beschränken sich nicht allein auf dies: 17 Atomkraftwerke wurden in dieser gefährdeten Region bebaut. Die Situation rund um den Reaktor von Fukushima, der stark beschädigt wurde, ist noch unsicher, doch die schwammigen Stellungnahmen der Regierenden lassen das Schlimmste befürchten. Es scheint sich ein nukleares Desaster von der Größenordnung Tschernobyls 1986 abzuspielen, vor den Augen einer komplett handlungsunfähigen Regierung, die sich darauf beschränkt, die Ruinen zu zuschütten und dabei zahlreiche Arbeiter opfert. Die Gewalt der Natur hat nichts mit der Katastrophe zu tun, die sich abspielt. Der Bau dieser Anlagen an den gefährdetsten Küsten ist wohl kaum eine brillante Idee, speziell wenn sie über Jahrzehnte in Gebrauch sind und minimal erneuert werden. Es hört sich verrückt an, dass die Anlage von Fukushima schon Hunderte von Störfällen hinter sich hat, welche auf schlechte Wartung zurückzuführen sind, und aufgrund dieser Schlamperei viele Kaderangestellte den Betrieb empört verlassen haben.

Nicht die Natur ist verantwortlich für dieses Desaster: Die absurden Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft sind von A bis Z schuld daran, sowohl in den ärmsten sowie auch in den mächtigsten Ländern. Die Situation in Libyen und die Ereignisse in Japan zeigen auf, dass uns die Bourgeoisie nur noch ein zunehmendes Chaos zu bieten hat. Die Revolten in den arabischen Ländern, auch wenn sie Schwächen beinhalten, zeigen uns einen anderen Weg - den des Kampfes der Ausgebeuteten gegen den kapitalistischen Staat, den einzigen Ausweg aus der generalisierten Katastrophe, welche die Menschheit bedroht.

V, 27. März 2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Maghreb [9]
  • Fukushima [10]
  • Lybien [11]
  • Revolten [12]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [13]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 1914-23: Zehn Jahre die die Welt erschütterten

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Die zehn Jahre zwischen 1914-1923 gehören zu den dichtesten Jahren der Geschichte der Menschheit. Innerhalb einer sehr kurzen Zeit fand ein schrecklicher Krieg statt, der  Erste Weltkrieg, der 30 Jahre wirtschaftliche Blütephase und ununterbrochenes Vorwärts schreiten der kapitalistischen Wirtschaft und des gesamten gesellschaftlichen Lebens zu Ende brachte. Gegenüber diesem Massentöten erhob sich 1917 das internationale Proletariat, angeführt von der russischen Arbeiterklasse. 1923 flachte das Echo dieser revolutionären Welle ab, nachdem sie durch die Reaktion der Bürgerlichen niedergeschlagen worden war. Innerhalb von 10 Jahren erlebte die Menschheit den Weltkrieg, der den Zeitraum der Dekadenz eröffnete, die Revolution in Russland und weltweit revolutionäre Anstürme und schließlich den Beginn einer von der bürgerlichen Konterrevolution ausgeübten Barbarei. Dekadenz des Kapitalismus, Weltkrieg, Revolution und Konterrevolution – sie alle prägten das wirtschaftliche, gesellschaftliche, psychologische und kulturelle Leben der Gesellschaft der Menschheit quasi ein Jahrhundert lang, und das alles dicht und intensiv gebündelt in einem kurzen Zeitraum von einem Jahrzehnt. Die heutigen Generationen müssen dieses Jahrzehnt gut kennen,  es verstehen, über dessen Bedeutung nachdenken, die Lehren daraus ziehen. Dies ist heute umso wichtiger, weil die Unkenntnis über die wahre Bedeutung dieses Zeitraums sehr groß ist. Dies ist vor allem auf den Berg von Lügen zurückzuführen, mit dem die herrschende Ideologie versucht hat, alles in Vergessenheit geraten zu lassen. Es spiegelt aber auch die Merkmale dieser Ideologie wider, welche bewusst oder unbewusst, gefesselt ist an die unmittelbare Situation und die Vergangenheit und die Zukunftsperspektiven ausblendet.

Diese Bindung an das Unmittelbare und Zufällige, dieses „für den Augenblick“ Leben, ohne Nachdenken, ohne Begreifen der Wurzeln, ohne sich an einer Perspektive zur Zukunft zu orientieren, erschwert die Kenntnis der Wesenszüge jener unglaublichen 10 Jahre, deren kritisches Studium uns hilfreiche Hinweise zum Begreifen der jetzigen Lage liefert.

Heute kennt man kaum den enormen Schock, den damals der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der damit verbundene qualitative Sprung in die Barbarei in der Bevölkerung auslöste. Nachdem die Menschheit quasi ein Jahrhundert lang imperialistische Krise mit all ihrem Terror, Zerstörung und insbesondere mit ihrer ideologischen und moralischen Barbarei erlebt hat, erscheint all dies heute als „das Normalste auf der Welt“,  was scheinbar keine Empörung und Rebellion mehr hervorrufen vermag. Aber damals war dies keineswegs die Haltung der Zeitgenossen, die seinerzeit zutiefst erschüttert wurden durch einen Krieg, dessen Bestialität einen bis dahin noch nie erreichten Punkt überschritt.

Noch weniger ist bekannt, dass dieses gewaltige Abschlachten im Ersten Weltkrieg nur dank der allgemeinen Erhebung des internationalen Proletariats mit den russischen ArbeiterInnen an der Spitze beendet wurde. Die ungeheure Sympathie, welche die Russische Revolution unter den Ausgebeuteten der ganzen Welt auf sich zog, ist auch kaum bekannt. Über die zahlreichen Episoden der Solidarität mit den russischen ArbeiterInnen und die Versuche der Nachahmung des russischen Beispiels woanders auf der Welt wurde ein dichter Schleier des Schweigens und der Verzerrung gelegt. Ebenso wenig bekannt sind die Gräueltaten zahlreicher demokratischer Regierungen, angefangen mit der deutschen, welche diese begingen, um den revolutionären Elan der Massen zu ersticken und niederzuschlagen.

Die größte und schlimmste Verzerrung kann man gegenüber der Oktoberrevolution 1917 feststellen. Sie wird systematisch als ein russisches Phänomen dargestellt, außerhalb des historischen Rahmens, den wir oben erwähnt haben; stattdessen werden zügellos Lügen und die schlimmsten Verleumdungen verbreitet. So sei sie zum Beispiel der Geniestreich – so die stalinistische Version oder ein Streich des Teufels, so die Gegner – Lenins und seiner Bolschewiki gewesen. Oder sie sei eine bürgerliche Revolution als Reaktion auf die zaristische Rückständigkeit gewesen, da damals die sozialistische Revolution unmöglich gewesen sei. Und der fanatische Eifer der Bolschewiki habe nur zu einer Niederlage führen können…

Aus diesem Blickwinkel wurde das internationale Echo der Oktoberrevolution als ein Modell dargestellt, das auf andere Länder übertragen werden könne. Dies ist die größte Deformation des Stalinismus. Diese Methode der Nachahmung des „Modells“ ist doppelt irreführend und hinterlistig. Erstens wird die Russische Revolution als ein nationales Phänomen dargestellt; und zweitens als ein „Sozialexperiment“, das von einer ausreichend entschlossenen und trainierten Gruppe einfach nach deren Willen übertragen werden könnte.

Diese Vorgehensweise verzerrt ganz gewaltig die Wirklichkeit der damaligen historischen Epoche. Die Russische Revolution war kein Experiment aus dem Labor, ausgetüftelt hinter den vier Wänden seines gewaltigen Territoriums. Sie war ein lebendiger und aktiver Bestandteil eines weltweiten Prozesses der Antwort der Arbeiter, ausgelöst durch den Krieg und die gewaltigen Leiden, die durch diesen hervorgerufen wurden. Die Bolschewiki hatten nicht die geringsten Absichten, ein fanatisches Modell aufzuzwingen, bei dem das russische Volk als Versuchskaninchen ausgenutzt wurde. In einer Resolution, die im April 1917 von der Partei verabschiedet wurde, stand: „Die objektiven Bedingungen der sozialistischen Revolution, welche fraglos in den fortgeschrittensten Ländern vor dem Krieg existierten, sind noch mehr heran gereift und   reifen als Konsequenz des Krieges mit einer Schnelligkeit weiter. Die Russische Revolution ist nur die erste Etappe der ersten Revolution die als Konsequenz des Krieges ausbricht. Die gemeinsame Aktion der Arbeiter verschiedener Ländern ist der einzige Weg welcher die kontinuierliche Entwicklung und den sicheren Erfolg der sozialistischen Weltrevolution garantiert.“

Es ist wichtig zu begreifen, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung die weltweite revolutionäre Welle von 1917-23 – wenn sie diese nicht total verzerrt – völlig unterschätzt. Zum Beispiel im Erweiterten Exekutivkomitee-Treffen der Komintern von 1925, d.h. als die Stalinisierung schon eingesetzt hatte, wurde die Revolution in Deutschland als eine „bürgerliche Revolution“ eingestuft, womit all das in den  Abfalleimer der Geschichte geworfen wurde, was die Bolschewiki zwischen 1917-23 verteidigt hatten.

Diese Meinung, die heute von so vielen Historikern wie Politikern verbreitet wird, wurde damals von ihren damaligen Kollegen nicht geteilt. Lloyd George, ein britischer Politiker sagte 1919: „In ganz Europa sprudelt ein revolutionärer Geist. Es gibt ein tief greifendes Gefühl nicht nur der Unzufriedenheit, sondern der Wut und Revolte der ArbeiterInnen gegen ihre Lebensbedingungen nach dem Krieg. Die gesamte bestehende Ordnung wird auf politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene durch die Bevölkerung von einem Ende Europas bis zum anderen infrage gestellt“.

Die Russische Revolution kann nur als ein Teil eines revolutionären Ansturms der gesamten internationalen Arbeiterklasse verstanden werden. Aber gleichzeitig muss man die historische Epoche berücksichtigen, in der dieser stattfand: der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die tiefer gehende Bedeutung desselben, d.h. der Eintritt des Kapitalismus in seinen historischen Niedergang, seine Dekadenz. Mit anderen Worten – man muss die Grundlagen berücksichtigen, um die Lage und deren Bedeutung zu begreifen. Aber gleichzeitig verlieren der Weltkrieg und die ganze Reihe der darauf folgenden Ereignisse ihre Bedeutung oder erscheinen als etwas Außergewöhnliches ohne irgendwelche Folgen, oder sie werden dargestellt als das Ergebnis einer unheilvollen Konjunktur, die wir heute hinter uns gelassen haben, so dass die heutige Lage überhaupt keine Verbindung zu damals hätte.

In unseren Artikeln haben wir mit Nachdruck gegen diese Sicht Stellung bezogen. Wir sind dabei von einem historischen und weltweiten Standpunkt ausgegangen, der den Marxismus auszeichnet. Wir glauben, dass man solch eine kohärente Erklärung für diese Epoche liefern kann, die als Orientierung für das Begreifen auch der gegenwärtigen Epoche dient und damit beiträgt zur Befreiung der Menschheit vom Joch des Kapitalismus. Mit anderen Worten, sowohl die Lage damals als auch die heutigen Verhältnisse können nicht verstanden werden und bleiben ohne Perspektive für all diejenigen, die zu einer revolutionären Umwälzung beitragen wollen; man würde sich hilflos einem Empirismus unterwerfen und nur im Dunkeln umher tappen. 

Mit diesen Artikeln wollen wir – als Fortsetzung der anderen Beiträge zu diesem Themenkomplex – jene Zeit besser beleuchten; wir stützen uns dabei auf Zeugenaussagen und Berichte von Teilnehmern. Wir haben uns ausführlich mit der Russischen und Deutschen Revolution befasst. Jetzt wollen wir uns mit weniger bekannten Erfahrungen in anderen Ländern befassen; all das mit dem Ziel, einen weltweiten Blick zu entwickeln. Denn wenn man diese Epoche ein wenig kennen lernt, ist man ganz erstaunt über die Vielzahl von Kämpfen und das ungeheure Echo, das die Revolution 1917 weltweit fand. Wir wollen damit ebenfalls zur Debatte und anderen Beiträgen von GenossInnen und revolutionären Gruppen auffordern.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [7]

Internationaler Klassenkampf: Was ist los in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten?

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Die gegenwärtigen Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika sind von historischer Bedeutung, deren Folgen bis jetzt noch nicht klar abzusehen sind. Aber es ist wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, die es den Revolutionären ermöglichen wird, einen kohärenten Rahmen für ihre Analyse zu entwickeln. Die folgenden Punkte stellen keineswegs diesen Rahmen dar, noch liefern sie eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse. Sie tragen lediglich einige grundsätzliche Eckpunkte zur Debatte bei.[1]

Eine Welle von Kämpfen und ihre Unterschiede

1. Seit 1848 und 1917-1919 haben wir solch eine breitgefächerte, simultane Welle von Revolten nicht mehr gesehen. Das Epizentrum der Bewegung lag in Nordafrika (Tunesien, Ägypten und Libyen, aber auch Algerien und Marokko), Proteste gegen die bestehenden Regime sind im Gaza-Streifen, Jordanien, Irak, Iran, Jemen, Bahrain und Saudi-Arabien ausgebrochen, während in einer Reihe anderer repressiver arabischer Staaten, insbesondere Syrien, eine  erhöhte Alarmbereitschaft herrscht. Und das Echo dieser Proteste ist auch in anderen Teilen Afrikas zu vernehmen: Sudan, Tansania, Simbabwe, Swaziland…  Den Widerhall dieser Revolten spürt man auch bei den Demonstrationen gegen korrupte Regierungen und gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Kroatien, angesichts der Spruchbänder und Slogans der Studentendemos in Großbritannien sowie des Arbeiterkampfes in Wisconsin und sicher auch in vielen anderen Ländern. Das heißt nicht, dass all diese Bewegungen in der arabischen Welt identisch wären; sie sind es weder auf der Ebene ihres Inhaltes, ihrer Forderungen, noch hinsichtlich der Reaktion der herrschenden Klasse, aber es gibt sicher eine Reihe von Gemeinsamkeiten, weshalb man von dem Phänomen insgesamt sprechen kann.

Der historische Kontext

2. Der historische Rahmen, in dem sich diese Ereignisse abspielen, ist folgender:

– Eine tiefe, ja die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus, die die schwächeren arabischen Länder mit besonderer Wucht getroffen hat und die jetzt schon Millionen  Menschen in bittere Armut gestürzt hat, wobei die Aussichten sich immer mehr verschlechtern. Die Jugend, die im Gegensatz zu vielen „überalterten“ Industriegesellschaften einen großen Bevölkerungsanteil ausmacht, ist durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit für die unzähligen gebildeten, aber auch ungebildeten jungen Menschen besonders hart getroffen. Bei allen Protesten stand die Jugend an vorderster Front.

- Das unerträglich korrupte und repressive Wesen all dieser Regimes in der Region. Nachdem lange Zeit die Bevölkerung durch das brutale Vorgehen der Geheimpolizei oder der Armee atomisiert oder terrorisiert werden konnte, tragen diese Waffen des Staates nun mit dazu bei, dass der Wille in der Bevölkerung wächst, zusammenzukommen und gemeinsam Widerstand zu leisten. Das war besonders ersichtlich in Ägypten, als Mubarak seine Schlägerbanden und Zivilpolizisten  auf die Menschen hetzte, die den Tahrir-Platz besetzten, um diese zu terrorisieren. Diese Provokationen verstärkten nur die Entschlossenheit der Menschen, sich zu verteidigen; statt der erhofften Einschüchterung strömten noch mehr Menschen herbei. Die empörende Korruption und die Gier der herrschenden Cliquen, die ungeheure Mengen an privatem Reichtum gescheffelt haben, während der Großteil der Menschen täglich ums Überleben kämpft, hat die Flammen der Rebellion weiter angefacht, nachdem die Menschen erst einmal die Angst verloren hatten.

– Diese plötzliche Furchtlosigkeit, die so stark ins Auge sprang, ist nicht nur das Resultat von Veränderungen auf örtlicher und regionaler Ebene, sondern auch die Folge einer veränderten Stimmung, der Unzufriedenheit und des offenen Klassenkampfes auf internationaler Ebene. In Anbetracht der Wirtschaftskrise zeigen die Ausgebeuteten und die Unterdrückten immer weniger Bereitschaft, die ihnen abverlangten Opfer zu leisten. Auf dieser Ebene ist wiederum die Rolle der neuen Generation ausschlaggebend gewesen; in diesem Sinn haben auch die Jugendrebellion in Griechenland vor zwei Jahren, die Studentenkämpfe in Großbritannien und Italien, der Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich ihren Einfluss in der “arabischen” Welt hinterlassen, insbesondere im Zeitalter von Facebook und Twitter, in dem es der herrschenden Klasse viel schwerer fällt, eine lückenlose Nachrichtensperre über die Kämpfe gegen die bestehenden Verhältnisse zu verhängen.

Zum Klassencharakter dieser Bewegungen

3. Der Klassencharakter dieser Bewegungen ist nicht einheitlich und unterscheidet sich von Land zu Land und je nach Phase. Insgesamt jedoch kann man sie als Bewegungen der nichtausbeutenden Klassen, als Sozialrevolten gegen den Staat bezeichnen. Im Allgemeinen steht die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie spielt sicherlich eine wesentliche Rolle und übt Einfluss aus, was sich an den Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen an der spezifischen Entwicklung der Arbeiterkämpfe ablesen lässt, wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten, die ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung war, Mubarak fallen zu lassen (siehe dazu andere Artikel in unserer Presse). In den meisten dieser Länder ist die Arbeiterklasse nicht die einzige unterdrückte Klasse. Die Bauernschaft und andere Schichten, die aus noch älteren Produktionsweisen stammen, haben noch ein großes Gewicht auf dem Lande, auch wenn sie sehr zersplittert und durch Jahrzehnte kapitalistischen Niedergangs ruiniert sind. Dagegen lebt die Arbeiterklasse in den Städten, in denen das Zentrum der Revolten lag, Seite an Seite mit einer zahlenmäßig starken Mittelschicht, die zwar proletarisiert wird, dabei jedoch immer noch ihre Besonderheiten aufrechthält, und einer Masse von Slumbewohnern, die teilweise aus Arbeitern, teilweise aus kleinen Händlern und einem Heer von „Deklassierten“ bestehen. Selbst in Ägypten, wo es die am stärksten gebündelte und erfahrenste Arbeiterklasse im arabischen Raum gibt, haben, so hoben Augenzeugen hervor, die Proteste am Tahrir-Platz „sämtliche Klassen” mobilisiert, mit Ausnahme der höheren Chargen des herrschenden Regimes. In anderen arabischen Ländern war das Gewicht der nicht-proletarischen Schichten weitaus größer, als dies in den Kämpfen in den meisten zentralen Ländern der Fall ist.

Die Notwendigkeit, den Klassencharakter der Bewegung besser zu erfassen

4. Bei dem Versuch, den Klassencharakter dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei sich ergänzende Fehler vermeiden: auf der einen Seite die Vermengung all dieser Massen mit dem Proletariat (eine Position, die am deutlichsten von der Groupe Communiste Internationaliste – GCI verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Ablehnung alles Positiven in den Revolten, da sie nicht explizite Arbeiterrevolten sind. Ein Blick zurück auf die Ereignisse im Iran Ende der 1970er Jahre: auch damals gab es eine Volkserhebung, in der die Arbeiterklasse eine Zeitlang eine führende Rolle spielte, was jedoch am Ende nicht verhinderte, dass die Bewegung von den Islamisten einverleibt wurde. Auf einer größeren, historischen Ebene stellt sich das Problem der Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und allgemeinen gesellschaftlichen Revolten auch dem Staat in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus – einem Staat, der aus der Bewegung aller nicht-ausbeutenden Klassen hervorgeht, gegenüber dem die Arbeiterklasse aber ihre Selbständigkeit bewahren muss.

Die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse – ein Bezugspunkt?

5. In der Russischen Revolution 1917 wurden die Sowjets durch die Arbeiter ins Leben gerufen, aber sie stellten auch für die anderen unterdrückten Schichten ein Modell für ihre Organisierung dar. Ohne das richtige Augenmaß zu verlieren – es ist noch ein weiter Weg bis zum Anbruch einer revolutionären Situation, in der die Arbeiterklasse eine klare politische Führung gegenüber den anderen Schichten übernehmen kann –, ist  es offensichtlich, dass die Methoden des Arbeiterkampfes die sozialen Revolten in der arabischen Welt beeinflusst haben, was deutlich wird:

– In den Tendenzen zur Selbstorganisierung, deren deutlichster Ausdruck die Nachbarschaftsschutzkomitees waren, die als Reaktion auf die Taktik des ägyptischen Regimes gegründet wurden, kriminelle Banden auf die Bevölkerung zu hetzen. Sie werden auch deutlich in der „Delegiertenstruktur“ einiger der größten Versammlungen auf dem Tahrir-Platz, überhaupt in dem ganzen Prozess kollektiver Diskussion und Entscheidungsfindungen.

- In der Besetzung von Räumen und Plätzen, die normalerweise vom Staat kontrolliert werden, um einen zentralen Brennpunkt für Versammlungen und die Organisierung auf breiterer Ebene zu schaffen.

– In dem kollektiven Eintreten für die Notwendigkeit, sich selbst entschlossen gegen Schläger und Polizisten zur Wehr zu setzen, die von dem Regime gegen sie gehetzt wurden, wobei man gleichzeitig aber Gewalt, Zerstörung und Plünderung als Selbstzweck vermeiden wollte.

– In den bewussten Anstrengungen, sektiererische und andere Spaltungen zu überwinden, von denen das Regime stets zynisch Gebrauch machte: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Schiiten und Sunniten, religiösen und weltlichen Gruppen, Männern und Frauen.

– In den zahlreichen Versuchen der Verbrüderung mit den unteren Rängen der Soldaten, den Rekruten.

Es ist kein Zufall, dass diese Tendenzen sich am stärksten in Ägypten entwickelten, wo die Arbeiterklasse auf eine lange Tradition von Kämpfen schauen kann und in einer entscheidenden Phase der Bewegung als eine eigenständige Kraft in Erscheinung trat, indem sie eine Reihe von Kämpfen begann, die – wie jene von 2006-07 – als „Keime“ des zukünftigen Massenstreiks angesehen werden können. Diese Kämpfe enthielten viele der wichtigsten Merkmale des Massenstreiks: die spontane Ausdehnung von Streiks und Forderungen von einem Bereich auf den anderen, die kompromisslose Ablehnung der staatlichen Gewerkschaften, gewisse Tendenzen zur Selbstorganisierung, das Formulieren von politischen und ökonomischen Forderungen. Hier erkennt man in Ansätzen die Fähigkeit der Arbeiterklasse, als Tribüne, als Dreh– und Angelpunkt für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzutreten und die Perspektive einer neuen Gesellschaft anzubieten.

Das Gewicht der Illusionen und andere Gefahren

6. All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, es stehen noch viele Hindernisse im Weg, Illusionen und ideologische Schwächen.

– Illusionen – vor allem über die Demokratie – sind noch sehr stark in jenen Ländern, in denen eine Mischung aus militärischen Tyrannen und korrupten Monarchien herrscht, in denen die Geheimpolizei allgegenwärtig ist und Verhaftungen, Folter und Ermordung von Dissidenten an der Tagesordnung sind. Diese Illusionen bieten der demokratischen „Opposition“ eine Gelegenheit, sich als eine Regierungsalternative anzubiedern: El Baradei und die Muslimbruderschaft in Ägypten, die Übergangsregierung in Tunesien, der Nationalrat in Libyen … In Ägypten macht man sich vor allem große Illusionen über die Armee als eine Kraft, die „auf Seiten des Volkes“ steht, obgleich jüngste Repressionsmaßnahmen seitens der Armee gegen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sicherlich eine Minderheit von Leuten zum Nachdenken veranlasst hat. Ein wichtiger Aspekt des demokratischen Mythos‘ in Ägypten ist die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften, die von vielen der kämpferischsten Arbeiter geteilt wird, die zu Recht die Auflösung der diskreditierten staatlichen Gewerkschaften verlangen.

– Illusionen über Nationalismus und Patriotismus, die offenkundig wurden angesichts der breiten Aneignung der Nationalfahne in Ägypten und Tunesien als ein Symbol der „Revolution“ oder – wie in Libyen – der alten monarchistischen Fahne als ein Emblem all jener, die in Opposition zum Gaddafi-Regime stehen. Auch die Brandmarkung Mubaraks als Agenten des Zionismus auf vielen Spruchbändern in Ägypten zeigt, dass die israelisch-palästinensische Frage ein wichtiger Hebel zur Ablenkung vom Klassenkampf und zur Mobilisierung für imperialistische Konflikte bleibt. Dennoch bestand nur wenig Interesse daran, die palästinensische Frage in den Vordergrund zu stellen, da die Herrschenden das Leid der Palästinenser lange genug ausgeschlachtet haben, um vom Leid abzulenken, das sie ihrer eigenen Bevölkerung zumuten. Und es schwang sicherlich ein Element des Internationalismus mit, wenn Nationalfahnen anderer Länder geschwenkt wurden, um die Solidarität mit den Revolten in diesen Ländern zum Ausdruck zu bringen. Das schiere Ausmaß der Revolten in der „arabischen“ Welt und darüber hinaus ist eine Verdeutlichung der materiellen Wirklichkeit des Internationalismus, aber die patriotische Ideologie ist sehr anpassungsfähig, und bei diesen Ereignissen sehen wir, dass sie sich in populistische und demokratische Formen verwandeln kann.

– Illusionen über die Religion angesichts der häufigen Abhaltung öffentlicher Gebete und des Einsatzes von Moscheen als Organisationszentren der Rebellion. In Libyen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass von Anfang an gesonderte islamistische Gruppen (einheimische und nicht – wie Gaddafi behauptet – Ableger der al-Qaida) eine wichtige Rolle in der Revolte spielten.  Zusammen mit der Rolle von Stammesloyalitäten spiegelt dies die relative Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen sowie die Rückständigkeit des Landes und seiner staatlicher Strukturen wider.  Doch gemessen daran, wie sehr sich die radikalen Islamisten vom Schlage Bin Ladens als Antwort auf das Elend der Massen in den „muslimischen Ländern“ gebrüstet haben, haben die Revolten in Tunesien und Ägypten und sogar in Libyen und den Golfstaaten wie Jemen und Bahrain gezeigt, dass die Jihad-Gruppen mit ihrer Praxis kleiner terroristischer Zellen und mit ihrer schädlichen sektiererischen Ideologie durch den massiven Charakter der Bewegung und deren aufrichtigen Streben nach Überwindung der sektiererischen Spaltungen nahezu vollkommen marginalisiert worden sind.

Zur Tragödie in Libyen

7. Die gegenwärtige Lage in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten ist noch im Fluss. Als diese Zeilen geschrieben wurden, erwartete man Proteste in Riad, auch wenn das saudische Regime bereits dekretiert hatte, dass alle Demonstrationen den Gesetzen der Scharia widersprechen. In Ägypten und Tunesien, wo die „Revolution“ angeblich schon triumphiert hat, kommt es ständig zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und dem nun „demokratischen“ Staat, der mehr oder weniger von den gleichen Kräften verwaltet wird, die den Laden vor dem Abgang der „Diktatoren“ führten. Die Streikwelle in Ägypten, die viele ihrer Forderungen schnell durchsetzen konnte, scheint jetzt abgeebbt zu sein. Doch weder die Arbeiterkämpfe noch die breitere soziale Bewegung haben in jenen Ländern einen größeren Rückschlag erlitten. Es gibt Hinweise darauf, dass weiterhin breit gefächerte Diskussionen und Reflexionen zumindest in Ägypten stattfinden. Doch in Libyen haben die Dinge einen ganz anderen Verlauf genommen. Was anfangs als echte gesellschaftliche Revolte von unten begann, mit unbewaffneten Zivilisten, die mutig Kasernen stürmten und den Sitz der so genannten „Volkskomitees“ in Brand setzten, insbesondere im Osten des Landes, ist schnell zu einem sehr blutigen und totalen „Bürgerkrieg“ zwischen bürgerlichen Fraktionen ausgeartet, wobei die imperialistischen Mächte wie Geier über dem Gemetzel kreisen. Aus marxistischer Sicht ist dies ein Beispiel für die Umwandlung eines beginnenden Bürgerkrieges – im Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen den Klassen – in einen imperialistischen Krieg. Das historische Beispiel Spaniens 1936 – sehen wir einmal ab von den beträchtlichen Unterschieden im globalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und von der Tatsache, dass die anfänglichen Erhebungen gegen Francos Staatsstreich unverkennbar proletarischen Charakters waren – belegt, dass die nationale und internationale Bourgeoisie in solchen Situationen sowohl mit ihren fraktionellen, nationalen und imperialistischen Rivalitäten fortfährt als auch alle Ansätze einer sozialen Revolution ausmerzen kann.

8. Der Hintergrund für diese Wende der Ereignisse in Libyen ist die extreme Rückständigkeit des libyschen Kapitalismus, der mehr als 40 Jahre lang vorwiegend von einem Terrorapparat unter der direkten Führung Gaddafis beherrscht wurde. Diese Struktur hinderte die Armee daran, als eine Kraft zu wirken, die das nationale Interesse über das Partikularinteresse bestimmter Führer oder Fraktionen stellt, wie wir in Tunesien oder Ägypten gesehen haben. Gleichzeitig wird das Land von regionalen und Stammesspaltungen zerrissen; diese haben eine Schlüsselrolle bei  der Unterstützung für oder der Gegnerschaft zu Gaddafi gespielt. Ebenfalls scheint eine „nationale“ Spielart des Islamismus seit Beginn der Revolte eine Rolle gespielt zu haben, obgleich die Rebellion anfangs allgemeiner und sozialer ausgerichtet und nicht von tribalistischen oder islamistischen Motiven geleitet war. Die wichtigste Industrie in Libyen ist die Ölindustrie, und die Unruhen im Land haben den Ölpreis stark beeinflusst. Doch ein Großteil der in der Ölindustrie beschäftigten Arbeiter sind Migranten aus Europa, den anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, aus Asien und Afrika. Und obgleich es anfangs Berichte über Streiks in diesem Wirtschaftsbereich gab, ist die Massenflucht der ausländischen Arbeiter ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich kaum mit einer „Revolution“ identifizieren konnten,  in der die Nationalfahne hochgehalten wird.  In der Tat gab es Berichte über Verfolgungen und Übergriffen gegen schwarze Arbeitskräfte durch die „Rebellen“, da Gerüchte verbreitet wurden, dass einige der angeheuerten Söldner aus schwarzafrikanischen Staaten stammen sollten,  was zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber allen schwarzafrikanischen Migranten führte. Die Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen ist somit ein entscheidendes Element in der negativen Entwicklung der Lage dort.

Imperialistische Geier über Nordafrika

9. Ein klarer Beleg, dass die „Rebellion“ zu einem Krieg zwischen bürgerlichen Lagern ausgeartet ist, ist die überstürzte Abwendung hochrangiger Offizieller von Gaddafi (dazu gehören Botschafter im Ausland, Armee– und Polizeioffiziere sowie Beamte). Besonders die militärischen Befehlshaber  sind bei der „Regularisierung“ der bewaffneten Gaddafi-Gegner immer mehr in den Vordergrund gerückt. Doch das vielleicht deutlichste Zeichen ist die Entscheidung der „internationalen Gemeinschaft“, sich auf die Seite der „Rebellen“ zu stellen. Frankreich hat bereits den provisorischen Nationalrat in Bengasi als die Stimme des neuen Libyen anerkannt und den Gaddafi-Gegnern militärische Berater zu Seite gestellt. Nachdem man schon diplomatisch eingegriffen hatte, um den Rücktritt von Ben Ali und Mubarak zu beschleunigen, fühlten sich die USA und Großbritannien durch das Taumeln des Gaddafi-Regimes zu Beginn der Protestbewegung zu weiteren Taten ermuntert. So kündigte zum Beispiel William Hague übereilig an, dass sich Gaddafi bereits auf der Flucht nach Venezuela befände. Nachdem Gaddafis Kräfte im Begriff waren, die Oberhand zu gewinnen,  wurde das Gerede über die Einrichtung einer Flugverbotszone oder anderer Formen militärischen Eingreifens immer lauter. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels scheint es jedoch tiefgreifende Divergenzen innerhalb der EU und der NATO zu geben, wobei Großbritannien und Frankreich am stärksten für ein militärisches Eingreifen plädieren und die USA und Deutschland am stärksten zögern. Die Obama-Administration ist natürlich nicht aus Prinzip gegen militärische Interventionen,  aber sie möchte sich nicht der Gefahr aussetzen, ein weiteres militärisches Fiasko in der arabischen Welt zu erleben. Es kann auch sein, dass einige Teile der herrschenden Klasse auf der Welt meinen, dass Gaddafis „Vorgehensweise“ der Terrorisierung der Massen eine Methode sein kann, eine abschreckende Wirkung gegen weitere mögliche Unruhen in der Region auszuüben. Eins ist jedoch sicher: Die Ereignisse in Libyen wie auch die ganze Entwicklung in der Region haben die groteske Heuchelei der Herrschenden dieser Welt an den Tag gelegt. Nachdem man jahrelang Gaddafis Libyen als eine Brutstätte des internationalen Terrorismus beschimpft hatte (was es natürlich auch war), zeigten sich die Führer von Ländern wie die USA oder Großbritannien erfreut, als Gaddafi im Jahr 2006 einen scheinbaren Sinneswandel vollzog und seine Massenvernichtungswaffen aufgab, weil die Regierungen dieser Länder nach Rechtfertigungen suchten, ihre Haltung gegenüber den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu begründen. Insbesondere Tony Blair hatte große Eile, den früheren “verrückten Terroristenführer” zu umgarnen. Heute, nur wenige Jahre später, wird Gaddafi wieder ein verrückter Terroristenführer genannt, und diejenigen, die ihn vorher unterstützt haben, müssen jetzt strampeln, um sich von ihm zu distanzieren. Und dies ist nur eine Episode in einer unendlichen Geschichte: All die neulich verjagten oder noch immer an der Macht befindlichen arabischen Diktatoren sind von den USA und anderen Mächten loyal unterstützt worden, und diese haben bislang wenig Interesse an den „demokratischen“ Bestrebungen der Menschen in Tunesien, Ägypten, Bahrain oder Saudi-Arabien gezeigt. Die  durch die Preissteigerungen und den Gütermangel verursachten Straßenproteste gegen die irakische Regierung, welche von den USA in den Sattel gehievt wurde, wie auch gegen die gegenwärtigen Herrscher im kurdischen Irak, auf die die Regierung mit Repression antwortete, zeigen auch, wie verlogen die Versprechen des „demokratischen Westens“ sind.

Erlebt die Demokratie einen neuen Aufschwung?

Zu den Perspektiven

10. Einige internationalistische Anarchisten in Kroatien äußerten auf www.libcom.org [14], dass die Ereignisse in den arabischen Staaten aus ihrer Sicht wie eine Neuauflage der Ereignisse in Osteuropa 1989 erscheinen, wo das Streben nach Wandel durch den Begriff der „Demokratie” sterilisiert wurde und eine Verbesserung in der Lage der Arbeiterklasse keineswegs eingetreten war. Hier handelt es sich um eine sehr legitime Sorge, wenn man das große Gewicht der demokratischen Verschleierungen innerhalb dieser neuen Bewegung betrachtet. Doch verliert man damit nicht einen wesentlichen Unterschied auf der Ebene der Klassenkonfiguration weltweit aus den Augen? Als der Ostblock 1989 zusammenbrach, hatte die Arbeiterklasse den Höhepunkt in ihren Kämpfen – Kämpfe, die sich seinerzeit politisch nicht weiterentwickelt hatten – bereits überschritten. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die daraufhin entfesselten Kampagnen über den angeblichen Tod des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes sowie das Unvermögen der ArbeiterInnen Osteuropas, auf dem eigenen Klassenterrain zu reagieren, bewirkten einen längeren Rückschlag für die internationale Arbeiterklasse. Während die stalinistischen Regimes in Wirklichkeit unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise litten, gab es für die Länder im Westen noch immer einen gewissen wirtschaftlichen Spielraum, um den Eindruck zu erwecken, dass der globale Kapitalismus vor einer neuen Blüte stand. Heute stehen wir vor einer anderen Lage. Das globale Ausmaß der kapitalistischen Krise ist nie so offensichtlich gewesen; die ArbeiterInnen müssen heute überall auf der Welt erkennen, dass sie vor den gleichen Problemen stehen: Arbeitslosigkeit, steigende Preise,  mangelnde Perspektiven innerhalb dieses Systems. Und während der letzten sieben, acht Jahre ist es zu einem langsamen, aber reellen Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe auf der ganzen Welt gekommen. An der Spitze dieser Kämpfe stand zumeist eine neue Generation von ArbeiterInnen, die nicht so stark durch die Rückschläge der 1980er und 1990er Jahre geprägt war und aus der weltweit politisierte Minderheiten hervorgegangen sind. In Anbetracht dieser tiefgreifenden Unterschiede besteht die Aussicht, dass die Ereignisse in der arabischen Welt keine negative Auswirkungen auf den Klassenkampf in den zentralen Ländern haben, sondern zur allgemeinen Verstärkung des Klassenkampfes beitragen werden:

– durch die Bekräftigung der Macht der massiven und illegalen Straßenaktionen; deren Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass die Herrschenden der Welt ihre Selbstbeherrschung verlieren;

– indem die bürgerliche Propaganda, die die „Araber“ als eine gleichförmige Masse von gehirnlosen Fanatikern darstellt, durchkreuzt wird und die Fähigkeit der Massen dieser Regionen zum Diskutieren, Nachdenken und zur Selbstorganisierung deutlich geworden ist;  

– indem auch die Glaubwürdigkeit der Führer der zentralen Länder untergraben wird, deren Bestechlichkeit und Skrupellosigkeit durch deren Wendungen gegenüber der arabischen Welt entblößt wurde.

Politisierten Minderheiten werden diese sowie andere Punkte eher ins Auge fallen als der Mehrheit der Arbeiter in den Industriestaaten, aber langfristig werden sie zur wirklichen Vereinigung des Klassenkampfes über alle nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg beitragen. Dies schmälert keinesfalls die Verantwortung und die Last der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern, die jahrelange Erfahrung mit den Freuden der „Demokratie“ und der „unabhängigen“ Gewerkschaften haben und deren historische und politische Traditionen tief verwurzelt und im Herzen des weltimperialistischen Systems gebündelt sind. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten, mit den demokratischen Illusionen zu brechen und den verarmten Massen der Bevölkerung einen anderen Weg aufzuzeigen, hängt vom Vermögen der Arbeiter in den zentralen Ländern ab, ihnen ein Beispiel eines selbstorganisierten und politisierten Arbeiterkampfes zu geben.

IKS, 11. März 2011

 

[1] Dieses Dokument wurde am 11. März 2011 redigiert, das heißt mehr als eine Woche vor der Intervention der „Koalition“ in Libyen. Aus diesem Grund bezieht es sich nicht auf diese Intervention, auch wenn es sie vorausahnt.

 

Syndikalismus in Deutschland, Teil 2: Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

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Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

Im vorhergehenden Artikel (Internationale Revue 46) haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick

Im vorhergehenden Artikel (Internationale Revue 46) haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick umfasste die 1870er Jahre bis ins Jahr 1903. Die 1897 gegründete FVDG verstand sich noch bis ins Jahr 1903 explizit als ein kämpferischer Teil der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung und hatte kaum Verbindungen zum Syndikalismus, der in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien stark präsent war. Die FVDG hatte auf der theoretischen Ebene konsequent den Anspruch der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verteidigt, sich nebst ökonomischen auch um politische Fragen zu kümmern

Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte der Zerstreuung unter dem Sozialistengesetz und der Auseinandersetzungen mit dem großen gewerkschaftlichen Zentralverband, hatte es die FVDG aber nicht geschafft in ihren eigenen Reihen eine ausreichende Koordination für den gemeinsamen Kampf zu entwickeln. Die bereits bestehende, schon klar syndikalistische Organisation der IWW in den USA war der FVDG in der Frage der Zentralisierung ihrer Aktivitäten meilenweit voraus. Der alltägliche Hang zu föderalistischer Zerstreutheit, auch wenn dies in der FVDG noch nicht theoretisiert wurde, sollte immer eine Schwäche der FVDG bleiben. Angesichts der aufkommenden Massenstreiks sollte die Abneigung gegen die Zentralisierung des Kampfes der Arbeiterklasse immer deutlicher ein Hindernis für die FVDG werden.  

Die Debatte um die neuen Kampfformen im Massenstreik der Arbeiterklasse im anbrechenden 20. Jahrhundert wurde für die FVDG eine große Herausforderung und führte zu einem deutlichen Schritt in Richtung Syndikalismus. Eine Entwicklung die sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verstärken sollte und die wir in diesem Artikel beleuchten.

Der Massenstreik stellt den verstaubten Gewerkschaftsgeist in den Schatten

Auf internationaler Ebene tauchen um die Wende ins 20. Jahrhundert immer mehr Vorboten des Massenstreiks als neue Kampfform der Arbeiterklasse auf. Der Massenstreik unterschied sich in seiner spontan ausbreitenden Dynamik, dem Branchen übergreifenden Charakter und vor allem der Aufnahme von politischen Forderungen vom althergebrachten Schema des wohl organisierten, beruflich beschränkten und lediglich auf ökonomische Forderungen begrenzten gewerkschaftlichen Klassenkampf des 19. Jahrhunderts. In den international  aufkeimenden Massenstreiks manifestierte sich nun eine Lebendigkeit der Arbeiterklasse, welche die planmäßig vorbereitet und fest am jeweiligen Stand der gewerkschaftlichen Streikkassen klebenden Streiks weit in den Schatten stellte.        

Schon 1891 war ein Streik von 125`000 und 1893 von 250`000 Arbeitern in Belgien ausgebrochen, 1896 und 1897 entfaltete sich ein Streik der Textilarbeiter von St. Petersburg, 1900 unter den Bergarbeitern im US–Staat Pennsylvania, 1902 und 1903 im Bergbau in Österreich und Frankreich, 1902 erneut ein Massenstreik in Belgien um das allgemeinen Wahlrecht, 1903 unter den Eisenbahnern in Holland und im September 1904 eine landesweite Streikbewegung in Italien.

Deutschland mit seinen mächtigen und traditionsreichen Gewerkschaften und seiner dicht organisierten Arbeiterklasse war zu der Zeit nicht das Epizentrum dieses neuen Phänomens von gewaltigen, sich ausdehnenden Flutwellen des Klassenkampfes mit politischen Anliegen. Um so heftiger aber wurde die Frage des Massenstreiks in den Reihen der Arbeiterklasse in Deutschland diskutiert. Das Unbehagen gegenüber dem alten gewerkschaftlichen Schema des kontrollierten Klassenkampfs, der die heilige „Ruhe der Nation“ nicht erschüttern sollte beschrieb Arnold Roller, ein Mitbegründer der FVDG, treffend am Beispiel des Bergarbeiterstreiks von 1905 im Ruhrgebiet, an dem sich 200`000 Arbeiter beteiligten: „Man (die Gewerkschaft) beschränkte sich darauf, dem Streik den Charakter einer Art friedlichen, abwartenden Demonstration zu verleihen, um vielleicht auf diese Weise, durch Anerkennung des „Wohlverhaltens“ Konzessionen bewilligt zu bekommen. Die im ähnlichen Geist organisierten Bergarbeiter anderer Gebiete, wie Sachsen, Bayern, usw. bezeugten ihre Solidarität einerseits durch Streikunterstützungen, andererseits aber auch gleichzeitig in der sonderbaren Weise, dass sie während des Streiks in Überstunden viele tausend Waggons mehr Kohle förderten – die fortgeschickt wurden, um sie während des Streiks in der Industrie, also im Dienst des Kapitals zu verwenden. (...) Während die Arbeiter im Ruhrgebiet hungerten, verhandelten deren Vertreter im Parlament und erhielten auch einige Versprechungen gesetzlicher Verbesserungen – aber nach Wiederaufnahme der Arbeit. Selbstverständlich blieb den deutschen Gewerkschaftsführern der Gedanke fern, durch Ausdehnung des Streiks auf die gesamte Kohlenindustrie einen wirklich starken Druck auf das Unternehmertum auszuüben.[1]

Wichtigster Auslöser der berühmten „Massenstreikdebatte“ von 1905/06 in der SPD und in den deutschen Gewerkschaften war aber zweifellos der gewaltige Massenstreik von 1905 in Russland, der in seiner Dimension und politischen Dynamik alles vorher Gesehene überstieg.[2]

Für die Gewerkschaften bedeuteten die Massenstreiks eine direkte Infragestellung ihrer Existenz und ihrer historischen Rolle. War ihre Rolle als geduldige ökonomische Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse nun überholt? Der Massenstreik von 1905 in Russland, eine direkte Reaktion auf die durch den Russisch–Japanischen Krieg enorm verschärften Leiden der Arbeiterklasse und Bauernschaft, hatte deutlich gezeigt, dass nun politische Fragen wie Krieg und Revolution ins Zentrum der Arbeiterkämpfe rückten. Fragen welche die Kragenweite des traditionellen gewerkschaftlichen Denkens bei weitem überstiegen. „Das Gewerkschaftswesen ist eine Aktion der Arbeiter, die nicht über die Schranken des Kapitalismus hinausgeht. Seine Absicht ist nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Sein Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.“, wie es Anton Pannekoek präzise ausdrückte.[3]

Den Führern der in Deutschland zu mächtigen Organen angewachsenen Gewerkschaften also den Vorwurf fehlender Flexibilität zu machen, weil sie sich nicht mit der Kampfform des politischen Massenstreiks anfreunden konnten, trifft nicht des Pudels Kern. Ihre abwehrende Haltung gegen die Massenstreiks resultierte schlicht aus dem Wesen und Denken ihrer gewerkschaftlichen Organisationen selbst, die sie repräsentierten und die für die neuen Erfordernisse des Klassenkampfes von nun an nicht mehr genügten.

Dass die politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterklasse nun das Wesen der Massenstreiks zu verstehen hatten lag auf der Hand. Jedoch „für die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Führer galt als Axiom: Generalstreik ist Generalunsinn!“.[4] Ohne die Realität wahrhaben zu wollen, glaubten sie in den Massenstreiks lediglich und sehr schematisch den vom Anarchisten und ehemaligen Mitgründer der holländischen Sozialdemokratie Domela Nieuwenhuis propagierten „Generalstreik“ zu erkennen. Jahrzehnte zuvor hatte Engels 1873 berechtigterweise in seiner Schrift Die Bakunisten an der Arbeit die eigenartige Vision eines Generalstreiks als ein hinter den Kulissen wohl vorbereitetes Aufstandsszenario als Generalunsinn kritisiert. Diese alte Vision eines „Generalstreiks“ zeichnete sich durch eine überall und gleichzeitig erfolgenden Arbeitsniederlegung der Arbeiterklasse aus, generalstabsmässig geleitet von den Gewerkschaften. Damit sollte die Macht der herrschenden Klasse ausgehungert und innert Stunden aus den Angeln gehoben werden. Das spontane Element des Klassenkampfes wurden dabei komplett unterschätzt. Die Führung der SPD und der Gewerkschaften fühlten sich berechtigt, Engels Ausspruch zum geflügelten Wort zu machen, um damit jeglichen Ansatz zur Debatte über die handfesten Massenstreiks die vor allem von der Parteilinken in der SPD um Rosa Luxemburg gefordert wurde ignorant zu unterdrücken.

Tief im Kern standen sich das alte anarchistische Muster vom grandios geplanten ökonomischen Generalstreik und die Auffassung der grossen Gewerkschaftszentralen aber sehr nahe. Was für sie zählte war lediglich die Quantität der Kämpfe. Doch das Potenzial der Arbeiterkämpfe politische Fragen in die Hand zu nehmen, also ihre Qualität, wiesen sie beide glattweg von sich. War die FVDG, die bisher zumindest theoretisch immer die politische Aktivität der Arbeiter verteidigt hatte, fähig darauf eine Antwort zu geben?

Die Position der FVDG zum Massenstreik

Innerhalb der FVDG entbrannte die Debatte um den Massenstreik im Jahre 1904. Dies im Hinblick auf den kommenden Internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam, an dem diese Frage auf der Tagesordnung stand. In den Reihen der FVDG ging es nun darum, das Phänomen des Massenstreiks erst einmal zu verstehen, zumal auch ihre eigene ruhige Welt der geordneten Gewerkschaftsarbeit der kleinen Schritte von den Massenstreiks richtiggehend überrumpelt worden war. In ihrer allgemeinen Auffassung einer wohl geregelten Gewerkschaftsarbeit unterschied sich die kleine FVDG nicht wesentlich vom grossen sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband. Da die FVDG durch ihren schwachen Einfluss aber keinerlei Möglichkeiten hatte die Klassenkämpfe zu kontrollieren, standen sie der Frage des Massenstreiks weit offener gegenüber als die grossen gewerkschaftlichen Zentralverbände. Irritiert stellte sich die FVDG nun die Frage ob die ausgebrochenen Massenstreiks die historische Bestätigung der alten, fast theatralisch anmutenden Generalstreiksvisionen sei.

Gustav Kessler, Mitgründer der „Lokalisten“ und politische Autorität innerhalb der FVDG starb im Juni 1904. Kessler hatte innerhalb der Führung der FVDG am stärksten den Weg der Orientierung an der Sozialdemokratie verkörpert. Der sehr heterogene Charakter der FVDG als lose Vereinigung von Berufsverbänden hatte immer auch minoritären anarchistischen Tendenzen wie derjenigen um Andreas Kleinlein Platz gelassen. Kesslers Tod und die Wahl Fritz Katers zum Vorsitzenden der Geschäftskommission der FVDG im Sommer 1904 eröffnete nun deutlich eine Periode zunehmender Offenheit gegenüber syndikalistischen Ideen.

Es war aber vor allem der französische Syndikalismus der GCT, welcher einem Teil der FVDG mit dem Konzept des „Generalstreiks“ eine Antwort anzubieten schien, ohne sich jedoch offiziell darauf zu beziehen. Unter Kesslers Einfluss hatte die FVDG bis zu Beginn des Jahres 1904 offiziell die Propaganda für die Generalstreiksidee noch abgelehnt.

Die FVDG nahm zur Frage des Massenstreiks am umfassendsten in Form der von Raphael Friedeberg 1904 verfassten Schrift Parlamentarismus und Generalstreik und einer im August des selben Jahres verabschiedeten Resolution der FVDG Stellung. Friedebergs Standpunkt (er blieb bis 1907 noch Mitglied der SPD) war in den Jahren von 1904–07 sehr prägend für die FVDG und verdient daher näherer Betrachtung.[5]

Friedebergs Broschüre widmet sich größtenteils mit einer berechtigten und feinfühlig formulierten Kritik dem zerstörerischen und einschläfernden Einfluss des Parlamentarismus, wie er damals von der sozialdemokratischen Führung als das Non plus Ultra des Klassenkampfes verstanden wurde: „Die parlamentarische Taktik, die Überschätzung des Parlamentarismus, ist schon zu sehr eingewurzelt in den Massen des deutschen Proletariates. Sie ist ja auch gar zu bequem; alles soll die Gesetzgebung, alles die Änderung der Verhältnisse bringen, die eigenen Persönlichkeit braucht nichts anderes herzugeben als alle paar Jahre in diesen oder jenen Stimmkasten einen sozialistischen Zettel zu stecken. (...) Es ist ein schlechtes Erziehungsmittel des Proletariats. (...)  Ich will zugeben dass der Parlamentarismus eine historische Aufgabe in der Entwicklungsgeschichte des Proletariats gehabt hat, wohl auch noch haben wird.“  Wie wir sehen trägt dieser Anti–Parlamentarismus nicht den Charakter einer prinzipiellen Ablehnung, sondern geht von einem nun historisch erreichten Zeitpunkt aus, an dem sich dieses Propagandamittel für das Proletariat lediglich zu seinen Ungunsten entwickelt hatte.

In ähnlicher Weise wie Rosa Luxemburg unterstrich er dagegen den emanzipatorischen Charakter der großen Massenstreikbewegungen der vorangegangenen Jahre für das Proletariat: „Durch die Streiks schulen sich die Arbeiter, sie geben ihnen sittliche Kraft, sie bringen ihnen Solidaritätsgefühl, proletarisches Denken und Empfinden bei. Die Generalstreiksidee gibt den Gewerkschaften einen weiten Horizont wie ihn bisher der Gedanke der politischen Macht der Bewegung gegeben hat.“. Die „politische Macht“  war für Friedeberg Synonym für den Parlamentarismus. Dabei beschreibt er auch den ethischen Aspekt des Kampfes der Arbeiterklasse: „Wenn die Arbeiter aber den Klassenstaat stürzen wollen, wenn sie eine neue Weltordnung errichten wollen, dann müssen sie auch besser werden als die Schichten die sie bekämpfen, die sie beseitigen wollen. Deshalb müssen sie lernen, alles von sich zu stoßen was niedrig und gemein an ihnen ist, alles was unethisch ist. Das ist das Hauptkennzeichen der Generalsstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist.“

Bezeichnend für die Texte von Friedeberg ist die stetige Verwendung des Begriffs „Generalstreik“,  auch wenn von den konkreten politischen Massenstreiks der vergangenen Jahre die Rede ist und diese Anlass zu seinen Schriften waren.  

Obwohl die Triebfeder von Friedebergs Broschüre eine ehrliche Empörung gegenüber dem konservativen Geist in den gewerkschaftlichen Zentralverbänden war, die er mit Luxemburg teilte, kam er zu ganz anderen Schlussfolgerungen:

–   Er verwarf klar den bisher in der FVDG existierenden Drang sich auch um politische Fragen zu kümmern: „Wir führen keinen politischen Kampf und brauchen deshalb auch keine politischen Kampfformen. Unser Kampf ist ein ökonomischer und ein psychologischer.“ Dies war ein deutlicher Bruch mit der bisherigen Haltung der FVDG. In oberflächlicher Gleichsetzung von „Politik gleich Parlamentarismus“ verwarf er die politische Dynamik welche ja gerade die Massenstreiks ausgezeichnet hatten.     

–   Zudem zeichnete Friedeberg eine (auch innerhalb der FVDG sehr minderheitliche) unmaterialistische Auffassung  des Klassenkampfes, basierend auf psychologischen Überlegungen und der Strategie der „Verweigerung der Persönlichkeit“ – er nannte es „historischer Psychismus“. Hier zeigte sich deutlich seine Anlehnung an gewisse anarchistisch–kleinbürgerliche Auffassungen, nach denen ein individueller Rebellengeist und nicht die kollektive Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse das tragende Element des Klassenkampfes sei.    

–   Obwohl Friedeberg richtig die reformistische sozialdemokratische Idee der schrittweisen Übernahme der Staatsmacht anprangerte, verfiel er in eine gradualistische Auffassung desselben Zuschnittes, aber mit gewerkschaftlicher Prägung: „In den letzten Jahren allein sind die Gewerkschaften um 21 Prozent gewachsen, sie sind auf über eine Million Mitglieder gekommen, sodass wir mit Sicherheit, da für solche Dinge gewissermaßen gesetzmäßige Faktoren gelten, rechnen können, das in ca. 3–4 Jahren wir 2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder haben werden, in 10 Jahren 3–4 Millionen. Und wenn die Generalstreiksidee immer weiter in das Proletariat eindringt (...) mehr als 4–5 Millionen Menschen zur Niederlegung der Arbeit zu bringen und dadurch den Klassenstaat zu beseitigen“. In Wirklichkeit bedeutete die immer stärkere Einbindung der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften schon zur damaligen Zeit nicht bessere Bedingungen für die proletarische Revolution, sondern eine Fessel für die Arbeiterklasse.

–   Unter dem Drang ein „ethisches Kampfmittels ohne rohe Gewalt“ zu propagieren erkennt man bei Friedeberg aber auch eine große Unterschätzung der herrschenden Klasse und ihrer brutalen Repression in einer revolutionären Situation: „Das ist das Hauptzeichen der Generalstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist. (...) Was nachher kommt, wenn unsere Gegner uns zwingen wollen, wenn wir in Notwehr sind – das werden wir heute nicht bestimmen.“.

Doch im Wesentlichen sah Friedeberg in den aufkommenden Massenstreiks die Bestätigung der alten anarchistischen Generalstreiksidee. Seine grösste Schwäche bestand wohl darin, nicht erkannt zu haben, dass sich die Massenstreiks hin zu einem politischen Akt der Arbeiterklasse entwickelten. Stattdessen  beschränkte er die Perspektive der Massenstreiks auf eine rein ökonomische Ebene. Diese Auffassung brach deutlich mit der Tradition der FVDG, welche bis anhin immer vor einem rein ökonomischen Kampf  gewarnt hatte.

Die Basis der FVDG stand nicht geschlossen hinter den Auffassungen von Friedeberg, der Repräsentant eines minoritären sich zum Anarchismus hin bewegenden Flügels war. Dennoch waren Friedebergs Positionen für eine kurze Epoche bekanntes Aushängeschild der FVDG. Friedeberg selbst zog sich 1907 aus der FVDG in eine anarchistische Kolonie in Ascona zurück.

Ein Verständnis der Massenstreiks konnte die FVDG mit den Theorien Friedebergs nicht anbieten. Anstelle der Erkenntnis, dass die historisch anwachsende revolutionäre Stimmung diese neue Form von Arbeiterkämpfen hervorbrachte, welche eine Verschmelzung von ökonomischen und politischen Fragen darstellten, war die Generalstreiksidee mit der die FVDG nun auf die Bühne trat ein Schritt zurück – eine Flucht vor politischen Fragen.

Was war nun die Bedeutung und Rolle der FVDG bezüglich des Massenstreiks? Trotz all der Konfusionen, welche in den Schriften Friedebergs zu Tage traten, hatte die Debatte in der FVDG und ihre Schriften eine aufwühlende Funktion innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Es steht ihr das Verdienst zu, schon vor der Niederschrift der bekannten und viel klareren Broschüren von Luxemburg und Trotzki über den Massenstreik von 1905, auch innerhalb der SPD diese gewichtigen Fragen aufgeworfen zu haben.

Dass die FVDG zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vorstellung der Revolution noch strikte von Gewerkschaften als Organe der Revolution ausging soll uns nicht erstaunen. Einerseits war sie ja selbst eine Vereinigung von Gewerkschaften – ein Schritt darüber hinaus zu gehen hätte ihre eigene Organisationsform direkt in Frage gestellt. Andererseits baute auch Rosa Luxemburg noch stark auf die Gewerkschaften, welche sie in mehreren Ländern als das direkte und vorwärts weisende Produkt des Massenstreiks (z.B. in Russland) beschrieb. Es dauerte noch fast 5 Jahre bis zur Veröffentlichung von Trotzkis Buch 1905, welches die Arbeiterräte als neue Organe der Revolution anstelle der Gewerkschaften beschrieb[6]. Was der FVDG und ihren Nachfolgeorganisationen immer blieb, war ihre Blindheit gegenüber den Arbeiterräten und ihr Festklammern an den Gewerkschaften als angebliche Organe der Revolution. Eine Schwäche die sich in den revolutionären Erhebungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fatal auswirken sollte.       

Geheimverhandlungen zur Verhinderung des Massenstreiks und die Debatte in Mannheim 1906

Innerhalb der SPD entbrannte ab 1905 nun ein regelrechter Kampf ob die Frage des Massenstreiks auf dem kommenden Parteitag von 1906 diskutiert werden durfte. Krampfhaft versuchte der Parteivorstand die damals wohl gewichtigste Erscheinung im Klassenkampf als nicht diskussionswürdig abzustempeln. Der Parteitag der SPD von 1905 in Jena hatte sich nur pro forma in einer Resolution für den Massenstreik als eine „eventuell zu propagierende Maßnahme“ ausgesprochen. Der Massenstreik wurde darin lediglich zu einem letzten Verteidigungsmittel gegen einen allfälligen Entzug des allgemeinen Wahlrechts degradiert. Die von Rosa Luxemburg eingebrachten Lehren aus dem Massenstreik in Russland wurden vom überwiegenden Teil der Führung der SPD als „Revolutionsromantik“ und auf die deutschen Verhältnisse keinesfalls übertragbar bezeichnet. 

Es erstaunt daher nicht, dass sich nach dem Kongress in Jena 1905 der Parteivorstand im Februar 1906 in Geheimverhandlungen mit der Generalkommission der Zentralgewerkschaften auf eine gemeinsame Verhinderung von Massenstreiks einigte. Diese Abmachung kam aber ans Tageslicht. Die FVDG veröffentlichte in ihrem Organ Einigkeit Teile des Protokolls dieses geheimen Treffens, welches ihnen in die Hände gekommen war. Darin stand unter anderem: „Der Parteivorstand hat nicht die Absicht, den politischen Massenstreik zu propagieren, sondern wird, soweit es ihm möglich ist, einen solchen zu verhindern suchen“. Diese Veröffentlichung löste in der SPD–Führung eine große „Empörung der Ertappten“ aus und zwang sie die Debatte um den Massenstreik auf dem Mannheimer Parteitag vom 22.–23. September 1906 erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Auch wenn es keine Zusammenarbeit zwischen der FVDG und der Parteilinken gab (im Gegenteil kritisierte Karl Liebknecht die Schwächen der FVDG – die er wie Luxemburg als „Anarchosozialisten“ bezeichnete – in übertrieben harter Manier), arbeitete die Veröffentlichung der Geheimprotokolle durch die Einigkeit Letzteren in die Hand. Als eine Strömung welche auf proletarischem Boden stand, war ihre Stossrichtung im Kampf gegen den Reformismus nicht grundsätzlich verschieden zu derjenigen der Revolutionäre.  

Bebels erste Worte in seinem Einleitungsreferat auf dem Mannheimer Parteitag widerspiegelten den ignoranten Unmut der Parteileitung, die sich bemüht sah sich wieder mit einer Frage auseinandersetzen zu müssen, welche sie ad acta zu legen gehofft hatte: „Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinander gingen, hat wohl niemand geahnt, dass wir in diesem Jahre schon wieder über den Massenstreik sprechen müssen. (...) Durch die Indiskretion der so genannten „Einigkeit“ in Berlin ist es dann zu großen Debatten gekommen. (...)“[7]

Um sich aus der Peinlichkeit der durch die Einigkeit ans Licht geratenen Geheimabmachungen zu winden machte sich Bebel lustig über die FVDG und Friedebergs Beitrag: „Wie man angesichts einer solchen Entwicklung und der Macht der Unternehmerklasse gegenüber der Arbeiterklasse durch lokalorganisierte Gewerkschaften etwas ausrichten zu können glaubt, das verstehe wer mag. Jedenfalls ist der Parteivorstand und die Partei in ihrer grossen Mehrheit der Meinung, dass diese lokalistischen Gewerkschaften vollständig ohnmächtig sind, die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen.“[8] Wer sollte nur 8 Jahre später (1914) angesichts des Krieges mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten „vollständig ohnmächtig (sein) die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen“? Exakt der Parteivorstand der SPD, der lauthals den Kriegskrediten zustimmte! Die FVDG hingegen sollte trotz all ihrer Schwächen 1914 angesichts der Kriegsfrage noch fähig sein eine proletarische internationalistische Position gegen den Krieg einzunehmen. 

In der darauf folgenden dürftigen Parteitagsdebatte um den Massenstreik standen anstelle von politischen Argumenten bürokratische Streitereien und Rechtfertigungen darüber, ob sich Parteimitglieder nun an den Parteibeschluss von Jena 1905 zum Massenstreik halten sollten, oder an denjenigen des Gewerkschaftskongresses vom Mai 1906, welcher den Massenstreik klar verworfen hatte. Die Debatte drehte sich im Wesentlichen um den Antrag Bebels und Legiens, Parteimitgliedern die in der FVDG organisiert waren ein Ultimatum zum Übertritt in die Zentralgewerkschaften zu stellen. Bei Nichtübertritt sollten sie sofort aus der Partei ausgeschlossen werden.

Anstelle über die politischen Lehren aus den erfolgten Massenstreiks zu sprechen oder gar auf die Ausführungen in der eine Woche vorher erschienen Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Luxemburg einzugehen, wurde die Debatte auf einen kläglichen partei–juristischen Zank reduziert!

Nachdem Puttlitz, der eingeladene Vertreter der FVDG und Redakteur der Einigkeit aus Berlin, ausgelacht worden war, wandte sich Rosa Luxemburg vehement gegen den Versuch der Unterdrückung der politisch zentralen Massenstreik–Debatte mit rein formellen disziplinarischen Mitteln: „Ferner finde ich es unverantwortlich, wenn hier die Partei gewissermaßen als Zuchtrute gegen eine bestimmte Gruppe von Gewerkschaftlern gebraucht werden soll; daß wir uns damit innerhalb der Parteireihen Zank und Zwist auf den Hals laden sollen. Es ist doch kein Zweifel, daß unter den Lokalorganisierten sehr viele brave Genossen vorhanden sind, und es wäre unverantwortlich, wenn wir, um den Gewerkschaften in dieser Frage direkt zu dienen, den Zwist in unsere Reihen hineintrügen. Wir respektieren die Ansicht, daß die Lokalisten nicht den Zwist in den gewerkschaftlichen Organisationen soweit treiben sollen, daß sie die gewerkschaftliche Organisation dadurch unterbinden; aber im Namen der soviel gepriesenen Gleichberechtigung muß man doch mindestens dasselbe für die Partei anerkennen. Wenn wir die Anarchosozialisten, wie der Parteivorstand vorschlägt, aus der Partei direkt ausschließen, so geben wir damit ein trauriges Beispiel dafür, daß wir nur Energie und Entschlossenheit finden, um unsere Partei nach links abzugrenzen, daß wir nach rechts aber die Tore nach wie vor sehr weit offen lassen.

Von Elm hat hier angeführt als ein Beispiel des anarchistischen Unsinns, daß in der „Einigkeit“ oder in einer Konferenz der Lokalorganisierten ausgesprochen sei: „Der Generalstreik wäre als das einzige Mittel des wirklichen revolutionären Klassenkampfes zu betrachten.“ Nun ist das selbstverständlich ein Unsinn und nichts anderes. Aber, werte Anwesende, es steht genausoweit entfernt von der sozialdemokratischen Taktik und von unseren Prinzipien, wenn David erklärt, die gesetzlichen, parlamentarischen Mittel sind die einzigen Mittel der Sozialdemokratie. Man sagt uns, die Lokalisten, die Anarchosozialisten untergraben auf Schritt und Tritt durch ihre Agitation die sozialdemokratischen Grundsätze. Aber es ist genau ebenfalls eine Untergrabung sozialdemokratischer Grundsätze, wenn einer von den Zentralverbänden, wie Bringmann auf Eurer Konferenz im Februar sich gegen das Prinzip des Klassenkampfes erklärte.“[9]

Wie schon auf dem Parteitag im Jahre 1900 bei der Debatte um den Hamburger Gewerkschaftsstreit, widersetzte sich Luxemburg dem Versuch, die Schwäche der FVDG als Vorwand zu gebrauchen um die Diskussion zentraler Fragen zu umgehen. Sie erkannte, dass die grosse Gefahr nicht von einer gewerkschaftlichen Minderheit wie der FVDG kam, deren Mitglieder in der SPD oft auf der Seite des linken Flügels standen, sondern vom Zentrum und der Parteirechten.

Spaltung der FVDG und der endgültige Bruch mit der SPD 1908

Auch wenn die FVDG für die reformistische Führung SPD und den zentralen Gewerkschaftsverband keineswegs dieselbe Gefahr darstellte wie der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie um Liebknecht und Luxemburg konnten sie die FVDG nicht ignorieren, nur weil sie eine kleine Minderheit darstellte und die Lehren aus den Massenstreiks nicht wirklich erkannte. Das internationale Auftauchen von mächtigen revolutionär–syndikalistischen Bewegungen wie ab 1905 in den USA mit der IWW machte syndikalistische Tendenzen für den Reformismus zu einer potentiellen Gefahr.

Die auf dem Parteitag 1906 in Mannheim eröffnete Strategie, Druck auf die Mitglieder der FVDG zum Übertritt in die zentralen Gewerkschaften auszuüben wurde über Monate fortgesetzt. Einerseits wurde bekannten und kämpferischen Mitgliedern der lokalen Gewerkschaften lohnenswerte Posten in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratien angeboten. Andererseits für den Parteitag der SPD in Nürnberg, der 1908 stattfinden sollte, erneut ein Antrag über die Unvereinbarkeit einer Doppelmitgliedschaft in SPD und FVDG  angekündigt.

Doch die FVDG zerbrach vor allem an ihren eigenen Unklarheiten und den unterschiedlichen Ausrichtungen ihrer Berufsverbände. In einer Zeit in der es den politischen Massenstreik und das Auftauchen der Arbeiterräte zu verstehen galt, zerrieb sie sich in einer internen Auseinandersetzung um die Frage: Anschluss an die zentralen Gewerkschaftsverbände oder, hin zu einem syndikalistischen Weg der die politischen Fragen den ökonomischen unterordnete – eine Gegenüberstellung die gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit war. Auf ihrem außerordentlichen Kongress im Januar 1908  entschied die FVDG über einen Antrag der Maurer–Gewerkschaften die FVDG zugunsten eines Übertritts in die Zentralgewerkschaften aufzulösen. Obwohl dieser Antrag abgelehnt wurde bedeute er die Spaltung der FVDG und damit das Ende der langjährigen Geschichte einer unübersehbaren gewerkschaftlichen Opposition welche sich noch an die alte proletarische Tradition der Sozialdemokratie angelehnt hatte. Mehr als ein Drittel der FVDG trat sofort in die großen sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften über. Die Mitgliederzahl sank bis 1910 von ehemals 20`000 auf knapp 7000.

Der Führung der Sozialdemokratie fiel es danach nicht mehr schwer, den Bruch mit den Überresten der FVDG auf dem Parteitag im September 1908 mit einem endgültigen Verbot der Doppelmitgliedschaft FVDG–SPD zu besiegeln. Die Überreste der FVDG stellten für Legien und Konsorten nun keine ernstzunehmende Gefahr an der Basis mehr dar.

Wenn wir nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Syndikalismus in Deutschland suchen, so markiert das Jahr 1908 den Beginn einer neuen Etappe, die der erklärten Hinwendung von nur etwas weniger als der Hälfte der Mitglieder der FVDG zum revolutionären Syndikalismus. 

Hin zum revolutionären Syndikalismus

Da die FVDG als eine gewerkschaftliche Oppositionsbewegung entstanden war, die in ihren Anfangsjahren noch fest mit der Sozialdemokratie, also einer politischen Organisation der Arbeiterbewegung, verbunden war, hatte sie sich bis ins Jahr 1908 nie als syndikalistisch bezeichnet. Denn Syndikalismus bedeutet nicht lediglich Feuer und Flamme für gewerkschaftliche Aktivitäten zu sein, sondern eine Schritt weiter zu gehen und in den Gewerkschaften die einzige und alleinige Organisationsform zur Überwindung des Kapitalismus zu sehen – eine Rolle die diese von ihrem nach Reformen ringenden Wesen her gar nie spielen konnten und können.

Das wegweisende neue Programm der FVDG des Jahres 1911 „Was wollen die Lokalisten? Programm, Ziele und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ drückte diesen Standpunkt nun folgendermaßen aus: „Der Befreiungskampf der Arbeiter ist in erster Linie ein wirtschaftlicher Kampf, den ganz naturgemäß die Gewerkschaft, als die Organisation der Produzenten, auf allen Gebieten zu führen hat. (...) Die Gewerkschaft (und nicht die politische Partei) ist allein in der Lage, die wirtschaftliche Macht der Arbeiter gehörig zur Entfaltung zu bringen...“

Und während doch gerade die grossen Massenstreiks und der vergangenen Jahre die spontane Dynamik des Klassenkampfes bewiesen hatten, und parallel dazu der Bruch der Bolschewiki mit dem alten Konzept der „Massenpartei“ 1903 die Notwendigkeit von Organisationen revolutionärer politischer Minderheiten klarmachte, focht das neue Programm der FVDG zwar mit gutem Willen gegen einen alten „Dualismus“, aber.. mit komplett falschen Schlussfolgerungen: „Daher verwerfen wir den schädlichen Dualismus (Zweiteilung), wie ihn Sozialdemokratie und die ihr zugehörigen Zentralgewerkschaften praktizieren. Wir meinen die widersinnige Teilung der Arbeiterorganisationen in einen politischen und einen gewerkschaftlichen Flügel.“ (...)  Da wir den parlamentarischen Kampf ablehnen und an seine Stelle den direkten politischen Kampf mit gewerkschaftlichen Mitteln und nicht um die politische Macht, sondern um die soziale Befreiung setzten, so verliert eine politische Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie ohnehin jede Existenzberechtigung.“

Dieses neue Programm drückte eine absolute Blindheit gegenüber dem historischen Auftauchen und revolutionären Charakter von Arbeiterräten aus und flüchtete in die erwartungsvolle Theoretisierung eines neuen Gewerkschaftstypus als Allerweltsmittel:

–   als Antwort auf die (tatsächlich) überlebte Massenpartei,

–   als Ersatz für die verbürokratisierten grossen Gewerkschaften,

–   als Organ der Revolution,

–   und schlussendlich als Architekt der neuen Gesellschaft.

Welch allumfassende Aufgabe!

Doch vertrat die FVDG, wie es bezeichnend war für den revolutionären Syndikalismus zur damaligen Zeit, eine klare Verwerfung des bürgerlichen Staates und es Parlamentarismus. Sie verteidigte den Kampf der Arbeiterklasse gegen Krieg und Militarismus.

Das Verhältnis der FVDG gegenüber dem Anarchismus blieb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ablehnen. Lediglich die Tatsache dass Friedebergs Theorien (auf seinem Weg vom Sozialdemokraten zum Anarchisten) in den Jahren 1904–07 Aushängeschild für die FVDG gewesen waren bedeute keinesfalls eine Hinwendung der gesamten Organisation zum Anarchismus. Im Gegenteil befürchteten die stark zum Syndikalismus tendierenden Kräfte um Fritz Kater, dass gerade auch von den Anarchisten ein „Bevormundung“ drohe, so wie sie von der SPD immer gegenüber den Gewerkschaften ausgeübt worden sei. Kater bezeichnete noch in der Einigkeit vom August 1912 den Anarchismus als „ebenso überflüssig wie jede andere politische Partei“[10]. Es ist falsch zu meinen, dass es die Präsenz offizieller Anarchisten gewesen wäre, welche die FVDG in den Syndikalismus führte. Die Parteifeindlichkeit, welche in der harten Auseinandersetzung mit der SPD entstanden war, wandte sich in den Jahren vor dem Krieg auch gegen die anarchistischen Organisationen. Es war auch keinesfalls der Einfluss des charismatischen Anarchisten Rudolf Rocker ab 1919, welcher die Parteifeindlichkeit  in die Nachfolgeorganisation der FVDG, die FAUD hinein trug. Diese Entwicklung hatte deutlich vorher stattgefunden. Rocker theoretisierte sie in den 20er Jahren für den deutschen Syndikalismus nur viel deutlicher als dies vor dem Krieg geschah.

Die weiteren Jahre bis hin zum Kriegsausbruch 1914 waren bei der FVDG gekennzeichnet von einem Rückzug auf sich selbst. Die grosse Auseinandersetzungen mit den Mutterorganisationen waren ausgefochten. Die Trennung vom gewerkschaftlichen Zentralverband hatte 1897 stattgefunden. Der Bruch mit der SPD gute 10 Jahre später, 1908.

Es entstand eine kuriose Situation, welche ein immer wieder auftauchendes Dilemma des Syndikalismus aufzeigt: Sich als Gewerkschaft deklarierend, welche bei möglichst vielen Arbeitern verankert sein wollte, war die FVDG aber auf ein Minimum von Mitgliedern zusammengeschrumpft. Von den ca. 7000 Eingeschriebenen war nur ein geringer Teil auch wirklich aktiv. Eine Gewerkschaft war sie nicht mehr! Vielmehr waren die Überreste der FVDG nun auf Propagandavereine für syndikalistische Ideen zusammengeschrumpft, hatten also vielmehr den Charakter von politischen Gruppen. Doch politische Organisationen wollten sie partout nicht sein!

Die Überreste der FVDG blieben – und das ist für die Arbeiterklasse eine absolut zentrale Frage – auf internationalistischem Boden und wandten sich trotz all ihrer Schwächen gegen die Bestrebungen der Bourgeoisie hin zu Militarismus und Krieg. Die FVDG und ihre Presse wurde sofort bei Kriegsausbruch im August 1914 verboten und viele ihrer noch aktiven Mitglieder in Schutzhaft genommen.

In einem folgenden Artikel werden wir die Rolle der Syndikalisten in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und den Jahren der Deutschen Revolution 1918/19 und der weltrevolutionären Welle bis 1923 betrachten.

Mario 6.11.2009

[1] Arnold Roller (Siegfried Nacht): „Die direkte Aktion“ 1912. Roller verkörperte innerhalb der FVDG den bis dahin sehr minoritären anarchistischen Flügel.

[2] Siehe im Besonderen dazu auch: Internationale

 Nr. 90, 122, 123, 125 (engl., franz., span.) 

[3] Anton Pannekoek, „Das Gewerkschaftswesen“, 1936

[4] Paul Frölich, „Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat“, Kapitel: „Der politische Massenstreik“ 

[5] Friedeberg selber kam nicht etwa aus dem Anarchismus in die FVDG, sondern war SPD Stadtverordneter und Mitglied der sozialdemokratischen Berliner Parteileitung.

[6] Trotzki schrieb 1907 zuerst das Buch Unsere Revolution. Einige Kapitel daraus dienten als Grundlage für das Buch 1905, welches 1908/09 geschrieben wurde.

[7] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, S 227.

[8] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, Seite 295.

[9] ebenda, Seite 315 (oder in R. Luxemburg, Ges. Werke. Bd. 2, Seite 174)

[10] siehe auch: Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, S. 191–198

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Revolutionärer Syndikalismus [15]

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Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/kongress-roslution-international [2] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische [3] https://libcom.org/aufheben [4] https://www.marxists.org/archive/marx/works/1891/06/29.htm [5] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus [6] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/ungarn-revolution-1919 [7] https://de.internationalism.org/en/tag/2/37/die-revolution-re-welle-1917-1923 [8] https://www.marxist.com/republica–sovietica–hungara–1919.htm [9] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/maghreb [10] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/fukushima [11] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/lybien [12] https://de.internationalism.org/en/tag/6/1294/revolten [13] https://de.internationalism.org/en/tag/3/54/zerfall [14] http://www.libcom.org [15] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/revolutionarer-syndikalismus