Published on Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Home > Internationale Revue - 2010s > Internationale Revue – 2011 > Internationale Revue 48

Internationale Revue 48

  • 1876 reads

19. Kongress der IKS: Bereiten wir uns auf die Klassenkonfrontationen vor

  • 2104 reads
Im vergangenen Mai hat die IKS ihren 19. Kongress abgehalten. Ein Kongress stellt im Leben revolutionärer Organisationen einen Höhepunkt dar. Da diese ein integraler Bestandteil der Arbeiterklasse sind, ist es ihre Aufgabe, die Ergebnisse eines Kongresses an die Klasse weiterzugeben. Dies ist das Ziel dieses Artikels. Zuerst wollen wir herausstreichen, dass der 19. Kongress den Willen der IKS, sich gegen außen zu öffnen, in die Praxis umgesetzt hat, denn neben Delegationen der Sektionen der IKS waren nicht nur Sympathisanten von uns oder Leute von Diskussionszirkeln, an denen wir uns beteiligen, präsent, sondern auch Delegationen von Gruppen, mit denen die IKS in Diskussion und Kontakt steht: zwei Gruppen aus Südkorea und OPOP aus Brasilien[1]. Andere Gruppen wurden eingeladen und nahmen die Einladung an, konnten aber wegen der Hindernisse, welche die herrschende Klasse der europäischen Staaten Leuten außerhalb Europas immer mehr in den Weg legt, nicht teilnehmen.

In unseren Statuten steht:

„Der internationale Kongress ist das souveräne Organ der IKS. Deshalb hat er folgende Aufgaben:

–  Ausarbeitung von Analysen und generellen Orientierungen für die Organisation, vor allem bezüglich der internationalen Situation;

–  Untersuchen und Bilanzieren der Aktivitäten der Organisation seit dem letzten Kongress;

–  Formulieren unserer Arbeitsperspektiven für die Zukunft.“

Auf dieser Grundlage wollen wir den
19. Kongress bilanzieren und betrachten.

Die internationale Lage

Als ersten Punkt wollen wir unsere Analysen und Diskussionen über die internationale Situation erwähnen. Wenn die Organisation nicht in der Lage ist, sich ein klares Verständnis darüber zu erarbeiten, läuft sie Gefahr, nicht in angemessener Weise politisch auftreten zu können. Die Geschichte hat uns gelehrt, wie katastrophal eine falsche Analyse der internationalen Situation durch revolutionäre Organisationen sein kann. Nur die dramatischsten Fälle seien hier erwähnt: Die Unterschätzung der Kriegsgefahr durch die Mehrheit der 2. Internationale am Vorabend der imperialistischen Schlächterei des Ersten Weltkrieges 1914–18, auch wenn in der Zeit zuvor (durch den Anstoß des linken Flügels in der Internationale) deren Kongresse die Gefahr korrekt erkannt hatten und zur Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen sie aufgerufen hatten.

Ein anders Beispiel ist die von Trotzki vertretende Analyse während der 1930er Jahre, als er 1936 in den Arbeiterkämpfen in Frankreich und im Krieg in Spanien die Vorboten einer neuen internationalen revolutionären Welle sah. Diese Analyse brachte Trotzki 1938 dazu, eine „4. Internationale“ zu gründen, welche angesichts der „konservativen Politik der kommunistischen und sozialistischen Parteien“ deren Platz an der Spitze der „Massen von Millionen von Leuten, welche sich für den Weg zur Revolution einsetzen“, einnehmen sollte. Dieser Irrtum hat im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wesentlich zum Übertritt der Sektionen der 4. Internationale ins Lager der herrschenden Klasse beigetragen. Sie wollten sich um jeden Preis „an die Massen heften“, sie wurden von der Politik der „Résistance“ verschlungen, welche von den sozialistischen und sogenannten „kommunistischen“ Parteien geführt wurde – mit anderen Worten: zur Unterstützung des imperialistischen Lagers der Alliierten.

Etwas mehr in unserer politischen Nachbarschaft haben wir erlebt, wie sich Gruppen, die sich auf die Kommunistische Linke berufen, am ausgedehnten Streik vom Mai 1968 und an der darauf folgenden internationalen Bewegung von Arbeiterkämpfen vorbei lebten, indem sie diese als „lediglich Studentenbewegungen“ bezeichneten. Wir konnten auch das tragische Schicksal anderer Gruppen erleben, die den Mai 1968 als eine „Revolution“ bezeichneten, dann in die Enttäuschung stürzen und schlussendlich verschwanden, weil die Bewegung nicht das brachte, was sie sich davon erhofft hatten.

Heute ist es für revolutionäre Organisationen überaus wichtig, eine richtige Analyse der internationalen Situation zu erstellen, nur schon deshalb, weil die Herausforderungen der Geschichte, die sich in der letzten Zeit beschleunigt, bedeutend sind.

Wir haben in der letzten Nummer der Internationalen Revue die vom Kongress angenommene Resolution über die internationale Lage veröffentlicht, und es ist nicht notwendig, auf alle darin enthaltenen Aspekte zurückzukommen. Wir wollen lediglich die wichtigsten noch einmal unterstreichen.

Der erste und grundlegendste Aspekt ist der Weg, den die Krise des Kapitalismus durch die Staatsverschuldungen europäischer Staaten wie Griechenland eingeschlagen hat.

„In der Tat stellt diese potentielle Pleite einer wachsenden Reihe von Staaten eine neue Phase im Versinken des Kapitalismus in der unüberwindbaren Krise dar. Sie verdeutlicht die Grenzen der Maßnahmen, mit denen es der Bourgeoisie gelungen ist, den Fortgang der kapitalistischen Krise seit mehreren Jahrzehnten zu bremsen. (…) Die Maßnahmen, die von der G20 im März 2009 zur Vermeidung einer neuen „Großen Depression“ ergriffen wurden, zeigen die Politik auf, welche die herrschende Klasse seit einigen Jahrzehnten anwendet: Sie lässt sich zusammenfassen als Einschießung von beträchtlichen Kreditmassen in die Wirtschaft. Solche Maßnahmen sind nicht neu. Tatsächlich stellen sie seit 35 Jahren den Kern der Wirtschaftspolitik der herrschenden Klasse dar beim Versuch, dem großen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zu entgehen: der Unfähigkeit, zahlungsfähige Märkte zu finden, die ihre Produktion aufnehmen. (…) Der mögliche Zusammenbruch des Bankensystems und die Rezession zwangen alle Staaten, beträchtliche Summen in ihre Wirtschaft einzuschießen, während umgekehrt die Einnahmen sich im freien Fall befinden, weil die Produktion zurückgeht. Aus diesem Grund nahmen die Staatsdefizite in den meisten Ländern beträchtlich zu. Für die am meisten gefährdeten unter ihnen wie Irland, Griechenland oder Portugal bedeutete dies der potentielle Bankrott, die Unfähigkeit, die Staatsangestellten zu bezahlen und die Schulden zu begleichen. (…) Die „Rettungspläne“, welche die Europäische Bank und der Weltwährungsfond für sie ausarbeiteten, stellen lediglich neue Schulden dar, die ebenso wie die früheren zurück bezahlt werden müssen. Es ist mehr als ein Teufelskreis, es ist eine Höllenspirale. (…) Die Krise der Staatsschulden in den PIIGS (Portugal, Island, Irland, Griechenland, Spanien) ist nur ein kleiner Teil des Erdbebens, das die Weltwirtschaft bedroht. Nur weil die großen Industriemächte gegenwärtig noch über die Note AAA auf der Bewertungsskala der Rating–Agenturen verfügen (die gleichen Agenturen, die am Vorabend des Banken–Debakels von 2008 diesen ebenfalls die Bestnote erteilt hatten) heißt nicht, dass sich jene besser aus der Affäre ziehen würden. (…) Mit anderen Worten läuft die größte Weltmacht Gefahr, dass ihr das „offizielle“ Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Bezahlung der Schulden entzogen wird – mindestens mit Dollars, die noch etwas wert sind. (…) Und seither hat sich die Lage in allen Ländern mit den verschiedenen Aufschwungsplänen nur noch verschlimmert. So stellt der Bankrott der PIIGS nur die Spitze des Eisbergs des Bankrotts einer Weltwirtschaft dar, die ihr Überleben seit Jahrzehnten nur der verzweifelten Flucht nach vorn in die Verschuldung verdankt. (…) Die Krise der Verschuldung verschob sich von der Bankensphäre in diejenige der Staatskassen, wodurch die kapitalistische Produktionsweise in eine neue Phase ihrer zugespitzten Krise eingetreten ist, in der sich die Gewalt und die Ausdehnung ihrer Erschütterungen noch einmal beträchtlich verschärfen werden. Es gibt für den Kapitalismus keinen „Ausgang aus dem Tunnel“. Dieses System kann die Gesellschaft nur noch in eine ständig wachsende Barbarei ziehen.“

Die Zeit unmittelbar nach dem Kongress hat diese Analyse bestätigt. Einerseits hat sich die Verschuldungskrise der europäischen Länder, die sichtbar nicht mehr nur die „PIIGS“ betrifft, sondern die gesamte Eurozone erfasst hat, mehr und mehr zugespitzt. Der angebliche „Erfolg“ des Europäischen Gipfels vom 22. Juli zu Griechenland hat kaum etwas verändert. Schon alle vorangegangenen Gipfeltreffen hatten sich vorgenommen, die Schwierigkeiten in diesem Land dauerhaft in den Griff zu bekommen, doch mit geringstem Erfolg!

Andererseits haben zur selben Zeit als Obama größte Schwierigkeiten hatte, seine Budgetpolitik durchzusetzen, die Medien „entdeckt“, dass die USA auch mit einer gigantischen Staatsverschuldung konfrontiert sind, deren Niveau (130% des Bruttoinlandproduktes) den PIIGS in nichts nachsteht. Die Bestätigung der Analysen, die am Kongress gemacht worden sind, ist nicht etwa ein besonderes Verdienst unserer Organisation. Das „Verdienst“, das wir für uns beanspruchen können, ist die Treue gegenüber den klassischen Analysen der Arbeiterbewegung, welche immer, seit der Entwicklung der marxistischen Theorie, unterstrichen haben, dass die kapitalistische Produktionsweise, gleich wie die früheren, vergänglich ist und ihre Widersprüche nicht überwinden kann. Die Diskussion am Kongress hat sich in diesem marxistischen Rahmen entfaltet. Es wurden verschiedene Standpunkte ausgetauscht, vor allem bezüglich der fundamentalen Gründe der kapitalistischen Widersprüche (welche im Wesentlichen in unserer Debatte über die 30 glorreichen Jahre dargelegt sind[2]) und über die Möglichkeit, dass die Weltwirtschaft durch die hemmungslose Ankurbelung der Geldpresse in eine Hyperinflation stürzt, vor allem in den USA. Eine große Einigkeit bestand hinsichtlich der Dramatik der aktuellen Lage. Die Resolution zur internationalen Lage wurde einstimmig angenommen.

Der Kongress nahm sich ebenfalls der Entwicklung der imperialistischen Konflikte an, wie man der Resolution entnehmen kann. Diesbezüglich gab es in den zwei Jahren seit dem letzten Kongress keine grundlegenden Veränderungen, sondern im Wesentlichen eine Bestätigung dessen, dass die größte Weltmacht USA trotz all ihrer militärischen Bemühungen unfähig ist, ihre „Leadership“ wieder herzustellen, die seit dem Ende des „Kalten Krieges“ bestanden hatte. Das Engagement der USA im Irak und in Afghanistan konnte der Welt keine „Pax Americana“ aufzwingen, im Gegenteil: „Die „neue Weltordnung“, die Vater George Bush vor 20 Jahren prognostizierte und die er sich unter der Vorherrschaft der USA erträumte, entlarven sich je länger je mehr als ein „Weltchaos“ – ein Chaos, das die Konvulsionen der kapitalistischen Wirtschaft nur noch verschlimmern wird.“ (Punkt 8 der Resolution)

Es war wichtig, dass sich der Kongress ganz besonders der heutigen Entwicklung im Klassenkampf gewidmet hat, denn neben der Wichtigkeit, welche diese Frage für Revolutionäre immer hat, steht heute die Arbeiterklasse wie selten zuvor in allen Ländern Angriffen auf ihre Existenzbedingungen gegenüber. Diese Angriffe sind besonders brutal in den Ländern, die der Europäischen Zentralbank und dem IWF unterworfen sind, wie das Beispiel Griechenlands zeigt. Doch sie breiten sich auch auf alle anderen Länder aus, durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit für die Regierungen, die Staatsschulden zu reduzieren.

Schon die Resolution des 18. Kongresses hatte deshalb hervorgehoben: „Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden – Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe (Massenkämpfe) zunächst zuwider. (…) Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen –, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“

Der 19. Kongress hat nun festgestellt: „Die zwei Jahre, die uns vom letzten Kongress trennen, haben dies vollauf bestätigt. Diese Periode war nicht gezeichnet von verbreiteten Kämpfen gegen die massiven Entlassungen oder gegen die steigende Arbeitslosigkeit, welche die Arbeiterklasse in den am meisten fortgeschrittenen Ländern über sich ergehen lassen muss. Gleichzeitig gibt es aber bedeutende Kämpfe gegen die „notwendigen Kürzungen der Sozialausgaben“.“ Dennoch hält der Kongress fest: „Doch diese Antwort ist immer noch schüchtern, vor allem dort, wo die Sparmaßnahmen die brutalsten Formen angenommen haben, in Ländern wie z.B. Griechenland oder Spanien, auch wenn die Arbeiterklasse dort in letzter Zeit ein bedeutendes Niveau an Kampfbereitschaft gezeigt hat. In gewisser Weise scheint die Brutalität der Angriffe in den Reihen der Arbeiterklasse ein Gefühl der Machtlosigkeit ausgelöst zu haben, vor allem auch, weil sie durch „linke“ Regierungen durchgesetzt wurden.“ Seither hat die Arbeiterklasse in diesen Ländern aber bewiesen, dass sie nicht resigniert. So vor allem in Spanien, wo die Bewegung der „Empörten“ während mehrerer Monate zu einem Orientierungspunkt für die anderen Länder in Europa und in anderen Kontinenten geworden ist.  

Diese Bewegung in Spanien begann just im Moment, als der Kongress stattfand, deshalb konnten diese Ereignisse auf dem Kongress nicht diskutiert werden. Somit war der Kongress vor allem geprägt vom Nachdenken über die sozialen Bewegungen, welche die arabischen Länder seit Ende 2010 erfasst haben. In den Diskussionen zeigte sich keine absolute Einigkeit darüber, vor allem nicht über die Frage ihres neuartigen Charakters. Doch der gesamte Kongress sammelte sich um die Analyse welche in der Resolution enthalten ist:

„Die massivsten Bewegungen, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, entfalteten sich nicht in den am höchsten industrialisierten Ländern, sondern in Ländern der Peripherie des Kapitalismus, vor allem in einigen Ländern der arabischen Welt wie in Tunesien und Ägypten. Dort war die herrschende Klasse, nachdem sie erst mit einer brutalen Repression geantwortete hatte, gezwungen, die Diktatoren abzusetzen. Diese Bewegungen waren nicht klassische Arbeiterkämpfe, wie sie sich in diesen Ländern kurz zuvor ereignet hatten (z.B. die Arbeitskämpfe in Gafsa in Tunesien 2009 oder die massiven Streiks in der ägyptischen Textilindustrie während des Sommers 2007, die eine große Solidarität von anderen Sektoren erhielten). Sie haben oft die Form sozialer Revolten angenommen, in denen sich verschiedenste Teile der Gesellschaft wiederfanden: Beschäftigte des Staates und der Privatwirtschaft, Arbeitslose, aber auch Kleinhändler und Bauern und Freiberufliche, die Jugend usw. Aus diesem Grund ist die Arbeiterklasse über die meiste Zeit hinweg nicht direkt als solche erkennbar aufgetreten (wie zum Beispiel in den Streiks in Ägypten in der Endphase der Revolte) und konnte noch weniger eine führende Rolle einnehmen. Dennoch ist der Ursprung dieser Revolten (was sich in vielen Forderungen widerspiegelte) derselbe wie derjenige von Arbeiterkämpfen in anderen Ländern: die dramatische Zuspitzung der Krise und die zunehmende Misere, welche innerhalb der gesamten nichtausbeutenden Bevölkerung um sich greift. Wenn die Arbeiterklasse in diesen Kämpfen im arabischen Raum im Allgemeinen nicht als Klasse aufgetreten ist, so war ihr Einfluss in den Ländern, in denen sie ein stärkeres Gewicht hat, dennoch spürbar. Dies vor allem durch die Atmosphäre einer großen Solidarität in den Revolten und die Fähigkeit, Fallen von blinder und verzweifelter Gewalt zu vermeiden, auch dann, wenn sie mit einer starken Repression konfrontiert waren. Wenn schlussendlich die herrschende Klasse in Tunesien und Ägypten auf den Ratschlag der USA hin die alten Diktatoren über die Klinge springen ließ, so geschah dies weitgehend wegen der starken Präsenz der Arbeiterklasse in diesen Bewegungen.“

Das Erwachen der Arbeiterklasse in peripheren Ländern des Kapitalismus hat den Kongress gedrängt, auf unsere Analyse, die wir 1980 während der Massenstreiks in Polen gemacht hatten, zurück zu kommen: „Damals argumentierte die IKS auf der Basis der Positionen, die von Marx und Engels entwickelt wurden, dass der Funke zur proletarischen Revolution vor allem in den zentralen Ländern des Kapitalismus entspringen wird. Dies aufgrund der großen Konzentration der Arbeiterklasse in diesen Ländern und vor allem aufgrund ihrer historischen Erfahrung, welche sie eher in die Lage versetzt, von der herrschenden Klasse gestellte ideologische Fallen zu durchschauen. Einer der wichtigsten Schritte für die weltweite Arbeiterklasse in der Zukunft wird nicht nur die Entfaltung massiver Kämpfe in den zentralen Ländern Westeuropas sein, sondern auch die Fähigkeit, die demokratischen und gewerkschaftlichen Fallen zu vermeiden, indem sie den Kampf in die eigenen Hände nimmt. Diese Bewegungen werden für die weltweite Arbeiterklasse ein Orientierungspunkt sein, einschließlich für die Arbeiterklasse im mächtigsten kapitalistischen Land, den USA, wo das Abgleiten in die zunehmende Armut, das schon heute Millionen von Beschäftigten betrifft, den „amerikanischen Traum“ in einen Albtraum verwandelt hat.“

Diese Analyse erhält eine erste Bestätigung durch die jüngste Bewegung der „Empörten“ in Spanien. Während die Demonstranten in Tunis und Kairo die nationalen Flaggen für ein Zeichen ihres Kampfes hielten, so fehlten diese seit Ende des letzten Frühlings in den meisten großen Städten Europas (vor allem in Spanien). Zweifelsohne ist die Bewegung der „Empörten“ noch mit starken Illusionen in die Demokratie behaftet, doch sie hatte die Qualität, aufzuzeigen, dass alle Staaten, selbst die „demokratischsten“ und damit auch die von Linken regierten, ein Feind der Arbeiterklasse sind.

Die Intervention der IKS in den sich entfaltenden Kämpfen

Wie wir bereits festgestellt haben, besteht die Fähigkeit revolutionärere Organisationen darin, die aktuelle historische Situation zu analysieren und mitunter auch in der Ehrlichkeit, sich von Analysen, welche durch die Realität in Frage gestellt werden, zu lösen. Dies ist eine Bedingung für die Qualität ihrer Intervention innerhalb der Arbeiterklasse, nicht nur was die Form angeht, sondern auch den Inhalt. Das heißt für eine revolutionäre Organisation schlussendlich, auf der Höhe der Verantwortung zu sein, deretwegen sie die Arbeiterklasse hervorgebracht hat.

Auf der Grundlage einer Einschätzung der Wirtschaftskrise, der furchtbaren Angriffe, die diese für die Arbeiterklasse nach sich zieht, und auf der Grundlage der ersten Antworten derselben auf diese Angriffe, ging der 19. Kongress der IKS davon aus, dass wir in eine neue Phase der Entwicklung des Klassenkampfes eintreten, die deutlich intensiver und massenhafter sein werden als in der Zeitspanne zwischen 2003 und heute. In dieser Hinsicht ist es aber vielleicht noch schwieriger als beim Verlauf der Krise, der diese Entwicklung im Großen und Ganzen bestimmt, kurzfristige Voraussagen zu treffen. Es gilt hingegen, eine allgemeine Tendenz auszumachen und angesichts der Entwicklung der Lage besonders wachsam zu sein, um schnell und angemessen reagieren zu können, wenn sie es erfordert, sei es mittels Stellungnahmen oder der direkten Intervention in den Kämpfen.

Der 19. Kongress schätzte die Bilanz der Intervention der IKS seit dem letzten Kongress als unbestreitbar positiv ein. Immer wenn es nötig war, und oft sehr schnell, wurden Stellungnahmen in zahlreichen Sprachen auf unserer Webseite und in den territorialen Zeitungen veröffentlicht. Im Rahmen dessen, was wir mit unseren bescheidenen Kräften leisten können, verbreiteten wir unsere Presse anlässlich der Demonstrationen, welche die sozialen Bewegungen begleiteten. Solche Bewegungen waren in der letzten Zeit insbesondere die Bewegung gegen die Rentenreform im Herbst 2010 in Frankreich oder die Mobilisierungen der Schülerinnen und Schüler gegen die Angriffe, die vor allem die zukünftigen Studentinnen und Studenten aus der Arbeiterklasse betrafen. Gleichzeitig hielt die IKS öffentliche Diskussionsveranstaltungen in zahlreichen Ländern verschiedener Kontinente ab, welche die sozialen Bewegungen zum Thema hatten. Gleichzeitig intervenierten die Mitglieder der IKS, wenn immer es möglich war, in den Versammlungen, Kampfkomitees, Diskussionszirkeln, Internetforen, um die Positionen und Analysen der Organisation zu verbreiten und an der internationalen Debatte teilzunehmen, die diese Bewegungen ausgelöst hatten.

Diese positive Bilanz dient in keiner Weise dazu, die Militanten der IKS „bei der Stange zu halten“ oder gegenüber den Lesern des Artikels zu bluffen. Sie kann von Allen, welche die Aktivitäten unserer Organisation kennen, überprüft und bestätigt werden, da es sich um unsere öffentlichen Aktivitäten handelt.

Weiter zog der Kongress eine positive Bilanz über unsere Intervention gegenüber Leuten und Gruppen, die kommunistische Positionen verteidigen oder sich solchen Positionen annähern.

Die Perspektive einer starken Entfaltung der Klassenkämpfe bringt auch ein Heranwachsen von revolutionären Minderheiten mit sich. Auch wenn die Arbeiterklasse noch nicht in massive Kämpfe eingetreten ist, so haben wir festgestellt (wie schon in der Resolution zur internationalen Lage vom 17. Kongress festgehalten[3]), dass ein solches Heranwachsen vor allem deshalb entsteht, weil seit 2003 die Arbeiterklasse den Rückschlag, den sie ab 1989 nach dem Zusammenbruch des sogenannten „sozialistischen“ Blocks durch die Kampagnen über das „Ende des Kommunismus“ und somit das „Ende des Klassenkampfes“ erlitt, wieder zu überwinden beginnt. Seither, auch wenn noch schüchtern, hat sich diese Tendenz durch regelmäßige Kontakte und Diskussionen mit Einzelpersonen und Gruppen in verschiedenen Ländern bestätigt. „Dieses Phänomen der Herausbildung von Kontakten betrifft nicht nur die Länder, in denen die IKS schon präsent ist. Und die Zunahme von Kontakten ist auch nicht sofort in allen Ländern spürbar, in denen die IKS aktiv ist – weit entfernt davon. Wir können sogar sagen, dass diese Erscheinungen nur einer Minderheit der Sektionen der IKS vorbehalten bleibt.“ (mündliche Präsentation des Berichts über die Kontakte auf dem Kongress)

In der Tat sind oft Kontakte in Ländern aufgetaucht, in denen die IKS nicht (oder noch nicht) mit Sektionen präsent ist. Dies hatten wir auch an der „panamerikanischen“ Konferenz festgestellt, welche im November 2010 abgehalten wurde und auf der unter anderen OPOP, Genossen aus Brasilien, Peru, der Dominikanischen Republik und Ecuador teilnahmen[4]. Wegen der Entwicklung dieses Umfeldes von Kontakten „hat unsere Arbeit ihnen gegenüber stark zugenommen, was auch einen arbeitsmäßigen und finanziellen Aufwand mit sich bringt, so wie ihn unsere Organisation noch nie für die Kontaktarbeit leistete, aber auch die zahlreichsten und spannendsten Diskussionen seit unserer Gründung erlaubte“ (Bericht über die Kontakte).

Dieser Bericht „schenkte den neuen Entwicklungen hinsichtlich unserer Kontakte besondere Aufmerksamkeit, namentlich der Zusammenarbeit mit Anarchisten. Es gelang uns bei gewissen Gelegenheiten, in Kämpfen gemeinsame Sache mit Leuten und Gruppen zu machen, die sich im gleichen Lager wie wir befinden – in demjenigen des Internationalismus.“ (Einführung des Berichts am Kongress) Diese Zusammenarbeit mit Leuten und Gruppen, die sich auf den Anarchismus berufen, stieß in der Organisation zahlreiche und fruchtbare Diskussionen an, die es uns erlaubten, die verschiedenen Facetten dieser Strömung besser kennen zu lernen und insbesondere die ganze Vielfältigkeit, die es in diesem Milieu gibt, besser zu verstehen (von simplen Linken, die bereit sind, alle möglichen bürgerlichen Bewegungen und Ideologien wie den Nationalismus zu unterstützen, bis hin zu eindeutig proletarischen Leuten mit einem standfesten Internationalismus).

„Eine andere Veränderung ist unsere Zusammenarbeit in Paris mit Leuten, die sich zum Trotzkismus bekennen (…) Grundsätzlich waren diese Leute (während den Mobilisierungen gegen die Rentenreform) sehr aktiv in der Hinsicht, dass die Arbeiterklasse ihren Kampf außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens in die eigenen Hände nehmen soll, und sie haben auch die Diskussionen in der Arbeiterklasse gefördert, so wie es die IKS tut. Aus diesen Gründen haben wir uns ihren Anstrengungen angeschlossen. Dass sich ihre Haltung auf Konfrontationskurs mit der klassischen Praxis des Trotzkismus befindet, ist umso besser.“ (mündliche Einführung zum Bericht)   

Der Kongress konnte auch eine positive Bilanz unserer Aktivitäten gegenüber Leuten ziehen, die revolutionäre Positionen verteidigen oder sich ihnen annähern. Dies ist eine sehr wichtige Arbeit gegenüber der Arbeiterklasse, da sie zur Bildung der zukünftigen revolutionären Partei beiträgt, welche für eine proletarische Revolution unabdingbar ist[5]. 

Organisationsfragen

Jede Diskussion über die Tätigkeit einer revolutionären Organisation muss sich auch der Bilanz ihrer Funktionsweise widmen. Gerade hier stellte der Kongress auf der Grundlage der verschiedenen Berichte große Schwächen in unserer Organisation fest. Wir haben bereits in unserer Presse und auch auf öffentlichen Veranstaltungen organisatorische Schwierigkeiten thematisiert, mit denen die IKS in ihrer Vergangenheit konfrontiert war. Dies nicht aus Exhibitionismus, sondern weil es einer traditionellen Vorgehensweise innerhalb der Arbeiterbewegung entspricht. Der Kongress diskutierte lange über diese Schwierigkeiten, im Besonderen über den Zustand des oft angeschlagenen Organisationsgewebes und die Schwierigkeit, wirklich kollektiv zu arbeiten, ein Problem, von dem einige Sektionen betroffen sind. Die IKS hat aber keine Krise wie 1981, 1993 und 2001. 1981 hatten wir erlebt, wie ein beträchtlicher Teil der Organisation die politischen und organisatorischen Prinzipien, auf deren Grundlage wir uns zusammengeschlossen hatten, in Frage stellte, was zu gravierenden Spannungen und zum Verlust der Hälfte unserer Sektion in Großbritannien führte. 1993 und 2001 war die IKS mit dem Problem des Clangeistes konfrontiert, der zu einem Loyalitätsverlust gegenüber der Organisation und zu erneuten Austritten führte (1995 vor allem von Mitgliedern der Sektion in Paris und 2001 von solchen des Zentralorgans)[6]. Einer der Gründe der letzten zwei Krisen ist für die IKS das Gewicht der Konsequenzen aus dem Zusammenbruch des so genannten „sozialistischen“ Blocks, denn dieses Ereignis hat zu einem enormen Rückfluss im Bewusstsein der Arbeiterklasse geführt. Dazu kommt noch ein verstärkter sozialer Zerfall, der in der maroden kapitalistischen Gesellschaft um sich greift. Die heutigen Probleme haben teilweise dieselben Gründe, doch es ist kein Verlust der Überzeugung und der Loyalität zur Organisation sichtbar.        

Alle Genossinnen und Genossen der Sektionen in denen sich diese Schwierigkeiten zeigen, sind voll überzeugt von der Richtigkeit des Kampfes, den die IKS führt, sind absolut loyal und beweisen ihren selbstlosen Einsatz. Auch wenn die IKS mit der schwierigsten Periode seit dem Ende der Konterrevolution, das durch den Ausbruch der Bewegung im Mai 1968 markiert wurde, konfrontiert war, eine Periode gekennzeichnet von einem generellen Rückfluss des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft vom Beginn der 1990er Jahre an, so blieben die Mitglieder der IKS „standfest auf ihrem Posten“. Oft kennen sich diese Genossen und Genossinnen seit mehr als dreißig Jahren und arbeiten so lange politisch zusammen. Häufig gibt es aus diesem Grund zwischen ihnen freundschaftliche und von Vertrauen geprägte Beziehungen. Aber kleine Fehler, kleine Schwächen, Verschiedenheiten im Charakter, die jeder und jede bei den anderen akzeptieren muss, führen manchmal zu Spannungen oder zur wachsenden Schwierigkeit, nach Jahrzehnten überhaupt noch zusammen arbeiten zu können, gerade in kleinen Sektionen, die insbesondere wegen des allgemeinen Zurückweichens der Arbeiterklasse in den 1990er Jahren keine „Blutauffrischung“ mit neuen Mitgliedern erfahren haben. Heute beginnt diese „Blutauffrischung“ einige IKS–Sektionen wieder zu beleben, aber es ist klar, dass die neuen Mitglieder sich nur dann gut in die Organisation werden integrieren können, wenn sich das Organisationsgewebe als Ganzes verbessert. Der Kongress diskutierte offen über diese Schwierigkeiten, was einige der eingeladenen Gruppen dazu verleitete, auch über ihre Organisationsschwierigkeiten zu berichten. Natürlich fand der Kongress keine „Zauberlösung“ für diese Probleme, die auch schon an früheren Kongressen festgestellt worden waren. Die Aktivitätenresolution, welche die Organisation angenommen hat, erinnert deshalb an die auch schon früher vertretene Herangehensweise und ruft alle Genossinnen und Genossen und Sektionen dazu auf, sie systematisch in die Tat umzusetzen:

„Seit 2001 hat die IKS eine sehr anspruchsvolle theoretische Arbeit zur Vertiefung der Frage, was die Militanz in einer kommunistischen Organisation (und auch der Parteigeist) ist, aufgenommen. Wir mussten eine kreative Anstrengung leisten, um auf möglichst hohem Niveau folgende Aspekte zu verstehen:

–  die Ursprünge der proletarischen Solidarität und des Vertrauens,

–  die moralische und ethische Dimension des Marxismus,

–  die Demokratie und der Demokratismus und ihre Feindschaft gegenüber dem kommunistischen Engagement,

–  die Psychologie und Anthropologie und ihr Verhältnis zum Ziel des Kommunismus,

–  die Zentralisierung und die kollektive Arbeit,

–  die proletarische Debattenkultur,

–  der Marxismus und die Wissenschaften.

Kurzum, die IKS hat sich dafür eingesetzt, ein besseres Verständnis über die menschliche Dimension des kommunistischen Ziels und der kommunistischen Organisation zu erarbeiten. Dies um die Tragweite der Vision über ein kommunistisches Engagement neu zu entdecken, welche im Verlauf der Konterrevolution fast gänzlich verlorengegangen war, und auch um sie gegen die Angriffe von Zirkeln und Clans zu schützen, welche sich in einer Atmosphäre der Ignoranz und Leugnung gegenüber Fragen der Organisation und des Engagements entwickelt hatten“ (Punkt 10).

„Die Verwirklichung einheitlicher Prinzipien für die Organisation – die kollektive Arbeit – erfordern die Entfaltung aller menschlichen Qualitäten in Verbindung mit einer theoretischen Anstrengung zur Erfassung des kommunistischen Engagements als etwas Positives, so wie es im Punkt 10 formuliert ist. Dies erfordert, dass sich der gegenseitige Respekt, die Solidarität, die Reflexe der Zusammenarbeit, ein herzlicher Geist des Verständnisses und der Sympathie für die Anderen, soziale Beziehungen und die Großzügigkeit entwickeln müssen“ (Punkt 15).

Die Diskussion über „Marxismus und Wissenschaft“

Eines der Anliegen in den Diskussionen und in der vom Kongress angenommenen Aktivitätenresolution drehte sich um die Notwendigkeit, auch die theoretischen Aspekte der vor uns stehenden Fragen zu vertiefen. Aus diesem Grund widmete dieser Kongress – wie auch schon die früheren – einen Punkt der Tagesordnung einer theoretischen Frage: „Marxismus und Wissenschaft“, welche wir, wie die Mehrheit der anderen theoretischen Fragen, innerhalb der Organisation vorgängig diskutiert hatten, und zu der wir auch Texte veröffentlichten. Wir gehen hier nicht ausführlich auf dieses Thema ein, dem schon im Vorfeld des Kongresses zahlreiche Diskussionen in den Sektionen vorangegangen waren. Aber es gilt trotzdem darauf hinzuweisen, dass die Delegationen ob dieser Diskussion sehr zufrieden waren, was insbesondere auch den Beiträgen eines Wissenschafters, Chris Knights[7], zu verdanken war, den wir eingeladen hatten, an einem Teil des Kongresses teilzunehmen. Es war nicht das erste Mal, dass die IKS einen Wissenschafter zu ihrem Kongress einlud. Vor zwei Jahren war Jean–Louis Dessalles gekommen, um uns seine Überlegungen zur Entwicklung der Sprache darzulegen, was zu sehr interessanten und spannenden Diskussionen geführt hatte[8]. Wir möchten uns herzlich dafür bedanken, dass Chris die Einladung angenommen hat, und die Qualität seiner Interventionen wie auch deren Lebendigkeit und Verständlichkeit für wissenschaftliche Laien, die wir zum größten Teil sind, begrüßen. Chris Knight hat sich dreimal zu Wort gemeldet[9]. Er hat in der allgemeinen Debatte das Wort ergriffen und alle Anwesenden waren nicht nur von der Qualität seiner Argumente beeindruckt, sondern auch von seinem Verhalten, strikte die Redezeit und den Rahmen der Debatte zu respektieren (etwas, das den Mitgliedern der IKS oftmals schwer fällt). Danach präsentierte er in sehr bildlicher Art und Weise eine Zusammenfassung seine Theorie über die Ursprünge der Zivilisation und der menschlichen Sprache und erläuterte die ersten „Revolutionen“, welche die Menschheit kannte, in denen die Frau eine führende Rolle spielte (eine Idee, die er von Engels aufnimmt), Umwälzungen, auf die mehrere andere folgten und die der Menschheit jedes Mal einen Fortschritt erlaubten. Er sieht die kommunistische Revolution als Kulminationspunkt dieser Serie von Revolutionen und geht davon aus, dass die Menschheit die Fähigkeit besitzt, dorthin zu gelangen.

Die dritte Intervention von Chris Knight war ein sehr herzlicher Dank an unseren Kongress.

Nach dem Kongress haben alle Delegationen die Diskussion über „Marxismus und Wissenschaft“ und die Beteiligung von Chris Knight daran als einen der interessantesten und anregendsten Momente des Kongresses hervorgehoben – als etwas, das das Interesse der Gesamtheit der Sektionen für solche theoretischen Fragen stärkt.

Bevor wir zur Schlussfolgerung in diesem Artikel kommen, müssen wir noch erwähnen, dass die Teilnehmer an diesem IKS–Kongress, der fast exakt 140 Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune abgehalten wurde, den Kämpfern dieser ersten revolutionären Anstrengung des Proletariates gedachten.[10]         

Wir ziehen keine triumphalistische Bilanz über den 19. Kongress des IKS, vor allem weil er die Organisationsschwierigkeiten abstecken musste, mit denen wir kämpfen. Schwierigkeiten, die wir überwinden müssen, wenn die Organisation weiterhin an den Rendezvous teilnehmen will, zu denen die Geschichte die revolutionären Organisationen einlädt. Vor uns steht deshalb ein langer und schwieriger Kampf. Doch soll uns diese Perspektive nicht entmutigen. Denn schließlich ist der Kampf der ganzen Arbeiterklasse auch lang und schwierig, voller Hinterhalte und Niederlagen. Diese Perspektive soll die Organisationsmitglieder vielmehr in ihrem Willen bestärken, diesen Kampf zu führen. Ein grundlegender Wesenszug eines/r jeden kommunistischen Militanten ist es, ein/e Kämpfer/in zu sein.

IKS 31.07.2011


[1]  OPOP war schon auf dem letzten Kongress der IKS anwesend. Siehe zu dieser Gruppe mehr in den Artikeln über den 17. und 18. Kongress in Internationale Revue Nr. 40 und 44.

[2] Siehe dazu: Internationale Revue Nr. 42,43,44, 45,46

[3] „Wie 1968 geht heute die Zunahme der Arbeiterkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher. Dabei stellt das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, lediglich die Spitze des Eisbergs dar.“ (Internationale Revue Nr. 40)   

[4] Siehe dazu unseren Artikel: “5ª Conferencia Panamericana de la Corriente Comunista Internacional – Un paso importante hacia la unidad de la clase obrera”. https://es.internationalism.org/RM120 [1]–panamericana.

[5] Der Kongress hat eine Kritik aufgenommen und diskutiert, welche im Bericht über die Kontakte an einer Formulierung in der Resolution über die internationale Situation vom 16. Kongress geübt wurde: „Die IKS bildet bereits das Skelett der zukünftigen Partei“. Die Kritik lautet: „Es ist nicht möglich, schon heute zu formulieren, welchen organisatorischen Anteil die IKS an der künftigen Partei haben wird, denn dies hängt vom allgemeinen Zustand und der Entwicklung des neuen Milieus und auch unserer Organisation ab“. Das heißt, die IKS hat die Verantwortung, das Erbe der Kommunistischen Linken lebendig zu halten und zu bereichern, damit die jetzigen und kommenden Generationen von Revolutionären und auch die künftige Partei davon profitieren können. Mit anderen Worten: Sie hat die Aufgabe, eine Brücke zwischen den Revolutionären von 1917–23 und der zukünftigen revolutionären Welle zu bilden.  

[6] Die Leute, welche ihre Loyalität gegenüber der Organisation aufgaben, verfielen oft einer Dynamik, welche wir als „parasitär“ bezeichnen: Unter dem Anschein, die „wirklichen“ Positionen der Organisation zu verteidigen, unternahmen sie alles Mögliche, um die Organisation zu verunglimpfen und zu diskreditieren. Wir haben zu dieser Frage einen Texte verfasst („Aufbau der revolutionären Organisation: Thesen über den Parasitismus“, in Internationale Revue Nr. 22). Es soll hier erwähnt werden, dass einige Genossen der IKS, die keineswegs solche Verhaltensweisen bestreiten und im besten Willen, die Organisation zu verteidigen, diese Analyse über den Parasitismus nicht teilen. Diese Meinungsverschiedenheiten kamen auch auf dem Kongress zur Sprache.        

[7]  Chris Knight ist ein britischer Akademiker, der bis 2009 am London East College Anthropologie unterrichtete. Er ist insbesondere Autor des Buches Blood Relations, Menstruation and the Origins of Culture, worüber wir Beiträge auf unserer englischsprachigen Webseite veröffentlichten (https://en.internationalism.org/2008/10/Chris–Knight [2]) und das sich treu auf die Evolutionstheorie von Darwin und auch auf die Arbeiten von Marx und vor allem Engels abstützt (namentlich auf Der Ursprung der Familie, des Eigentums und des Staats). Er bezeichnet sich als „100%igen“ Marxisten und Anthropologen. Er ist überdies Mitglied der Radical Anthropology Group und anderer Zusammenschlüsse, welche meist durch Straßentheater die kapitalistischen Institutionen denunzieren und lächerlich machen. Er wurde von der Universität entlassen, weil er eine Veranstaltung organisierte, die mit den Protesten gegen den G20–Gipfel im März 2009 in London in Zusammenhang stand. Chris Knight wurde des „Aufrufs zum Mord“ angeklagt, weil er eine Puppe, die einen Banker darstellte, aufgehängt hatte, die mit der Aufschrift „Eat the bankers!“ versehen war. Wir sind nicht mit allen Positionen und Aktionsformen von Chris Knight einverstanden. Doch aufgrund der Diskussionen, die wir mit ihm seit einiger Zeit führen, sind wir von seiner Aufrichtigkeit, seiner Treue zur Emanzipation der Arbeiterklasse und seiner Haltung, dass die Wissenschaften und eine Kenntnis darüber ein Instrument zur Emanzipation sind, überzeugt. In diesem Rahmen wollen wir Chris Knight unsere volle Solidarität gegenüber den repressiven Maßnahmen (Entlassung und Gefängnis), unter denen er zu leiden hat, ausdrücken.     

[8] Siehe den Artikel über den 18. Kongress der IKS in Internationale Revue Nr. 44 

[9] Wir haben auf unserer Website Auszüge aus den Redebeiträgen von Chris Knight publiziert. 

[10] Die angenommene Erklärung ist auf der Website in französischer Sprache zu finden.

Dekadenz des Kapitalismus (VII): Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion

  • 2022 reads
Wie wir im letzten Artikel dieser Serie sahen, war das zentrale Ziel der revisionistischen Attacken gegen den revolutionären Kern des Marxismus dessen Theorie des unvermeidlichen Niedergangs des Kapitalismus, der aus den unlösbaren Widersprüchen in seinen Produktionsverhältnissen herrührt. Eduard Bernsteins Revisionismus, den Rosa Luxemburg so scharfsinnig in Sozialreform oder Revolution widerlegte, gründete sich größtenteils auf eine Reihe empirischer Beobachtungen aus der beispiellosen Expansions– und Wohlstandsperiode, die die mächtigsten kapitalistischen Nationen in den letzten Jahrzehnten des    19. Jahrhunderts erlebt hatten. Der Anspruch, die Kritik an die „katastrophistische“ Sichtweise von Marx auf eine gründlich theoretische Untersuchung der ökonomischen Theorien von Marx zu gründen, war nur gering. Bernsteins Argumente ähnelten in vielerlei Hinsicht jenen Argumenten, die von etlichen bürgerlichen Experten in der wirtschaftlichen Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg und selbst im prekären „Wachstum“ in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts bevorzugt wurden: Der Kapitalismus liefert die Güter, ergo wird er immer in der Lage sein, Güter zu liefern.

Andere Ökonomen jedoch, die nicht völlig losgelöst von der Arbeiterbewegung waren, versuchten ihre reformistischen Strategien auf eine „marxistische“ Vorgehensweise zu gründen. Ein solcher Fall war der Russe Tugan–Baranowski, der 1901 ein Buch mit dem Titel Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England veröffentlichte. Der Arbeit von Struve und Bulgakow ein paar Jahre zuvor folgend, war Tugan–Baranowskis Studie Teil der „legalen marxistischen“ Antwort auf die russischen Volkstümler, die zu argumentieren versuchten, dass der Kapitalismus bei seiner Etablierung in Russland mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert werde; eine dieser Schwierigkeiten sei das Problem, ausreichende Märkte für seine Produkte zu finden. Wie Bulgakow versuchte Tugan, Marx‘ Schemata der erweiterten Reproduktion in Band 2 vom Kapital als Beweis dafür ins Feld zu führen, dass es kein grundsätzliches Problem bei der Realisierung von Mehrwert im kapitalistischen System gebe, dass es für ihn möglich sei, auf harmonische Weise wie in einem „geschlossenen System“ unendlich zu akkumulieren. Wie Rosa Luxemburg zusammenfasste:

„Die ‚legalen‘ russischen Marxisten haben über ihre Widersacher, die ‚Volkstümler‘, zweifellos gesiegt, sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei – Struve, Bulgakow, Tugan–Baranowski – haben im Eifer des Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer des Kapitalismus theoretisch nachgewiesen haben.“ [1]

Tugans These wurde umgehend von jenen beantwortet, die noch der marxistischen Krisentheorie anhingen, insbesondere vom Sprecher der „marxistischen Orthodoxie“, Karl Kautsky, der insbesondere darauf bestand, dass der Kapitalismus, da weder die Kapitalisten noch die ArbeiterInnen die Gesamtheit des vom System produzierten Mehrwerts konsumieren können, konstant dazu getrieben werde, neue Märkte außerhalb seiner selbst zu erobern:

„Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichtums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit wachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im neunzehnten Jahrhundert der Fall war, enthält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung des Marktes binnen kurzem überholte. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen Erweiterung des Marktes folgte, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr notwendiges Ende.

Dies ist in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den ‚orthodoxen‘ Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie.“ [2]

Mehr oder weniger gleichzeitig schaltete sich ein Mitglied des linken Flügels der amerikanischen Sozialistischen Partei, Louis Boudin, mit einer ähnlichen, wenn auch etwas ausgereifteren Analyse in The Theoretical System of Karl Marx in die Debatte ein. [3]

Während Kautsky, wie Luxemburg in Die Akkumulation des Kapitals – Antikritik (1915) hervorhob, das Problem der Krise mit dem Begriff der „Unterkonsumtion“ in Verbindung brachte  und in den etwas ungenauen Rahmen der relativen Geschwindigkeit von Akkumulation und Expansion des Marktes stellte[4], lokalisierte sie Boudin exakter im einmaligen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise und in den Widersprüchen, die zum Phänomen der Überproduktion führten:

„Unter den alten Sklaven– und Feudalsystemen gab es nie ein solches Problem wie die Überproduktion, und zwar weil bei der Produktion für den heimischen Verbrauch die einzige Frage, die sich stellte, folgende war: Wie viele der produzierten Produkte sollen dem Sklaven bzw. dem Leibeigenen gegeben werden, und wieviel soll zum Sklavenhalter bzw. Feudalherrn übergehen? Wenn jedoch die entsprechenden Anteile der beiden Klassen danach ermittelt werden, fährt jeder fort, seinen Anteil zu konsumieren, ohne irgendwelche Probleme dabei zu erzeugen. Mit anderen Worten, die Frage war stets, wie die Produkte verteilt werden sollen, und es stellte sich aus dem Grund nie die Frage der Überproduktion, weil das Produkt nicht auf dem Markt verkauft werden sollte, sondern von den Personen verbraucht wurde, die unmittelbar in seine Produktion mit einbezogen waren, sei es als Sklave oder als Herr (…) Nicht so jedoch mit unserer modernen kapitalistischen Industrie. Es trifft zu, dass alle Produkte mit Ausnahme jener Portion, die zum Arbeitenden geht, wie einst an den Sklavenhalter nun an den Kapitalisten gehen. Das jedoch regelt die Angelegenheit keineswegs; der Grund hierfür ist, dass der Kapitalist nicht für sich selbst, sondern für den Markt produziert. Er hat kein Interesse an den Dingen, die der Arbeitende produziert, sondern will sie verkaufen; sie haben absolut keinen Wert für ihn, es sei denn, er ist in der Lage, sie zu verkaufen. Verkäufliche Güter in den Händen des Kapitalisten sind sein Vermögen, sein Kapital, doch wenn diese Güter unverkäuflich sind, sind sie wertlos, und sein ganzes Vermögen, das in seinen Lagerhäusern enthalten ist,  schmilzt in dem Augenblick dahin, wenn die Güter aufhören, marktfähig zu sein.

Wer kauft dann die Güter von unserem Kapitalisten, der neue Maschinen für ihre Herstellung eingesetzt und somit ihren Ausstoß weitgehend noch vergrößert hat? Natürlich gibt es andere Kapitalisten, die diese Dinge möglicherweise haben wollen, doch wenn die Produktion der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit berücksichtigt wird, was macht dann die kapitalistische Klasse mit dem gestiegenen Ausstoß, der nicht vom Arbeitenden aufgenommen werden kann? Die Kapitalisten selbst können ihn nicht nutzen, weder dadurch, dass jeder seine eigene Manufaktur hält, noch dadurch, dass sie sich ihn gegenseitig abkaufen. Und aus einem ganz einfachen Grund kann die kapitalistische Klasse nicht alle Mehrprodukte nutzen, die die Arbeitenden produzieren und die sie als ihre Profite aus der Produktion an sich reißen. Dies wird bereits durch die eigentliche Prämisse der kapitalistischen Produktion im Großmaßstab und der Akkumulation des Kapitals ausgeschlossen. Kapitalistische Produktion im Großmaßstab setzt die Existenz großer Beträge kristallisierter Arbeit in Form großer Eisenbahnen, von Dampfschiffen, Fabriken, Maschinen und anderer solcher angefertigter Produkte voraus, die nicht von den Kapitalisten konsumiert worden waren und die an sie als ihr Anteil oder Profit aus der Produktion früherer Jahre gefallen sind. Wie bereits festgestellt wurde, bestehen all die großen Vermögen unserer modernen kapitalistischen Könige, Prinzen, Barone und anderer Würdenträger der Industrie, mit oder ohne Titel, aus Werkzeugen und Maschinen in der einen oder anderen Form, das heißt, in einer nicht konsumierbaren Form. Es ist der Anteil der kapitalistischen Profite, den die Kapitalisten ‚angespart‘ und daher nicht konsumiert haben. Wenn die Kapitalisten all ihre Profite konsumieren würden, gäbe es keine Kapitalisten im modernen Sinn des Wortes, gäbe es keine Akkumulation des Kapitals. Damit das Kapital akkumulieren kann, darf der Kapitalist unter keinen Umständen seinen gesamten Profit konsumieren. Der Kapitalist, der dies tut, hört auf, ein Kapitalist zu sein und unterliegt in der Konkurrenz mit den anderen Kapitalisten. Mit anderen Worten, der moderne Kapitalismus setzt ein sparsames Verhalten der Kapitalisten voraus, das heißt, dass ein Teil der Profite des einzelnen Kapitalisten nicht konsumiert werden darf, sondern angespart werden muss, um das bereits existierende Kapital zu vergrößern (…) Er kann daher nicht seinen gesamten Anteil an den gefertigten Produkten konsumieren. Es liegt daher auf der Hand, dass weder der Arbeitende noch der Kapitalist die Gesamtheit des angewachsenen Fertigungsproduktes konsumieren kann. Doch wer dann kann es aufkaufen?“ [5]

Boudin unternimmt dann – in einer Passage, die Luxemburg ausführlich in einer Fußnote zu Die Akkumulation des Kapitals zitiert und die sie als eine „glänzende Kritik“ des Buches von Tugan–Baranowski darstellt [6] – den Versuch, darauf zu antworten, wie der Kapitalismus mit diesem Problem fertig wird:

„Das in den kapitalistischen Ländern produzierte Mehrprodukt hat – mit einigen später zu erwähnenden Ausnahmen – nicht darum die Räder der Produktion in ihrem Lauf gehemmt, weil die Produktion geschickter in die verschiedenen Sphären verteilt worden ist oder weil aus der Produktion von Baumwollwaren eine Produktion von Maschinen geworden ist, sondern deshalb, weil auf Grund der Tatsache, daß sich einige Länder früher kapitalistisch umentwickelt haben als andere und daß es auch jetzt noch einige kapitalistisch unentwickelt gebliebene gibt, die kapitalistischen Länder wirklich eine außerhalb liegende Welt haben, in welche sie die von ihnen nicht selbst zu verbrauchenden Produkte hineinwerfen konnten, gleichviel, ob diese Produkte nun in Baumwoll– oder in Eisenwaren bestanden. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Wandlung von den Baumwoll– zu den Eisenwaren als führendem Produkt der hauptsächlichen kapitalistischen Länder etwa bedeutungslos wäre. Im Gegenteil, sie ist von der größten Wichtigkeit. Aber ihre Bedeutung ist eine ganz andere, als Tugan–Baranowski ihr beilegt. Solange die kapitalistischen Länder Waren zur Konsumtion ausführten, solange war noch Hoffnung für den Kaptalismus in jenen Ländern. Da war noch nicht die Rede davon, wie groß die Aufnahmefähigkeit der nichtkapitalistischen Außenwelt für die kapitalistisch produzierten Waren wäre und wie lange sie noch dauern würde. Das Anwachsen der Maschinenfabrikation im Export der kapitaistischen Hauptländer auf Kosten der Konsumtionsgüter zeigt, daß Gebiete, welche früher abseits vom Kapitalismus standen und deshalb als Abladestelle für sein Mehrprodukt dienten, nunmehr in das Getriebe des Kapitalismus hineingezogen worden sind, zeigt, daß, da ihr eigener Kapitalismus sich entwickelt, sie ihre eigenen Konsumtionsgüter selbst produzieren. Jetzt, wo sie erst im Anfangsstadium ihrer kapitalistischen Entwicklung sind, brauchen sie noch die kapitalistisch produzierten Maschinen. Aber bald genug werden sie sie nicht mehr brauchen. Sie werden ihre eigenen Eisenwaren produzieren, genauso wie sie jetzt ihre eigenen Baumwoll– und andere Konsumtionswaren erzeugen. Dann werden sie nicht nur aufhören, eine Abnahmestelle für das Mehrprodukt der eigentlichen kapitalistischen Länder zu sein, vielmehr werden sie selbst ein Mehrprodukt erzeugen, das sie nur schwer werden unterbringen können.“[7]

Boudin geht anschließend weiter als Kautsky, indem er darauf beharrt, dass die näher rückende Vervollständigung der Eroberung der Erde durch den Kapitalismus auch den „Anfang vom Ende des Kapitalismus“ bedeutet.

Luxemburgs Untersuchung des Akkumulationsproblems

Zur gleichen Zeit, als diese Antworten verfasst wurden, lehrte Luxemburg an der Parteischule in Berlin. Die Skizzierung der historischen Evolution des Kapitalismus als Weltsystem veranlasste sie, sich noch eingehender mit den Schriften von Marx zu befassen, und dies sowohl wegen ihrer Integrität als Lehrerin und als Militante (sie hatte einen Horror davor, alte Wahrheiten einfach nur in neuen Verpackungen zu präsentieren, und betrachtete es als die Aufgabe eines jeden Marxisten, die marxistische Theorie weiterzuentwickeln und zu bereichern) als auch wegen der immer dringenderen Notwendigkeit, die Perspektiven zu erkennen, die dem Weltkapitalismus bevorstehen. Bei ihren neuen Nachforschungen fand sie vieles bei Marx, das ihre Ansicht unterstützte, wonach das Problem der Überproduktion im Verhältnis zum Markt der Schlüssel zum Verständnis des Übergangscharakters der kapitalistischen Produktionsweise war (siehe „Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ in Internationale Revue Nr. 46). Dennoch schien es ihr, dass Marxens Schema der erweiterten Reproduktion in Band 2, mag auch Marx die Absicht gehabt haben, es als ein rein abstraktes, theoretisches Modell zu benutzen, um sich dem Problem anzunähern, beinhalteten, dass der Kapitalismus, den Marx aus argumentativen Gründen auf eine Gesellschaft reduzierte, die allein aus Kapitalisten und Arbeitern zusammengesetzt war, auf eine im Kern harmonische Angelegenheit, auf ein geschlossenes System hinauslaufen könnte, in dem ausreichend vom Mehrwert zur Verfügung gestellt wird, der durch die gegenseitige Interaktion der beiden Hauptabteilungen der Produktion (den Produktionsgüter– und Konsumgütersektor) produziert wird. Ihr schien dies im Widerspruch zu anderen Passagen bei Marx (zum Beispiel in Band 3) zu stehen, die auf die Notwendigkeit einer beständigen Ausweitung des Markts beharrten und die gleichzeitig eine immanente Grenze dieser Ausweitung postulierten. Wenn der Kapitalismus als ein sich selbst regulierendes System operieren könnte, mag es temporäre Ungleichgewichte zwischen den Produktionszweigen geben, aber keine unerbittliche Tendenz, unverdauliche Massen von Waren zu produzieren, also keine unlösbare Überproduktionskrise. Wenn der Kapitalist schlicht danach strebt, für sich selbst zu akkumulieren, und eine ständig wachsende Nachfrage generiert, um den gesamten Mehrwert zu realisieren, wie können dann Marxisten gegen die Revisionisten argumentieren, dass der Kapitalismus tatsächlich dazu verdammt ist, in eine Phase katastrophaler Krisen einzutreten, die die objektiven Fundamente einer sozialistischen Revolution schaffen?

Luxemburgs Antwort war, dass es notwendig sei, von abstrakten Schemata abzurücken und  den Aufstieg des Kapitalismus in seinen historischen Kontext zu setzen. Die gesamte Geschichte der kapitalistischen Akkumulation  könne nur als ein konstanter Prozess der Interaktion mit den nichtkapitalistischen Ökonomien, von denen er umgeben sei, begriffen werden. Die primitivsten Gemeinschaften, die vom Jagen und Sammeln lebten und noch keinen marktfähigen gesellschaftlichen Mehrwert generiert hatten, waren für den Kapitalismus nutzlos und mussten durch eine Politik der direkten Zerstörung und des Genozids (auch die menschlichen Ressourcen in diesen Gemeinschaften waren eher ungeeignet für die Sklavenarbeit) beiseite gefegt werden. Doch die Ökonomien, die einen marktfähigen Mehrwert entwickelt hatten und wo insbesondere die Warenproduktion bereits im Innern entwickelt war (große Zivilisationen wie Indien und China), boten nicht nur Rohstoffe, sondern auch enorme Märkte für die Produktion der kapitalistischen Metropolen, was den Kapitalismus in den zentralen Ländern in die Lage versetzte, das Überangebot an Waren abzusetzen. Dieser Prozess ist bereits eloquent im Kommunistischen Manifest beschrieben worden. Doch gleichzeitig bestand das Manifest darauf, dass, auch wenn die etablierten kapitalistischen Mächte versuchten, die kapitalistische Entwicklung ihrer Kolonien einzuschränken, diese Weltregionen unvermeidlich Teil der bürgerlichen Welt wurden, deren vor–kapitalistischen Ökonomien ruiniert und nach den Erfordernissen der Lohnarbeit umgebaut wurden – womit das Problem der zusätzlichen Nachfrage, die für die Akkumulation erforderlich ist, auf eine andere Ebene verlagert wurde. Umso mehr der Kapitalismus, wie Marx es selbst formuliert hatte, also dazu neigte, zu einem universellen System zu werden, desto mehr war er dazu verdammt, zusammenzubrechen: „Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben.“[8]

Diese Vorgehensweise versetzte Luxemburg in die Lage, das Problem des Imperialismus zu begreifen. Das Kapital hatte erst begonnen, sich in die Frage des Imperialismus und seiner ökonomischen Fundamente zu vertiefen, der zu dem Zeitpunkt, als das Buch geschrieben worden war, noch nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Marxisten gerückt war. Nun waren sie mit dem Imperialismus als eine Antriebskraft nicht nur für die Eroberung der nicht–kapitalistischen Welt, sondern auch bei der Verschärfung interimperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten um die Vorherrschaft über den Weltmarkt konfrontiert. War der Imperialismus eine Option, war er für das Weltkapital von Nutzen, wie viele seiner liberalen und reformistischen Kritiker verfochten, oder war er eine immanente Notwendigkeit der kapitalistischen Akkumulation auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung? Auch hier waren die Implikationen weitreichend, denn wenn der Imperialismus nicht mehr als eine zusätzliche Option für das Kapital war, dann war es plausibel, zugunsten einer mäßigenden und pazifistischen Politik zu argumentieren. Luxemburg jedoch zog die Schlussfolgerung, dass der Imperialismus eine Notwendigkeit für das Kapital war – ein Mittel zur Verlängerung seiner Herrschaft, das ihn gleichermaßen unwiderruflich in den Ruin treibt.

„Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, das um die Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten: gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen des Kapitals auf der Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ende zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Existenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.“

Die entscheidende Schlussfolgerung in Die Akkumulation des Kapitals war daher, dass der Kapitalismus in eine „Periode der Katastrophen“ eintreten werde. Es ist wichtig festzuhalten, dass Luxemburg nicht, wie oftmals fälschlicherweise behauptet wurde, behauptete, dass der Kapitalismus im Begriff sei, in einer Sackgasse zu landen. Sie machte sehr deutlich, dass das nichtkapitalistische Milieu „geographisch… die weitesten Gebiete der Erde“ umfasst und dass die nichtkapitalistischen Ökonomien nicht nur in den Kolonien immer noch existierten, sondern auch in großen Teilen Europas.[9] Sicherlich war der Umfang dieser wirtschaftlichen Zonen in Wertbegriffen verschwindend, verglichen mit der wachsenden  Kapazität des Kapitals, neue Werte zu generieren. Doch die Welt war noch weit entfernt davon, ein System des reinen Kapitalismus zu werden, wie es Marxens Reproduktionsschemata vorsahen:

„Das Marxsche Schema der Akkumulation ist – richtig verstanden – gerade in seiner Unlösbarkeit die exakt gestellte Prognose des ökonomisch unvermeidlichen Untergangs des Kapitalismus im Ergebnis des imperialistischen Expansionsprozesses, dessen spezielle Aufgabe ist, die Marxsche Voraussetzung: die allgemeine  ungeteilte Herrschaft des Kapitals, zu verwirklichen.

Kann dieser Moment je wirklich eintreffen? Allerdings ist das nur eine theoretische Fiktion, gerade weil die Akkumulation des Kapitals nicht bloß ökonomischer, sondern politischer Prozess ist.“[10]

Für Luxemburg war eine Welt aus lauter Kapitalisten und Arbeitern eine theoretische Fiktion, doch je mehr dieser Punkt erreicht wurde, desto schwieriger und desaströser wurde der Akkumulationsprozess, was Katastrophen auslöste, die nicht nur „rein“ ökonomisch waren, sondern auch militärisch und politisch. Der Weltkrieg, der ausbrach, kurz nachdem Die Akkumulation des Kapitals veröffentlicht worden war, war eine überwältigende Bestätigung dieser Prognose. Für Luxemburg gab es keinen rein wirtschaftlichen Kollaps des Kapitalismus und noch weniger eine automatische, garantierte Verbindung zwischen dem kapitalistischen Zusammenbruch und der sozialistischen Revolution. Was sie in ihrem theoretischen Werk ankündigte, war exakt das, was sich in der katastrophalen Geschichte des darauf folgenden Jahrhunderts bestätigen sollte: die wachsende Manifestation des Niedergangs des Kapitalismus als eine Produktionsweise, die die Menschheit vor die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei stellt und insbesondere die Arbeiterklasse dazu aufruft, die Organisation und das Bewusstsein zu entwickeln, die für die Überwindung des Systems und seine Ersetzung durch eine höhere Gesellschaftsordnung nötig sind.

Ein Sturm der Kritik

Luxemburg nahm an, dass ihre Thesen nicht besonders kontrovers sind, eben weil sie sie auf die Schriften von Marx und seiner späteren Nachfolger seiner Methode stützte. Und dennoch wurden sie mit einem Sturm der Kritik begrüßt – nicht nur von den Revisionisten und Reformisten, sondern auch von Revolutionären wie Pannekoek und Lenin, die sich in dieser Debatte auf der Seite nicht nur der legalen Marxisten in Russland, sondern auch der Austro–Marxisten wiederfanden, die Teil des semi–reformistischen Lagers innerhalb der Sozialdemokratie waren.

„Ich habe Rosas neues Buch Die Akkumulation des Kapitals gelesen. Sie ist da in ein erschreckendes Durcheinander geraten. Sie hat Marx entstellt. Ich bin sehr froh darüber, dass Pannekoek und Eckstein und O. Bauer alle übereinstimmend sie verurteilen und gegen sie äußerten, was ich 1899 gegen die Narodnikis sagte.“[11]

Es bestand Einigkeit darin, dass Luxemburg schlicht und einfach Marx falsch gelesen habe und ein Problem erfunden habe, wo keines existiere: Das Schema der erweiterten Reproduktion zeige, dass der Kapitalismus in der Tat ohne immanente Grenzen in einer Welt, die nur aus ArbeiterInnen und Kapitalisten besteht, akkumulieren könne. Die Gleichungen, die Marx am Schluss aufgestellt hatte, müssen also richtig sein. Bauer war ein bisschen nuancierter: Er erkannte an, dass die Akkumulation nur fortgesetzt werden kann, wenn sie von einer wachsenden effektiven Nachfrage gespeist wird, doch wartete er mit einer simplen Antwort auf: Die Bevölkerung wachse, und daher gibt es mehr ArbeiterInnen, eine Lösung, die das Problem auf den Nullpunkt zurücksetzt, da diese neuen ArbeiterInnen immer noch nur das variable Kapital konsumieren können, das ihnen von den Kapitalisten transferiert wird. Die entscheidende Ansicht – nahezu von allen damaligen Kritikern an Luxemburg vertreten – war, dass die Reproduktionsschemata in der Tat zeigten, dass es kein unlösbares Realisierungsproblem für den Kapitalismus gibt.

Luxemburg war sich sehr wohl bewusst, dass die Argumente, die von Kautsky (oder Boudin, obgleich er eine weitaus weniger bekannte Gestalt in der Bewegung war) zur Verteidigung derselben Thesen vorgestellt wurden, nicht eine solche Empörung ausgelöst hatten:

„Soweit steht fest: Kautsky widerlegte 1902 bei Tugan–Baranowski genau dieselben Behauptungen, die jetzt von den ‚Sachverständigen‘ meiner Akkumulationserklärung entgegengehalten werden, und die ‚Sachverständigen‘ der marxistischen Orthodoxie bekämpfen bei mir als horrende Abirrung vom wahren Glauben genau dieselbe, nur exakt durchgeführte und auf das Problem der Akkumulation angewandte Auffassung, die Kautsky vor nun 14 Jahren dem Revisionisten Tugan–Baranowski als die ‚allgemein angenommene‘ Krisentheorie der orthodoxen Marxisten entgegenhielt.“ [12]

Warum diese Aufregung? Sie ist leicht zu verstehen, sofern sie von den Reformisten und Revisionisten kam, weil sie vor allem darum besorgt waren, jegliche Möglichkeit eines Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems zu verneinen. Die Aufregung unter den Revolutionären ist schwerer zu begreifen. Wir können natürlich auf die Tatsache hinweisen – und dies ist sehr bedeutsam hinsichtlich der hysterischen Antwort –, dass Kautsky nicht danach strebte, sein Argument in Beziehung zum Reproduktionsschema zu setzen[13] und somit nicht als „Kritiker“ gegen Marx in Erscheinung trat. Möglicherweise liegt dieser konservative Geist vielen Kritikern Luxemburgs zugrunde: eine Sichtweise, wonach das Kapital eine Art Bibel ist, die alle Antworten für unser Verständnis des Aufstiegs und Falls der kapitalistischen Produktionsweise hat – in der Tat ein geschlossenes System! Im Gegensatz dazu argumentierte Luxemburg entschieden dafür, dass Marxisten das Kapital als das anerkennen, was es war – das Werk eines Genies, aber immer noch ein unvollendetes Werk, besonders in seinem zweiten und dritten Band; und ein Werk, das keinesfalls alle folgenden Entwicklungen in der Evolution des kapitalistischen Systems umfassen konnte.

Jedoch gab es unter all den empörten Antworten zumindest eine sehr klare Verteidigung der Theorie Luxemburgs in jener Zeit des Krieges und Umbruchs: „Rosa Luxemburg als Marxist“ vom Ungarn Georg Lukács, der damals Repräsentant des linken Flügels der kommunistischen Bewegung war.

Lukács‘ Essay, das in der Sammlung Geschichte und Klassenbewusstsein (1922) veröffentlicht wurde, beginnt mit der Skizzierung der grundsätzlichen methodischen Überlegung in der Debatte über Luxemburgs Theorie. Er argumentiert, dass der fundamentale Unterschied zwischen dem proletarischen und bürgerlichen Ausblick auf die Welt darin besteht, dass, während die Bourgeoisie durch ihre gesellschaftliche Stellung dazu verdammt ist, die Gesellschaft vom Standpunkt einer atomisierten, konkurrierenden Einheit zu betrachten, das Proletariat allein eine Vision der Realität in ihrer Gesamtheit entwickeln kann:

„Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Kategorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat. Die kapitalistische Trennung des Produzenten vom Gesamtprozess der Produktion, die Zerstückelung des Arbeitsprozesses in Teile, die die menschliche Eigenart des Arbeiters unberücksichtigt lassen, die Atomisierung der Gesellschaft in planlos und zusammenhanglos drauflosproduzierende Individuen usw. musste auch das Denken, die Wissenschaft und Philosophie des Kapitalismus tiefgehend beeinflussen. Und das gründlich Revolutionäre der proletarischen Wissenschaft besteht nicht bloß darin, dass sie der bürgerlichen Gesellschaft revolutionäre Inhalte gegenüberstellt, sondern in allererster Reihe in dem revolutionären Wesen der Methode selbst. Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips der Wissenschaft.“

Er geht dann dazu über, aufzuzeigen, dass ihr Mangel an solch einer proletarischen Methode Luxemburgs Kritiker daran hinderte, das Problem zu begreifen, das sie in Die Akkumulation des Kapitals formuliert hatte:

„Denn die Debatte, von Bauer, Eckstein usw. geführt, drehte sich nicht um die Frage, ob die Lösung des Problems der Akkumulation des Kapitals, die Rosa Luxemburg vorschlug richtig oder falsch war. Man stritt im Gegenteil darum, ob hier überhaupt ein Problem vorlag und bestritt mit der äußersten Heftigkeit das Vorhandensein eines wirklichen Problems. Vom methodischen Standpunkt der Vulgärökonomie ist dies durchaus verständlich, ja notwendig. Denn, wenn die Frage der Akkumulation einerseits als ein Einzelproblem der Nationalökonomie behandelt, andererseits vom Standpunkt des Einzelkapitalisten betrachtet wird, so liegt hier in der Tat überhaupt kein Problem vor.

Diese Ablehnung des ganzen Problems hängt eng damit zusammen, dass die Kritiker Rosa Luxemburgs an dem entscheidenden Abschnitt des Buchs („Die geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation“ achtlos vorbeigegangen sind und die Frage konsequent in der Form gestellt haben: ob die Formeln von Marx, die auf Grundlage der methodologisch isolierenden Annahme einer nur aus Kapitalisten und Proletariern bestehende Gesellschaft beruhen, richtig sind und wie man sie am besten auslegen kann. Dass diese Annahme bei Marx selbst nur eine methodologische war, um das Problem klarer zu fassen, von der aber zur umfassenden Fragestellung, zur Einstellung der Frage in die Totalität der Gesellschaft fortgeschritten werden muss, haben die Kritiker ganz übersehen. Sie haben übersehen, dass Marx in bezug auf die sogenannte ursprüngliche Akkumulation im ersten Band des Kapital gerade in bezug auf diese Frage ein Fragment ist, das gerade dort abbricht, wo dieses Problem aufgerollt werden muss; dass dementsprechend Rosa Luxemburg nichts anderes getan hat, als das Fragment von Marx in seinem Sinne zu Ende zu denken und seinem Geiste gemäß zu ergänzen.

Sie haben dennoch folgerichtig gehandelt. Denn vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten, vom Standpunkt der Vulgärökonomie muss dieses Problem tatsächlich nicht gestellt werden. Vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten erscheint die wirtschaftliche Wirklichkeit als eine von ewigen Naturgesetzen beherrschte Welt, deren Gesetzen er sein Tun und lassen anzupassen hat. Die Realisierung des Mehrwertes, die Akkumulation vollzieht sich für ihn (allerdings selbst hier nur sehr oft, durchaus nicht immer) in der Form eines Tausches mit anderen Einzelkapitalisten. Und das ganze Problem der Akkumulation ist auch nur das einer Form der mannigfachen Wandlungen, die die Formeln G–W–G und W–G–W im Laufe der Produktion, Zirkulation usw. aufnehmen. So wird die Frage der Akkumulation für die Vulgärökonomie eine einzelwissenschaftliche Detailfrage, die mit dem Schicksal des Gesamtkapitalismus so gut wie überhaupt nicht verbunden ist, deren Lösung die Richtigkeit der Marxschen „Formeln“ hinreichend garantiert, die höchstens – wie bei Otto Bauer – „zeitgemäß“ verbessert werden müssen. Dass mit diesen Formeln die ökonomische Wirklichkeit prinzipiell niemals erfasst werden kann, da die Voraussetzung der Formeln eine Abstraktion von dieser Gesamtwirklichkeit ist (Betrachtung der Gesellschaft, als ob sie nur auf Kapitalisten und Proletariern bestünde), dass also die Formeln nur zur Klarlegung des Problems, als Sprungbrett zur Einstellung des richtigen Problems dienen können, haben Bauer und seine Genossen ebenso wenig begriffen, wie seinerzeit die Ricardo–Schüler die marxistischen Fragestellungen.“

Eine Passage in den Grundrissen, zu denen Lukács seinerzeit noch keinen Zugang hatte, bestätigt diese Vorgehensweise: Der Gedanke, dass die Arbeiterklasse ein ausreichender Markt für die Kapitalisten ist, ist eine Illusion, die typisch ist für die limitierte Vorstellungskraft der Bourgeoisie:

„Eigentlich geht uns hier das Verhältnis des einen Kapitalisten zu den Arbeitern des andren Kapitalisten noch gar nichts an. Es zeigt sich nur die Illusion jedes Kapitalisten, ändert aber nichts am Verhältnis von Kapital überhaupt zu Arbeit. Jeder Kapitalist weiß von seinem Arbeiter, dass er ihm gegenüber nicht als Produzent dem Konsumenten [gegenüber] steht und wünscht seinen Konsum, i.e. seine Tauschfähigkeit, sein Salär möglichst zu beschränken. Er wünscht sich natürlich die Arbeiter der andren Kapitalisten als möglichst große Konsumenten seiner Ware. Aber das Verhältnis jedes Kapitalisten zu seinen Arbeitern ist das Verhältnis überhaupt von Kapital und Arbeit, das wesentliche Verhältnis. Die Illusion aber – wahr für den einzelnen Kapitalisten im Unterschied von allen andren –, dass außer seinen Arbeitern die ganze übrige Arbeiterklasse ihm gegenübersteht als Konsument und Austauscher, nicht als Arbeiter – Geldspender, entsteht eben dadurch. Es wird vergessen, dass, wie Mathus sagt, ‚the very existence of a profit upon any commodity pre–supposes a demand exterior to that of the labourer who has produced it’, und daher die demand of the labourer himself can never be an adequate demand. Da eine Produktion die andre in Bewegung setzt und sich daher Konsumenten in den Arbeitern des fremden Kapitals schafft, so erscheint für jedes einzelne Kapital die Nachfrage der Arbeiterklasse die durch die Produktion selbst gesetzt ist, als ‚adequate demand’. Diese durch die Produktion selbst gesetzte Nachfrage treibt sie voran über die Proportion, worin sie in bezug auf die Arbeiter produzieren müsste, einerseits; muss sie darüber hinaustreiben; andrerseits verschwindet oder schrumpft zusammen die Nachfrage exterior to the demand of the labourer himself, so tritt der collapse ein.“ [14]

Indem sie Marx‘ Buchstaben hinterfragte, erwies Luxemburg mehr als jeder andere ihr Vertrauen zu dem Geist seiner Worte; und es gibt noch mehr Worte von Marx, die zitiert werden könnten, um die zentrale Bedeutung des von ihr gestellten Problems zu stützen.

In den nächsten Artikel dieser Serie werden wir schauen, wie die revolutionäre Bewegung versuchte, den Prozess des Niedergangs des Kapitalismus, der sich vor ihren Augen in den turbulenten Jahrzehnten zwischen 1914 und 1945 abspielte, zu verstehen.

Gerrard


[1] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 24

[2] Neue Zeit, 1902, Nr. 5 (31), S. 140.

[3] Zuerst in Buchform veröffentlicht von Charles Kerr (Chicago) 1915, basierte diese Studie auf einer Reihe von Artikeln in der Internationalist Socialist Review zwischen Mai 1905 und Oktober 1906.

[4] „Wir sehen hier davon ab, daß Kautsky dieser Theorie den schiefen und zweideutigen Namen einer Erklärung der Krisen ‚aus Unterkonsumtion‘ anhängt, welche Erklärung Marx gerade im zweiten Bande des ‚Kapitals‘, S. 289, verspottet. Wir sehen ferner davon ab, daß Kautsky in der ganzen Sache nichts als das Krisenproblem erblickt, ohne, wie es scheint, zu bemerken, daß die kapitalistische Akkumulation auch abgesehen von Konjunkturschwankungen ein Problem darstellt.“ (Antikritik, Teil I). Interessant, dass so viele Kritiker Luxemburgs – nicht zuletzt die „marxistischen“ – sie beschuldigen, ein Unterkonsumtionist zu sein, wo sie so doch ausdrücklich diese Idee ablehnt! Es ist natürlich vollkommen richtig, dass Marx bei etlichen Gelegenheiten argumentierte: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen“ (Kapital, Bd. III, Kap. 30, S. 501, MEW), doch Marx war vorsichtig genug, um zu erklären, dass er sich nicht auf die „absolute Konsumtionskraft“ bezieht, sondern auf „die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter.“ (ebenda, Kap. 15, S. 254, MEW). Mit anderen Worten: Krisen sind nicht das Resultat eines Widerstrebens der Gesellschaft, so viel wie physisch möglich zu konsumieren, noch sind sie – mehr der Punkt, angesichts der zahllosen Mystifikationen darüber, jener, die aus dem linken Flügel des Kapitals entstammen – durch „zu niedrige“ Löhne verursacht worden. Wenn dies der Fall wäre, dann könnten Krisen einfach durch die Anhebung der Löhne eliminiert werden, und dies ist genau das, was Marx im Kapital, Band II verspottet. Das Problem liegt vielmehr in der Existenz „antagonistischer Distributionsverhältnisse“, das heißt in den Lohnarbeitsverhältnissen selbst, die immer zu einem Mehr an Wert über das hinaus, was der Kapitalist seinen ArbeiterInnen zahlt, führen müssen.

[5] Boudin, S. 167–169, Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen

[6] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 23, Fußnote. Luxemburgs Hauptkritik an Boudin war seine anscheinend vorausgreifende Idee, dass Rüstungsausgaben eine Form der Verschwendung oder „waghalsige Ausgaben“ sind, was allem Anschein gegen ihre Bemerkung vom „Militarismus als Gebiet der Kapitalakkumulation“ gerichtet ist, die in dem Kapitel mit demselben Titel in Die Akkumulation des Kapitals Erwähnung findet. Doch der Militarismus als ein Gebiet für die Akkumulation konnte nur in einer Epoche stattfinden, in der es eine reale Möglichkeit gab, durch den Krieg – oder: die kolonialen Eroberungen, um genau zu sein – substanzielle neue Märkte für die kapitalistische Expansion zu eröffnen. Mit dem Schrumpfen solcher Ventile konnte der Militarismus in der Tat zu einer reinen Verschwendung für den globalen Kapitalismus werden, auch wenn die Kriegswirtschaft eine „Lösung“ der Überproduktionskrise zu bieten scheint, mit der man die Wirtschaftsmaschinerie wieder in Bewegung setzen kann (am sichtbarsten in Hitlers Deutschland und während des Zweiten Weltkriegs). In der Realität drückt der Militarismus eine immense Zerstörung von Werten aus.

[7] Die Neue Zeit, 25. Jahrgang, 1. Band, Mathematische Formeln gegen Karl Marx, hier zitiert nach Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Fußnote im 23. Kapitel

[8] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 313 f. der Ausgabe im Dietz Verlag

[9] „In Wirklichkeit gibt es in allen kapitalistischen Ländern, auch in denen der höchstentwickelten Großindustrie, neben kapitalistischen Unternehmungen im Gewerbe und in der Landwirtschaft noch zahlreiche handwerksmäßige und bäuerliche Betriebe, die einfache Warenproduktion betreiben. In Wirklichkeit gibt es neben alten kapitalistischen Ländern noch in Europa selbst Länder, in denen bäuerliche und handwerkmäßige Produktion bis jetzt sogar stark überwiegen, wie Rußland, der Balkan, Skandinavien, Spanien. Und endlich gibt es neben dem kapitalistischen Europa und Nordamerika gewaltige Kontinente, auf denen die kapitalistische Produktion erst auf wenigen zerstreuten Punkten Wurzeln geschlagen hat, während im übrigen die Völker jener Kontinente alle möglichen Wirtschaftsformen von der primitiv kommunistischen bis zur feudalen, bäuerlichen und handwerksmäßigen aufweisen.“ (Antikritik, Kap. 1). Siehe den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 46: ‚Chronische Überproduktion: eine unvermeidliche Fessel der kapitalistischen Produktion‘ als einen Beitrag zum Verständnis der Rolle, die von den außerkapitalistischen Märkten in der Periode der kapitalistischen Dekadenz gespielt werden (IKS–online).

[10] Antikritik, Kap. 5.

[11] Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen, von Roman Rosdolskys The Making of  Marx’s Capital (Pluto Press, 1977). Darin unternimmt Roman Rosdolsky eine exzellente Kritik an Lenins Irrtum, der sich auf die Seite der russischen Legalisten und der Austro–Marxisten gegen Luxemburg stellte (s. S. 472f.). Obwohl er auch seine Kritik an Luxemburg hat, erkannte er den wahren Wert ihres Werkes und bestand darauf, dass der Marxismus notwendigerweise eine „Zusammenbruchs“–Theorie ist, und wies insbesondere auf die Tendenz zur Überproduktion, wie sie von Marx identifiziert worden war, als Schlüssel zum Verständnis hin. In der Tat sind einige seiner Kritiken an Luxemburg nur schwer zu entschlüsseln. Er besteht darauf, dass der Hauptirrtum darin lag, nicht zu verstehen, dass das Reproduktionsschema lediglich ein „heuristischer Ratschlag“ sei, wo doch schon Luxemburgs ganzes Argument gegen ihre Kritiker darin bestand, dass das Schema nur als heuristischen Ratschlag verstanden werden kann und nicht als ein wahres Abbild der historischen Evolution des Kapitals, nicht als mathematischen Beweis für die Möglichkeit einer unbegrenzten Akkumulation (siehe S. 490 in Rosdolskys Buch).

[12] Antikritik, Teil I.

[13] In der Tat stellte sich Kautsky später auf die Seite der Austro–Marxisten: „In seinem Hauptwerk kritisiert er heftig Rosa Luxemburgs ‚Hypothese‘, dass der Kapitalismus aus wirtschaftlichen Gründen zusammenbrechen muss; er behauptet, dass Luxemburg in Widerspruch zu Marx stehe, der das Gegenteil im zweiten Band des Kapital bewiesen habe, d.h. in den Schemata der Reproduktion“ (Rosdolsky, ob.zit., mit Zitat von: Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, S. 546–47)

[14] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 322 f. der Ausgabe im Dietz Verlag. Marx erklärt auch an anderer Stelle, dass die Idee, die Kapitalisten könnten selbst den Markt für die erweiterte Reproduktion bilden, auf dem mangelnden Verständnis des Charakters des Kapitalismus beruht: „Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt. Übrigens besteht das Kapital ja aus Waren, und daher schließt die Überproduktion von Kapital die von Waren ein. Daher das sonderbare Phänomen, daß dieselben Ökonomen, die die Überproduktion von Waren leugnen, die von Kapital zugeben. Wird gesagt, daß nicht allgemeine Überproduktion, sondern Disproportion innerhalb der verschiednen Produktionszweige stattfinde, so heißt dies weiter nichts, als daß innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozeß aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt, nichts als von ihrem assoziierten Verstand begriffnes und damit beherrschtes Gesetz den Produktionsprozeß ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat. Es wird weiter damit verlangt, daß Länder, wo die kapitalistische Produktionsweise nicht entwickelt, in einem Grad konsumieren und produzieren sollen, wie er den Ländern der kapitalistischen Produktionsweise paßt. Wird gesagt, saß die Überproduktion nur relativ, so ist dies ganz richtig; aber die ganze kapitalistische Produktionsweise ist eben nur eine relative Produktionsweise, deren Schranken nicht absolut, aber für sie, auf ihrer Basis, absolut sind. Wie könnte es sonst an Nachfragen für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, wo wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr. Kurz, alle die Einwände gegen die handgreiflichen Erscheinungen der Überproduktion (Erscheinungen, die sich nicht um diese Einwände kümmern) laufen darauf hinaus, daß die Schranken der kapitalistischen Produktionsweise keine Schranken der Produktion überhaupt sind, und daher auch keine Schranken dieser spezifischen, der kapitalistischen Produktionsweise. Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht aber gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen, worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann.“  (Das Kapital, Bd. III, Kapitel 15, Teil III, Hervorhebung von uns)

Editorial: Die ökonomische Katastrophe ist unvermeidbar

  • 2390 reads

In den letzten Monaten haben sich in kurzer Reihenfolge einschneidende Ereignisse abgespielt, welche die Dramatik der heutigen ökonomischen Situation bestätigen: die Unfähigkeit Griechenlands, seine Schulden in den Griff zu bekommen; gleichartige Probleme in Spanien und Italien; Zeichen einer extremen Verletzlichkeit Frankreichs im Falle eines Schuldenerlasses für Griechenland oder Italien; Blockierung des amerikanischen Repräsentantenhauses gegenüber einer Schuldenerhöhung des US-Staates; der Verlust der Note „AAA“ durch die USA – einer Bewertung, die bisher maximale Garantie für die Schuldrückzahlung hieß; zunehmende Anzeichen des drohenden Bankrotts von Banken, deren Beschwichtigungen niemanden mehr täuschen können, und der damit verstärkte Abbau von Personal, der schon am Laufen ist; die Bestätigung dieser Anzeichen durch den Zusammenbruch der französisch–belgischen Bank Dexia. Die Herrschenden dieser Welt rennen den Ereignissen nur hinterher, und die Löcher, die sie stopfen, brechen nur einige Wochen oder sogar Tag später wieder auf. Ihre Unfähigkeit, die Eskalation der Krise in den Griff zu bekommen, bestätigt nicht nur ihre Hilflosigkeit und ihr kurzfristiges Denken, sondern darüber hinaus die Tatsache, dass die katastrophale Dynamik des Kapitalismus nicht vermieden werden kann: Zusammenbruch von Finanzinstituten, Bankrott von Staaten, eine tiefe weltweite Rezession.

Die dramatischen Auswirkungen für die Arbeiterklasse

Die harten Sparmaßnahmen seit 2010 stürzen die Arbeiterklasse – und einen Großteil der restlichen Bevölkerung – in die Lage, wo sie der Mittel zur Existenzsicherung verliert. All die Sparmaßnahmen, die in der Euro–Zone verhängt wurden und noch geplant sind, ergäben eine lange Liste. Es ist trotzdem wichtig, einige dieser Maßnahmen zu beschreiben, da sie generell angewandt werden und bezeichnend sind für das Schicksal von Millionen von Ausgebeuteten. In Griechenland sind 2010 die Steuern auf Konsumgüter erhöht, das Pensionsalter auf 67 Jahre angehoben und die Löhne der staatlichen Angestellten brutal reduziert worden. Im September 2011 wurde beschlossen, 30’000Angestellte der öffentlichen Dienste in eine vorübergehende Arbeitslosigkeit zu schicken – mit einer 40%igen Reduktion ihrer Löhne –, den Rentnern mit mehr als 1200 Euro Einkommen monatlich 20% zu streichen und alle Einkommen über 5000 Euro jährlich mit mehr Steuern zu belasten[1]. In fast allen Ländern werden die Steuern angehoben, das Rentenalter erhöht, und bei den staatlichen Ausgaben werden Millionen gekürzt. Ein Resultat daraus ist eine empfindliche Schwächung der öffentlichen Dienste, auch derjenigen, die lebenswichtig sind. In Barcelona werden Operationssäle und Notfalldienste der Spitäler nur noch reduziert aufrecht erhalten, Spitalbetten wurden massenhaft gestrichen[2]; in Madrid haben 5000 nicht diplomierte Lehrer ihre Arbeit verloren[3], was mit einer Anhebung von 2 Arbeitsstunden wöchentlich für die diplomierten Lehrer kompensiert wird.

Die Arbeitslosenzahlen sind immer alarmierender: 7,9% in Großbritannien Ende August, 10% in der gesamten Euro–Zone (20% in Spanien) Ende September[4] und 9.1% in den USA in derselben Periode. Während des Sommers 2011 haben Entlassungen und Stellenabbau zugenommen: 6500 beim Technologiekonzern Cisco, 6000 bei Lockheed Martin, 10’000 bei HSCB, 30’000 bei der Bank of America, um nur einige zu nennen. Die Einkommen der ausgebeuteten Lohnabhängigen sind im Sinkflug: Nach offiziellen Angaben sank in Griechenland das Realeinkommen Anfang 2011 um mehr als 10%, in Spanien um mehr als 4%, und nur um etwas weniger in Portugal und Italien. In den USA überleben 45,7 Millionen Leute – dies sind 12% mehr als vor einem Jahr[5] – nur noch dank Essensmarken von 30 Dollar pro Woche, die vom Staat ausgegeben werden.

Doch das Schlimmste steht noch bevor.

Es stellt sich immer akuter die Frage der Überwindung des kapitalistischen Systems, denn in seinem Niedergang zieht es die Menschheit in den Ruin. Die Protestbewegungen, die als Reaktion auf die Angriffe seit Frühjahr 2011 in verschiedensten Ländern ausgebrochen sind, auch wenn sie Schwächen und Unsicherheiten in sich tragen, sind erste Meilensteine einer proletarischen Reaktion gegenüber der Krise des Kapitalismus (siehe dazu in dieser Internationalen Revue den Artikel „Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel: von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe“)

Seit 2008 kann die herrschende Klasse die Tendenz zur Rezession nicht mehr aufhalten

Anfang 2010 mochte die Illusion aufkommen, dass es den Staaten gelungen sei, den Kapitalismus vor einer andauernden Rezession in Sicherheit zu bringen – einer Rezession, die sich 2008 und zu Beginn des Jahres 2009 in einem schwindelerregenden Absturz der Produktion ausgedrückt hatte. Am Ende hatten weltweit alle großen Banken die massiven Injektionen von Geld in die Wirtschaft weitergeführt. Ben Bernanke, der Direktor der FED (die große Konjunkturpakete lancierte), erhielt deswegen den Übernamen „Hubschrauber–Ben“, weil er in den USA Dollars wie aus einem Hubschrauber über das Land warf. Zwischen 2009 und 2010 ist nach offiziellen Zahlen (die bekanntlich meist überbewertet sind) die Wachstumsrate in den USA von 2,6% auf +2,9% und in der Euro–Zone von -4,1% auf +1,7% gestiegen. In den sog. „Schwellenländern“ schienen die Wachstumsraten, welche gesunken waren, gegen Ende 2010 wieder den Stand vor der Finanzkrise zu erreichen: 10,4% in China und 9% in Indien. Alle Staaten und ihre Medien stimmten dann in den Kanon über den Aufschwung ein, auch wenn das Produktionsniveau aller hochentwickelten Länder in der Realität nie mehr das Niveau von 2007 erreichte. Mit anderen Worten: Anstelle einer Erholung war es nur eine Injektion von Palliativmedikamenten in eine generelle Abwärtsdynamik der Produktion. Und diese wirkte lediglich für ein paar Quartale:

–  In den hochentwickelten Ländern begannen die Wachstumsraten Mitte des Jahres 2010 wieder zurückzugehen. Die prognostizierte Wachstumsrate für die USA betrug 0,8%. Ben Bernanke kündigte an, dass der amerikanische Wiederaufschwung ein „Zeichen der Zeit“ sei. Doch das Wachstum in den großen europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) geht gegen Null. Auch wenn die Regierungen der südeuropäischen Länder (Spanien 0,6% 2011, nach -0,1% im Jahr 2010[6]; Italien 0,7% 2011[7]) immer wieder und mit allen Mitteln beteuern, ihre Länder befänden sich nicht in einer Rezession, so ist in der Realität, angesichts der Sparmaßnahmen, die sie einschlagen und weiter planen, ihre Perspektive nicht weit von derjenigen Griechenlands entfernt, wo die Produktion 2011 um 5% zurückging.

–  Für die „Schwellenländer“ ist die Situation alles andere als brillant. Auch wenn es dort 2010 bedeutende Wachstumsraten gegeben hat, fällt das Jahr 2011 viel schlechter aus. Der IWF prognostizierte ein Wachstum von 8,4% für 2011[8], doch es gibt viele Indizien gerade für einen Rückgang in China[9]. Es wird prognostiziert, dass das Wachstum Brasiliens, das 2010 noch 7,5% betrug, 2011 auf 3,7% fallen wird[10]. Was Russland angeht, ist das Kapital drauf und dran, sich aus diesem Land zurückzuziehen[11]. Kurzum, im Gegensatz zu dem, was die Ökonomen und viele Politiker seit Jahren erzählen, sind die sog. „Schwellenländer“ keinesfalls die Lokomotive eines weltweiten Wiederaufschwungs. Ganz im Gegenteil werden sie besonders stark unter dem Rückgang in den hochentwickelten Ländern leiden und einen Einbruch ihrer Exporte in Kauf nehmen müssen, die Hauptfaktor ihres Wachstums waren.

Der IWF nahm seine Prognosen über ein Wachstum von 4% in den Jahren 2011 und 2012 zurück, um anzudeuten, dass eine Rezession für das Jahr 2012 nicht auszuschließen sei. Dies, nachdem vorher immer wieder von einer „deutlichen Abschwächung“ des Wachstums fabuliert wurde[12]. Mit anderen Worten, die herrschende Klasse wird sich langsam selber bewusst, an welchem Punkt die Wirtschaft angelangt ist. Angesichts dieser Entwicklung muss man sich folgende Frage stellen: Weshalb haben die Zentralbanken nicht wie Ende 2008 und 2009 die Welt weiterhin mit Geld überschwemmt und die Geldmenge erheblich erhöht (in den USA wurde sie verdreifacht und in der Euro–Zone verdoppelt)? Der Grund liegt darin, dass die Ausschüttung von „leichtem Geld“ in die Wirtschaft die Widersprüche des Kapitalismus nicht löst. Was dabei herauskommt, ist weniger eine Produktionssteigerung als eine Inflation, welche in der Euro–Zone bei knapp 3%, in den USA bei etwas mehr als 3%, in Großbritannien bei 4.5%, und in den „aufstrebenden“ Ländern zwischen 6 und 9% liegt.

Die Herausgabe von Papier– oder elektronischem Geld führt zur Ausgabe von neuen Krediten… und zu einer höheren weltweiten Verschuldung. Dieses Szenario ist nicht neu. Genau so haben sich die großen Wirtschaftsmächte verschuldet – bis zur Unfähigkeit, ihre Schulden zurückzuzahlen. Sie sind heute zahlungsunfähig, und davon betroffen sind die europäischen Staaten, die USA und das gesamte Bankensystem.

Das Geschwür der öffentlichen Verschuldung

Die Euro–Zone

Die europäischen Staaten geraten immer mehr in Schwierigkeiten, nur schon die Zinsen für ihre Schulden zu bezahlen.

In der Euro–Zone sind die ersten Zahlungsverzüge gewisser Staaten deshalb aufgetreten, weil diese im Gegensatz zu den USA, Großbritannien und Japan die Währungsausgaben nicht mittels der eigenen Geldpresse steuern und mit „leichtem Geld“ die Laufzeiten ihrer Verbindlichkeiten verlängern können. Die Herausgabe von Euros untersteht der Europäischen Zentralbank EZB, welche in der Hand der großen Staaten Europas ist, vor allem Deutschlands. Und wie jedermann weiß, treibt eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Geldmenge bei gleichzeitiger Stagnation der Produktion nur die Inflation in die Höhe. Um dies zu verhindern, vergab die EZB nur zögerlich finanzielle Mittel an Staaten, die sie benötigten, um nicht selbst in die Situation des Zahlungsverzugs zu geraten.

Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb die Länder der Euro–Zone seit eineinhalb Jahren unter dem Schatten des Schuldnerverzugs Griechenlands stehen. Das Problem, vor dem die Euro–Zone steht, ist unlösbar, denn eine Weigerung, die Schulden Griechenlands zu bezahlen führt zu einer Einstellung der Hilfeleistung an Griechenland und zu dessen Austritt aus der Euro–Zone. Die Gläubiger Griechenlands, unter ihnen die europäischen Staaten und große europäische Banken, geraten damit wiederum in Schwierigkeiten, ihren Verpflichtungen nachzukommen, was ihren drohenden Bankrott beschleunigt. Die Euro–Zone selbst ist damit in Frage gestellt, deren Existenz für die nördlichen Exportstaaten, und speziell Deutschland, unabdingbar ist.    

Es ist vor allem Griechenland, das seit eineinhalb Jahren ins Rampenlicht des Schuldnerverzugs gerückt ist. Doch Staaten wie Spanien und Italien befinden sich in einer vergleichbaren Situation, sie sind nicht mehr in der Lage, die nötigen Steuereinnahmen zu generieren, um wenigstens einen Teil ihrer Schulden zurückzubezahlen[13]. Ein Blick auf den Schuldenberg Italiens, dessen Zahlungsunfähigkeit wohl vor der Türe steht, zeigt, wie die Euro–Zone auch dieses Land nicht dabei unterstützen kann, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Die Anleger glauben immer weniger an Italiens Rückzahlungsfähigkeit und geben daher nur noch Kredite mit sehr hohen Zinsen. Die Lage Spaniens ist vergleichbar mit derjenigen Griechenlands.

Die Stellungnahmen der Regierungen und Behörden in der Euro–Zone, vor allem der Regierung Deutschlands, legt ihre Hilflosigkeit gegenüber dem drohenden Bankrott einiger Staaten offen. Die Mehrheit der herrschenden Klasse in der Euro–Zone ist sich bewusst, das Problem liegt nicht darin zu wissen, ob Griechenland tatsächlich im Zahlungsverzug ist: die Ankündigung einer Beteiligung der Banken von 21% am Rettungspaket für Griechenland ist bereits eine Bestätigung dieser Situation, bestätigt auf dem Treffen von Merkel und Sarkozy vom 9. Oktober, an dem von einem Zahlungsausfall Griechenlands in der Höhe von 60% seiner Schulden die Rede war. Das Problem, vor dem die herrschende Klasse steht, ist Mittel zu finden, damit dieser Zahlungsausfall in der Euro–Zone so wenig Turbulenzen wie möglich verursacht. Denn der Fall Griechenland provoziert in ihren Reihen eine heikle Situation mit Divergenzen und Zweifeln. Auch die politischen Parteien, welche in Deutschland an der Macht sind, haben sich an der Frage entzweit, ob man Griechenland überhaupt finanziell stützen soll, wie man dies allenfalls tun soll und ob dies auch für andere Staaten gültig ist, welche im Laufschritt demselben Schicksal wie Griechenland entgegenlaufen. Als Beispiel dient anschaulich der Plan, der von den Behörden der Euro–Zone am 21. Juli zur „Rettung“ Griechenlands verabschiedet wurde und vorsieht, die Darlehenskapazität des Europäischen Stabilitätsfonds von 220 auf 440 Milliarden Euro zu erhöhen – mit der Konsequenz einer Beitragserhöhung der einzelnen Staaten. Während Wochen wurde der Plan von wichtigen Teilen der Regierungsparteien in Deutschland zurückgewiesen, erst nach einem Meinungsumschwung wurde er am 29. September vom Bundestag klar angenommen! Bis Anfang August sträubte sich die deutsche Regierung gegen den Ankauf von italienischen und spanischen Staatsanleihen durch die EZB. Angesichts der finanziellen Schieflage dieser Länder stimmte der deutsche Staat am 7. August dem Kauf solcher Obligationen durch die EZB doch zu[14]. Zwischen dem 7. und 22. August kaufte die EZB danach Staatsschulden dieser beiden Länder auf[15]! All diese Widersprüche und Zögerungen zeigen, wie eine international gewichtige Bourgeoisie wie diejenige Deutschlands sich ihres politischen Kurses nicht mehr sicher ist. Generell hat Europa, angeführt von Deutschland, den Weg der Sparprogramme eingeschlagen. Doch das schließt nicht aus, gewisse Staaten und Banken minimal durch die Errichtung des Europäischen Stabilitätsfonds zu stützen (was natürlich eine Vergrößerung der finanziellen Mittel dieser Institution erfordert), oder die EZB anzuweisen, genügend Geld zu drucken, um Staaten, die ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können, zu Hilfe zu eilen und damit deren Zahlungsunfähigkeit hinauszuschieben.

Gewiss, das Problem ist nicht allein das der deutschen Bourgeoisie, sondern der gesamten herrschenden Klasse, denn sie ist als gesamtes seit Ende der 1960er Jahre immer mehr in die Verschuldung gerutscht, um die Überproduktion in den Griff zu bekommen. Heute ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht nur sehr schwierig geworden ist, die Schulden zu amortisieren, sondern auch nur die Zinsen zu bezahlen. Der Wirtschaftskurs, der heute mittels der drakonischen Sparmaßnahmen einschlagen wird, vermindert nicht nur die Einkommen, er reduziert gleichzeitig auch die Nachfrage, was die Überproduktion verschärft und den Fall in die Rezession beschleunigt.

Die Vereinigten Staaten

Die USA standen im Sommer 2011 vor gleichartigen Problemen.

Die Verschuldungslimite von 14‘294 Milliarden Dollar, die 2008 gesetzt worden war, wurde im Mai 2011 erreicht. Sie musste angehoben werden, damit die USA, ähnlich wie die Eurozone, noch ihren Verpflichtungen nachkommen konnten, einschließlich der internen, d.h. der Gewährleistung der staatlichen Aufgaben. Auch wenn der unglaubliche Archaismus und die Dummheit der Tea Party ein die Krise verschärfender Faktor waren, so lag der eigentliche Grund des Problems, vor denen der Präsident und der Kongress der USA standen, woanders. Das eigentliche Problem bestand darin, dass man vor der folgenden Alternative stand, wovon eine Seite zu wählen war:

–  entweder Weiterverfolgung der Verschuldungspolitik des Bundes, wie es die Demokraten verlangten, d.h. letztlich von der FED verlangen, weiteres Geld zu schaffen mit dem Risiko, einen unkontrollierten Absturz des Wertes der Währung zu verursachen;

–  oder eine drastische Sparpolitik verfolgen, wie es die Republikaner forderten, insbesondere mit Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in den nächsten 10 Jahren um 4000 bis 8000 Milliarden Dollars. Zum Vergleich sei erwähnt, dass das BIP der USA 2010 14‘624 Milliarden Dollars betrug, was die Dimensionen der Budgetkürzungen und damit des Abbaus von Arbeitsplätzen, die ein solcher Plan vorsieht, ermessen lässt.

Zusammengefasst war die Alternative, vor der die USA in diesem Sommer standen, die folgende: Entweder Gefahr laufen, einer potentiell galoppierenden Inflation die Tür zu öffnen, oder eine Sparpolitik betreiben, die einzig zu einer starken Verringerung der Nachfrage führen konnte, und damit einen Rückgang oder sogar eine Vernichtung der Profite verursachen, was schließlich zu massenhaften Schließungen von Betrieben und zu einem schwindelerregenden Absturz der Produktion führen würde. Aus der Sicht der Interessen des nationalen Kapitals war sowohl die Position der Republikaner als auch diejenige der Demokraten legitim. Hin und her gerissen zwischen den Widersprüchen, in denen die nationale Wirtschaft stand, mussten sich die amerikanischen Behörden mit Halbheiten zufrieden geben – mit widersprüchlichen und planlosen Maßnahmen. Der Kongress stand wieder einmal vor der Zwang, gleichzeitig das Budget um Tausende von Milliarden Dollars zu kürzen und einen neuen Plan zur Schaffung von Arbeitsplätzen umzusetzen.

Der Ausgang des Streites zwischen Republikanern und Demokraten zeigt, dass die USA im Gegensatz zur Europa eher auf die Vergrößerung der Schulden setzen, denn die Limite der Bundesverschuldung wurde bis 2013 um 2100 Milliarden Dollars erhöht, und auf der anderen Seite sollen die Ausgaben in den nächsten 10 Jahren um 2500 Milliarden gekürzt werden.

Doch wie in Europa zeigt dieser Entscheid, dass der amerikanische Staat nicht weiß, welche Politik er einschlagen soll angesichts seiner Verschuldung.

Die Zurückstufung der amerikanischen Kreditwürdigkeit durch Standard and Poor’s und die Reaktionen, die dies hervorrief, sind eine Veranschaulichung der Tatsache, dass die Bourgeoisie genau weiß, dass sie in einer Sackgasse steckt und dass sie über keine Mittel verfügt, um daraus auszubrechen. Im Gegensatz zu vielen anderen Entscheiden der Rating–Agenturen seit dem Beginn der Suprime–Krise scheint dieser Beschluss folgerichtig: Die Agentur zeigt an, dass die Aktiven zu gering sind, um die Erhöhung der Verschuldung zu decken, die der Kongress beschlossen hat, und dass folglich die Fähigkeit der USA, ihre Schulden zurück zu zahlen, abgenommen hat. Mit anderen Worten wird für diese Institution der Kompromiss, der eine ernsthafte politische Krise in den Vereinigten Staaten um den Preis einer Erhöhung der Schuldenlast dieses Landes verhindert hat, die Zahlungsunfähigkeit des amerikanischen Staates selbst beschleunigen. Der Vertrauensverlust der Geldbesitzer dieser Welt in den Dollar, der unausweichlich auf den Urteilsspruch von Standard and Poor’s folgen wird, zieht seinen Wert nach unten. Dazu kommt, dass der Entscheid, die staatliche Verschuldungslimite der USA zu erhöhen, zwar die Lähmung der Bundesverwaltung abwendet, aber nichts am Bankrott zahlreicher Bundesstaaten und Gemeinden ändert. Seit dem 4. Juli befindet sich der Staat Minnesota im Schuldnerverzug, und er musste 22‘000 Staatsangestellte bitten, zu Hause zu bleiben[16]. Verschiedene amerikanische Städte (unter ihnen Central Falls und Harrisburg, Hauptstadt von Pennsylvania) befinden sich in derselben Lage; eine Lage, welcher Kalifornien – und nicht als einziger Staat – offenbar schon in naher Zukunft nicht entrinnen kann.

Angesichts der Vertiefung der Krise seit 2007 konnten die Staaten weder in der Eurozone noch in Nordamerika der Aufgabe ausweichen, die Verantwortung für Schulden mitzutragen, die eigentlich und ursprünglich durch den privaten Sektor eingegangen worden waren. Diese neuen öffentlichen Schulden vergrößerten einzig die Staatsschuld, die ihrerseits ohnehin schon seit Jahrzehnten wuchs. Daraus resultierte ein Schuldentilgungsplan, dem die Staaten nicht nachleben können. Sowohl in den USA als auch in der Eurozone drückt sich dies in massenhaften Entlassungen im öffentlichen Dienst, in den unendlichen Kürzungen der Löhne und in der ebenfalls unendlichen Erhöhung der Steuern aus.

Die drohende ernsthafte Bankenkrise

2008 und 2009, nach dem Untergang von einigen Banken wie Bear Stearns und Northern Rock und dem ungeschminkten Bankrott von Lehman Brothers, rannten die Staaten zahlreichen anderen zu Hilfe, indem sie sie rekapitalisierten, um sie vor dem gleichen Ende zu bewahren. Wie steht es nun um die Gesundheit der Finanzinstitute? Sie ist wieder äußerst schlecht. Zunächst sind die Buchhaltungen der Banken weit entfernt davon, nur noch gedeckte Forderungen aufzuweisen. Weiter sind zahlreiche Banken heute Inhaber eines Teils der Staatsanleihen, die vielleicht nicht mehr zurückbezahlt werden. Ihr Problem besteht darin, dass der Wert ihrer erworbenen Forderung in der Zwischenzeit beträchtlich geschrumpft ist.

Die kürzlich erfolgte Erklärung des IWF, die sich auf die Erkenntnis über die gegenwärtigen Schwierigkeiten der europäischen Banken stützte und forderte, dass diese ihre Eigenmittel um 200 Milliarden erhöhten, provozierte gehässige Reaktionen und Beteuerungen von Seiten der Finanzinstitute, wonach bei ihnen alles gut laufe. Und dies zu einer Zeit, als alles auf das Gegenteil hindeutete:

–  die amerikanischen Banken sind nicht mehr bereit, die amerikanischen Filialen europäischer Banken mit Dollars zu refinanzieren, und transferieren ihre in Europa platzierten Guthaben nach Hause;

–  die europäischen Banken leihen sich gegenseitig je länger je weniger Geld aus, weil sie je länger je weniger sicher sind, das Geld wieder zurück zu erhalten, und ziehen es vor, ihre Vermögen – wenn auch zu einem sehr tiefen Zins – bei der EZB anzulegen;

–  Folge dieses sich verallgemeinernden Vertrauensverlusts: Die Zinsen für Darlehen zwischen Banken steigen unaufhörlich, auch wenn sie noch nicht die Höhe von Ende 2008 erreicht haben[17].

Dem Ganzen die Krone aufgesetzt haben einige Wochen nach der Beteuerung der Banken über ihren guten Gesundheitszustand die Pleite und Liquidation der französisch–belgischen Bank Dexia, ohne dass eine andere Bank sich dafür interessiert hätte, ihr zu Hilfe zu kommen.

Zu ergänzen ist, dass die amerikanischen Banken es sich nicht leisten können, ihren europäischen Branchenfreunden gegenüber groß „die Muskeln spielen“ zu lassen: Aufgrund ihrer ernsthaften Schwierigkeiten hat die Bank of America soeben 10% ihrer Arbeitsplätze gestrichen und Goldman Sachs, die Bank, die zum Symbol für Spekulation schlechthin geworden ist, 1000 Leute entlassen. Und auch sie ziehen es vor, ihre flüssigen Mittel bei der FED zu hinterlegen, als anderen amerikanischen Banken zu leihen.

Die Gesundheit der Banken ist für den Kapitalismus wesentlich, denn dieser funktioniert nicht ohne ein Bankensystem, das ihn mit Geld versorgt. Die Tendenz, die wir gegenwärtig erleben, geht Richtung „Credit Crunch“, das heißt hin zu einer Situation, in der die Banken das Geld nicht mehr ausleihen, wenn auch nur das geringste Risiko besteht, dass es nicht mehr zurück bezahlt wird. Dies führt schlussendlich zu einem Stillstand der Kapitalzirkulation, d.h. Stillstand der Wirtschaft. Man versteht unter diesem Gesichtswinkel besser, warum das Problem der Erhöhung der Eigenmittel der Banken mittlerweile zuoberst auf der Tagesordnung der zahlreichen Sitzungen und Gipfel steht, die auf internationaler Ebene stattgefunden haben, noch weiter oben als die Lage von Griechenland, die allerdings auch immer noch ungelöst ist. Im Grunde genommen zeigt das Problem der Banken die äußerste Ernsthaftigkeit der wirtschaftlichen Lage auf und veranschaulicht für sich allein die unentwirrbaren Schwierigkeiten, vor denen der Kapitalismus steht.

Als die USA die Note AAA verloren, titelte die französische Wirtschaftstageszeitung Les Echos am 8. August 2011 auf der ersten Seite: „Amerika herabgestuft, die Welt vor dem Ungewissen“. Wenn das wichtigste Wirtschaftsmedium der französischen Bourgeoisie eine solche Orientierungslosigkeit ausdrückt, eine solche Zukunftsangst, so drückt es die Ratlosigkeit der Bourgeoisie selber aus. Seit 1945 beruht der westliche Kapitalismus (und nach dem Zusammenbruch der UdSSR der Kapitalismus auf der ganzen Welt) darauf, dass die Stärke des amerikanischen Kapitals schließlich die letzte Sicherheit darstellt, indem es die Gesamtheit der Dollars zu Verfügung stellt, die überall auf der Welt die Zirkulation der Waren, und somit des Kapitals, sicherstellen. Nun ist die gewaltige Anhäufung von Schulden, welche die amerikanische Bourgeoisie seit Ende der 1960er Jahren gemacht hat, um der Rückkehr der offenen Krise des Kapitalismus etwas entgegen zu stellen, zu einem beschleunigenden und vertiefenden Faktor derselben Krise geworden. Alle, die einen Teil der amerikanischen Schulden halten – zuerst der amerikanische Staat selbst –, sind eigentlich Besitzer eines Guthabens – das je länger je weniger wert ist. Die Währung, in der diese Schuld zu bezahlen ist, wird ihrerseits im gleichen Ausmaß schwächer – wie der amerikanische Staat.

Das Fundament der Pyramide, auf der die Welt nach 1945 aufgebaut wurde, löst sich auf. 2007, während der Finanzkrise, wurde das Weltfinanzsystem durch die Zentralbanken gerettet, d.h. durch die Staaten; heute stehen diese am Rande des Bankrotts, und die Banken können sie keinesfalls retten; wohin sich die Kapitalisten auch wenden: Es gibt nichts, was einen wirklichen Wirtschaftsaufschwung ermöglichen könnte. In der Tat setzt sogar ein sehr geringes Wachstum die Emission von neuen Schuldtiteln voraus, damit die nötige Nachfrage geschaffen werden kann, die es erlaubt, die Waren abzusetzen; nun sind aber schon die Zinsen der bestehenden Schulden nicht mehr zahlbar und stürzen Banken und Staaten in die Zahlungsunfähigkeit.

Wie wir gesehen haben, werden Entscheide, die als unwiderruflich erklärt worden sind, innerhalb von wenigen Tagen wieder in Frage gestellt, Beteuerungen über die Gesundheit der Wirtschaft und der Banken werden ebenso schnell dementiert. In einem solchen Zusammenhang sind die Staaten mehr und mehr gezwungen, den Kurs jeden Tag neu zu bestimmen. Es ist wahrscheinlich, wenn auch nicht sicher – eben weil die Bourgeoisie durch eine noch nie erlebte Situation verwirrt ist –, dass sie angesichts der bestehenden Probleme und mit dem Ziel, Zeit zu gewinnen, weiterhin Geld übers Kapital gießt, und zwar über das Finanz–, das Handels– und das Industriekapital, auch wenn dies zu einer Inflation führt, die schon begonnen hat und die sich verstärken und je länger je mehr außer Kontrolle geraten wird. Dies wird nicht die Fortsetzung der Entlassungen, der Lohnkürzungen und der Steuererhöhungen verhindern; vielmehr wird die Inflation das Elend der großen Mehrheit der Ausgebeuteten verschlimmern. Am gleichen Tag, als Les Echos den Titel trug: „Amerika herabgestuft, die Welt vor dem Ungewissen“, titelte eine andere französische Wirtschaftstageszeitung, La tribune, „Überholt“ in Bezug auf die großen Entscheidungsträger dieses Planeten, von denen auf der Frontseite auch eine Foto zu sehen war. Ja, diejenigen, die uns Milch und Honig versprochen, dann uns getröstet haben, als offensichtlich geworden ist, dass uns nicht das Schlaraffenland, sondern ein Albtraum blüht, geben nun zu, dass sie „überholt“ sind. Sie sind überholt, weil ihr System, der Kapitalismus, definitiv hinfällig geworden und drauf und dran ist, die große Mehrheit der Weltbevölkerung in das schrecklichste Elend zu stürzen.

Vitaz, 10.10.2011


[1] https://www.lefigaro.fr/conjoncture/2011/09/22/04016 [3]–20110922ARTFIG00699–la–colere–gronde–de–plus–en–plus–fort–en–grece.php

[2] https://news.fr.msn.com/m6 [4]–actualite/monde/espagne–les–enseignants–manifestent–%C3%A0–madrid–contre–les–coupes–budg%C3%A9taires

[3] https://www.rfi.fr/europe/20110921 [5]–manifestations–enseignants–lyceens–espagne

[4] Statistique Eurostat

[5] Le Monde, 7.–8. August 2011

[6] https://finance [6]–economie.com/blog/2011/10/10/chiffres–cles–espagne–taux–de–chomage–pib–2010–croissance–pib–et–dette–publique/

[7] https://www.globalix.fr/content/la [7]–dynamique–de–la–dette–italiennela–dynamique–de–la–dette–italienne

[8] IWF, Perspektiven der Weltwirtschaft, Juli 2010

[9] Le Figaro, 3. Oktober 2011

[10] Les Echos, 9. August 2011

[11] http://www.lecourrierderussie.com/2011/10/12/poutine [8]–la–crise–existe/

[12] http://www.lefigaro.fr/flash [9]–eco/2011/10/05/97002–20111005FILWWW00435–fmi–recession–mondiale–pas–exclue.php

[13] siehe Le Monde, 5. August 2011

[14] Les Echos, August 2011

[15] Les Echos, 16. August 2011

[16] www.rfi.fr/fr/ameriques/20110702-faillite-le-gouvernement-minnesota-cesse-activites [10]

[17] https://www.gecodia.fr/Le–stress–interbancaire–en–Europe–s–approche–du–pic–post–Lehman_a2348.html [11]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 1: Warum tauchen 1905 Arbeiterräte auf?

  • 2998 reads
Am 2. März 1919, bei der Eröffnung des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale, behauptete Lenin, dass das „Sowjetsystem“ (wie Arbeiterräte in der russischen Sprache heißen), das noch bis vor Kurzem für die großen Arbeitermassen „Latein“ gewesen sei, mittlerweile sehr verständlich und insbesondere je länger je mehr eine allgemeine Praxis geworden sei. Er zitierte ein Beispiel: „Heute lese ich zum Beispiel in einer antisozialistischen Zeitung die telegraphische Mitteilung, dass die englische Regierung den Rat der Arbeiterdelegierten in Birmingham empfangen und ihre Bereitwilligkeit erklärt hat, die Räte als wirtschaftliche Organisationen anzuerkennen.“[1]

Heute, 90 Jahre später schreiben uns GenossInnen in verschiedenen Ländern, um uns zu fragen: „Was sind Arbeiterräte?“, weil sie feststellen, dass sie darüber zu wenig wissen, und sich gern eine klareres Bild darüber machen möchten. Das Bleigewicht der schrecklichsten Konterrevolution der Geschichte, die Schwierigkeiten, die seit 1968 die Politisierung der Kämpfe der Arbeiterklasse behindern; die Verfälschungen oder das vollständige Totschweigen der Kommunikations– und Kulturmedien über die historischen Erfahrungen des Proletariats führen dazu, dass Wörter wie Sowjet oder Arbeiterrat, die so selbstverständlich waren für die Arbeitergeneration der Jahre 1917–23, heute etwas Fremdes geworden sind oder in einem ganz anderen Sinn verwendet werden, als sie zu Beginn hatten.[2]

Dies wird also das Ziel des vorliegenden Artikels sein: einen Beitrag zu leisten zu einer einfachen Erklärung der Fragen: Was sind Arbeiterräte? Warum sind sie aufgetaucht? Welchen geschichtlichen Bedürfnissen entsprachen sie? Haben sie heute immer noch eine aktuelle Bedeutung? Um auf diese Fragen zu antworten, werden wir uns auf die geschichtliche Erfahrung unserer Klasse abstützen, eine Erfahrung, die ebenso von den Revolutionen von 1905 und 1917 geprägt ist wie von den Debatten und Schriften der Mitglieder revolutionärer Organisationen von damals: Trotzki, Rosa Luxemburg, Lenin, Pannekoek …

Die geschichtlichen Bedingungen, unter denen Arbeiterräte entstehen

Wieso tauchen die Arbeiterräte 1905 auf, und nicht schon 1871 in der revolutionären Commune von Paris?[3]

Das Auftauchen von Arbeiterräten in der russischen Revolution von 1905 kann nur auf dem Hintergrund einer Analyse der Gesamtheit der folgenden Faktoren verstanden werden: der geschichtlichen Bedingungen der damaligen Zeit; der Kampferfahrungen, die sich das Proletariat erworben hatte und der Intervention der revolutionären Organisationen.

Was den ersten Faktor betrifft, befand sich der Kapitalismus am Gipfel seiner Entfaltung, zeigte aber immer deutlichere Anzeichen seines Niedergangs, insbesondere im imperialistischen Bereich. Trotzki legte in seiner Schrift Ergebnisse und Perspektiven, auf die wir uns hier abstützen werden, dar: „Indem der Kapitalismus allen Ländern seine Wirtschafts– und Verkehrsweise aufdrängt, hat er die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt.“ Und noch genauer: „Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.“[4] Die massenhaften Bewegungen und die Generalstreiks waren Produkte dieser neuen Epoche und waren schon vor 1905 in verschiedenen Teilen der Welt in Erscheinung getreten: Generalstreik in Spanien 1902 und in Belgien 1903 und auch in Russland zu verschiedenen Zeitpunkten.

So kommen wir zum zweiten Faktor. Die Arbeiterräte tauchen nicht aus dem Nichts auf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. In den Jahren zuvor, seit 1896, brachen in Russland zahlreiche Streiks aus: Generalstreik der Textilarbeiter in Petersburg 1896 und 1897; die großen Streiks, die 1903 und 1904 den ganzen Süden Russlands erschütterten; etc. Sie stellten insofern Erfahrungen dar, als sich Tendenzen zur spontanen Mobilisierung zeigten, wo Kampforgane gebildet wurden, die nicht mehr den typisch gewerkschaftlichen Kampfformen entsprachen und mit denen der Boden für die Kämpfe von 1905 vorbereitet wurde: „(…) so wird doch jeder, der die innere politische Entwicklung des russischen Proletariats bis zu der heutigen Stufe seines Klassenbewusstseins und seiner revolutionären Energie kennt, die Geschichte der jetzigen Periode der Massenkämpfe mit jenen Petersburger Generalstreiks beginnen. Sie sind für das Problem des Massenstreiks schon deshalb wichtig, weil sie bereits alle Hauptmomente der späteren Massenstreiks im Keime enthalten.“ (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften)

Was schließlich den dritten Faktor betrifft, so haben die proletarischen Parteien (die Bolschewiki und andere Tendenzen) natürlich keine vorausgehende Propaganda zum Thema der Arbeiterräte gemacht, denn deren Entstehung überraschte sie; sie hatten auch nicht vermittelnde Organisationsstrukturen aufgestellt, um sie vorzubereiten. Das zeigte Rosa Luxemburg auf am Beispiel der spontanen Bewegungen, wie derjenigen des Textilarbeiterstreiks in St. Petersburg in den Jahren 1896 und 1897: „Der nächste Anlass der Bewegung war ein ganz zufälliger, ja untergeordneter, ihr Ausbruch ein elementarer; aber in dem Zustandekommen der Bewegung zeigten sich die Früchte der mehrjährigen Agitation der Sozialdemokratie“ (Massenstreik, Partei und Gewerkschaften) Dabei klärt sie stringent die Rolle der Revolutionäre: „Den Anlass und den Moment vorauszubestimmen, an dem die Massenstreiks in Deutschland ausbrechen sollen, liegt außerhalb der Macht der Sozialdemokratie, weil es außerhalb ihrer Macht liegt, geschichtliche Situationen durch Parteitagsbeschlüsse herbeizuführen. Was sie aber kann und muss, ist, die politischen Richtlinien dieser Kämpfe, wenn sie einmal eintreten, klarlegen und in einer entschlossenen, konsequenten Taktik formulieren.“ (ebenda)

Diese Analyse erlaubt es, das Wesen der großen Bewegung zu verstehen, die Russland im Laufe des Jahres 1905 erschütterte und die entscheidende Phase in den letzten drei Monaten dieses Jahres durchlief, von Oktober bis Dezember, als sich die Entfaltung der Arbeiterräte verallgemeinerte.

Die revolutionäre Bewegung von 1905 hat ihren unmittelbaren Ursprung im denkwürdigen „Blutsonntag“, dem 22. Januar 1905[5]. Diese revolutionäre Bewegung erlebte im März 1905 einen ersten Rückfluss, um darauf auf verschiedenen Wegen im Mai und Juli wieder aufzutauchen[6]. In dieser Zeit allerdings hatte sie die Form von spontanen Ausbrüchen, die einen schwachen Organisationsgrad offenbarten. Ab September hingegen besetzte die Frage der allgemeinen Organisierung der Arbeiterklasse den ersten Platz: Man trat in die Phase der zunehmenden Politisierung der Massen ein, in denen die Grenzen des unmittelbaren Kampfes um Forderungen erschienen, aber auch die Erschöpfung aufgrund der Brutalität der zaristischen Repression einerseits und dem Zögern der liberalen Bourgeoisie andererseits[7].

Die Massendebatte

Wir wollen hier an das historische Umfeld, aus welchem die ersten Sowjets entsprungen sind, erinnern. Aber worauf beruht ihr konkreter Ursprung? Sind die Sowjets das Produkt einer entschiedenen und kühnen Minderheit? Oder umgekehrt, sind sie mechanisch aus den objektiven Bedingungen entsprungen?

Wenn die revolutionäre Propaganda, die über Jahre hinaus betrieben wurde, wie wir schon gesagt haben, zur Bildung der Sowjets beigetragen haben und wenn Trotzki eine Rolle ersten Ranges innerhalb des Sowjets von Sankt Petersburg gespielt hat, so war das Auftauchen der ersten Sowjets nicht das direkte Resultat der Propaganda oder der organisatorischen Vorschläge der marxistischen Parteien (die zu diesem Zeitpunkt in Menschewiki und Bolschewiki gespalten waren). Auch stimmt es nicht, wie Volin[8] in seinem Buch Die unbekannte Revolution[9] uns den ersten Sowjet vorstellt, dass er das Resultat der Initiative der Anarchisten gewesen sei. Ohne die Wahrhaftigkeit der von ihm geschilderten Fakten zu bezweifeln, so ist es doch wichtig zu sehen, dass die von ihm in Erinnerung gerufene Versammlung – die von Volin selbst als „privat“ bezeichnet wird – zwar ein weiteres Element gewesen sein mag, welches zum Prozess der Bildung des Sowjets beitrug, aber es war nicht sein Gründungsakt.

Es ist üblich geworden, den Sowjet von Iwanow–Wosnesensk als den ersten oder einer der ersten Sowjets zu bezeichnen.[10] Insgesamt sind 40 bis 50 Sowjets ausgemacht worden, zusätzlich noch einige Bauern– und Soldatensowjets. Anweiler besteht auf ihrer sehr unterschiedlichen Herkunft: „Die Geburt der Sowjets hat sich entweder in mittelbarer Form im Rahmen der alten Organisationen herausgeschält – aus Streikkomitees oder z.B. aus Abgeordnetenversammlungen – in unmittelbarer Form aus Initiativen der lokalen Organisationen der sozialdemokratischen Partei, die den Zweck verfolgten, einen entscheidenden Einfluss auf die Sowjets auszuüben. Das begrenzte Verhältnis zwischen den Streikkomitees und den wirklichen Arbeiterabgeordneten, die diesen Namen verdienten, war offensichtlich. Nur in den wichtigsten Zentren, wo sich die Revolution der Klasse abspielte, wie (Sankt Petersburg einmal ausgelassen) in Moskau, Odessa, Novosibirsk und im Donezbecken, hatten die Räte eine klar abgegrenzte Form erlangt.“[11]

Aus diesem Grunde kann man die Urheberschaft der Sowjets nicht dieser oder jener Persönlichkeit oder Minderheit zuschreiben, sie sind nicht aus dem Nichts entstanden, spontan aus einer Generation heraus. Grundsätzlich waren sie das kollektive Werk der Klasse: Sie entstanden aufgrund verschiedenen Initiativen, aus verschiedenen Diskussionen, aus Vorschlägen, die da und dort vorgebracht wurden. Der Verlauf und das Fortschreiten all dieser verschiedenen Ereignisse haben zusammen mit der aktiven Intervention der Revolutionäre zur Entstehung der Sowjets geführt. Wenn wir diesen Prozess näher betrachten, können wir zwei entscheidende Faktoren herausschälen: die Massendebatte und die ansteigende Radikalisierung der Kämpfe.

Das Reifen des Bewusstseins in den Massen, welches ab September 1905 festzustellen ist, drückte sich in einem unbändigen Willen und Bedürfnis nach Debatte aus. Das Aufwallen von belebten Diskussionen in den Fabriken, den Universitäten, in den Quartieren erschien als ein „neues“ Phänomen, welches maßgeblich im Septembermonat aufkam. Trotzki zitiert einige Erlebnisberichte: „Völlig freie Volksversammlungen innerhalb der Universität zu einer Zeit, da Trepow[12] auf den Straßen mit unbeschränkter Gewalt herrschte – das ist eines der staunenerregendsten Paradoxe der revolutionär–politischen Entwicklung während der Herbstmonate des Jahres 1905.“ An diesen Versammlungen nehmen mehr und mehr Arbeiter teil. „Das Volk füllte alle Gänge, Auditorien und Säle, und die Arbeiter zogen direkt von der Fabrik in die Universität.“ Und Trotzki fügt hinzu: „Die offizielle Telegraphenagentur schilderte mit Worten des Grauens und Entsetzens das Publikum, das sich in der Aula der Wladimir–Universität in Kiew versammelt hatte. Abgesehen von Studenten, wurde dieser Menschenhaufen nach dem Wortlaut des Telegramms gebildet von ‚unbeteiligten Personen beiderlei Geschlechts, Zöglingen der Mittelschulen und der städtischen Privatschulen, Arbeitern, verschiedenem Pöbel und sonstigen zerlumpten Subjekten’.“[13]

Es handelte sich aber keineswegs um einen „Menschenhaufen“, wie das die Informationsagentur berichtet, sondern um ein Kollektiv, das mit einer bestimmten Ordnung und Methode, mit einer großen Disziplin und einem hohen Reifegrad die Situation reflektierte, was auch von einem Berichterstatter der bürgerlichen Zeitung Russj (Russland) anerkannt wurde. Trotzki zitierte daraus: „Was mich besonders auf dem Meeting in der Universität frappierte, war die ungewöhnliche, musterhafte Ordnung! In der Aula wurde eine kleine Pause angesagt und ich schlenderte durch die Gänge. Der Hauptgang bot das bewegte Bild der Straße. Alle anliegenden Auditorien waren dicht besetzt – hier fanden die Meetings der einzelnen Fraktionen statt. Der Gang selbst war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Menge flutete in einem fort auf und ab. (...) Man konnte meinen, man befand sich auf einer zahlreich besuchten Abendgesellschaft, bloß ernster als gewöhnlich. Und dennoch war das alles Volk – unverfälschtes, urwüchsiges Volk, mit den schwieligen, roten Arbeiterhänden, mit jenen erdfarbigen Gesichten, die Leuten zu eigen sind, die sich bei Tage in geschlossenen, ungesunden Orten aufhalten.“[14]

Das war die gleiche Stimmung, wie man in der Industriestadt Iwanow–Wosnesenk zuvor im Mai vorgefunden hatte: „Die Vollversammlungen fanden jeden Morgen nach neun Uhr statt. Nachdem die Versammlungen (der Sowjets) beendet waren, begann die Vollversammlung, sie untersuchte alle Fragen, die im Zusammenhang mit den Streiks standen. Man legte über den Stand der Entwicklung, der Verhandlungen mit den Unternehmern und den Behörden einen Tätigkeitsbericht vor. Nach den Diskussionen legte man der Versammlung die Vorschläge, die von den Sowjets vorbereitet worden waren, vor. Darauffolgend hielten die Militanten der Parteien agitatorische Reden über die Lage der Arbeiterklasse und die Diskussionen gingen weiter, bis das Publikum von der Müdigkeit überwältigt wurde. Ab diesem Zeitpunkt fingen die Massen an, revolutionäre Hymnen zu singen und man beendete die Versammlung. Und das ging so alle Tage.“[15]

Die Radikalisierung der Kämpfe

Ein kleiner Streik, der in der Druckerei von Ssytin in Moskau ausgebrochen war, zündete die Lunte für die massiven Oktoberstreiks, während der sich die Sowjets generalisierten. Die Solidarität mit dem Streik von Ssytin, weitete den Streik auf mehr als 50 Moskauer Druckereien aus, am 26. September benannte sich die allgemeine Versammlung der Drucker und Typografen als Rat. Der Streik weitete sich auf andere Bereiche aus: auf die Bäckereien, auf die Metall– und die Textilindustrie. Die Agitation gewann einerseits die Eisenbahnsektoren und andererseits die Drucker von St. Petersburg für sich, weil letztere sich mit ihren Kollegen von Moskau solidarisierten.

Eine andere organisierte Front tat sich unerwartet auf: Eine Konferenz der Vertreter der Eisenbahner, die wegen den Alterskassenrenten zusammengekommen war, fand in St. Petersburg am 20. September statt. Die Konferenz richtete einen Appell an alle Arbeitersektoren, der sich nicht auf diese Frage begrenzte. Der Appell hob hervor, dass es notwendig sei, in den verschiedenen Arbeitssektoren Versammlungen abzuhalten, die ökonomische und politische Forderungen aufstellten. Ermutigt durch die Unterstützungstelegramme aus dem ganzen Land, berief die Konferenz eine neue Versammlung auf den 9. Oktober ein.

Kurz nach dem 3. Oktober beschloss „eine Delegiertenversammlung der Druckerei–, Maschinenbau–, Tischlerei–, Tabak– und vieler anderer Arbeiter (…), einen allgemeinen Delegiertenrat aller Moskauer Arbeiter ins Leben zu rufen“[16].

Der Streik der Eisenbahner, der spontan auf einigen Linien des Eisenbahnnetzes ausgebrochen war, wurde am 7. Oktober zu einem Generalstreik. In diesem Zusammenhang verwandelte sich die Versammlung, die für den 9. Oktober einberufen worden war, zu „einem Kongress der Delegierten der Eisenbahner von St. Petersburg. Es werden sofort auf allen telegraphischen Linien die Losungen des Streiks der Eisenbahner versandt: Achtstundentag, staatsbürgerliche Freiheiten, Amnestie, konstituierende Versammlung.“[17]

Die massiven Versammlungen an den Universitäten waren geprägt von intensiven Debatten über die Situation, die gemachten Erfahrungen, die Alternativen in der Zukunft, aber im Oktober ändert sich die Situation. Die Debatten flauen nicht ab, im Gegenteil, sie reifen bis zu dem Grad, dass sie zu offenen Kämpfen werden, ein Kampf der seinerseits beginnt, sich eine allgemeine Organisation zu geben, eine allgemeine Organisation, die nicht nur den Kampf leitet, sondern die massive Debatte integriert und vervielfacht. Die Notwendigkeit, sich zu versammeln und zu vereinigen, die verschiedenen Brennpunkte der Streiks zu vereinigen, wurde insbesondere vehement von den Arbeitern Moskaus vorangestellt. Ein Programm auszuarbeiten, das der Situation angepasste politische und ökonomische Forderungen aufstellt, die mit den wirklichen Möglichkeiten der Arbeiterklasse übereinstimmen – das war der Beitrag des Kongresses der Eisenbahner. Debatte, Einheitsorganisationen, Kampfprogramm, das sind die drei Säulen, auf denen die Sowjets aufgebaut werden. Entscheidend für die Bildung der Sowjets war also das Zusammenlaufen der verschiedenen Initiativen und Vorschläge der verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse, und keineswegs ein von irgendeiner Minderheit ausgearbeiteter „Plan“. In den Sowjets konkretisierte sich, was 60 Jahre zuvor, im Kommunistischen Manifest noch wie eine utopische Formel getönt hatte: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

Die Sowjets, Organe des revolutionären Kampfes

„Bereits am 26.[18] abends fand in dem Gebäude des Technologischen Instituts die erste Sitzung des zukünftigen Delegiertenrats statt. Es waren nicht mehr als 30 bis 40 Delegierte anwesend, und es wurde beschlossen, das Proletariat der Hauptstadt zu einem politischen Generalstreik aufzufordern, sowie Vorschläge zur Wahl von Delegierten zu machen.“[19]

Dieser Sowjet machte den folgenden Aufruf: „Die Arbeiterklasse nimmt ihre Zuflucht zu dem letzten machtvollen Mittel der Arbeiterbewegung der ganzen Welt – zum Generalstreik … In den nächsten Tagen wird in Russland Entscheidendes vor sich gehen. Diese Ereignisse werden auf lange Jahre hinaus das Schicksal der Arbeiterklasse bestimmen, wir müssen diesen Ereignissen in voller Bereitschaft entgegensehen, einig durch unseren gemeinsamen ‚Rat’ …“[20]

Diese Stelle zeigt den Weitblick, die langfristige Perspektive dieses Organs, das erst gerade im Kampf entstanden war. Sie drückt ganz einfach eine klare politische Sichtweise im Einklang mit dem tiefen Wesen der Arbeiterklasse aus und bezieht sich auf die internationale Arbeiterbewegung. Dieses Bewusstsein ist sowohl Ausdruck als auch aktiver Faktor der Ausdehnung des Streiks auf alle Sektoren und in alle Landesteile, der ab dem 12. Oktober praktisch zum Generalstreik wird. Der Streik lähmt die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben, doch der Sowjet sorgt dafür, dass dies nicht zu einer Lähmung des  Arbeiterkampfes führt. Wie Trotzki es darstellte: „Er [der Streik] setzt Druckereien in Bewegung, wenn er Revolutionsbulletins bedarf, er benutzt den Telegraph für Streikbefehle und lässt Eisenbahnzüge mit den Delegierten der Streikenden fahren.“[21] Der Streik zeigt, „dass er mehr ist als eine einfache Arbeitsniederlegung, als ein passiver Protest mit über der Brust gekreuzten Armen. Er verteidigt sich und geht aus seiner Defensive zur Offensive über. In einigen südlichen Städten errichtet er Barrikaden, bemächtigt sich der Gewehrmagazine, bewaffnet sich und leistet, wenn auch nicht siegreichen, so doch heroischen Widerstand.“[22]

Der Sowjet ist die lebendige Bühne, auf der sich die Debatten um folgende Achsen drehen:

–  Welches Verhältnis zu den Bauern? Wie und unter welchen Bedingungen können sie, als unentbehrliche Verbündete, in den Kampf integriert werden?

–  Welche Rolle spielt die Armee? Werden die Soldaten aus der repressiven Maschinerie des Regimes desertieren?

–  Wie sich bewaffnen für die kommende, je länger je unausweichlichere Konfrontation mit dem zaristischen Staat?

Unter den Bedingungen von 1905 konnten diese Fragen nur gestellt, aber nicht beantwortet werden. Die Antworten sollte die Revolution von 1917 geben. Doch hätte sich das Potential, das sich 1917 entfaltete, ohne die großen Kämpfe von 1905 nicht aufbauen können.

Meistens nimmt man an, dass solche Fragen wie die, welche oben aufgeworfen worden sind, nur das Gespinst von kleinen Zirkeln von „Revolutionsstrategen“ sein können. Nichtsdestotrotz fand im Rahmen der Sowjets eine massenhafte Debatte genau über diese Fragen mit der Teilnahme und den Beiträgen von Tausenden von Arbeitern statt. Jene Pedanten, welche die Arbeiter für unfähig halten, sich um solche Angelegenheiten zu kümmern, hätten den Beweis dafür erlebt, dass die Arbeiter darüber ohne Hemmungen diskutierten, zu leidenschaftlichen und  engagierten Sachverständigen wurden, die ihre Intuition, ihre Gefühle und ihre während Jahren erworbenen Kenntnisse in den Tiegel der kollektiven Organisation gossen. Oder wie Rosa Luxemburg es bildlich darstellte: „(…) im Sturm der revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden vorsorglichen Familienvater in einen ‚Revolutionsromantiker’ (…)“.

Während am 26. Oktober kaum 40 Delegierte an der Sitzung des Sowjets teilnahmen, vergrößerten sich diese Zahlen von Tag zu Tag. Die erste Entscheidung einer jeden Fabrik, die sich als im Streik stehend erklärt, war, einen Delegierten zu wählen, dem ein bewusst von der Versammlung angenommenes Mandat erteilt wurde. Einige Branchen zögerten: Die Textilarbeiter von St. Petersburg, anders als ihre Kollegen in Moskau, schlossen sich dem Kampf erst am 29. an. Über die Textilarbeiter am 28. Oktober schreibt Trotzki: „Um die nicht streikenden Arbeiter zum Streik heranzuziehen, gebrauchte der Rat eine ganze Reihe von Mitteln – von den Aufrufen mit Worten bis zum Zwang mit Gewalt. Es war jedoch nicht nötig, zu äussersten Mitteln zu greifen. Wo der gedruckte Aufruf nicht half, dort genügte das Erscheinen eines Haufens von Streikenden, manchmal nur wenigen Leuten, dass die Arbeit eingestellt wurde.“[23]

Die Sitzungen des Sowjets waren die Antithese zu einem bürgerlichen Parlament oder einem Streitgespräch unter akademischen Gelehrten. „Von Vielrederei, dieser Krankheit aller Vertretungskörperschaften, war keine Spur. Die Fragen, die hier diskutiert wurden, die Ausbreitung des Streiks und die Forderungen an den Gemeinderat, waren rein praktischer Natur und wurden sachlich, kurz, energisch behandelt. Man fühlte, dass es auf jeden Moment ankomme. Die geringste Hinneigung zur Rhetorik begegnete entschiedener Abwehr seitens des Vorsitzenden, unter vollster Zustimmung der ganzen Versammlung.“[24]

Diese lebhafte und praktische Debatte, die sowohl tiefgreifend als auch konkret war, offenbarte eine Verwandlung im Bewusstsein und der gesellschaftlichen Psychologie der Arbeiter und wurde gleichzeitig zu einer mächtigen Triebkraft ihrer Entwicklung. Bewusstsein: kollektives Begreifen der gesellschaftlichen Lage und ihrer Perspektiven, der konkreten Macht der sich bewegenden Massen und der Ziele, die sie sich geben müssen; die Fähigkeit, die Freunde von den Feinden zu unterscheiden; der Entwurf einer neuen Sicht auf die Welt und ihre Zukunft. Aber gleichzeitig gesellschaftliche Psychologie: ein Faktor, der mit dem Bewusstsein zusammenhängt, aber doch von ihm zu unterscheiden ist; ein Faktor, der in der Moral und in der Lebenseinstellung der Arbeiter, in ihrer ansteckenden Solidarität, in ihrer Empathie mit anderen, in ihrer Aufgeschlossenheit und im Lernen und in ihrer selbstlosen Hingabe zur gemeinsamen Sache zum Ausdruck kommt.

Diese geistige Verwandlung mag denen als utopisch und unmöglich erscheinen, welche die Arbeiter nur durch das Prisma des Alltagslebens sehen, in dem sie sich als atomisierte Roboter ohne die geringste Initiative oder Kollektivgefühl zeigen, zerstört unter dem Gewicht der Konkurrenz und der Rivalität. Es ist aber genau die Erfahrung des Massenkampfes und der Entwicklung der Arbeiterräte, die aufzeigt, wie diese zur Triebkraft solcher Veränderungen werden, was Trotzki so beschrieben hat: „Der Sozialismus stellt sich nicht die Aufgabe, eine sozialistische Psychologie als Voraussetzung für den Sozialismus zu entwickeln, sondern sozialistische Lebensbedingungen als Voraussetzung einer sozialistischen Psychologie zu schaffen.“[25]

Die Vollversammlungen und die von ihnen gewählten und ihnen gegenüber verantwortlichen Räte werden sowohl das Gehirn als auch das Herz des Kampfes. Das Gehirn, damit Tausende von Menschen laut denken und Entscheidungen nach einer Zeit des Nachdenkens treffen können. Das Herz, damit diese Wesen aufhören, sich als verlorene Tropfen in einem Meer von sich gegenseitig fremden, potentiell feindlichen Menschen zu sehen, und stattdessen zu einem aktiven Teil einer großen Gemeinschaft werden, die sie alle vereinigt und jede und jeden ihre Stärke und Unterstützung fühlen lässt.

Indem der Sowjet sich auf diese festen Grundlagen stellte, gab er dem Proletariat eine Macht, die den bürgerlichen Staat herausforderte. Er wurde in zunehmendem Maße als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen: „In dem Maße, wie der Oktoberstreik sich entwickelte und ausbreitet, wurde der Rat naturgemäß zum Mittelpunkt der allgemeinen politischen Aufmerksamkeit. Seine Bedeutung wuchs von Stunde zu Stunde. Vor allem schloss sich ihm das industrielle Proletariat an. Der Einsbahnerverband knüpfte enge Beziehungen zu ihm an. Der „Verband der Verbände“, der sich seit dem 27. Oktober dem Streik angeschlossen hatte, war schon von den ersten Schritten an gezwungen, das Protektorat des Rates anzuerkennen. Zahlreiche Streikkomitees (…) passten ihre Handlungen den Beschlüssen des Rates an.“[26]

Viele anarchistische und rätistische Autoren haben die Sowjets als Fahnenträger einer föderalistischen Ideologie dargestellt, die auf die lokale und auf Betriebsebene beschränkte Autonomie baue und dem angeblich „autoritären und einschränkenden“ Zentralismus, der dem Marxismus eigen sei, entgegenstehe. Ein Gedanke von Trotzki beantwortet diese Einwände: „Die Rolle Petersburgs in der russischen Revolution kann keineswegs mit der von Paris in der Revolution des 18. Jahrhunderts verglichen werden. Die allgemeine ökonomische Rückständigkeit Frankreichs und die Primitivität ihrer Verkehrsmittel einerseits, die Zentralisation der Verwaltung andererseits erlaubten es Paris, die Revolution ihrem Wesen nach innerhalb seiner Mauern zu lokalisieren. Ganz anders bei uns. Die kapitalistische Entwicklung hatte in Russland so viele selbständige revolutionäre Herde entstehen lassen, als sie Zentren der Großindustrie geschaffen hatte. Diese Herde waren selbständig, aber doch eng miteinander verbunden.“[27]

Hier sehen wir in der Praxis, was proletarische Zentralisierung bedeutet. Sie ist das Gegenteil der bürokratischen und lähmenden Zentralisierung, die charakteristisch für den Staat und allgemein für die ausbeutenden Klassen in der ganzen Geschichte ist. Die proletarische Zentralisierung beruht nicht auf der Einschränkung der Initiative und der Spontaneität der verschiedenen Bestandteile; vielmehr fördert sie sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, um ihre Entwicklung zu unterstützen. Wie Trotzki erwähnt: „Die Eisenbahn und der Telegraph dezentralisierten die Revolution trotz des zentralisierten Charakter des Staates, zugleich aber brachten sie Einheit in alle ihre lokalen Erscheinungsformen. Wenn man auch schließlich die Stimme Petersburgs als die von überragendster Bedeutung anerkennen kann, so doch nicht in dem Sinne, dass diese Stimme die Revolution auf dem Newsky–Prospekt oder bei dem Winterpalais konzentrierte, sondern einzig und allein so, dass die Losungsworte und Kampfmethoden der Hauptstadt mächtigen revolutionären Widerhall im ganzen Lande geweckt haben.“[28]

Der Sowjet war das Rückgrat dieser massenhaften Zentralisierung: „(…) so müssen wir in Petersburg selbst den Arbeiter–Delegiertenrat an die Spitze stellen“, fährt Trotzki weiter: „Nicht nur deshalb, weil dies die größte Arbeiterorganisation ist, die Russland bisher sah, auch nicht deshalb, weil der Petersburger Rat für Moskau, Odessa und eine Reihe anderer Städte mustergültig war, sondern vor allen Dingen deshalb, weil diese rein proletarische Klassenorganisation als die Organisation der Revolution par excellence auftrat. Der Rat war die Achse, um die sich alle Ereignisse bewegten, zu ihm zogen alle Fäden hin, von ihm ging jeder Kampfruf aus.“[29]

Die Rolle der Sowjets in der Schlussphase der Bewegung

Ende Oktober 1905 wurde klar, dass die Bewegung vor der Wahl steht: entweder Aufstand oder niedergeschlagen werden.

Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, die Umstände zu analysieren, die zum zweiten Resultat führten[30]: Die Bewegung endete in der Tat mit einer Niederlage, und das zaristische Regime – noch einmal Herr der Lage – entfesselte eine grausame Repression. Und doch war die Weise, in der das Proletariat einen entschlossenen, heroischen und gleichzeitig völlig bewussten Kampf führte, eine Vorbereitung auf die Zukunft. Die schmerzliche Niederlage im Dezember 1905 bereitete die zukünftige Revolution von 1917 vor.

Der Petersburger Sowjet spielte dabei eine entscheidende Rolle: Er tat alles, was möglich war, um eine unvermeidliche Konfrontation unter den bestmöglichen Bedingungen vorzubereiten. Er bildete Arbeiterpatrouillen mit anfänglich defensivem Charakter (gegen die Strafexpeditionen der Schwarzhundertschaften, die der Zar aus dem Bodensatz der Gesellschaft auf die Beine gestellt hatte), stellte Waffendepots auf und organisierte und bildete Milizen aus.

Aber gleichzeitig wies der Petersburger Sowjet aus der Erfahrung der Arbeiteraufstände des 19. Jahrhunderts[31] darauf hin, dass der Schlüssel zur Situation die Haltung der Truppen war, weshalb sich der Hauptteil seiner Bemühungen auf die Frage konzentrierte, wie man die Soldaten für die eigene Sache gewinnen konnte.

Und tatsächlich fielen die Aufrufe und die Flugblätter an die Armeen, die Einladungen an die Truppen, sich an den Sitzungen des Sowjets zu beteiligen, nicht ins Leere. Sie stellten in einem gewissen Grad ein Echo auf die wachsende Unzufriedenheit unter den Soldaten dar, welche in der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin (verewigt durch den berühmten Film) oder im Aufstand der Kronstädter Garnison im Oktober gipfelten.

Im November 1905 rief der Sowjet zu einem massenhaft befolgten Streik auf, dessen Ziele direkt politisch waren: das Ende des Kriegsrechts in Polen und die Aufhebung des militärischen Sondergerichts, das die Seeleute und die Soldaten von Kronstadt verfolgte. Dieser Streik konnte Teile der Arbeiterklasse mobilisieren, die bisher nie gekämpft hatten, und wurde von den Soldaten mit enormer Sympathie aufgenommen. Doch offenbarte der Streik auch die Erschöpfung der Kampfkraft der Arbeiter und eine mehrheitlich passive Haltung unter den Soldaten und Bauern, besonders in den Provinzen, was zum Misserfolg des Streiks führte.

Im Oktober und November ergriff der Sowjet zwei scheinbar paradoxe Maßnahmen, die aber lediglich der Vorbereitung der Konfrontation dienten. Sobald der Sowjet verstanden hatte, dass der Oktober–Streik am Abklingen war, schlug er den Arbeiterversammlungen vor, dass alle Arbeiter geschlossen die Arbeit wieder aufnehmen. Es war ein Akt der Stärke, der die Entschlossenheit und bewusste Disziplin der Arbeiter zum Ausdruck brachte. Dies geschah im November, bevor die Bewegung schwächer wurde. Diese Aktion war ein Mittel zur Schonung der Kräfte vor der allgemeinen Konfrontation und zeigte dem Feind die Stärke und die unerschütterliche Einheit der Kämpfenden.

Sobald die russische liberale Bourgeoisie sich der proletarischen Macht bewusst wurde, schloss sie die Ränge um das zaristische Regime. Dieses Regime fühlte sich nun gestärkt und fing mit der systematischen Jagd auf die Sowjets an. Bald wurde klar, dass die Arbeiterbewegung in den Provinzen sich auf dem Rückzug befand. Trotzdem warf sich das Moskauer Proletariat in den Aufstand, der erst nach 14 Tagen heftigen Kampfes niedergeschlagen wurde.

Diese Niederschlagung des Moskauer Aufstands war der Schlussakt von dreihundert Tagen Freiheit, Brüderlichkeit, Organisierung und Gemeinschaft, wie sie „einfache Arbeiter“ erlebten, welche die liberalen Intellektuellen so zu nennen beliebten. Während den letzten zwei Monaten hatten diese „einfachen Arbeiter“ eine einfache und bewegliche Struktur, die Sowjets, errichtet, die innerhalb kurzer Zeit eine unermessliche Macht verkörperte. Aber am Ende der Revolution schienen sie spurlos und für immer verschwunden zu sein. Abgesehen von revolutionären Minoritäten und den Gruppen fortgeschrittener Arbeiter sprach niemand mehr über sie. Und doch kamen sie 1917 auf die gesellschaftliche Bühne mit universellem Anspruch und unwiderstehlicher Kraft zurück. Wir werden darauf im unserem folgenden Artikel eingehen.

C.Mir, 5.11.2009


[1] Der I. Kongress der Kommunistischen Internationale, Protokoll der Verhandlungen in Moskau vom 2. bis zum 19. März 1919, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg, 1921

[2]  Das Wort „Sowjet“ ist heute verknüpft mit dem barbarischen staatskapitalistischen Regime der ehemaligen UdSSR, und das Wort „sowjetisch“ ist synonym mit dem russischen Imperialismus der langen Zeit des Kalten Krieges (1945–89).

[3] Obwohl Marx die Commune als „die endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariats“ bezeichnete und sie bemerkenswerte und vorankündigende Gemeinsamkeiten mit dem aufwies, was später die Sowjets werden sollten, ist die Pariser Commune eher verwandt mit den radikaldemokratischen Organisationsformen der städtischen Massen in der Französischen Revolution: „Die Initiative zur Ausrufung der Kommune ging vom Zentralkomitee der Nationalgarde aus, das an der Spitze eines Systems von Soldatendelegiertenräten stand, die sich in den einzelnen Einheiten gebildet hatten. Die Bataillonsklubs als unterste Organe wählten einen Legionsrat, der je 3 Vertreter in das 60–köpfige ZK entsandte. Außerdem war eine Generalversammlung aus Vertretern der Kompanien vorgesehen, die einmal monatlich zusammentreten sollte. Alle Delegierten waren jederzeit abberufbar.“ (Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden, 1958, S. 15)

[4] Zitat von Trotzki aus seinem Vorwort zu F. Lassalles Reden vor dem Geschworenengericht wiedergegeben in Trotzkis Schrift Ergebnisse und Perspektiven, 9. Kapitel Europa und die Revolution, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg–pers/9–europa.htm#top [12]

[5] Wir können hier nicht auf die Chronik der Ereignisse eingehen. Vgl. dazu Internationale Revue Nr. 35, Vor 100 Jahren: Die Revolution von 1905, Teil 1, /content/58/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-i [13]

[6] Das Buch von Rosa Luxemburg Massenstreik, Partei und Gewerkschaften beschreibt und analysiert mit großer Schärfe die Dynamik der Bewegung mit ihren Höhen und Tiefen, in ihren aufsteigenden Momenten und denjenigen des plötzlichen Rückflusses.

[7] Russland war bei dieser Weltlage des Kulminationspunktes und beginnenden Niedergangs des kapitalistischen Systems gefangen im Widerspruch zwischen dem Hindernis, das der feudale Zarismus für die kapitalistische Entwicklung darstellte, und der Notwendigkeit für die liberale Bourgeoisie, sich auf dieses System abzustützen, und zwar nicht nur auf den bürokratischen Apparat zu ihrer Entwicklung, sondern auch auf das Repressionsbollwerk gegen die nicht drängenden Ansprüche des Proletariats. Vgl. dazu das Buch von Trotzki 1905.

[8] Volin war ein anarchistischer Revolutionär, der dem Proletariat immer treu blieb und auf der Grundlage einer internationalistischen Position jede Beteiligung am Zweiten Weltkrieg ablehnte.

[9] „Eines Abends, als wir wie gewöhnlich mit einigen Arbeitern – auch Nosar war dabei – bei mir zu Hause saßen, kam jemand auf den Gedanken, eine kontinuierliche Arbeiterorganisation ins Leben zu rufen: eine Art Komitee, oder vielmehr Rat, der die Fortsetzung der Ereignisse genau verfolgen und als Verbindungsglied für alle Arbeiter dienen sollte, der über die jeweilige Lage informieren sollte und gegebenenfalls die revolutionären Arbeiter um sich scharen könnte.“ Volin, Die unbekannte Revolution, Verlag Association, Kapitel 2, Seite 104 (Nosar war der erste Vorsitzende des Petersburger Sowjets im Oktober 1905)     

[10] Er entstand am 13. Mai 1905 in der Industriestadt Iwanow–Wosnesensk im Zentrum Russlands. Für weitere Details vgl. den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 37 über 1905 (2. Teil).

[11] Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden, 1958

[12] Fjodor Fjodorowitsch Trepow, Berufsmilitär, war Chef der zaristischen Polizei in Warschau von 1860 bis 1861, dann wieder von 1863 bis 1866. Er hatte in Petersburg in den Jahren 1874–1880 die gleiche Funktion. Er war bekannt für seine brutalen Repressionsmethoden, die insbesondere in der Unterdrückung der Stundentenunruhen im Januar 1874 und der Demonstration vor der Kathedrale von Kazan 1876 zum Ausdruck kamen.

[13] Trotzki, 1905, Der Oktoberstreik, I. Kapitel

[14] ebenda

[15] Andres Nin, Los Soviets en Russia, S. 17 (unsere Übersetzung aus dem Spanischen)

[16] Trotzki, 1905, Der Oktoberstreik, II. Kapitel

[17] Ebenda, III. Kapitel

[18] Soweit hier aus Trotzki, 1905, in der deutschen Übersetzung, herausgegeben von der Kommunistischen Internationale, zitiert wird oder der Text sich auf solche Zitate bezieht, sind die Daten nach dem (neuen) gregorianischen Kalender angegeben, das heißt: Für die Umrechnung auf den 1905 in Russland noch geltenden julianischen Kalender sind 13 Tage abzuziehen.

[19] a.a.O., Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[20] a.a.O., von Trotzki zitiert

[21] a.a.O., Der Oktoberstreik, III

[22] a.a.O., VI

[23] a.a.O., Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[24] a.a.O.

[25] Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, Kapitel 7: Die Voraussetzungen des Sozialismus. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg–pers/7–vorsoz.htm#top [14]

[26] Leo Trotzki, Die russische Revolution 1905, Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[27] a.a.O.

[28] a.a.O.

[29] a.a.O.

[30] Siehe dazu insbesondere den Artikel in der International Revue Nr. 37 über 1905 und die Rolle der Sowjets (2. Teil): /content/633/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-ii [15] 

[31] Insbesondere aus den Barrikadenkämpfen, aus denen Engels in seiner Einleitung zu Marxens Klassenkämpfen in Frankreich die Schlussfolgerungen gezogen hatte; er schrieb diese Einleitung 1895, und sie wurde sehr bekannt, weil die Kritik von Engels an den Barrikadenkämpfen von den Opportunisten innerhalb der Sozialdemokratie benutzt wurde, um die Ablehnung der Gewalt und den ausschließlichen Gebrauch parlamentarischer und gewerkschaftlicher Mittel zu begründen.

Internationaler Klassenkampf: Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel

  • 2464 reads

Von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe

Vorbemerkung: Der Artikel wurde geschrieben bevor die OccupyWallstreet-Bewegung in den USA anfing. Deshalb konnten wir deren Einschätzung in diesem Artikel nicht mit berücksichtigen. In der Zwischenzeit haben wir einen separaten Artikel dazu veröffentlicht, https://de.internationalism.org/node/2181 [16])

Im letzten Editorial unserer Internationalen Revue Nr. 146 (englische, französische, spanische Ausgabe) haben wir über die Kämpfe in Spanien berichtet.[1] Seitdem hat sich das Beispiel dieser Kämpfe weiter auf Griechenland und Israel ausgedehnt.[2] In diesem Artikel wollen wir die Lehren dieser Bewegung ziehen und die Perspektiven untersuchen, die sich aus dem Bankrott des Kapitalismus und der brutalen Angriffe gegen die Arbeiterklasse und die große Mehrzahl der Weltbevölkerung ergeben.

Um diese zu begreifen, muss man kategorisch die alles auf die Gegenwart beziehende und empiristische Methode, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrscht, verwerfen. Diese untersucht nämlich jedes einzelne Ereignis isoliert, außerhalb des historischen Kontextes und durch eine Begrenzung auf das Land, in dem diese stattfinden. Diese photographische Herangehensweise ist eine Widerspiegelung des ideologischen Niedergangs der Kapitalistenklasse, denn „Das einzige, was diese Klasse der Gesellschaft insgesamt anbieten kann, besteht darin, von einem Tag zum nächsten,  ohne Hoffnung auf Erfolg, dem unaufhaltsamen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise zu widerstehen.“ (Manifest der IKS, 1989).[3]

Eine Photographie kann uns eine glückliche, lächelnde Person zeigen, aber solch ein Photo kann auch einen anderen Eindruck verbergen, wenn dieselbe Person nur wenige Sekunden zuvor ein ängstliches, besorgtes Gesicht macht. Wir brauchen eine Methode zur Einschätzung einer sozialen Bewegung. Man kann sie nur verstehen, indem man sie geschichtlich einordnet und untersucht, auf welchem Hintergrund sie entstanden ist und auf welche zukünftige Entwicklung sie hinweist. Man muss solche Bewegungen in einem weltweiten Kontext einordnen und sie nicht in dem national begrenzten Rahmen sehen, in dem sie entstehen. Und vor allem, sie müssen in ihrer Dynamik begriffen werden, nicht als das, was sie zu einem gegebenen Zeitpunkt sind, sondern was sie aufgrund der Tendenzen, Kräfte und Perspektiven werden können, die sie beinhalten und die früher oder später an die Oberfläche dringen werden.

Ist die Arbeiterklasse in der Lage, auf die Krise des Kapitalismus zu reagieren?

Wir haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen zweiteiligen Artikel veröffentlicht:[4] Warum hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht überwunden? Wir haben in diesem Artikel daran erinnert, dass die kommunistische Revolution nicht automatisch eintreten wird und dass ihr Zustandekommen von dem Zusammenwirken zweier Faktoren abhängt, den objektiven und subjektiven. Der objektive Faktor ist durch die Dekadenz des Kapitalismus gegeben[5] und durch die Entwicklung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch offensichtlich wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch andere Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen[6]. Der subjektive Faktor hängt mit dem kollektiven und bewussten Handeln des Proletariats zusammen.

Der Artikel zeigt auf, dass die Arbeiterklasse die Herausforderungen der Geschichte hat vorübergehen lassen. Bei der ersten Herausforderung, im 1. Weltkrieg, scheiterte der Versuch einer Reaktion durch eine Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1917-23. Bei der zweiten Herausforderung – der großen Depression von 1929 – trat die Arbeiterklasse als autonome Klasse nicht in Erscheinung. Und bei der dritten – dem 2. Weltkrieg – war die Arbeiterklasse nicht nur abwesend, sondern sie glaubte gar, dass die Demokratie und der Wohlfahrtstaat, diese beiden von den Siegermächten verbreiteten Mythen, einen Sieg für sie bedeuteten. Als die Krise Ende der 1960er Jahre wieder aufbrach, „hatte das Proletariat sich der Herausforderung zwar gestellt, (…), aber gleichzeitig konnte man die Vielzahl von Hindernissen sehen, vor denen es steht und die bislang seinen Weg zur proletarischen Revolution behindert haben“[7]. Diese Bremsen wirkten erneut während eines neuen Ereignisses welthistorischer Bedeutung: dem Zusammenbruch der sogenannten ‘kommunistischen’ Regime 1989, bei denen sie nicht nur keine aktive Rolle spielte, sondern bei denen sie zur Zielscheibe einer gewaltigen antikommunistischen Kampagne wurde, welche einen Rückgang ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft auslöste.

Was wir als „die fünfte Herausforderung“ der Geschichte bezeichnen können, begann 2007. Die immer offener werdende Krise offenbart das praktisch endgültige Scheitern der Politik des Kapitalismus, seine unüberwindbare Wirtschaftskrise in den Griff zu kriegen. Im Sommer 2011 wurde offensichtlich, dass die gewaltigen Geldspritzen, die in die Wirtschaft gepumpt wurden, den Aderlass nicht aufhalten können und der Kapitalismus in eine große Depression hineinrutscht, deren Ausmaß viel schlimmer sein wird als die von 1929.[8]

Aber in einer ersten Phase und trotz der Schläge, die das Proletariat einstecken musste, scheint das Proletariat erneut abwesend zu sein. Wir hatten solch eine Möglichkeit auf unserem 18. Internationalen Kongress (2009) ins Auge gefasst:  „Doch zunächst werden es aller Voraussicht nach verzweifelte und vergleichsweise isolierte Kämpfe sein, auch wenn ihnen andere Teile der Arbeiterklasse ehrliche Sympathie entgegenbringen. Selbst wenn es also in der nächsten Zeit keine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wir nicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zu kämpfen. Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die„Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zu lassen –, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“[9]

Die gegenwärtigen Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland deuten darauf hin, dass die Arbeiterklasse anfängt, sich dieser „fünften Herausforderung der Geschichte zu stellen“. Sie fängt damit an, sich darauf vorzubereiten, die Mittel zu entwickeln, um einen Sieg zu erlangen.[10]

In dem oben erwähnten Artikel haben wir hervorgehoben, dass die beiden Stützpfeiler, auf denen der Kapitalismus, zumindest in den zentralen Ländern, ruhte, um die Arbeiterklasse im Griff zu halten, die Demokratie und der sogenannte Wohlfahrtstaat waren. Die drei gegenwärtigen Bewegungen haben deutlich werden lassen, dass diese Stützpfeiler langsam infrage gestellt werden ; obwohl all dies noch sehr konfus geschieht, wird diese Infragestellung durch die katastrophale Entwicklung der Krise beschleunigt.

Die Infragestellung der Demokratie

Die Wut auf die Politiker im Allgemeinen und auf die Demokratie ist in den drei Bewegungen zum Vorschein getreten, wie auch die Empörung über die Tatsache, dass die Reichen und ihre politischen Anhängsel sich immer mehr bereichern und immer mehr bestechlich werden, während der Großteil der Bevölkerung wie eine Ware im Dienst der skandalösen Profite der ausbeutenden Minderheit gesehen wird ; eine Ware, die in den Mülleimer geworfen wird, sobald die „Geschäfte nicht gut laufen“. Auch die drastischen Sparprogramme wurden an den Pranger gestellt. Von diesen Programmen spricht niemand während der Wahlkämpfe, die aber zur Hauptbeschäftigung der Gewählten werden.

Es liegt auf der Hand, dass diese Gefühle und Haltungen nicht neu sind: Man hat zum Beispiel während der letzten 30 Jahre immer über die Politiker geschimpft. Und solche Gefühle können auch in Sackgassen gelenkt werden, wie es die Kräfte der herrschenden Klasse gegenüber diesen drei Bewegungen immer wieder versuchen, indem sie Werbung machen für „eine partizipierende Demokratie“, eine „Erneuerung der Demokratie“ usw.

Aber neu und besonders wichtig ist, dass diese Themen, welche, ob man es will oder nicht, die bürgerliche Demokratie, den bürgerlichen Staat und deren Herrschaftsapparat infrage stellen, zum Diskussionspunkt in den zahlreichenden Vollversammlungen werden. Man kann nicht Individuen vergleichen, die ihre Abscheu alleine, atomisiert, passiv und resigniert zum Ausdruck bringen, mit denen, die so etwas gemeinsam in den Versammlungen äußern. Ungeachtet aller Fehler, Verwirrungen, Sackgassen, die dort unvermeidlich zum Ausdruck kommen und mit der größten Ausdauer und Nachdruck bekämpft werden müssen, liegt der Kern der Sache eigentlich in der Tatsache, dass die Sachen offen zur Sprache gebracht werden. Dies stellt eine wichtige Politisierung der großen Massen dar, und auch ein Anfang einer Infragestellung dieser Demokratie, die dem Kapitalismus während des letzten Jahrhunderts so wertvolle Dienste geleistet hat.

Das Ende des sogenannten „Wohlfahrtstaats“

Nach dem 2. Weltkrieg baute der Kapitalismus das auf, was als „Wohlfahrtstaat“ bekannt wurde.[11] Dieser stellte eine der Hauptstützen der kapitalistischen Herrschaft während der letzten 70 Jahre dar. Er hat die Illusion geschaffen, der Kapitalismus habe die brutalsten Aspekte seiner Wirklichkeit überwunden: der Wohlfahrtstaat garantiere eine Sicherheit gegenüber der Arbeitslosigkeit, den Renten, der kostenlosen Gesundheitsversorgung und Bildung, Sozialwohnungen usw.

Dieser „Sozialstaat“, der die politische Demokratie ergänzt, ist in den letzten 25 Jahren schon stark zurückgebaut worden, um bald völlig zu verschwinden. In Griechenland, Spanien oder Israel (wo vor allem die Wohnungsnot die Leute zu Protesten angetrieben hat) stand die Angst vor der Abschaffung der sozialen Mindeststandards im Mittelpunkt der Mobilisierungen. Es liegt auf der Hand, dass die Herrschenden versucht haben, diese Proteste in „Reformen“ der Verfassung, der Verabschiedung von Gesetzen, die diese Leistungen „garantieren“ usw. umzuwandeln. Aber die Welle wachsender Unzufriedenheit wird dazu beitragen, all diese Schutzwälle, die die Arbeiterklasse zurückhalten sollen, zu untergraben.

Die Bewegung der Empörten – ein Höhepunkt von acht Jahren Kämpfen

Der Krebs des Pessimismus beherrscht die gegenwärtige Ideologie und dringt  ebenfalls in die Arbeiterklasse und ihre revolutionären  Minderheiten ein. Wie oben erwähnt hat die Arbeiterklasse alle ihre Herausforderungen, vor welche sie die Geschichte während eines Jahrhunderts kapitalistischen Niedergangs gestellt  hat, nicht angenommen. Deshalb haben sich in ihren Reihen beängstigende Zweifel an ihrer eigenen Klassenidentität und ihrer Fähigkeiten breit gemacht, die so weit gehen, dass sogar bei Ausdrücken von Kampfbereitschaft einige den Begriff „Arbeiterklasse“ verwerfen.[12] Diese Skepsis ist umso stärker, da sie durch den Zerfall des Kapitalismus noch vergrößert wird:[13] Hoffnungslosigkeit, fehlende konkrete Projekte hinsichtlich der Zukunft begünstigen Zögern und Misstrauen gegenüber jeder Perspektive kollektiven Handelns.

Die Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland stellen ungeachtet all ihrer Schwächen einen Anfang wirksamer Mittel gegen das Krebsgeschwür breit gestreuter Skepsis dar. Allein das Auftreten von Kämpfen und die Kontinuität, die diese darstellen, sowie die darin zum Vorschein kommende Bewusstseinsentwicklung seit 2003 bewirkt dies.[14]

Sie sind keine Bewegung, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel erscheint, sondern eine langsame Kondensierung während der letzten acht Jahre von kleinen Wolken und Sprühregen, die jetzt eine neue Qualität erreicht haben.

Die Arbeiterklasse erholt sich seit 2003 von dem langen Zeitraum des Rückflusses ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft, die sie nach den Ereignissen von 1989 hatte einstecken müssen. Dieser Prozess entwickelt sich aber nur langsam, mit Widersprüchen und auf gewundenen Wegen. Dies sieht man anhand:

–  einer Reihe von ziemlich isolierten Kämpfen in verschiedenen Ländern sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie, die von Beispielen geprägt sind, welche einen „Wegweiser für die  Zukunft“ darstellen: die Suche nach Solidarität, Versuche der Selbstorganisierung, das Auftauchen von neuen Generationen, Nachdenken über die Zukunft;

–  eine Entwicklung von internationalistischen Minderheiten, die eine revolutionäre Kohärenz suchen, sich viele Fragen stellen und Kontakt untereinander suchen, debattieren, Perspektiven aufzeigen…

2006 brachen zwei Bewegungen aus – der Kampf gegen den CPE in Frankreich[15] und der massive Streik der Beschäftigten in Vigo, Spanien, welche trotz der räumlichen Trennung voneinander, der unterschiedlichen Bedingungen oder der Altersunterschiede der Beteiligten ähnliche Züge aufwiesen: Vollversammlungen, Ausdehnung auf andere Bereiche, Massendemonstrationen… Es war wie ein erster Warnschuss, der aber folgenlos blieb.[16]

Ein Jahr später gab es in Ägypten Keime eines Massenstreiks, der von einer großen Textilfabrik ausging. Anfang 2008 kam es in einer Reihe von Ländern, sowohl in der Peripherie als auch im Zentrum des Kapitalismus zu gleichzeitigen, aber voneinander isolierten Kämpfen. Schließlich traten andere Bewegungen hinzu, wie die sich in 33 Ländern entwickelnden Hungerrevolten im ersten Quartal 2008. In Ägypten wurden diese unterstützt und teilweise von der Arbeiterklasse getragen. Ende 2008 revoltierte die Arbeiterjugend in Griechenland, die von einem Teil der Arbeiterklasse Rückendeckung erhielt. Auch gab es Keime internationalistischer Reaktionen 2009 in Lindsey (Großbritannien) und eine explosive Streikwelle im Süden Chinas (im Juni).

Nach dem anfänglichen Zurückweichen des Proletariats gegenüber den ersten Auswirkungen der Krise fing das Proletariat wie erwähnt an, entschlossener zu kämpfen und 2010 wurde erneut Frankreich von einer massiven Protestbewegung gegen die Rentenreform erschüttert. In dieser Bewegung kam es zu ersten Versuchen der Bildung von branchenübergreifenden Vollversammlungen. Im Dezember protestierten die Jugendlichen in Großbritannien gegen die brutale Erhöhung der Studiengebühren. 2011 schließlich brachen in Ägypten und Tunesien die großen Sozialrevolten aus. Die Kämpfe der Arbeiterklasse schienen wieder an Fahrt zu gewinnen, um einen neuen Sprung nach vorne zu machen: die Bewegung der Empörten in Spanien, dann Griechenland und Israel.

Handelt es sich um eine Bewegung der Arbeiterklasse?

Diese drei Bewegungen können nur in dem eben erwähnten Zusammenhang begriffen werden. Sie sind wie ein erstes Teil in einem Puzzle, das all die Teile der letzten acht Jahre zusammenfasst. Aber die Skepsis bleibt weiterhin sehr stark und viele fragen sich: Kann man von einer Klassenbewegung der Arbeiterklasse sprechen, da diese nicht als solche auftritt und auch keine Streiks oder Versammlungen am Arbeitsplatz gemeldet wurden?

Die Bewegung nennt sich „die Empörten“, eine sehr treffende Bezeichnung aus der Sicht der Arbeiterklasse,[17]  aber dieser Begriff lässt nicht sofort deutlich werden, welche Kraft sie in sich birgt, da sie sich nicht direkt mit der Arbeiterklasse identifiziert. Zwei Faktoren lassen sie im Wesentlichen als eine Sozialrevolte erscheinen:

Der Verlust der Klassenidentität

Die Arbeiterklasse hat einen herben Rückschlag erlitten hinsichtlich ihres eigenen Identitätsgefühls: „Die ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das „Ende des Kommunismus“, den „endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus“ und das „Ende des Klassenkampfes“, ja der Arbeiterklasse selbst haben dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war nachhaltig und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst. Andersweitig hatten diese Ereignisse ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit in der Arbeiterklasse hinterlassen, was das Selbstvertrauen und die Kampfbereitschaft weiter sinken ließ“ (17. Kongress der IKS, 2007, Resolution zur internationalen Situation).[18]

Dies erklärt zum Teil, weshalb die Teilnahme der Arbeiterklasse an diesen Bewegungen nicht im Vordergrund stand, sondern dass sich eher Arbeiter als Individuen beteiligten (Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner…), die nach einer Klärung suchen, sich gefühlsmäßig beteiligen, die aber nicht über die Kraft, den Zusammenhalt und die Klarheit verfügen, die man erlangt, wenn man kollektiv als Klasse handelt.

Aus diesem Identitätsverlust geht hervor, dass das Programm, die Theorie, die Traditionen, die Methoden des Proletariats von der großen Mehrheit der Arbeiter nicht als zu ihrer Klasse gehörig betrachtet werden. Sprache, Handlungsformen, Symbole – all das scheint bei der Bewegung der Empörten auf andere Quellen zurückzuführen zu sein. Dies ist eine gefährliche Schwäche, die geduldig bekämpft werden muss, damit es zu einer kritischen Wiederaneignung des theoretischen Erbes, der Erfahrung, der Traditionen der Arbeiterbewegung kommt, die diese während der letzten zwei Jahrhunderte erworben hat.

Die Anwesenheit von nicht-proletarischen Schichten

Unter den Empörten gibt es viele Mitglieder nicht-proletarischer Schichten, insbesondere eine immer stärker lohnabhängig werdende Mittelschicht. Wie wir in unserem Artikel zu Israel schrieben:

„Eine andere Methode besteht darin, sie als eine Bewegung des „Mittelstandes“ zu etikettieren. Es trifft zu, dass es sich, wie bei den anderen Bewegungen, hier um einen breiten sozialen Aufstand handelt, der die Unzufriedenheit vieler verschiedener Gesellschaftsschichten ausdrückt, vom kleinen Geschäftsmann bis zum Produktionsarbeiter, alle von ihnen von der Weltwirtschaftskrise, von der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm und von der Verschärfung der Lebensbedingungen durch den unersättlichen Hunger der Kriegswirtschaft in einem Land wie Israel in Mitleidenschaft gezogen. Doch der „Mittelstand“ ist ein vager, alles und nichts sagender Begriff, der sich auf jedermann mit einer Ausbildung oder einem Job und – in Israel wie in Nordafrika, Spanien oder Griechenland – auf die wachsende Zahl von ausgebildeten jungen Menschen bezieht, die in die Reihen des Proletariats gedrängt werden und in schlecht bezahlten und unqualifizierten Jobs arbeiten, wenn sie denn welche finden.“[19]

Obgleich die Bewegung als sehr vage und ungenau definiert erscheint, stellt dies ihren Klassencharakter nicht infrage, vor allem wenn wir die Entwicklung in ihrer Dynamik betrachten, d.h. im Hinblick auf die Zukunft, wie es die GenossInnen der TPTG gegenüber der Bewegung in Griechenland tun. „Was die Politiker aller Couleur bei dieser Bewegung der Versammlungen besorgt, sind die wachsende Wut und die Empörung der ArbeiterInnen (und der kleinbürgerlichen Schichten), und dass diese nicht mehr mittels der politischen Parteien und Gewerkschaften zum Ausdruck kommen. Sie sind also nicht mehr so kontrollierbar und es ist besonders gefährlich für das repräsentative System der politischen Parteienlandschaft und der Gewerkschaften im Allgemeinen.[20]“

Die Arbeiterklasse ist in dieser Bewegung nicht als führende Kraft zu erkennen, auch gibt es keine spürbare Mobilisierung von den Arbeitsplätzen ausgehend. Man spürt vielmehr die Präsenz der Arbeiterklasse anhand der Dynamik des Suchens, der Klärung, der Vorbereitung des gesellschaftlichen Nährbodens, der Erkenntnis, dass wichtige Kämpfe auf uns zukommen. Darin steckt seine Bedeutung, auch wenn dies nur ein sehr kleiner, sehr unsicherer Schritt ist. Hinsichtlich Griechenlands meinen die GenossInnen von TPTG, dass die Bewegung „ein Ausdruck der Krise der Beziehungen zwischen den Klassen und der Politik im Allgemeinen darstellt. Kein anderer Kampf hat sich während der letzten Jahrzehnte so zweideutig und explosiv entwickelt“,[21] und gegenüber Israel äußerte sich ein Journalist folgendermaßen: „Anders als in Syrien oder Libyen, wo Diktatoren ihre eigenen Bürger zu Hunderten abschlachten, war es in Israel nie die Unterdrückung, die die Gesellschaftsordnung zusammenhielt, soweit es die jüdische Gesellschaft betraf. Es war die Indoktrination – eine vorherrschende Ideologie, um einen Begriff zu verwenden, der von kritischen Theoretikern bevorzugt wird. Und es war diese kulturelle Ordnung, die in dieser Protestwelle Dellen abbekam. Erstmals erkannte der Kern des israelischen Mittelstandes – es ist zu früh, um einzuschätzen, wie groß diese Gruppe ist -, dass er kein Problem mit anderen Israelis oder mit den Arabern oder mit bestimmten Politikern hat, sondern mit der gesamten Gesellschaftsordnung, mit dem gesamten System. In diesem Sinn ist es ein einmaliges Ereignis in der Geschichte Israels.“[22]

Die Merkmale zukünftiger Kämpfe

Aus dieser Sicht können wir die Merkmale dieser Kämpfe als mögliche Charakteristiken zukünftiger Kämpfe betrachten, welche diese jeweils kritisch aufgreifen und auf eine höhere Stufe stellen müssen:

–  neue Generationen der Arbeiterklasse treten in den Kampf ein. Dabei gibt es aber im Vergleich zu der 1968er Bewegung  einen wichtigen Unterschied:  Während damals die Jugend meinte, man müsse wieder bei Null anfangen und die „Alten“ seien „besiegt und verbürgerlicht“, gibt es heute Ansätze für einen vereinten Kampf verschiedener Generationen der Arbeiterklasse.

–  direkte Aktionen der Massen. Die Kämpfe haben sich auf die Straße ausgedehnt, Plätze sind besetzt worden.  Die Ausgebeuteten sind dort direkt zusammengekommen, man konnte zusammenleben, diskutieren und handeln.

–  Der Beginn einer Politisierung: ungeachtet der falschen Antworten, die heute und später gegeben werden, ist es wichtig, dass die großen Massen anfangen, sich direkt und aktiv mit den großen Fragen der Gesellschaft zu befassen. Das ist der Anfang ihrer Politisierung als Klasse.

–  Die Versammlungen: Sie sind mit der proletarischen Tradition der Arbeiterräte von 1905 und 1917 in Russland verbunden, die sich während der Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1927-23 auf Deutschland und andere Länder ausdehnte. Sie sind eine Waffe für die Bildung der Einheit, der Entwicklung der Solidarität, der Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung und der Entscheidungen der Arbeitermassen. Der in Spanien sehr populäre Slogan „Alle Macht den Versammlungen“ spiegelt die aufkeimende zentrale Reflektion über Fragen wie den Staat, Doppelmacht usw. wider.

 – Die Debattenkultur: Die Klarheit, welche die Entschlossenheit und das Heldentum der proletarischen Massen inspiriert, kann nicht dekretiert werden. Genauso wenig ist sie das Ergebnis einer Indoktrinierung durch eine kleine Minderheit, die die Wahrheit „gepachtet“ hätte. Sie entsteht durch das Zusammenfließen von Erfahrung, dem Kampf und insbesondere der Debatten. Die Debattenkultur war bei diesen drei Bewegungen deutlich spürbar: alles wurde zur Diskussion gestellt. Alles was politisch, sozial, ökonomisch, menschlich ist, wurde durch diese gewaltigen improvisierten Agoras kritisch überprüft. Wie wir in der Einleitung zum Artikel der GenossInnen der TPTG aus Griechenland schrieben, ist dies von besonderer Bedeutung: „Die entschlossenen Bemühungen, um zur Entstehung dessen beizutragen, was die GenossInnen der TPTG „öffentlichen proletarischen Raum“ bezeichnen, welche es einer ständig wachsenden Zahl von Mitgliedern unserer Klasse ermöglichen wird, nicht nur den kapitalistischen Angriffen gegen unsere Lebensbedingungen entgegenzutreten, sondern auch die Theorien und Aktionen zu entfalten, die uns allen einen neue Art des Lebens ermöglichen“;[23]

 – die Herangehensweise an die Frage der Gewalt. „Seit jeher war das Proletariat der extremen Gewalt von Seiten der Bourgeoisie ausgesetzt, und im Falle einer versuchten Interessensverteidigung auch der Repression, sowohl im imperialistischen Krieg als auch durch die alltägliche Gewalt der Ausbeutung. Im Gegensatz zu den ausbeutenden Klassen ist das Proletariat keine gewalttätige Klasse von sich aus. Wenn auch das Proletariat Gewalt anwenden muss, und unter Umständen sehr entschlossen, so wird es ich nicht mit ihr identifizieren. Die notwendige Gewalt zum Umsturz des Kapitalismus muss in den Händen des Proletariats eine bewusste und organisierte Gewalt sein. Ihr muss ein Prozess des Bewusstseins und der Organisation anhand verschiedener Kämpfe gegen die Ausbeutung vorangehen.“[24] Wie während der Bewegung der Studenten 2006 waren die Herrschenden mehrere Male geneigt gewesen, die Bewegung der Empörten (insbesondere in Spanien) in die Falle gewalttätiger Zusammenstöße mit der Polizei zu locken, als die Bewegung zerstreut und schwach war, um diese somit zu diskreditieren und deren Isolierung zu erleichtern. Diese Fallen konnten vermieden werden und ein aktives Nachdenken über die Frage der Gewalt hat eingesetzt.[25]

Schwächen und Verwirrungen, die bekämpft werden müssen

Wir wollen diese Bewegungen überhaupt nicht glorifizieren. Nichts ist der marxistischen Methode fremder als einen entschlossenen Kampf, so wichtig und reichhaltig er auch sein mag, als ein endgültiges, abgeschlossenes und monolithisches  Modell darzustellen, das man wortwörtlich nachahmen könnte. Wir sind uns dessen Schwächen und Schwierigkeiten bewusst und sehen diese klar vor uns.

Die Anwesenheit eines „demokratischen Flügels“

Diese drängt auf die Verwirklichung einer „echten Demokratie“. Dieses Projekt wird von mehreren Richtungen vertreten, sogar von der Rechten in Griechenland. Es liegt auf der Hand, dass die Medien und Politiker sich auf diesen Flügel stützen, um die gesamte Bewegung dazu zu drängen, sich damit zu identifizieren.

Die Revolutionäre müssen energisch all die Verschleierungen, irreführenden Maßnahmen,  die Scheinargumente dieser Tendenz bekämpfen. Warum gibt es aber noch eine starke Neigung, sich nach all den Jahren von Täuschungen, Irreführungen und Lügen von den Verlockungen der Demokratie verführen zu lassen? Man kann drei Gründe anführen. Der erste liegt in dem Gewicht der nicht-proletarischen Schichten, die sehr anfällig sind für die demokratischen und interklassischen Verschleierungen. Der zweite Grund liegt in der Macht der in der Arbeiterklasse noch sehr verbreiteten demokratischen Verwirrungen und Illusionen, die besonders unter den Jugendlichen noch stark sind, weil sie noch nicht über viel politische Erfahrung verfügen. Der dritte Grund liegt in dem Druck, den der gesellschaftliche und ideologische Zerfall des Kapitalismus ausübt, welche die Tendenz begünstigt, sich in ein Gebilde „über den Klassen und den Konflikten“ zu flüchten, d.h. den Staat, der angeblich eine gewisse Ordnung, Gerechtigkeit und Vermittlung anbieten könne.

Aber es gibt noch einen tieferliegenden Grund, auf den wir hinweisen müssen. Im Der 18. Brumaire des Lois Bonaparte stellte Marx fest: „Proletarische Revolutionen dagegen, (…) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen...“.[26] Heute deckt die ganze Entwicklung den Bankrott des Kapitalismus auf, die Notwendigkeit ihn zu überwinden und eine neue Gesellschaft zu errichten. Aber in einer Arbeiterklasse, die an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelt und ihre Klassenidentität noch nicht wieder hergestellt hat, bringt dies jetzt und noch eine Zeitlang die Tendenz hervor, sich an morsche Äste zu klammern, auf falsche „Reformen“ und Hoffnung zu setzen auf eine „Demokratisierung“, selbst wenn man daran Zweifel hegt. All dies bietet der herrschenden Klasse noch einen Spielraum, bei dem sie Spaltung und Demoralisierung vorantreiben möchte, und es somit der Arbeiterklasse noch schwerer macht, dieses Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte und ihre Klassenidentität zu entwickeln.

Das Gift des Apolitischen

Es handelt sich um eine alte Schwäche, unter der das Proletariat seit 1968 leidet und die ihren Ursprung in der gewaltigen Enttäuschung und der tiefen Skepsis hat, welche die stalinistische und sozialdemokratische Konterrevolution hervorgerufen hatten, wodurch das Gefühl entsteht, dass jede politische Option, auch diejenige, welche sich auf die Arbeiterklasse beruft, in ihrem Kern schon den Keim des Verrats und der Unterdrückung enthalte. Daraus schlagen die Kräfte der herrschenden Klasse Profit,  welche durch die Vertuschung ihrer eigenen Identität und durch das Aufzwingen der Fiktion einer Intervention als „freie Bürger“ in der Bewegung aktiv sind und dort die Kontrolle über die Versammlungen an sich reißen und die Bewegung von Innen her sabotieren wollen. Die GenossInnen der TPTG zeigen dies sehr klar auf: „Am Anfang herrschte ein Gemeinsinn bei den Anstrengungen der Selbstorganisierung der Besetzung des Platzes und offiziell wurden die politischen Parteien nicht geduldet. Aber die linken Gruppen und insbesondere diejenigen, die aus SYRIZA stammen (eine Koalition der radikalen Linken), beteiligten sich schnell an den Versammlungen des Syntagma und besetzten wichtige Stellungen in der Gruppe, die gebildet worden war, um die Besetzung des Syntagma-Platzes zu betreiben, insbesondere im „Unterstützungssekretariat“ und in der „Kommunikationsgruppe“. Diese beiden Gruppen sind am wichtigsten, weil sie die Tagesordnungen der Versammlungen festlegen wie auch die Durchführung der Diskussionen leiten. Man konnte beobachten, dass diese Leute ihre politisch Zugehörigkeit nicht an den Tag legten und dass sie als Einzelpersonen auftraten“.[27]

Die Gefahr des Nationalismus

Diese Gefahr ist in Griechenland und Israel größer. Wie die GenossInnen der TPTG bemerken, „herrscht der Nationalismus (insbesondere in seiner populistischen Form) vor; er wird gleichzeitig von den verschiedenen Cliquen der Extremen Rechten und den linken und linksextremen Parteien begünstigt. Selbst für viele Arbeiter und Kleinbürger, die von der Krise betroffen sind, aber keiner politischen Partei angehören, erscheint die nationale Identität als eine letzte imaginäre Zufluchtsstätte, während alles andere dabei ist zusammenzubrechen. Hinter den Slogans „gegen die Regierung, die sich ans Ausland verkauft hat“ oder „für das Wohl des Landes“, „die nationale Souveränität“,  erscheint die Forderung einer „neuen Verfassung  als magische und vereinigende Lösung“.[28]

Dieser Hinweis der GenossInnen ist sehr richtig und tiefsinnig. Der Identitätsverlust und das Vertrauen in die Arbeiterklasse in ihre eigenen Kräfte, der langsame Prozess des Kampfes der Arbeiter auf der ganzen Welt begünstigt die Tendenz, sich „an etwas Nationalem“ festzuklammern. Dies ist aber nur eine utopische Flucht vor einer feindseligen Welt, die voll von Unsicherheiten ist.

Die Folgen der Kürzungen im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich, das wahre Problem, das durch die Schwächung dieser Dienstleistungsbereiche entstanden ist, werden benutzt, um die Kämpfe um die nationalistischen Schranken der Forderung einer „guten Erziehung“ (denn sie würde uns auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger machen) und eines „Gesundheitswesens im Dienste aller Bürger“ zu propagieren.

Die Angst und die Schwierigkeit, sich den Klassenkonfrontationen zu stellen

Deshalb wird die massive Mobilisierung der Arbeitslosen, der Prekären, der Arbeitslosenzentren usw.  erschwert, was wiederum ein Zögern, Zweifel und eine Tendenz begünstigt, sich an „Versammlungen“ festzuklammern, deren Teilnehmerzahl jeden Tag sinkt und deren „Einheit“ in Wirklichkeit nur die in ihren Reihen aktiven bürgerlichen Kräfte begünstigt. Dadurch entsteht für die Herrschenden ein Spielraum, die damit alle möglichen Tricks zur Sabotage der Vollversammlungen von Innen heraus einsetzen können. Gerade dies prangern die GenossInnen der TPTG an: „Die Manipulation der großen Versammlung auf dem Syntagma-Platz (es gibt weitere in anderen Stadtvierteln Athens und anderen Städten)  durch Mitglieder von Parteien oder von linken Organisationen, die  aber nicht als solche auftreten, liegt auf der Hand und dies ist ein echtes Hindernis für die Ausrichtung der Kämpfe auf einer Klassenebene. Aber aufgrund der tiefgreifenden Legitimitätskrise des politischen Repräsentationssystems im Allgemeinen müssen diese auch ihre eigene politische Identität verbergen und ein – nicht immer erfolgreich gelungenes – Gleichgewicht behalten zwischen allgemeinen und abstrakten Reden über die ‘Selbstbestimmung’, die ‘direkte Demokratie’, ‘kollektives Handeln’, ‘Antirassismus’ und ‘sozialen Wandel’ usw. und andererseits den extremen Nationalismus und das räuberische Verhalten einiger einzelner Mitglieder der extremen Rechten bändigen, die sich an den Versammlungen auf dem Platz beteiligten“.[29]
Der Zukunft mit klarem Kopf entgegensehen

Während es auf der Hand liegt, dass „der Kapitalismus überwunden werden muss, wenn die Menschheit überleben will“,[30] ist die Arbeiterklasse noch lange nicht dazu in der Lage, dieses Urteil zu vollstrecken. Die Bewegung der Empörten stellt einen kleinen Schritt in dieser Richtung dar.

In dem oben erwähnten zweiteiligen Artikel erwähnten wir, dass „einer der Gründe, weshalb die Vorhersagen der Revolutionäre in der Vergangenheit hinsichtlich des Ausgangs der Revolution nicht verwirklicht wurden, darin liegt, dass sie die Stärke der herrschenden Klasse unterschätzt haben, insbesondere deren politische Schlauheit.[31] Und diese Fähigkeit der Herrschenden, ihre politische Gerissenheit gegen die Kämpfe einzusetzen, ist heute spürbarer als je zuvor. So wurden zum Beispiel die Bewegungen der Empörten dieser drei Länder woanders sehr stark ausgeblendet; und wenn sie erwähnt wurden, dann nur mit der Version, dass sie eine „demokratische Erneuerung“ anstreben. Ein anderes Beispiel: die britische Bourgeoisie konnten die Unzufriedenheit ausschlachten, um die vorhandene Wut in einer nihilistischen Revolte enden zu lassen, die dann wiederum als Vorwand eingesetzt wurde, um die Repression zu verstärken und einschüchternd gegenüber jeder Reaktion der Klasse aufzutreten.[32]

Die Bewegungen der Empörten stellten eine erste Stufe dar in dem Sinne, da sie Schritte unternahmen, damit die Arbeiterklasse ihr Selbstvertrauen entwickelt und ihre eigene Klassenidentität aufbaut, aber dieses Ziel ist bei weitem noch nicht erreicht worden, denn dazu ist die Entwicklung von massiven Kämpfen auf einem direkt proletarischen Boden erforderlich, bei dem deutlich wird, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, gegenüber der Sackgasse des Kapitalismus den nicht-ausbeutenden Schichten eine revolutionäre Alternative anzubieten.

Wir wissen nicht, wie diese Perspektive umgesetzt werden kann, und wir bleiben wachsam gegenüber den Fähigkeiten und Initiativen der Massen, wie die vom 15. Mai in Spanien. Wir sind uns sicher, dass die internationale Ausdehnung der Kämpfe eine entscheidende Rolle dabei spielen wird.

Die drei Bewegungen haben den Keim eines internationalistischen Bewusstseins gepflanzt: während der Bewegung der Empörten in Spanien sagte man, dass die Bewegung inspiriert wurde durch den Tahrir-Platz in Ägypten;[33] sie strebte eine internationale Ausdehnung der Kämpfe an, auch wenn dies in der größten Konfusion geschah. Die Bewegungen in Israel und Griechenland erklärten ausdrücklich, dass sie dem Beispiel der Bewegung der Empörten in Spanien folgten. Die Demonstranten in Israel trugen Spruchbänder wie „Mubarak, Assad, Netanjahu, alle gleich“, was nicht nur eine beginnende Bewusstwerdung über den Feind aufzeigt, sondern auch ein embryonales Bewusstsein darüber, dass ihr Kampf mit dem der Ausgebeuteten der anderen Länder geführt werden muss und nicht gegen sie, wie es der Rahmen der nationalen Verteidigung verlangt.[34] „In Jaffna trugen Dutzende von arabischen und jüdischen Protestierenden Schilder, auf denen auf Hebräisch und Arabisch zu lesen war: „Araber und Juden wollen erschwingliche Wohnungen“ und „Jaffna will nicht Angebote nur für die Reichen“. (…) In der City von Akku wie auch in Ostjerusalem, wo es anhaltende Proteste sowohl von Juden als auch von Arabern gegen Wohnungsräumungen Letzterer im nahegelegenen Sheikh Jarrah gibt,  wurden gemeinsame jüdische und arabische Zeltlager errichtet. In Tel Aviv wurden Kontakte zu den Bewohnern der Flüchtlingslager in den besetzten Gebieten geknüpft, die die Zeltstädte besuchten und sich an den Diskussionen mit den Protestierenden beteiligten“.[35] Die Bewegungen in Ägypten und Tunesien sowie in Israel haben eine neue Lage entstehen lassen. Dies geschah in einem Teil der Welt, der wahrscheinlich Hauptschauplatz der weltweiten imperialistischen Zusammenstöße ist. Wie wir in unserem Artikel schrieben: „Die jüngste internationale Welle von Revolten gegen die kapitalistische Sparpolitik öffnet die Tür zu einer anderen Lösung: die Solidarität aller Ausgebeuteten über religiöse oder nationale Spaltungen hinweg; Klassenkampf in allen Ländern mit dem ultimativen Ziel einer weltweiten Revolution, die die Negation der nationalen Grenzen und Staaten sein wird. Ein oder zwei Jahre zuvor wäre eine solche Perspektive für die meisten völlig utopisch gewesen. Heute betrachtet eine wachsende Zahl von Menschen die globale Revolution als eine realistische Perspektive gegenüber der kollabierenden Ordnung des globalen Kapitals.“[36]

Die drei Bewegungen haben zur Herausbildung eines proletarischen Flügels beigetragen. Sowohl in Griechenland als in Spanien aber auch in Israel[37] entstehen „proletarische Flügel“ auf der Suche nach Selbstorganisierung, nach einem unnachgiebigen Kampf auf der Grundlage von Klassenpositionen und dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus. Die Probleme wie auch das Potenzial und die Perspektiven dieser großen Minderheit können im Rahmen dieses Artikels nicht aufgegriffen werden. Sicher ist, dass dies eine entscheidende Waffe für die Arbeiterklasse ist, mit der sie ihre zukünftigen Kämpfe vorbereiten wird.

C.Mir., 23.9.2011



[1]  Cf. https://fr.internationalism.org/node/4752 [17]. Da der Artikel diese Erfahrung im Einzelnen aufgriff, werden wir hier seinen Inhalt nicht wiederholen.

[2]  Siehe die Artikel über diese Bewegungen http://fr.internationalism.org/node/4776.

[3]  „Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit“, Manifest des 9. Internationalen Kongresses der IKS, 1991

[4]  Cf. Revue internationale nos 103 [18] et 104 [18].   Internationale Revue Nr. 103, 104, , engl., franz., span. Ausgabe,

[5] Zur Debatte um dieses wesentliche Konzept der Dekadenz des Kapitalismus siehe u.a. Revue internationale no 146, „Pour les révolutionnaires, la Grande Dépression confirme l‘obsolescence du capitalisme“.

[6] Revue internationale no 103, „A [18] [18]l‘aube [18] [18]du [18] [18]xxi [18]e [18] [18]siècle, [18] [18]pourquoi [18] [18]le [18] [18]prolétariat [18] [18]n‘a [18] [18]pas [18] [18]encore [18] [18]renversé [18] [18]le [18] [18]capitalisme ? [18]“: „Die zweite Bedingung der proletarischen Revolution besteht in der Entfaltung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, womit offenbart wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch neue Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen.“

[7] Revue internationale no 104, „A [19] [19]l‘aube [19]du [19] [19]xxi [19]e [19] [19]siècle, [19] [19]pourquoi [19] [19]le [19] [19]prolétariat [19] [19]n‘a [19] [19]pas [19] [19]encore [19] [19]renversé [19] [19]le [19] [19]capitalisme ? II [19]“.

[8] Weltrevolution Nr. 168: „Die Weltwirtschaftskrise: Ein mörderischer Sommer“ 

[9] Cf. Revue internationale no 138, „Résolution [20] [20]sur [20] [20]la [20] [20]situation [20] [20]internationale [20]“.

[10] „Da die Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus über keine ökonomische Basis verfügt, besteht ihre eigentliche Stärke abgesehen von ihrer Zahl und ihrer Organisation in der Fähigkeit, sich über das Wesen, die Ziele und die Mittel ihres Kampfes bewusst zu werden“. Revue internationale Nr. 103, ebenda,

[11] „Die Verstaatlichungen und eine Reihe von gesellschaftlichen Maßnahmen (wie eine größere Kontrolle des Staates im Gesundheitswesen) sind vollkommen kapitalistische Maßnahmen (...). Die Kapitalisten haben ein ureigenes Interesse daran, dass die Arbeiter in gutem gesundheitlichem Zustand sind. (...) Aber diese kapitalistischen Maßnahmen werden als ‘Errungenschaften der Arbeiter’ dargestellt.“ Revue internationale Nr. 104, ebenda.

[12] Wir können hier nicht näher darauf eingehen, warum die Arbeiterklasse die revolutionäre Klasse der Gesellschaft ist und warum ihr Kampf die Zukunft für alle nicht-ausbeutenden Schichten darstellt, eine brennende Frage, wie wir später bei der Bewegung der Empörten sehen werden. Siehe dazu unsere Artikel in Internationale Revue Nr. 14 & 15 „Wer kann die Welt verändern“.

[13] Internationale Revue Nr. 13, „Der Zerfall: Letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“.

[14] Siehe dazu die Artikel zur Analyse des Klassenkampfes in Internationale Revue.

[15] IKS Online 2006, „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“.

[16] Die herrschende Klasse versucht diese Ereignisse zu verheimlichen. Die nihilistischen Revolten in den Vorstädten im November 2005 in Frankreich sind viel bekannter, selbst im politisierten Milieu, als die bewusste Bewegung der Studenten fünf Monate später.

[17] Empörung bedeutet weder Resignation noch Hass. Gegen die unerträgliche Entwicklung des Kapitalismus spiegelt Resignation eine Passivität wider, eine Tendenz alles zu verwerfen, ohne zu wissen, wie man sich wehrt. Hass im Gegenzug bringt ein aktives Gefühl zum Ausdruck, denn die Ablehnung kann in Kampf umschlagen, aber es handelt sich um einen blinden Kampf, ohne Perspektiven und Reflektion, um eine Alterntive zu entwickeln, Hass ist rein zerstörerisch. Es fließen eine Reihe von individuellen Reaktionen zusammen, aber nichts Kollektives kommt zustande. Die Empörung bringt die aktive Umwandung der Ablehnung zum Ausdruck, wobei man versucht bewusst zu kämpfen, eine Alternative zu entwickeln; sie ist also kollektiv und konstruktiv. „Die Empörung macht eine moralische Erneuerung nötig, einen kulturellen Wandel. Auch wenn manche Vorschläge ein wenig blauäugig oder seltsam erscheinen, sie spiegeln eine Begierde wider, die noch schüchtern und konfus zum Ausdruck kommt, „anders leben zu wollen“. „Vom Tahrir-Platz zur Puerta del Sol“

[18] Cf. Revue internationale Nr.130, „Résolution [21] [21]sur [21] [21]la [21] [21]situation [21] [21]internationale [21]“.

[19] Weltrevolution Nr. 168, „Proteste in Israel: „Mubarak, Assad, Netanjahu“ alle gleich“ .

[20] ICC online, „Une [22] [22]contribution [22] [22]du [22] [22]TPTG [22] [22]sur [22] [22]le [22] [22]mouvement [22] [22]des [22] [22]‚Indignés‘ [22] [22]en [22] [22]Grèce [22]“.

[21] Idem.

[22] „Révoltes sociales en Israël…“, op.cit.

[23] „Une contribution du TPTG“, op. cit.

[24] IKS Online 2006, „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“.

[25] Cf CCI-on line, “Qu [23]’ [23]y [23] [23]a-t-il [23] [23]derrière [23] [23]la [23] [23]campagne [23] [23]contre [23] [23]les [23] [23]„violents“ [23] [23]autour [23] [23]des [23] [23]incidents [23] [23]de [23] [23]Barcelone ? [23]“.

[26] Karl Marx, Der 18. Brumaire des Lois Bonaparte. MEW 8, S. 118.

[27] „Une contribution du TPTG…“, op. cit. Cf. aussi ICC on-line, „L‘apolitisme‘ [24] [24]est [24] [24]une [24] [24]mystification [24] [24]dangereuse [24] [24]pour [24] [24]la [24] [24]classe [24] [24]ouvrière [24]“.

[28] Idem.

[29] Idem.

[30] Losung der dritten Internationale.

[31] Revue internationale Nr.104, op. cit.

[32] IKS Online, 2011 „Die Krawalle in Großbritannien und die Sackgasse des Kapitalismus“.

[33] Die „Plaza de Cataluña“ wurde in „Plaza Tahrir“ umgetauft, was nicht nur einen internationalistischen Willen zum Ausdruck bringt, sondern auch ein Hohn für den katalonischen Nationalismus, der meint, der Platz sei sein größtes Prunkstück.

[34] Ein Demonstrant wurde in einem Interview mit dem Nachrichtensender RT gefragt, ob die Proteste von den Ereignissen in den arabischen Ländern inspiriert worden seien. Er antwortete: „Das, was auf dem Tahrir-Platz passierte, hat einen großen Einfluss. Das heißt, wenn Menschen begreifen, dass sie die Macht haben, dass sie sich selbst organisieren können, brauchen sie keine Regierung mehr, die ihnen vorschreibt, was sie tun sollen. Sie können nun ihrerseits der Regierung klar machen, was sie wollen.

[35] Idem.

[36] Idem.

[37] In dieser Bewegung „haben einige offen vor der Gefahr gewarnt, dass die Regierung militärische Zusammenstöße oder gar einen neuen Krieg auslösen könnte, um eine „nationale Einheit“ herzustellen oder die Bewegung zu spalten“ (ebenda). Dies stellt eine gewisse Distanzierung gegenüber dem israelischen Staat und seiner nationalen Einheit im Dienste der Kriegswirtschaft und des Krieges dar.

Syndikalismus in Deutschland, Teil 3: Die syndikalistische FVDG im Ersten Weltkrieg

  • 2591 reads
In den vorhergehenden zwei Artikeln haben wir aufgezeigt, wie sich ab den 1880er Jahren in den deutschen Gewerkschaften eine proletarische Oppositionsbewegung formierte. Anfänglich wandte sie sich gegen die Reduzierung des Arbeiterkampfes auf ökonomische Fragen, welche von den gewerkschaftlichen Zentralverbänden vorgegeben worden war. Später richtete sie sich ebenfalls gegen Illusionen in den Parlamentarismus und gegen die wachsende Staatsgläubigkeit der SPD. Doch erst ab 1908, nach dem Bruch mit der SPD, bewegte sich die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften FVDG offen in Richtung Syndikalismus. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 stellte die Syndikalisten in Deutschland vor die Feuerprobe: entweder Unterstützung der nationalistischen Politik der herrschenden Klasse oder Verteidigung des proletarischen Internationalismus. Neben den internationalistischen Minderheiten um Liebknecht und Luxemburg waren die revolutionären Syndikalisten der FVDG in Deutschland eine Strömung, die dem Kriegstaumel trotzte – aber leider allzu oft vergessen geht.

Die Prüfung der Stunde: Burgfrieden oder Internationalismus?

Hand in Hand mit der Sozialdemokratie, welche am 4. August 1914 offen für die Kriegskredite stimmte, hatten auch die Führungen der großen sozialdemokratischen Gewerkschaften ihr Haupt vor den Kriegsplänen der herrschenden Klasse gebeugt. An der Vorständekonferenz der sozialdemokratischen Gewerkschaften vom 2. August 1914, auf der beschlossen wurde, alle Lohnkämpfe und Streiks zugunsten des Burgfriedens und für eine ungestörte Kriegsmobilisierung einzustellen, hatte Rudolf Wissell die chauvinistische Haltung, die in den sozialdemokratischen Gewerkschaften überhand nahm, auf den Punkt gebracht: „Wird Deutschland in dem gegenwärtigen Kampfe besiegt, was wir alle nicht hoffen, so sind auch nach Beendigung des Krieges alle gewerkschaftlichen Kämpfe aussichtslos und zwecklos. Siegt Deutschland, so kommt auch eine aufsteigende Konjunktur, und es brauchen dann die Mittel der Organisation nicht so sehr in die Waagschale geworfen zu werden.“[1] Die schreckliche Logik der Gewerkschaften bestand darin, das Schicksal der Arbeiterklasse direkt an den Ausgang des Krieges zu knüpfen: Wenn es der „eigenen Nation“ und ihren Herrschenden durch Kriegsgewinn gut gehe, dann auch den Arbeitern, weil innenpolitische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft zu erwarten seien. Deshalb müsse man alle Mittel zur Herbeiführung eines militärischen Sieges Deutschlands unterstützen.

Die Unfähigkeit der sozialdemokratischen Gewerkschaften und der SPD, angesichts des Krieges eine internationalistische Haltung zu vertreten, erstaunt nicht. Wenn man die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse an den nationalen Rahmen fesselt, den bürgerlichen Parlamentarismus als Allerweltsmittel vergöttert, statt den internationalen Antagonismus zwischen Arbeiterklasse und Kapitalismus als Orientierung zu nehmen, führt dies unweigerlich ins Lager des Kapitals.

Tatsächlich war der Krieg für die herrschende Klasse in Deutschland erst mit dem offenen Einschwenken der SPD und ihren Gewerkschaften durchführbar geworden! Die sozialdemokratischen Gewerkschaften nahmen mitnichten nur eine Rolle als Mitläufer ein. Nein, sie entwickelten eine wahre Kriegspolitik mit chauvinistischer Propaganda und waren ein entscheidender Faktor bei der Errichtung einer intensiven Kriegsproduktion. Der „sozialistische Reformismus“ hatte sich in einen „sozialistischen Imperialismus“ verwandelt, wie es Trotzki 1914 formulierte.      

Unter den Arbeitern, die in den Wochen und Monaten des Kriegsausbruchs in Deutschland versuchten, gegen den Strom zu schwimmen, befanden sich auch viele, die vom Syndikalismus beeinflusst waren. Beispielhaft für den Zusammenprall kämpferischer Teile der Arbeiterklasse mit den vom Burgfrieden besessenen Führungen der sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften war im Mai–Juni 1914, kurz vor Kriegsbeginn, der Streik auf dem deutschen Passagierdampfer „Vaterland“. Das damals weltweit größte Passagierschiff war ein protziges Aushängeschild des deutschen Imperialismus. Teile der Mannschaft waren während der Jungfernfahrt von Hamburg nach New York unter der starken Präsenz von Arbeitern des syndikalistischen Industrieverbandes in den Streik getreten. Der sozialdemokratische Deutsche Transportarbeiter Verband wandte sich aggressiv gegen diesen Streik: „Deshalb haben alle diejenigen, die an diesen Versammlungen der Syndikalisten sich beteiligt haben, ein Verbrechen an den Seeleuten begangen. (…) Wilde Streiks verwerfen wir grundsätzlich“. (…) „Und in der gegenwärtigen ernsten Zeit, wo es darauf ankommt, alle Kräfte der Arbeiter zusammenzufassen, da treiben die Syndikalisten ihre Zersplitterungsversuche in die Reihen der Arbeiter und berufen sich noch obendrein auf die Worte von Karl Marx, dass die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann.“[2] Die Appelle der sozialdemokratischen Gewerkschaften für eine Einheit der Arbeiterbewegung waren nur noch Phrasen zur Kontrolle über die Regungen in der Arbeiterklasse, die im August 1914 von der SPD zugunsten der „Einheit für den Krieg“ verraten wurde.

Man kann der syndikalistischen Strömung in Deutschland in den Wochen vor dem Kriegsausbruch beileibe nicht den Vorwurf machen, den Klassenkampf beiseite gelegt zu haben. Im Gegenteil bildeten sie für kurze Zeit noch ein Sammelbecken kämpferischer Proletarier: „Da kamen Arbeiter, die das Wort Syndikalismus das erste Mal vernahmen und hier von heute auf morgen für ihre revolutionären Wünsche Befriedigung erhofften.“[3] Doch es stand vor allen Organisationen der Arbeiterklasse, auch der syndikalistischen Strömung, eine weitere Aufgabe. Nebst der Aufrechterhaltung des Klassenkampfes war es unabdingbar, den imperialistischen Charakter des sich abzeichnenden Krieges zu entlarven!

Was war die Haltung der syndikalistischen FVDG gegenüber dem Krieg? Am 1. August 1914 wandte sie sich in ihrem Hauptorgan Die Einigkeit klar gegen den aufkommenden Krieg, nicht als naive Pazifisten, sondern als Arbeiter, welche die Solidarität mit Arbeitern in anderen Ländern suchten: „Wer will den Krieg? Nicht das arbeitende Volk, sondern eine nichtsnutzige Militärkamarilla, die in allen europäischen Staaten nach kriegerischem Ruhm geizt. Wir Arbeiter wollen keinen Krieg! Wir verabscheuen ihn, er mordet die Kultur, schändet die Menschheit und vermehrt die Zahl der durch den bestehenden wirtschaftlichen Krieg Verkrüppelten ins Ungeheuerliche. Wir Arbeiter wollen den Frieden, den ganzen Frieden! Wir kennen keine Österreicher, Serben, Russen, Italiener, Franzosen usw. Arbeitsbruder ist unser Name! Den Arbeitern aller Länder reichen wir die Hände, um eine Untat zu verhindern, die einen Strom von Tränen aus den Augen der Mütter und Kinder erzeugen müsste. Barbaren und jeder Zivilisation feindliche Menschen mögen im Kriege eine hehre und heilige Äußerung erblicken. – Menschen mit einem fühlenden Herzen, Sozialisten, getragen von er Weltanschauung der Gerechtigkeit, Humanität und Menschenliebe, verachten den Krieg! Deshalb, Arbeiter und Genossen! Erhebt überall eure Stimme zum Protest gegen ein im Anzug befindliches Verbrechen an der Menschheit. Es kostet den Armen Gut und Blut, den Reichen aber bringt es Gewinn und den Vertretern des Militarismus Ruhm und Ehre. Nieder mit dem Krieg!“

Am 6. August erfolgte der Angriff deutscher Truppen auf Belgien. Franz Jung, ein revolutionärer syndikalistischer Sympathisant der FVDG und späteres Mitglied der KAPD, schildert seine ergreifenden Erlebnisse im kriegstaumelnden Berlin dieser Tage: „Zum mindesten stürzte eine Welt zusammen über die paar Dutzend Friedensdemonstranten, in die ich hineingeraten war. Soviel ich mich erinnere, war diese Demonstration von den Syndikalisten um Kater und Rocker aufgezogen worden. Ein Transparent, über zwei Stangen gespannt, wurde hochgehoben, eine rote Fahne entfaltet, und die Demonstration: „Nieder mit dem Krieg!“ begann sich in Reihen zu ordnen. Wir sind nicht weit gekommen.“[4]

Lassen wir eine andere revolutionäre Stimme der damaligen Zeit, die internationalistische Anarchistin Emma Goldman sprechen: „In Deutschland blieben Gustav Landauer, Erich Mühsam, Fritz Oerter, Fritz Kater, und viele andere Genossen bei Verstand. Selbstverständlich waren wir bloß eine Handvoll verglichen mit den kriegsberauschten Millionen, doch es gelang uns ein Manifest unseres Internationalen Büros in der ganzen Welt zu verbreiten und wir enthüllten nun zu Hause die wahre Natur des Militarismus mit gesteigerter Energie.“[5] Oerter und Kater waren erfahrene Hauptexponenten der FVDG. Die FVDG blieb während des ganzen Krieges standfest in ihrer Haltung gegen den Krieg. Diese ist unumstritten wohl die herausragendste Stärke der FVDG – aber kurioserweise das am wenigsten dokumentierte Kapitel ihrer Geschichte.

Die FVGD wurde bei Kriegsbeginn sofort verboten. Viele ihrer Mitglieder – sie zählte 1914 noch rund 6000 – wurden in Schutzhaft genommen oder zwangsrekrutiert und an die Front geschickt. In der Zeitschrift Der Pionier, einem zweiten Organ der FVDG, schrieb sie am 5. August 1914 im Leitartikel „Das internationale Proletariat und der drohende Weltkrieg“: „Jeder weiß es, der Krieg zwischen Serbien und Österreich ist nur der sichtbare Ausdruck für das chronische Kriegsfieber…“. Die FVDG beschrieb, wie es den Regierungen in Serbien, Österreich und Deutschland gelungen war, die Arbeiterklasse für „die Kriegsfurie“ zu gewinnen, und denunzierte dabei die SPD und die Lüge des angeblichen Verteidigungskrieges: „Deutschland wird nie der „angreifende“ Teil sein, diese Auffassung werden die Herren in der Regierung uns schon beibringen, und aus diesem Grunde werden die deutschen Sozialdemokraten, wie das ihre Presse und Redner schon in sichere Aussicht gestellt haben, wie ein Mann in den deutschen Heeren zu finden sein.“. Die Einigkeit Nr. 32 vom 8. August war die letzte Ausgabe, welche die Mitglieder noch erreichte.

Ein internationalistischer Antimilitarismus

Wir haben im einführenden Teil dieser Artikelserie über die syndikalistische Bewegung eine Unterscheidung zwischen Antimilitarismus und Internationalismus gemacht: „Der Internationalismus beruht auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus, obwohl er ein Weltsystem ist, dennoch unfähig bleibt, über den nationalen Rahmen und die zunehmend frenetische Konkurrenz zwischen den Nationen hinauszugehen. Insofern erzeugt er eine Bewegung, die auf den internationalen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Arbeiterklasse abzielt, die ebenfalls international vereint ist. (…) Der Antimilitarismus dagegen ist nicht notwendigerweise internationalistisch, da er dazu neigt, nicht den Kapitalismus als solchen zum Feind zu erklären, sondern nur einen Aspekt des Kapitalismus.“[6] In welches Lager fügte sich die FVDG ein?

In der Presse der FVDG dieser Zeit stößt man wenig auf tiefschürfende oder ausgedehnte politische Analysen über die Hintergründe des Krieges oder über das Verhältnis zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten. Dieses Manko ergab sich aus dem gewerkschaftlichen Verständnis der FVDG. Sie verstand sich zu diesem Zeitpunkt vor allem als eine auf ökonomischem Gebiet kämpfende Organisation, obwohl sie in der Realität vielmehr ein Zusammenschluss von Gruppen war, die syndikalistische Ideen verteidigte, und keine Gewerkschaft. Die harten Auseinandersetzungen mit der SPD, die 1908 mit ihrem Ausschluss geendet hatten, erzeugten in ihren Reihen eine übertrieben pauschale Abneigung gegenüber der „Politik“ und damit den Verlust eines Erbes, das ihre Organisation in der Vergangenheit immer gegen die Trennung von Politik und Ökonomie verteidigte, welche von den großen sozialdemokratischen Gewerkschaften portiert wurde. Das Verständnis über die Dynamik der imperialistischen Spannungen war in den Reihen der FVDG nicht wirklich auf der Höhe der Zeit, sie wurde aber durch den Krieg unweigerlich gezwungen, zu einer höchst politischen Frage Stellung zu beziehen. 

Die Geschichte des Syndikalismus in Deutschland zeigt am Beispiel der FVDG auf, dass zu einer wirklich internationalistischen Haltung nicht alleine theoretische Analysen über den Imperialismus genügen. Auch ein gesunder proletarischer Instinkt, ein tiefes Solidaritätsgefühl mit der internationalen Arbeiterklasse, ist dazu unabdingbar – und genau dies bildete das Rückgrat der FVDG im Jahre 1914.

Die FVDG bezeichnete sich in ihren Schriften meist als „antimilitaristisch“, das Wort Internationalismus ist kaum zu finden. Doch um den Syndikalisten der FVDG gerecht zu werden, ist es absolut notwendig das wahre Wesen ihrer Oppositionsarbeit gegen den Krieg zu betrachten. Die Sichtweise der FVDG gegenüber dem Krieg war keine, die an den Landesgrenzen Halt machte oder wie der damals verbreitete Pazifismus Illusionen in die Möglichkeit eines friedlichen Kapitalismus hegte. Anders als die große Mehrheit der Pazifisten, welche sich mehrheitlich nach Kriegsausbruch flugs in den Reihen der Verteidigung der Nation gegen den angeblich noch grausameren ausländischen Militarismus befanden, warnte die FVDG am 8. August 1914 die Arbeiterklasse klar vor jeglicher Kooperation mit der nationalen Bourgeoisie: “Die Arbeiter dürfen daher auch jetzt nicht vertrauensselig auf die augenblickliche Humanität der Kapitalisten und Unternehmer bauen. Der augenblickliche Kriegsfuror darf das Bewusstsein der bestehenden Klassengegensätze zwischen Kapital und Arbeit nicht verwischen.“[7] 

Für die Genossen der FVDG ging es nicht darum, nur einen Aspekt des Kapitalismus, den Militarismus, zu bekämpfen, sondern sie stellten den Kampf gegen den Krieg in den allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse zur weltweiten Überwindung des Kapitalismus, so wie es Karl Liebknecht schon 1906 in der Schrift Militarismus und Antimilitarismus formuliert hatte. Liebknecht hatte 1915 im Artikel Antimilitarismus! berechtigterweise heroisch und radikal scheinende Formen des Antimilitarismus wie die Desertion kritisiert, da sie durch die Ausscheidung gerade der tüchtigsten Antimilitaristen aus den Armeen dieselben noch mehr in die Hände der Militaristen liefere und daher „alle bloß individuell geübten und individuell wirkenden Methoden grundsätzlich zu verwerfen sind“. In der internationalen syndikalistischen Bewegung gab es verschiedenste Auffassungen über den antimilitaristischen Kampf. Domela Nieuwenhuis, ein historischer Repräsentant der Generalstreiks–Idee, hatte 1901 in seiner Broschüre Der Militarismus Mittel vorgeschlagen, die eine eigenartige Mischung von Reformen und individueller Verweigerung waren. Anders die FVDG, sie teilte die Sorge Liebknechts, dass der gemeinsame Klassenkampf aller Arbeiter, und nicht die individuelle Aktion das alleinige Mittel gegen den Krieg ist.

Die Presse der FVDG wurde vor allem von der Geschäftskommission in Berlin, bestehend aus fünf Genossen um Fritz Kater, getragen und drückte, aufgrund des losen organisatorischen Zusammenhaltes der FVDG, stark deren eigene politische Positionen aus. Die internationalistische Haltung beschränkte sich innerhalb der FVDG aber nicht wie in der syndikalistischen CGT in Frankreich auf eine Minderheit der Organisation. Es kam angesichts der Kriegsfrage nicht zu Spaltungen. Es war vielmehr die Zerschlagung der Organisation und der Zwangseinzug an die Front, welche dazu führten, dass nur eine Minderheit noch permanente Aktivitäten aufrechterhalten konnte. Hauptsächlich in Berlin und in ca. 18 anderen Ortsgruppen waren syndikalistische Gruppen noch aktiv. Sie standen nach dem Verbot der Einigkeit im August 1914 durch das Mitteilungsblatt in Verbindung und ab dessen Unterdrückung im Juni 1915 durch das Organ Rundschreiben, welches im Mai 1917 ebenfalls verboten wurde. Durch die starke Repression gegen die internationalistischen Syndikalisten in Deutschland trugen ihre Publikationen ab Kriegsbeginn vielmehr den Charakter interner Bulletins, und nicht öffentlicher Zeitschriften: „Die Vorstände, resp. Vertrauensleute haben die benötigte Anzahl der Exemplare für ihre vorhandenen Mitglieder umgehend auszugeben, und das Blatt nur diesen zuzustellen.[8]

Die Genossen der FVDG hatten auch den Mut, sich dem Einschwenken der Mehrheit der syndikalistischen CGT in Frankreich zur Beteiligung am Krieg entgegenzustellen: „All diese Kriegstreiberei internationaler Sozialisten, Syndikalisten und Antimilitaristen kann nicht im entferntesten dazu beitragen, unsere Prinzipien zu erschüttern.“[9], schrieben sie zur Kapitulation der CGT–Mehrheit. Die Kriegsfrage war innerhalb der internationalen syndikalistischen Bewegung ein Prüfstein geworden. Sich der großen syndikalistischen Schwester, der CGT, entgegenzustellen, erforderte eine entschlossene Treue zur Arbeiterklasse, waren die CGT und ihre Theorien doch über Jahre wichtiger Orientierungspunkt bei der Hinwendung der FVDG zum Syndikalismus gewesen. Die Genossen der FVDG unterstützen während des Krieges die internationalistische Minderheit um Pierre Monatte, welche aus der CGT hervorging.

Weshalb blieb die FVDG internationalistisch?

Alle Gewerkschaften in Deutschland erlagen 1914 dem nationalistischen Kriegsfieber. Weshalb war die FVDG eine Ausnahme? Diese Frage lässt sich nicht alleine mit dem „Glück“, eine standhafte und internationalistische Geschäftskommission besessen zu haben, beantworten – obwohl dem so war. Genauso wenig lässt sich die Kapitulation der sozialdemokratischen Gewerkschaften gegenüber der Kriegsfrage mit dem „Pech“ einer verräterischen Gewerkschaftsführung erklären.

Die FVDG hatte sich auch kaum deshalb ein internationalistisches Rückgrat erworben, weil sie sich ab 1908 klar zum Syndikalismus hinbewegte. Das Beispiel der französischen CGT zeigt, dass der Syndikalismus in der damaligen Zeit an und für sich keine Garantie für den Internationalismus darstellte. Man kann generell sagen: Weder ein Bekenntnis zum  Marxismus noch eines zum Anarchismus oder zum Syndikalismus stellten an sich eine Garantie dar, internationalistisch zu sein.

Die FVDG verwarf die patriotische Lüge der herrschenden Klasse, eingeschlossen der Sozialdemokratie, eines reinen „Verteidigungskrieges“ (eine Falle in die Kropotkin tragischer Weise gestolpert war). Sie denunzierte in ihrer Presse die Logik, dass sich jede Nation als die Angegriffene darstellt, Deutschland gegen den dunklen russischen Zarismus, Frankreich gegen den preußischen Militarismus, usw.[10] Diese Klarheit konnte nur auf der Einsicht gedeihen, dass der Kapitalismus nicht mehr in fortschrittlichere oder rückständigere Nationen aufgeteilt werden konnte, sondern als Gesamtes zerstörerisch geworden war für die Menschheit. Eine internationalistische Haltung zeichnete sich zur Zeit des Ersten Weltkrieges vor allem durch die politische Denunziation des „Verteidigungskrieges“ aus. Nicht zufällig widmete Trotzki dieser Frage im Herbst 1914 eine ganze Broschüre.[11]

Die FVDG argumentierte oft auch mit menschlichen Prinzipien: „Der Sozialismus stellt menschliche über nationale Prinzipien“ (…) „Es ist (…) schwer jetzt auf der Seite der trauernden Menschheit zu stehen, doch wenn wir Sozialisten sein wollen, dann ist dies unser Platz.“[12] Die Frage der Solidarität und der menschlichen Verbindung mit anderen Arbeitern auf der ganzen Welt war damals eine Basis für eine internationalistisch Haltung. Der proletarisch formulierte Internationalismus der FVDG im Jahre 1914 aber, war damals ein Zeichen der Stärke der syndikalistischen Bewegung in Deutschland gegenüber der Gretchenfrage des Krieges.

Die fundamentalen Wurzeln des Internationalismus der FVDG liegen aber vor allem in ihrer Geschichte als langjährige Opposition gegen den schleichenden Reformismus innerhalb der SPD und der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Ihre Abneigung gegen das Allerweltsmittel des Parlamentarismus der SPD spielte eine wesentliche Rolle. Sie verhinderte, gerade im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften, eine ideologische Einbindung in den kapitalistischen Staat.

Die Zerrissenheit der FVDG in der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Krieges zwischen einem gewerkschaftlichen Verständnis, einer Abneigung gegen „die Politik“ (der SPD) und einer Realität als Propagandagruppen (welche wie schon oben beschrieben klare Analysen über den Imperialismus bremste) hatte offenbar nicht nur Schwächen zur Folge. Angesichts der unverblümten chauvinistischen Kriegspolitik der SPD und der anderen Gewerkschaften wurde in den Reihen der FVDG deutlich der alte Reflex ihres Widerstandes gegen die Entpolitisierung der Arbeiterkämpfe, den sie bis in die Massenstreikdebatte von 1904 hinein prägte, geweckt.

Auch wenn, wie im vorangegangenen Artikel beschrieben, der Widerstand der FVDG gegen den Reformismus eigenartige Schwächen in sich trug wie eine Abneigung gegen „die Politik“ – was 1914 zählte, war die Haltung gegenüber dem Krieg. Viel gewichtiger als ihre Schwächen war für die Arbeiterklasse in diesem Moment der internationalistische Beitrag der FVDG.

Entscheidend für eine internationalistische Standhaftigkeit war zudem die gesunde Reaktion, sich trotz schwierigster Bedingungen nicht in Deutschland zu verschanzen. Die FVDG suchte den Kontakt nicht nur mit Monattes internationalistischer CGT–Minderheit, sondern auch mit anderen Syndikalisten in Dänemark, Schweden, Spanien, Holland (Nationaal Arbeids Secretariaat) und Italien (Unione Sindacale Italiana), welche versuchten, sich dem Krieg entgegenzusetzen.

Ungenügende Zusammenarbeit mit anderen Internationalisten in Deutschland

Wie laut war die internationalistische Stimme der FVDG während des Kriegens innerhalb der Arbeiterklasse zu hören? Sie verwarf offen die perfiden Institutionen zur Integration in den Burgfrieden. Wie in ihrem internen Organ Rundschreiben formuliert, wandte sie sich konsequent gegen die Beteiligung an den Kriegsausschüssen[13]: „Gewiss nicht! Solche Funktionen sind nichts für die unserer Mitglieder oder Funktionäre (…) niemand kann das von ihnen verlangen“[14]. Doch dies richtete sich in den Jahren 1914–1917 fast ausschließlich an die eigenen Reihen. Mit einer realistischen Einschätzung über die augenblickliche Machtlosigkeit und die Unmöglichkeit, dem Krieg wirklich noch im Wege stehen zu können, aber vor allem mit einer berechtigten Angst vor der Zerschlagung der Organisation, wandte sich Fritz Kater im Namen der Geschäftskommission im Mitteilungsblatt vom 15. August 1914 an die Genossen der FVDG: „Unsere Ansichten über Militarismus und Krieg, wie wir sie seit Jahrzehnten vertreten und propagiert haben, für die wir bis ans Lebensende einstehen, passen nicht in eine Zeit überschwänglicher Kriegsbegeisterung, man verurteilt uns zum Schweigen. Das war vorauszusehen und daher war das Verbot für uns durchaus keine Überraschung. Wir haben uns damit in Ruhe abzufinden, ebenso auch alle übrigen Gewerkschaftsgenossen.“

Kater drückte einerseits die Hoffnung aus, die Aktivitäten wie vor dem Krieg aufrecht erhalten zu können (was aber durch die Repression unmöglich war), andererseits das minimale Ziel, die Organisation zu retten: „Die Geschäftskommission ist aber der Ansicht, pflichtvergessen zu handeln, wenn sie mit dem Verbot der Zeitungen nun auch die anderweitigen Aktivitäten einstellte. Das wird sie nicht tun. (…) Sie wird die Verbindung mit den einzelnen Organisationen aufrecht erhalten, und alles tun was nötig ist, um deren Zerfall zu verhindern.“

Die FVDG hat den Krieg tatsächlich überlebt. Dies aber nicht aufgrund einer besonders geschickten Überlebensstrategie oder eindringlichen Appellen, die Organisation nicht zu verlassen. Es war eindeutig ihre internationalistische Haltung, welche durch die Kriegszeit hindurch Anziehungspol für ihre Mitglieder blieb.

Als im September 1915 mit dem Zimmerwalder Manifest ein internationaler Aufruf mit großem Echo gegen den Krieg ertönte, wurde dies von der FVDG solidarisch begrüßt. Dies vor allem auch wegen ihrer Nähe zur internationalistischen Minderheit der CGT, welche in Zimmerwald präsent war. Doch die FVDG hegte gegen einen Großteil der Gruppierungen der Zimmerwalder Konferenz ein Misstrauen, weil diese noch allzu sehr mit der Tradition des Parlamentarismus verknüpft waren. Dieses Misstrauen war keinesfalls unberechtigt, denn sechs Anwesende in Zimmerwald, darunter Lenin, hatten dazu erklärt: „Das von der Konferenz angenommene Manifest stellt uns nicht ganz zufrieden. (…) Das Manifest enthält keine klare Charakteristik der Mittel für den Kampf gegen den Krieg.“[15]. Die FVDG verfügte auch nicht über die von Lenin angesprochene Klarheit über die Mittel für den Kampf gegen den Krieg. Ihr Misstrauen drückte vielmehr eine mangelnde Offenheit gegenüber anderen Internationalisten aus. Ihr Verhältnis gegenüber den anderen Internationalisten in Deutschland zeigt dies deutlich.

Weshalb gab es in Deutschland selbst keine Zusammenarbeit zwischen der internationalistischen Opposition des Spartakusbundes und den Syndikalisten der FVDG? Während einer langen Zeit hatten tiefe Gräben bestanden, die nicht überwunden werden konnten. Karl Liebknecht hatte 10 Jahre zuvor in der Massenstreikdebatte von 1904 die FVDG hart über den Leist der individualistischen Schwächen eines ihrer damaligen temporären Wortführers, Rafael Friedebergs, geschlagen. Soweit wir wissen, haben auch die Revolutionäre um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht den Kontakt zur FVDG während der ersten Kriegsjahre nicht gesucht, sicher aus einer Unterschätzung der internationalistischen Fähigkeiten der Syndikalisten.

Die FVDG selbst hatte gegenüber Karl Liebknecht, der Symbolfigur der Bewegung gegen den Krieg in Deutschland war, eine sehr schwankende Haltung, welche ein Zusammenrücken verhinderte. Die FVDG konnte Liebknecht einerseits seine Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914, die dieser nicht aus Überzeugung, sondern lediglich aus falscher Fraktionsdisziplin (wie er danach selber kritisierte) erteilte, nie verzeihen. Andererseits verteidigte ihn die FVDG aber immer wieder in ihrer Presse, wenn Liebknecht Opfer der Repression wurde. Eigenartigerweise traute die FVDG es der revolutionären Opposition in der SPD nicht zu, sich vom Parlamentarismus zu lösen, einen Schritt, den sie selber auch erst durch die Trennung von der SPD 1908 vollständig gemacht hatte. Es existierte ein tiefes Misstrauen. Erst als dann Ende 1918 die revolutionäre Bewegung Deutschland voll erfasste, rief die FVDG ihre Mitglieder zeitweilig dazu auf, in Doppelmitgliedschaft auch dem Spartakusbund beizutreten.

Rückblickend suchten weder die FVDG noch der Spartakusbund in genügendem Maße den Kontakt auf der Basis ihrer gemeinsamen internationalistischen Haltung während des Krieges. Es war vielmehr die Bourgeoisie, welche die internationalistische Gemeinsamkeit der FVDG und der Spartakisten besser erkannte als diese beiden Organisationen selber: Die von der SPD–Führung kontrollierte Presse versuchte die Spartakisten oft als der „Kater–Tendenz“ nahe stehend zu verunglimpfen[16].

Wenn wir anhand der Geschichte der FVDG während des Ersten Weltkrieges für heute und für die Zukunft eine Lehre ziehen können, dann folgende: die Notwendigkeit, den Kontakt mit anderen Internationalisten zu suchen, auch wenn zu anderen Fragen Differenzen bestehen. Dies hat absolut nichts mit einer aus der Geschichte der geschlagenen Arbeiterbewegung der 20er und 30er Jahre bekannten „Einheitsfront“ zu tun (bei der aus einer Schwäche heraus sogar die Zusammenarbeit mit Organisationen des bürgerlichen Lagers gesucht wird) sondern damit, die wichtigste proletarische Gemeinsamkeit zu erkennen.

Mario 5.8.2011


[1] H.J. Bieber: Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 88

[2] Siehe: Folkert Mohrhof, Der syndikalistische Streik auf der „Vaterland“ 1914

[3] Die Einigkeit, Hauptorgan der FVDG, 27.6.1914, Karl Roche: „Ein Gewerkschaftsführer als Gehilfe der Staatsanwaltschaft“

[4] Franz Jung, Der Weg nach unten, Nautilus, S.89

[5] Emma Goldman, Gelebtes Leben. Emma Goldman hatte sich in Februar 1915 mit anderen internationalistischen Anarchisten wie Berkman und Malatesta offen gegen die Befürwortung des Krieges durch die anarchistische Autoritätsfigur Kropotkin und anderer gewandt. Die FVDG begrüßte im Mitteilungsblatt vom 20. Februar 1915 diese Verteidigung des Internationalismus gegenüber Kropotkin durch revolutionäre Anarchisten.

[6] „Was ist revolutionärer Syndikalismus?“, Internationale Revue Nr. 46

[7] Die Einigkeit Nr. 32, 8. August 1914

[8] Mitteilungsblatt, 15. August 1914

[9] Mitteilungsblatt, 10. Oktober 1914, zitiert nach Wayne Thorpe, Keeping the faith: The German Syndicalists in the First World War. Diese Arbeit ist neben den Originaldokumenten der FVDG die einzige (und sehr wertvolle) Untersuchung über den deutschen Syndikalismus im Ersten Weltkrieg.

[10] Siehe u.a. Mitteilungsblatt November 1914 und Rundschreiben August 1916.

[11] Der Krieg und die Internationale

[12] Mitteilungsblatt, 21. November 1914

[13] Kriegsausschüsse wurden ab Februar 1915 zuerst in der metallverarbeitenden Industrie im Raum Berlin gegründet. Sie umfassten Vertreter von Unternehmerverbänden im Metallbereich und Vertreter der großen Gewerkschaften. Ihr Ziel war es, den zunehmenden Arbeitsplatzwechsel der Arbeiter in Fabriken, die höheren Gehälter boten, zu stoppen. Diese „unkontrollierte“ Fluktuation war in den Augen der Regierung und der Gewerkschaften schädlich für eine effiziente Kriegsproduktion. Aufgrund der langsam beginnenden Ausblutung der Gesellschaft durch die Massaker des Krieges war ein Arbeitskräftemangel entstanden. Diese Kriegsauschüsse basierten auf einem früheren Vorstoß zur Bildung von Kriegsarbeitsgemeinschaften, der schon im August 1914 vom sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer Theodor Leipart ins Leben gerufen worden war, unter der heuchlerisch  arbeiterfreundlich scheinenden Begründung, „die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen“ – es ging aber in Wirklichkeit darum, die Gesellschaft besser auf die Kriegsproduktion auszurichten.

[14] Zitiert nach Thorpe: Keeping the faith, a.a.O.

[15] Erklärung von Lenin, Sinowjew, Radek, Nerman, Höglund, Winter auf der Konferenz von Zimmerwald.

[16] z.B. Vorwärts, 9. Januar 1917


Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/2189

Links
[1] https://es.internationalism.org/RM120 [2] https://en.internationalism.org/2008/10/Chris-Knight [3] https://www.lefigaro.fr/conjoncture/2011/09/22/04016 [4] https://news.fr.msn.com/m6 [5] https://www.rfi.fr/europe/20110921 [6] https://finance [7] https://www.globalix.fr/content/la [8] http://www.lecourrierderussie.com/2011/10/12/poutine [9] http://www.lefigaro.fr/flash [10] https://www.rfi.fr/fr/ameriques/20110702-faillite-le-gouvernement-minnesota-cesse-activites [11] https://www.gecodia.fr/Le-stress-interbancaire-en-Europe-s-approche-du-pic-post-Lehman_a2348.html [12] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg-pers/9-europa.htm#top [13] https://de.internationalism.org/content/58/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-i [14] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg-pers/7-vorsoz.htm#top [15] https://de.internationalism.org/content/633/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-ii [16] https://de.internationalism.org/occupy-wall-street-proteste-der-kapitalismus-als-ganzes-ist-das-problem [17] https://fr.internationalism.org/node/4752 [18] https://fr.internationalism.org/rinte103/edito.htm [19] https://fr.internationalism.org/rinte104/aube21 [20] https://fr.internationalism.org/rint138/resolution_sur_la_situation_internationale_18e_congres_du_cci_mai_2009.html [21] https://fr.internationalism.org/rint130/17_congr%C3%A8s_du_cci_resolution_sur_la_situation_internationale.html [22] https://fr.internationalism.org/node/4776 [23] https://fr.internationalism.org/icconline/2011/dossier_special_indignes/quyatil_derriere_la_campagne_contre_les_violents_autour_des_incidents_de_barcelone.html [24] https://fr.internationalism.org/icconline/dossier_special_indignes/l_apolitisme_est_une_mystification_dangereuse_pour_la_classe_ouvriere.html