Im vorhergehenden Artikel dieser Reihe sahen wir, dass Rosa Luxemburgs Analyse der fundamentalen Prozesse, die der imperialistischen Ausweitung zugrunde lagen, die Wiederkehr der Kalamitäten, die die vorkapitalistischen Regionen auf dem Globus heimsuchten, im Zentrum des Systems, im bürgerlichen Europa vorwegnahm. Und wie Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre (Originaltitel: „Die Krise der Sozialdemokratie“), 1915 im Gefängnis verfasst, hervorhob, war der Ausbruch des imperialistischen Weltkrieges 1914 nicht nur wegen der Zerstörung und des Elends der Arbeiterklasse in beiden kriegführenden Lagern eine Katastrophe, sondern auch weil er durch den schlimmsten Akt des Verrats in der Geschichte der Arbeiterbewegung ermöglicht wurde: durch die Entscheidung der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien, angeblich Leuchttürme des in der marxistischen Weltanschauung geschulten Internationalismus, die Kriegsbemühungen ihrer herrschenden Klasse zu unterstützen und das gegenseitige Massaker des europäischen Proletariats zu sanktionieren, trotz aller wohlklingenden Deklarationen der Opposition gegen den Krieg, die auf zahllosen Treffen der Zweiten Internationale und ihrer Mitglieds-Parteien in den Jahren vor 1914 verabschiedet wurden.
Dies war der Tod der Internationale, die sich nun in ihre verschiedenen nationalen Parteien aufsplitterte, von denen sich große Segmente, die meisten von ihnen führende Körperschaften, ihren eigenen Bourgeoisien als Anwerbungsbüros zur Verfügung stellten: Diese wurden bekannt als „Sozialchauvinisten“ oder „Sozialpatrioten“, die auch die Mehrheit der Gewerkschaften in diese Richtung führten. In diesem fürchterlichen Debakel wälzte sich ein anderes wichtiges Segment, die „Zentristen“, in allen Arten von Konfusionen. Sie waren unfähig zum entscheidenden Bruch mit den Sozialpatrioten, verkündeten absurde Illusionen über die Möglichkeit eines Friedensabkommens und wendeten sich, wie im Fall des früheren „Papstes“ des Marxismus, Kautsky, vom Klassenkampf ab mit der Begründung, dass die Internationale lediglich ein Mittel des Friedens, nicht des Krieges sein könne. In diesen traumatisierenden Zeiten stand lediglich eine Minderheit fest zu den Prinzipien, die die gesamte Internationale am Vorabend des Krieges schriftlich angenommen hatte – vor allem die Weigerung, den Klassenkampf auszusetzen, um die Kriegsanstrengungen der eigenen Bourgeoisie nicht zu gefährden, und darüber hinaus der Wille, die vom Krieg verursachte soziale Krise als ein Mittel zur Beschleunigung des Untergangs des kapitalistischen Systems zu nutzen. Doch angesichts des hysterischen Nationalismus in der Anfangsphase des Krieges, der in Luxemburgs Broschüre beschriebenen „Pogromstimmung“ rangen selbst die besten Militanten der revolutionären Linken mit Zweifeln und Schwierigkeiten: Lenin glaubte zunächst, dass jene Ausgabe des Vorwärts, der SPD-Zeitung, die die Zustimmung der Partei zu den Kriegskrediten im Reichstag verkündete, eine Fälschung sei, die von der politischen Polizei ausgeheckt worden sei. Der Anti-Militarist Liebknecht stimmte im deutschen Parlament anfangs aus Parteidisziplin für die Kriegskredite, und der folgende Auszug aus einem Brief von Rosa Luxemburg zeigt, wie sehr sie davon überzeugt war, dass die linke Opposition innerhalb der Sozialdemokratie auf eine kleine Ansammlung versprengter Individuen reduziert worden sei:
„Ich möchte die schärfstmögliche Aktion gegen das Treiben der (Reichstags-)Abgeordneten unternehmen. Leider erhalte ich nur wenig Hilfe von meiner (Ansammlung) loser Persönlichkeiten (…) Karl (Liebknecht) ist nie erreichbar, da er wie eine Wolke am Himmel herumsaust; Franz (Mehring) hat für alles außerhalb literarischer Kampagnen nur wenig Sympathien übrig. Claras (Zetkin) Reaktion ist Hysterie und schwärzeste Verzweiflung. Doch trotz alledem beabsichtige ich, mal zu schauen, was erzielt werden kann.“ [1]
Unter den Anarchisten gab es ebenfalls Konfusionen und offenen Verrat. Der ehrwürdige Anarchist Kropotkin rief zur Verteidigung der französischen Zivilisation gegen den deutschen Militarismus auf. Jene, die seiner Linie folgten, wurden bekannt als Schützengräben-Anarchisten; besonders stark erwies sich der Lockvogel des Nationalismus im Falle der syndikalistischen CGT in Frankreich. Doch der Anarchismus war aufgrund seines heterogenen Charakters nicht auf dieselbe Art betroffen wie die „marxistischen Parteien“. Zahllose anarchistische Militante und Gruppen vertraten auch weiterhin internationalistische Positionen, wie sie es schon zuvor getan hatten.[2]
Es war offensichtlich, dass die Gruppen der früheren sozialdemokratischen Linken es mit der Aufgabe der Reorganisation und Umgruppierung zu tun hatten, um die grundlegende Arbeit der Propaganda und Agitation trotz nationalistischer Ekstase und staatlicher Repression fortzusetzen. Dafür war jedoch vor allem eine theoretische Neubewertung erforderlich, ein rigoroses Bemühen zu verstehen, wie der Krieg so viele lang währende Prämissen der Bewegung über den Haufen werfen konnte. Nicht zuletzt weil es notwendig war, die „sozialistische“ Hülle wegzureißen, in der die Verräter ihren Patriotismus verborgen hatten, indem sie Worte von Marx und Engels – sorgfältig ausgesucht und vor allem aus ihrem historischen Kontext gerissen – auswählten, um die Position der nationalen Verteidigung zu rechtfertigen – vor allem in Deutschland, wo es eine lange Tradition in der marxistischen Strömung gegeben hat, die die nationalen Bewegungen gegen die reaktionäre Bedrohung durch den russischen Zarismus unterstützt hatten.
Die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Untersuchung wurde von Lenin verkörpert, der zu Beginn des Krieges seine Zeit damit verbrachte, in aller Ruhe in der Züricher Bibliothek Hegel zu lesen. In einem Artikel, der kürzlich in The Commune veröffentlicht worden war, argumentiert Kevin Anderson vom Marxist-Humanist Comitee in den USA, dass Lenin durch seine Hegel-Studien zur Schlussfolgerung verleitet worden sei, die Mehrheit der Marxisten in der Zweiten Internationale, einschließlich seines Mentors Plechanow (und seiner selbst), habe nicht mit dem Vulgärmaterialismus gebrochen und ihre Ignoranz gegenüber Hegel habe bedeutet, dass sie nur wenig über die Dialektik der Geschichte begriffen hätten.[3] Und natürlich besteht eines der Grundprinzipien Hegels darin, dass das, was in einer Epoche rational war, in einer anderen Epoche durchaus irrational werden konnte. Zweifellos ist dies die Methode, die Lenin benutzte, um den Sozialchauvinisten – besonders Plechanow – zu antworten, die ihre Unterstützung des Krieges zu rechtfertigen suchten, indem sie sich auf die Schriften Marx‘ und Engels‘ bezogen:
„Die russischen Sozialchauvinisten (an ihrer Spitze Plechanow) berufen sich auf die Taktik von Marx im Kriege von 1870; die deutschen Sozialchauvinisten (vom Schlage der Lensch, David und Co.) berufen sich auf die Erklärungen von Engels im Jahre 1891, in denen er von der Pflicht der deutschen Sozialisten spricht, im Falle eines gleichzeitigen Krieges gegen Rußland und Frankreich das Vaterland zu verteidigen (…) Alle diese Berufungen sind eine empörende Fälschung der Auffassungen von Marx und Engels zugunsten der Bourgeoisie und der Opportunisten (…) Wer sich jetzt auf Marx’ Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland” vergißt - diese Worte die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution - der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche.“[4]
Hier lag der Schlüssel: Der Kapitalismus ist zu einem reaktionären System geworden, wie Marx es vorhergesagt hatte. Der Krieg war der Beweis dafür, und dies bedeutete eine völlige Neubewertung aller alten Taktiken der Bewegung, ein klares Verständnis der Charakteristiken des Kapitalismus in seiner Alterskrise und somit der neuen Bedingungen, die dem Klassenkampf bevorstanden. Unter den linken Fraktionen war diese grundlegende Analyse der Evolution des Kapitalismus allgemeingültig. Luxemburgs Junius-Broschüre griff auf der Grundlage einer gründlichen Untersuchung der Phänomene des Imperialismus in der Vorkriegsperiode Engels‘ Ankündigung auf, dass die Menschheit mit der Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei konfrontiert werde, und erklärte, dass dies nicht mehr eine Aussicht auf die Zukunft sei, sondern unmittelbare Realität: Wie sie formulierte: „Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei“. Im gleichen Werk argumentierte Luxemburg, dass in einer Epoche des ungezügelten imperialistischen Krieges die alte Strategie der Unterstützung bestimmter Nationalbewegungen ihren ganzen fortschrittlichen Inhalt verloren habe: „In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen.“
Trotzki, der für Nashe Slowo schrieb, ging in dieselbe Richtung, indem er argumentierte, dass der Krieg ein Anzeichen dafür sei, dass der Nationalstaat selbst zu einer Barriere gegen einen weiteren menschlichen Fortschritt geworden sei: „Die Nation hat sich selbst überwunden – als Rahmen für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, als Basis des Klassenkampfes und insbesondere als Staatsform der Diktatur des Proletariats.“[5]
In seinem berühmten Werk Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus erkannte Lenin – wie Luxemburg -, dass der blutige Konflikt zwischen den Großmächten der Welt die Tatsache zum Ausdruck brachte, dass diese Mächte mittlerweile den gesamten Globus unter sich aufgeteilt hatten und dass seither der imperialistische Kuchen nur durch gewaltsames Begleichen alter Rechnungen unter den imperialistischen Ungeheuern neu aufgeteilt werden kann: „‘Das Charakteristische dieser Periode‘, folgert Supan, ‚ist also die Aufteilung Afrikas und Polynesiens.‘ Da es in Asien und Amerika keine unbesetzten Länder gibt, d.h. solche, die keinem Staate gehören, so muß Supans Schlußfolgerung dahingehend erweitert werden, daß das Charakteristische dieser Periode die endgültige Aufteilung der Erde ist, endgültig nicht in dem Sinne, daß eine Neuaufteilung unmöglich wäre – im Gegenteil, Neuaufteilungen sind möglich und unvermeidlich –, sondern in dem Sinne, daß die Kolonialpolitik der kapitalistischen Länder die Besitzergreifung unbesetzter Länder auf unserem Planeten beendet hat. Die Welt hat sich zum erstenmal als bereits aufgeteilt erwiesen, so daß in der Folge nur noch Neuaufteilungen in Frage kommen, d.h. der Übergang von einem ‚Besitzer‘ auf den anderen, nicht aber die Besitzergreifung herrenlosen Landes.“
Im selben Werk charakterisierte Lenin das „höchste Stadium“ des Kapitalismus als ein Stadium von „Parasitismus und Fäulnis“, als „sterbenden Kapitalismus“. Parasitismus, weil er – besonders im Fall Großbritanniens – eine Tendenz dafür erblickte, dass der produktive Beitrag der Industrienationen zum globalen Reichtum durch das wachsende Vertrauen auf das Finanzkapital und die Extraprofite, die aus den Kolonien gesaugt wurden, ersetzt wurde (eine Auffassung, die sicherlich kritisiert werden kann, die aber eine gewisse Eingebung enthielt, wie die heutige Blüte der Finanzspekulation und die fortschreitende De-Industrialisierung einiger der mächtigsten Nationen bezeugen können). Fäulnis (mit dem Lenin nicht eine absolute Stagnation des Wachstums meinte), weil die Tendenz des Kapitalismus, den freien Wettbewerb zugunsten von Monopolen zu beseitigen, die wachsende Notwendigkeit für die bürgerliche Gesellschaft bedeutete, ihren Platz für eine höhere Produktionsweise aufzugeben.
Lenins Imperialismus-Theorie leidet an einer Reihe von Schwächen. Seine Definition des Imperialismus ist eher eine Beschreibung einiger seiner äußeren Erscheinungsformen (die „fünf definierenden Charakteristiken“, die so oft von den Linksextremisten zitiert werden, um zu beweisen, dass diese oder jene Nation, dieser oder jener Block nicht imperialistisch sei) denn ein Versuch, zu den Wurzeln des Phänomens im Akkumulationsprozess vorzudringen, wie Luxemburg es getan hatte. Seine Vision eines fortgeschrittenen kapitalistischen Zentrums, das parasitär von den Extraprofiten aus den Kolonien lebt (und so einen Randbereich der Arbeiterklasse, die „Arbeiteraristokratie“, korrumpiert, damit dieser seine imperialistischen Projekte unterstützt), ließ genug Platz für das Eindringen der nationalistischen Ideologie in der Form einer Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien. Darüber hinaus hatte die Monopolphase (im Sinne gigantischer privater Konzerne) einem noch „höheren“ Ausdruck der kapitalistischen Fäulnis Platz gemacht: dem enormen Wachstum des Staatskapitalismus.
Hinsichtlich des letzten Punkts wurde der wichtigste Beitrag sicherlich von Bucharin geleistet, der einer der ersten war, die aufzeigten, dass in der Ära der „imperialistischen Staaten“ die Gesamtheit des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens vom Staatsapparat aufgesaugt wird, vor allem zum Zweck des Krieges gegen die rivalisierenden Imperialisten:
„In völligem Gegensatz zum Staat in der Epoche des Industriekapitalismus zeichnet sich der imperialistische Staat durch ein außerordentliches Wachstum in der Komplexität seiner Funktionen und durch einen heftigen Einbruch im Wirtschaftsleben der Gesellschaft aus. Er offenbart eine Tendenz, sich die gesamte Produktionssphäre und die gesamte Sphäre der Warenzirkulation einzuverleiben. Zwischenformen wie gemischte Unternehmen werden durch reine Staatsregulierung ersetzt, denn auf diese Weise kann der Zentralisierungsprozess fortgesetzt werden. Sämtliche Mitglieder der herrschenden Klassen (oder – genauer – der herrschenden Klasse, denn der Finanzkapitalismus eliminiert allmählich die verschiedenen Untergruppen der herrschenden Klassen, indem er sie in einer einzigen finanzkapitalistischen Clique vereinigt) werden zu Aktionären oder Partnern in einem gigantischen Staatsunternehmen. Einst Bewahrer und Verteidiger der Ausbeutung, hat sich der Staat mittlerweile selbst in eine einzige, zentralisierende, ausbeutende Organisation verwandelt, die direkt mit dem Proletariat, dem Objekt der Ausbeutung, konfrontiert ist. Auf dieselbe Weise wie Marktpreise vom Staat bestimmt werden, weist Letzterer den Arbeitern die Rationen zu, die erforderlich sind, um die Arbeitskraft zu erhalten. In völliger Übereinstimmung mit den militärischen Behörden, deren Bedeutung und Macht stetig wachsen, erfüllt eine hierarchisch angeordnete Bürokratie die organisatorischen Funktionen. Die Volkswirtschaft wird vom Staat absorbiert, der auf militärische Weise konstruiert ist und eine enorme, disziplinierte Armee und Marine zur Verfügung hat. In ihrem Kampf werden die Arbeiter mit der Allmacht dieses monströsen Apparates konfrontiert, denn jeder Fortschritt ihrerseits richtet sich direkt gegen den Staat: Der wirtschaftliche und politische Kampf wird nicht mehr in zwei Kategorien zerfallen, und der Aufstand gegen die Ausbeutung wird eine direkte Revolte gegen die staatliche Organisation der Bourgeoisie bedeuten.“
Der totalitäre Staatskapitalismus und die Kriegswirtschaft waren zweifellos wichtige Kennzeichen des folgenden Jahrhunderts. Angesichts der Omnipräsenz dieses kapitalistischen Monsters zog Bucharin richtigerweise die Schlussfolgerung, dass jeder bedeutsame Arbeiterkampf seitdem keine andere Wahl hat, als mit dem Staat zusammenzustoßen, und dass der einzige Weg vorwärts für das Proletariat darin besteht, diesen gesamten Apparat „in die Luft zu jagen“ – den bürgerlichen Staat zu zerstören und ihn durch die eigenen Machtorgane zu ersetzen. Dies bedeutete die endgültige Abkehr von allen Spekulationen über eine friedliche Eroberung des existierenden Staates, die Marx und Engels selbst nach der Erfahrung mit der Pariser Kommune nicht völlig in Abrede gestellt hatten und die in wachsendem Maße zur orthodoxen Position der Zweiten Internationale geworden war. Pannekoek hatte 1912 zunächst diese Position aufgegriffen; als Bucharin sie wiederholte, beschuldigte Lenin ihn zunächst, in den Anarchismus abzugleiten; doch noch während er an seiner Antwort arbeitete und angetrieben von der Notwendigkeit, die sich entfaltende Situation in Russland zu begreifen, wurde Lenin erneut von der sich weiterentwickelnden Dialektik ergriffen und kam zu der Schlussfolgerung, dass Pannekoek und Bucharin Recht hatten – eine Schlussfolgerung, die in Staat und Revolution, verfasst am Vorabend des Oktober-Aufstandes, formuliert wurde.
In Bucharins Imperialismus und Weltwirtschaft (1917) gibt es auch den Versuch, den Drang zur imperialistischen Expansion aus den ökonomischen Widersprüchen zu erklären, die Marx hervorgehoben hat, als er auf den Druck hinwies, der durch den Fall der Profitrate ausgeübt wird, aber auch auf die Notwendigkeit einer konstanten Ausweitung des Marktes. Wie bei Luxemburg und Lenin ist es Bucharins Absicht nachzuweisen, dass, eben weil der Prozess der imperialistischen „Globalisierung“ eine vereinte Weltwirtschaft geschaffen hat, der Kapitalismus seine historische Mission erfüllt hatte und von nun an in den Niedergang abglitt. Dies stand völlig in Einklang mit der von Marx umrissenen Perspektive, als er schrieb, dass „Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarktes, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion.“[6]
So bekräftigten wahrhaftige Marxisten - im Gegensatz zu den Sozialchauvinisten und den Zentristen, die auf den status quo ante bellum zurückgehen wollten und den Marxismus verfälschten, um die Unterstützung für das eine oder andere kriegführende Lager zu rechtfertigen - einmütig, dass es keinen progressiven Kapitalismus mehr gab und daher sein revolutionärer Sturz auf der historischen Tagesordnung stand.
Die gleiche grundlegende Frage der historischen Periode stellte sich auch in Russland 1917, Schauplatz des Höhepunkts einer ansteigenden internationalen Welle des proletarischen Widerstands gegen den Krieg. Als die in den Sowjets organisierte russische Arbeiterklasse immer mehr dahinter kam, dass den Zaren loszuwerden keines ihrer wesentlichen Probleme gelöst hatte, agitierten die rechten und zentristische Fraktionen mit all ihrer Kraft gegen die Bolschewiki, die die proletarische Revolution und die sowjetische Gegenmacht forderten, um nicht nur mit den zaristischen Elementen, sondern auch mit der gesamten russischen Bourgeoisie abzurechnen, die den Februar als ihre legitime Revolution für sich beanspruchten. Sie wurden auf theoretischem Gebiet von den Menschewiki unterstützt, die Marx‘ Schriften ausquetschten, um aufzuzeigen, dass der Sozialismus nur auf der Basis eines vollständig entwickelten kapitalistischen Systems errichtet werden könne: Russland sei viel zu rückständig, es könne ganz offensichtlich nicht über das Stadium einer demokratischen, bürgerlichen Revolution hinausgehen, und die Bolschewiki seien nichts anderes als eine Bande von Abenteurern, die danach trachteten, einen historischen Bocksprung zu vollziehen. Die Antwort, die Lenin in den Aprilthesen gab, stand ebenfalls in Einklang mit seiner Lektüre Hegels, der stets die Notwendigkeit betont hatte, die geschichtliche Bewegung in ihrer Ganzheit zu betrachten; gleichzeitig reflektierten die Aprilthesen Lenins tiefes Bekenntnis zum Internationalismus. Es ist sicherlich richtig, dass die Bedingungen für die Revolution historisch heranreifen müssen, doch die Ankunft einer neuen historischen Epoche kann nicht auf der Grundlage der Untersuchung eines einzelnen Landes beurteilt werden. Der Kapitalismus war, wie die Imperialismus-Theorie zeigte, ein globales System, und daher reiften sein Niedergang und die Notwendigkeit seines Sturzes ebenfalls auf globaler Ebene heran: Der Ausbruch des imperialistischen Weltkriegs war ein hinreichender Beweis dafür. Es gab keine Russische Revolution in Isolation. Eine proletarische Erhebung in Russland konnte lediglich der erste Schritt zu einer internationalen Revolution sein, oder wie Lenin es bei seinem Paukenschlag in der Rede an die ArbeiterInnen und Soldaten, die zu seiner Begrüßung auf den Finnländischen Bahnhof in Petrograd nach seiner Rückkehr aus dem Exil gekommen waren, formulierte: „Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in eurer Person die siegreiche russische Revolution zu begrüßen, euch als die Avantgarde der proletarischen Weltarmee zu begrüßen… Die Stunde ist nicht fern, wo auf den Ruf unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter, die Kapitalisten richten werden… Die russische Revolution, von euch vollbracht, hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!“ [7]
Die Erkenntnis, dass der Kapitalismus die notwendigen historischen Bedingungen für die Ankunft des Sozialismus erfüllt hatte und gleichzeitig in eine historische Senilitätskrise eingetreten war, wurde – da beide Zustände lediglich zwei Seiten derselben Münze sind – in dem wohlbekannten Satz aus der Plattform der Kommunistischen Internationale, auf ihrem Ersten Kongress im März 1919 entworfen, zusammengefasst: „Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“
Als die revolutionäre, internationalistische Linke auf dem Ersten Kongress der KI zusammenkam, befand sich der revolutionäre Aufruhr, ausgelöst durch den Roten Oktober, auf seinem Höhepunkt. Als der „Spartakus“-Aufstand im Januar in Berlin niedergeschlagen und Luxemburg sowie Liebknecht grausam ermordet wurden, reifte die Ungarische Revolution gerade erst heran; Europa und Teile der USA und Südamerikas wurden von Massenstreiks erfasst. Die revolutionäre Begeisterung damals fand ihren Ausdruck in den vom Kongress verabschiedeten Grundsatztexten. In Einklang mit Rosas Rede zum Gründungskongress der KPD wurde die Morgenröte der neuen Epoche in dem Sinn gedeutet, dass die alte Aufteilung zwischen Minimal- und Maximalprogramm nicht mehr gültig war; folglich hatte die Arbeit der Organisierung innerhalb des Kapitalismus durch Gewerkschaftsaktivitäten und durch die Teilnahme am Parlament, um für wesentliche Reformen zu kämpfen, ihren grundlegenden Daseinsgrund verloren. Die historische Krise des kapitalistischen Weltsystems, die sich nicht nur im imperialistischen Krieg ausdrückt, sondern auch durch das ökonomische und soziale Chaos, das sie in ihrem Kielwasser hinterlässt, bedeutete, dass der direkte Kampf um die Macht, organisiert in Sowjets, nun realistisch war und in der Tat dringend auf der Tagesordnung stand. Und dieses Aktionsprogramm war in allen Ländern gültig, einschließlich der Kolonien und Halb-Kolonien. Ferner konnte die Annahme dieses neuen Maximalprogramms nur auf dem Wege eines vollständigen Bruchs mit den Organisationen zustande kommen, die die Arbeiterklasse in der vorherigen Epoche „repräsentiert“, aber deren Interessen verraten hatten, sobald ihnen die historische Prüfung auferlegt wurde – die Nagelprobe des Krieges und der Revolution 1914-17. Die sozialdemokratischen Reformisten, die Gewerkschaftsbürokratie wurden nun als Diener des Kapitals definiert, nicht bloß als rechter Flügel der Arbeiterbewegung. Die Debatten auf dem Ersten Kongress zeigen, dass die frühe Kommunistische Internationale offen gegenüber den gewagtesten Schlussfolgerungen war, die aus der direkten Erfahrung der revolutionären Schlacht gewonnen wurden. Obwohl die Erfahrungen in Russland einen in gewisser Weise anderen Weg folgten, hörten die Bolschewiki aufmerksam den Berichten von Delegierten aus Deutschland, der Schweiz, Finnland, den USA, Großbritannien und anderswo zu, die argumentierten, dass die Gewerkschaften nicht mehr nur nutzlos waren, sondern zu einem direkten und konterrevolutionären Hindernis geworden waren – Zahnräder im Staatsapparat – und dass die ArbeiterInnen sich zunehmend außerhalb und gegen sie organisierten, in Gestalt von Räteorganisationen in den Fabriken und auf den Straßen. Und da sich der Klassenkampf eben genau auf die Arbeitsplätze und die Straßen fokussierte, erschienen diese lebendigen Zentren des Klassenkampfes und des Klassenbewusstseins in den offiziellen Dokumenten der KI in auffälligem Gegensatz zur leeren Hülle des Parlaments, einem Instrument, das nicht nur einfach irrelevant für die proletarische Revolution geworden war, sondern auch eine direkte Waffe der herrschenden Klasse sowohl in Russland 1917 als auch in Deutschland 1918 darstellte. Auch kam das Manifest der KI Luxemburgs Ansicht sehr nahe, dass nationale Kämpfe sich überlebt hatten und neu entstehende Nationen zu bloßen Spielfiguren der widerstreitenden imperialistischen Interessen wurden. An diesem Punkt schienen diese „extremen“ revolutionären Schlussfolgerungen der Mehrheit eine logische Folge der anbrechenden neuen Epoche zu sein.[8]
Wenn sich die Geschichte beschleunigt, wie dies 1914 der Fall war, können in ein, zwei Jahren dramatische Veränderungen eintreten. Als die KI auf ihrem Dritten Kongress im Juni/Juli 1921 zusammenkam, hatte die Hoffnung auf eine unmittelbare Ausweitung der Revolution, die auf dem Ersten Kongress so groß war, die schlimmsten Rückschläge erlitten. Russland hatte drei Jahre eines erschöpfenden Bürgerkriegs durchlitten, und obgleich die roten Streitkräfte die Weißen militärisch besiegt hatten, war der politische Preis verheerend: die Dezimierung großer Teile der klassenbewusstesten Arbeiter, wachsende Bürokratisierung des „revolutionären“ Staates, die so weit ging, dass die Sowjets die tatsächliche Kontrolle über ihn verloren. Die Härten des „Kriegskommunismus“ und die zerstörerischen Exzesse des Roten Terrors hatten letztlich eine offene Revolte der Arbeiterklasse provoziert: Im März brachen in Petrograd Massenstreiks aus, denen der bewaffnete Aufstand der Matrosen und Arbeiter von Kronstadt folgte, die zur Wiedergeburt der Sowjets und zu einem Ende der Militarisierung der Arbeit und der repressiven Handlungen der Tscheka aufriefen. Doch die bolschewistische Führung, verkörpert durch den Staat, sah in diesen Bewegungen lediglich Ausdrücke der weißen Konterrevolution und unterdrückte sie erbarmungslos und blutig. All dies war ein Ausdruck der wachsenden Isolation der russischen Bastion. Niederlage folgte auf Niederlage: die ungarischen und bayrischen Räterepubliken, das Rote Clydeside, die italienischen Fabrikbesetzungen, der Aufstand an der Ruhr in Deutschland und viele andere Klassenbewegungen.
Im Bewusstsein ihrer wachsenden Isolation begannen die an der Macht in Russland festhaltende Partei und andere Parteien außerhalb, Zuflucht in verzweifelten Maßnahmen zu suchen, um die Revolution zu verbreiten, wie der Vorstoß der Roten Armee nach Polen und die Märzaktion im März 1921 in Deutschland – beides gescheiterte Versuche, das Tempo der Revolution ohne massenhafte Entwicklung des Klassenbewusstseins und der Organisation, die für eine wirkliche Ergreifung der Arbeitermacht benötigt wurden, zu forcieren. Mittlerweile gelang es dem kapitalistischen System, auch wenn es durch den Krieg ausgeblutet war und noch immer die Symptome einer tiefen Wirtschaftskrise aufwies, sich ökonomisch und gesellschaftlich zu stabilisieren, was zum Teil das Resultat der neuen Rolle war, die die USA als industrielles Kraftwerk und Gläubiger der Welt spielten.
Innerhalb der Kommunistischen Internationale hatte bereits der Zweite Kongress 1920 den Einfluss dieser vorherigen Niederlagen widergespiegelt. Dies wurde durch die Veröffentlichung von Lenins Text Der Linksradikalismus - eine Kinderkrankheit des Kommunismus symbolisiert, der auf dem Kongress verteilt wurde.[9] Statt sich der lebendigen Erfahrung des Weltproletariats zu öffnen, wurden die bolschewistischen Erfahrungen – bzw. eine besondere Version dessen – nun als ein Universalmodell präsentiert. Die Bolschewiki waren nach 1905 in der Duma in gewissen Maßen erfolgreich gewesen, folglich war die Taktik des „revolutionären Parlamentarismus“ überall gültig; die Gewerkschaften in Russland waren erst kürzlich gegründet worden und hatten noch nicht alle proletarischen Lebenszeichen verloren – folglich sollten die Kommunisten in allen Ländern alles Notwendige tun, um in den reaktionären Gewerkschaften zu bleiben und darum zu kämpfen, sie den korrupten Bürokraten zu entreißen. Zusammen mit der Festschreibung dieser Gewerkschafts- und Parlamentarismus-Taktiken, die in offenem Gegensatz zu den linkskommunistischen Strömungen vorgebracht wurden, die sie ablehnten, wurde dazu aufgerufen, die Kommunistischen Parteien zu Massenparteien auszubauen, größtenteils durch die Einverleibung solcher Institutionen wie die USPD in Deutschland und die Sozialistische Partei in Italien (PSI).
Das Jahr 1921 erlebte einen weiteren Beweis für das Abgleiten in den Opportunismus, für die Opferung von Prinzipien und langfristigen Zielen zugunsten kurzfristiger Erfolge und numerischen Wachstums. Statt mit einer Anprangerung der sozialdemokratischen Parteien als Agenten der Bourgeoisie haben wir es nun mit dem Trugschluss des an diese Parteien gerichteten „Offenen Briefes“ zu tun, dessen Zweck es war, „die Führer zum Kampf zu zwingen“ oder, nachdem dies gescheitert wäre, sie vor den Augen der Arbeiter unter ihren Mitgliedern zu entlarven. Kurz, die Annahme einer Politik der Manöver, mit der den Massen irgendwie ein Klassenbewusstsein untergejubelt werden sollte. Diesen Taktiken folgte kurz darauf die Verkündung der „Einheitsfront“ und des noch prinzipienloseren Slogans der „Arbeiterregierung“, eine Art parlamentarische Koalition zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Hinter all dieser Suche nach Einfluss um jeden Preis steckte das Bedürfnis des „Sowjet“-Staates, in einer feindlichen kapitalistischen Welt auszuharren, einen Modus vivendi mit dem Weltkapitalismus zu finden, auch wenn dies bedeutete, zur Praxis der Geheimdiplomatie zurückzukehren, die von der Sowjetmacht 1917 noch einhellig verurteilt worden war (1922 unterzeichnete der „Sowjet“-Staat ein Geheimabkommen mit Deutschland und versorgte es gar mit Waffen, die ein Jahr später benutzt wurden, um kommunistische Arbeiter niederzuschießen). All dies deutete eine beschleunigte Abkehr vom revolutionären Kampf und eine Hinwendung zur Einverleibung des kapitalistischen Status quo an – noch nicht endgültig, aber den Weg in die Degeneration anzeigend, die im Sieg der stalinistischen Konterrevolution ihren Höhepunkt finden sollte.
Dies bedeutete nicht, dass sämtliche Klarheit und sämtliche ernsthaften Diskussionen ein Ende gefunden hatten. Im Gegenteil, die Reaktion der „Linkskommunisten“ auf diesen opportunistischen Kurs bestand darin, ihre Argumente noch fester auf der Auffassung zu gründen, dass der Kapitalismus in eine neue Epoche eingetreten sei: So beginnt das KAPD-Programm von 1920 mit der Proklamation, dass der Kapitalismus seine historische Krise erlebe, was das Proletariat mit der Wahl zwischen Sozialismus oder Barbarei konfrontiere.[10] Im gleichen Jahr ergriff die italienische Linke das Wort; ihre Argumente gegen den Parlamentarismus gingen von der Prämisse aus, dass der Anbruch der revolutionären Epoche die alte Praxis des Parlamentarismus aufgehoben habe, eine Praxis, die noch in der vorherigen Epoche gültig gewesen war. Doch auch unter den „offiziellen“ Stimmen in der KI gab es echte Versuche, die Zeichen und Konsequenzen der neuen Epoche zu verstehen.
Der Bericht und die Thesen über die Weltlage, die von Trotzki auf dem Dritten Kongress im Juni/Juli 1921 abgeliefert wurden, boten eine sehr klare Analyse der Mechanismen, zu denen der marode Kapitalismus Zuflucht suchte, um sein Überleben in der neuen Epoche zu sichern – nicht zuletzt die Flucht in den Kredit und in fiktives Kapital. Nachdem er die ersten Anzeichen einer Nachkriegserholung analysiert hatte, stellte Trotzkis „Bericht zur Weltwirtschaftskrise und zu den Neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale“ folgende Frage:
„Wie lassen sich diese Tatsachen und der Boom erklären? An erster Stelle durch die wirtschaftlichen Ursachen: Nach dem Krieg wurden die internationalen Verbindungen wiederaufgenommen, wenn auch in einer äußerst verkürzten Form, und es gab eine universelle Nachfrage nach allen Arten von Gütern. Zweitens durch politisch-finanzielle Ursachen: Die europäischen Regierungen hatten eine tödliche Angst vor der Krise, die nach dem Krieg zu folgen drohte, und sie suchten Zuflucht in allen möglichen Maßnahmen, um den künstlichen, durch den Krieg geschaffenen Boom während der Zeit der Demobilisierung aufrechtzuerhalten. Die Regierungen fuhren fort, große Mengen an Papiergeld in den Kreislauf zu pumpen, emittierten neue Anleihen, regulierten Profite, Löhne und Brotpreise und subventionierten so den Verdienst der demobilisierten Arbeiter, indem sie aus den wichtigsten nationalen Mitteln schöpften und somit eine künstliche wirtschaftliche Wiederbelebung im Land schufen. So breitete sich in diesem Zeitraum das fiktive Kapital aus, besonders in jenen Ländern, in denen die Industrie weiterhin rückläufig war.“
Das ganze Leben des Kapitalismus seitdem hat diese Diagnose, dass das System sich nur über Wasser halten kann, indem es seine eigenen ökonomischen Gesetze vergewaltigt, nur bestätigt. Diese Texte strebten auch danach, das Verständnis zu vertiefen, dass der Kapitalismus ohne eine proletarische Revolution weitere und noch zerstörerischere Kriege auszulösen droht (selbst wenn ihre Schlussfolgerungen bezüglich eines drohenden Zusammenstoßes zwischen der alten Macht Großbritannien und der aufstrebenden Macht USA zwar nicht ohne Grundlage waren, letztlich aber völlig danebenlagen). Doch die wichtigste Klärung, die in den Thesen und anderen Dokumenten enthalten war, war die Schlussfolgerung, dass der Anbruch der neuen Epoche nicht bedeutete, dass Niedergang, offene Wirtschaftskrise und Revolution allesamt gleichzeitig stattfinden, eine Mehrdeutigkeit, die in der ursprünglichen Formulierung von 1919: „eine neue Epoche ist geboren“ ersichtlich ist, da sie in dem Sinne interpretiert werde konnte, dass der Kapitalismus gleichzeitig in eine „finale“ Wirtschaftskrise und in eine ununterbrochene Phase revolutionärer Konflikte eingetreten sei. Dieser Fortschritt im Verständnis wird vielleicht am klarsten in Trotzkis Text „Die Hauptlehren des Dritten Kongresses“, im Juni 1921 verfasst, ausgedrückt. Er begann wie folgt:
„Klassen sind in der Produktion verwurzelt. Klassen bleiben überlebensfähig, solange sie eine notwendige Rolle im Prozess der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit ausfüllen. Klassen verlieren den Boden unter ihren Füßen, wenn die für ihre Existenz notwendigen Bedingungen in Widerspruch zum Wachstum der Produktivkräfte treten, d.h. zur Weiterentwicklung der Wirtschaft. So ist die Lage, in der sich die Bourgeoisie derzeit befindet.
Aber dies bedeutet überhaupt nicht, dass eine Klasse, die ihre lebensspendenden Wurzeln verloren hat und parasitär geworden ist, exakt dadurch zum sofortigen Tod verurteilt ist. Während die Ökonomie die Grundlage für die Klassenherrschaft bildet, halten sich die entsprechenden Klassen durch die Mittel des Staates an der Macht – durch den Staatsapparat und seine Organe, nämlich Armee, Polizei, Parteien, Gerichte, Presse, etc. etc. Mit Hilfe dieser Organe, die im Verhältnis zum ökonomischen Fundament den ‚Überbau‘ darstellen, kann sich die herrschende Klasse noch Jahre und Jahrzehnte, nachdem sie zu einer direkten Bremse für die gesellschaftliche Weiterentwicklung geworden ist, an der Macht halten. Wenn solch eine Situation zu lange anhält, kann eine überlebte Klasse jene Länder und Völker, über die sie herrscht, mit sich herunterziehen…
Eine rein mechanische Konzeption der proletarischen Revolution – wonach sich Letztere aus der Tatsache ergibt, dass der Kapitalismus weiter verfällt – hatte gewissen Gruppen von Genossen dazu verleitet, Theorien herzuleiten, die ganz und gar falsch sind: die falsche Theorie einer initiierenden Minderheit, die durch ihren Heroismus ‚die Mauern der allgegenwärtigen Passivität‘ des Proletariats erschüttert. Die falsche Theorie der ununterbrochenen Offensiven, angeführt von der proletarischen Avantgarde, als ‚neue Methode‘ des Kampfes; die falsche Theorie der Teilkämpfe, die unter der Anwendung von Methoden der bewaffneten Erhebung geführt werden. Und so weiter und so fort. Der deutlichste Exponent dieser Tendenz ist die Wiener Zeitung Kommunismus. Es ist völlig selbstverständlich, dass taktische Theorien dieser Art nichts mit Marxismus zu tun haben.“
Somit schloss der Beginn des Niedergangs nicht wirtschaftliche Aufschwünge oder Rückzüge des Proletariats aus. Natürlich konnte niemand ermessen, wie entscheidend die Niederlagen von 1919-21 bereits gewesen waren, doch gab es ein brennendes Bedürfnis nach Klärung der Frage, was angesichts einer Epoche, nicht eines unmittelbaren Moments der Revolution zu tun ist. Ein anderer Text, die „Thesen über die Taktik“, die vom Kongress verabschiedet wurden, brachte völlig zu Recht die Notwendigkeit für die kommunistischen Parteien vor, an den Verteidigungskämpfen teilzunehmen, um das Selbstvertrauen und die Selbstbewusstwerdung der Arbeiterklasse zu stärken. Und dies war zusammen mit der Erkenntnis, dass Niedergang und Revolution keinesfalls synonym waren, eine notwendige Widerlegung der „Theorie der Offensive“, die zu einem erheblichen Teil als Rechtfertigung der halb-putschistischen Herangehensweise der März-Aktion gedient hatte. Diese Theorie – dass nämlich angesichts der Reife der objektiven Bedingungen die kommunistische Partei eine mehr oder weniger permanente, aufständische Offensive führen müsse, um die Massen zu Aktionen zu treiben – wurde hauptsächlich von der Linken innerhalb der KPD, von Bela Kun und anderen geteilt – und nicht, wie oft fälschlicherweise behauptet, von der eigentlichen Kommunistischen Linken, selbst wenn die KAPD und ihr Umfeld nicht immer klar in diesem Punkt waren.[11]
In diesem Zusammenhang waren die Interventionen der KAPD-Delegation auf dem Dritten Kongress äußerst konstruktiv. Der Etikettierung des „Sektierertums“ in den Thesen über die Taktik Lügen strafend, war das Verhalten der KAPD auf dem Kongress ein Musterbeispiel dafür, wie sich eine verantwortungsbewusste Minderheit in einer proletarischen Organisation verhalten sollte. Trotz der frustrierenden Redezeitbeschränkungen, trotz der Unterbrechungen und sarkastischen Zwischenrufe betrachtete sich die KAPD als integralen Bestandteil der Sitzungen, und ihre Delegierten erkannten bereitwillig Punkte der Übereinstimmung an, wo es welche gab; sie waren überhaupt nicht daran interessiert, Differenzen um der eigenen Sache willen hervorzuheben, was das Wesen eines sektiererischen Verhaltens ausmacht.[12] Beispielsweise stimmte eine Anzahl von KAPD-Delegierten in der Diskussion über die Weltlage in vielen Punkten mit Trotzkis Analyse überein, besonders mit der Bemerkung, dass der Kapitalismus sich mittlerweile ökonomisch wiederhergestellt und die Kontrolle auf gesellschaftlicher Ebene wiedererlang habe: So betonte Seeman die Fähigkeit der internationalen Bourgeoisie, ihre interimperialistischen Rivalitäten zeitweise hintanzustellen, um mit der proletarischen Gefahr besonders in Deutschland fertig zu werden.
Die Konsequenz daraus – besonders angesichts dessen, dass Trotzkis Bericht und die Thesen über die Weltlage zu einem großen Umfang als eine Widerrede gegen die Anhänger der „Theorie der Offensive“ verstanden wurde – war die, dass die KAPD weder eine Wiederstabilisierung des Kapitals ausschloss, noch behauptete, dass der Kampf jederzeit offensiv sein müsse. Und in der Tat fand diese Ansicht explizit ihren Ausdruck in einer Reihe von Interventionen.
Sachs formulierte es in seiner Antwort auf Trotzkis Präsentation über die weltwirtschaftliche Lage so: „Nun haben wir zwar gestern ausführlich gehört, wie Genosse Trotzki – und ich glaube, wir alle sind da mit ihm einig – sich den Zusammenhang der momentanen kleinen zyklischen Krisen und Aufschwungperioden mit diesen Problemen des Aufschwungs und Niedergangs des Kapitalismus, in großen Zeiträumen gerechnet, vorstellt. Gewiss werden wir wohl alle einverstanden sein, dass die große Kurve aufwärts gegangen ist und nunmehr unaufhaltsam abwärts geht und dass innerhalb dieser großen Kurve sowohl beim Aufwärtsgehen, als auch jetzt beim Abwärtsgehen Schwankungen vorhanden sind.“
Welche Zweideutigkeiten auch immer in ihrer Auffassung über die „Todeskrise“ geherrscht haben mögen, so hat die KAPD nicht behauptet, dass der Beginn der Dekadenz einen plötzlichen und endgültigen Zusammenbruch des kapitalistischen Wirtschaftslebens bedeute.
Gleichermaßen deutlich wies Hempel in seiner Intervention zu den Taktiken der Internationale den Vorwurf zurück, dass die „sektiererische“ KAPD defensive Kämpfe ablehne und die jederzeitige Offensive fordere: „Sodann wird die Frage der Teilaktionen behandelt. Wir sagen, wir lehnen keine Teilaktionen ab. Wir sagen, jegliche Aktion, jeglicher Kampf, denn das ist eine Aktion, muss ausgearbeitet werden, muss weitergetrieben werden. Man kann nicht sagen, wir lehnen jenen Kampf ab, und wir lehnen diesen Kampf ab. Der Kampf, der sich aus den wirtschaftlichen Nöten der Arbeiterschaft entspinnt, dieser Kampf muss mit allen Mitteln vorangetrieben werden. Und gerade in einem solchen Lande wie in Deutschland, ja, wie in England und all den Ländern der bürgerlichen Demokratie, die eine vierzig- bis fünfzigjährige bürgerliche Demokratie und ihre Wirkungen verspürt haben, muss die Arbeiterschaft erst an die Kämpfe gewöhnt werden. Die Parolen müssen diesen Teilaktionen entsprechen. Nehmen wir ein Beispiel: in einem Betriebe, in verschiedenen Betrieben bricht ein sogenannter Generalstreik aus, umfasst ein kleines Gebiet. Dort kann die Parole nicht lauten: Kampf um die Diktatur des Proletariats. Das wäre ein Unsinn. Die Parolen passen sich den Verhältnissen an, sie passen sich dem an, was man dort erreichen kann.“
Doch hinter vielen dieser Interventionen steckte das Beharren der KAPD, dass die KI nicht tief genug in ihrem Verständnis ging, dass eine neue Periode im Leben des Kapitalismus und somit im Klassenkampf eröffnet worden sei. Sachs zum Beispiel, der mit Trotzki in der Möglichkeit temporärer Aufschwünge übereinstimmte, argumentierte, „was in diesen Thesen nicht zum Ausdruck gekommen ist, was in ihnen keine plastische Formulierung gefunden hat, das ist eben der grundverschiedene Charakter dieser Niedergangsepoche gegenüber jener vergangenen Aufschwungsepoche des Kapitalismus im ganzen genommen“; und dass dies Konsequenzen für die Art und Weise haben werde, wie der Kapitalismus fortan überleben werde: „Das Kapital baut seine Gewalt durch den Abbau der Wirtschaft auf“,[13] eine kühne Vorwegnahme, wie der Kapitalismus als System im folgenden Jahrhundert überleben sollte. Hempel umriss in der Diskussion über die Taktiken die Folgen der neuen Epoche in Hinsicht auf die politischen Positionen, die Kommunisten vorlegen mussten, besonders in den taktischen gewerkschaftlichen und parlamentarischen Fragen. Im Gegensatz zu den Anarchisten, mit denen die KAPD oft in einen Topf geschmissen wurde, bestand Hempel darauf, dass der Gebrauch des Parlaments und der Gewerkschaften in der vorherigen Epoche richtig gewesen sei: „Das wird am deutlichsten ans Licht treten, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Aufgaben die alte Arbeiterbewegung hatte, sagen wir besser, die Arbeiterbewegung vor dem Zeitalter dieses Ausbruches der direkten Revolution. Sie hatte als Aufgaben: einerseits vermittels der politischen Organisationen der Arbeiterschaft, der Parteien, Delegierte in die Parlamente und Institutionen zu entsenden, die vom Bürgertum, von der Bürokratie zur Vertretung der Arbeiterschaft offen gelassen sind. Das war die eine Aufgabe. Das wurde ausgenutzt. Und es war zu der Zeit richtig. Die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft nun hatten die Aufgabe, für die Besserstellung der Arbeiterschaft im Kapitalismus zu sorgen, zum Kampf zu streben, und wenn das Kämpfen nicht mehr ging, zu verhandeln. (…) Das waren die Aufgaben der Arbeiterorganisationen vor dem Kriege. Als aber nun die Revolution kam, zeigten sich andere Aufgaben. Die Arbeiterorganisationen konnten sich nicht mehr darauf einstellen, für Lohnerhöhungen zu kämpfen und sich damit zu begnügen, sie konnten sich nicht mehr darauf als auf ihr Hauptziel einstellen, nur in den Parlamenten vertreten zu sein und Besserung für die Arbeiterschaft herauszuschinden“[14]; und weiter: „Wir erleben ständig immer wieder, dass alle diese Arbeiterorganisationen, die diesen Weg gehen, trotz aller revolutionären Reden in den entscheidenden Kämpfen versagen“.[15] Daher müsse die Arbeiterklasse neue Organisationen schaffen, die in der Lage seien, die Notwendigkeit der proletarischen Selbstorganisation und der direkten Konfrontation mit Staat und Kapital zum Ausdruck zu bringen; dies traf sowohl auf die Verteidigungskämpfe als auch auf die breiteren Massenkämpfe zu. An anderer Stelle definierte Bergmann die Gewerkschaften als Bestandteil des Staates, daher sei es illusorisch zu versuchen, sie zu erobern: „Wir stehen grundsätzlich auf dem Standpunkt, die alten konterrevolutionären Gewerkschaften aus dem Weg zu räumen. Nicht darum, weil wir Lust am Zerstören hätten, sondern weil wir sehen, dass diese Organe wirkliche Organe des kapitalistischen Staates zur Niederhaltung der Revolution im schlimmsten Sinne geworden sind.“[16] Auf dieselbe Art und Weise kritisierte Sachs sowohl den Rückschritt, der in der Vorstellung der Massenpartei bestand, als auch die Taktik des Offenen Briefes an die sozialdemokratischen Parteien – dies seien Rückentwicklungen entweder in Richtung überholter sozialdemokratischer Praktiken und Organisationsformen oder, schlimmer noch, in Richtung der sozialdemokratischen Parteien, die zum Feind übergelaufen waren.
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Im Allgemeinen wird die Geschichte von den Siegern oder zumindest von jenen geschrieben, die als die Sieger erscheinen. In den Jahren nach dem Dritten Kongress blieben die offiziellen Kommunistischen Parteien große Organisationen, die sich auf die Loyalität von Millionen von Arbeitern verlassen konnten; die KAPD zersplitterte schnell in eine Reihe von Komponenten, von denen einige wenige die Klarheit aufrechterhielten, die von ihren Repräsentanten in Moskau 1921 zum Ausdruck gebracht worden war. Nun rückten lupenreine sektiererische Irrtümer in den Vordergrund, insbesondere die hastige Entscheidung der Essener Tendenz der KAPD um Gorter, die eine „Vierte Internationale“ (die KAI, Kommunistische Arbeiterinternationale) in die Welt setzte, als in einer Phase des Rückzugs der Revolution die Entwicklung einer internationalen Fraktion nötig war, um gegen die Degeneration der Dritten Internationale anzukämpfen. Dieses übereilte Abschreiben der Kommunistischen Internationale wurde konsequenterweise von einer Kehrtwende in der Frage des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution begleitet, die zunehmend als bürgerlich abgelehnt wurde. Gleichermaßen sektiererisch war die Auffassung der Schröder-Strömung in der KAI, dass Lohnkämpfe in der Epoche der „Todeskrise“ opportunistisch seien; andere Strömungen begannen die Möglichkeit einer proletarischen Partei in Frage zu stellen, was zu dem führte, was später unter dem „Rätekommunismus“ bekannt wurde. Doch diese Manifestationen einer breiten Schwächung und Fragmentierung der revolutionären Avantgarde waren das Produkt der aufziehenden Niederlage und Konterrevolution; gleichzeitig war die Aufrechterhaltung der einflussreichen Massenorganisationen der KPs in diesem Zeitraum ebenfalls ein Produkt der bürgerlichen Konterrevolution, jedoch mit der fürchterlichen Eigentümlichkeit, dass diese Parteien neben den faschistischen und demokratischen Schlächtern die Vorhut dieser Konterrevolution bildeten. Auf der anderen Seite verschwanden die klaren Positionen der KAPD und der Italienischen Linken, Produkte der höchsten Momente der Revolution und fest verankert in der Theorie des kapitalistischen Niedergangs, nicht von der Bildfläche, größtenteils dank der geduldigen Arbeit kleiner und oftmals schrecklich isolierter Gruppen von Revolutionären. Als sich der Nebel der Konterrevolution lichtete und eine neue Generation von Revolutionären auf den Plan trat, gewannen diese Positionen wieder neues Leben und blieben so als fundamentale Errungenschaften erhalten, auf deren Grundlagen die nächste Partei der Revolutionäre gebildet werden muss.
Gerrard
[1] Brief an Konstantin Zetkin, Ende 1914, zitiert bei Peter Nettle, Rosa Luxemburg, OUP, 1969.
[2] Es wäre von Interesse zu erfahren, ob es möglicherweise zeitgenössische Versuche innerhalb der anarchistischen Bewegung gab, die historische Bedeutung des Krieges zu analysieren.
[3] „Lenin’s Encounter with Hegel after Eighty Years: A Critical Assessment”: https://thecommune.wordpress.com/ideas-encounter-with [1] hegel-after-eighty-years-a-critical-assessment/
[4] Lenin, Sozialismus und Krieg, 1915; https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1915/krieg/ [2]
[5] Nashe Slovo, 4. Februar 1916.
[6] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, VI, „Aufteilung der Welt unter die Großmächten“, Gesammelte Werke, Band 22.
[7] „Zu einer Theorie des imperialistischen Staates“, 1915.
[8] Marx an Engels, 8. Oktober 1858, MEW Band 29 S. 360
[9] Zitat aus Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution, Band 1, Kap. 15, „Die Bolschewiki und Lenin“.
[10] Weitere Einzelheiten dieser Diskussionen auf dem Ersten Kongress siehe den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 39, „Die Theorie der Dekadenz im Zentrum des historischen Materialismus“, Teil 5 (https://de.internationalism.org/deka/39 [3]).
[11] Wir sollten anmerken, dass dieser Text nicht ohne Antworten bzw. Kritiken blieb, besonders von Gorter in seinem Offenen Brief an den Genossen Lenin.
[12] „Die aus dem Weltkriege geborene Weltwirtschaftskrise mit ihren ungeheuerlichen ökonomischen und sozialen Auswirkungen, deren Gesamtbild den niederschmetternden Eindruck eines einzigen Trümmerfeldes von kolossalem Ausmaß ergibt, besagt nichts anderes, als daß die Götterdämmerung der bürgerlich - kapitalistischen Weltordnung angebrochen ist. Nicht um eine der in periodischem Ablauf eintretenden, der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlichen Wirtschaftskrisen handelt es sich heute, es ist die Krise des Kapitalismus selbst, was unter krampfhaften Erschütterungen des gesamten sozialen Organismus, was unter dem furchtbarsten Zusammenprall der Klassengegensätze von noch nicht dagewesener Schärfe, was als Massenelend innerhalb der breitesten Volksschichten als das Menetekel der bürgerlichen Gesellschaft sich ankündigt. Immer deutlicher zeigt sich, daß der sich von Tag zu Tag noch verschärfende Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, daß der auch den bisher indifferenten Schichten des Proletariats immer klarer bewußt werdende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht gelöst werden kann. Der Kapitalismus hat sein vollständiges Fiasko erlebt, er hat im imperialistischen Raubkriege sich selbst historisch widerlegt, er hat ein Chaos geschaffen, dessen unerträgliche Fortdauer das internationale Proletariat vor die welthistorische Alternative stellt: Rückfall in die Barbarei oder Aufbau einer sozialistischen Welt.“
[13] Ein Beispiel: Der einleitende Abschnitt des KAPD-Programms, in der letzten Fußnote zitiert, könnte leicht als die Schilderung einer finalen und endgültigen Krise des Kapitalismus interpretiert werden; und hinsichtlich der Gefahr des Putschismus fallen sicherlich einige KAPD-Aktivitäten während der März-Aktion in diese Kategorie, wie zum Beispiel ihre unkritische Allianz mit der VKPD, der Gebrauch ihrer arbeitslosen Mitglieder, um zu versuchen, Arbeiter buchstäblich zum Generalstreik zu knüppeln und ihr zweideutiges Verhältnis zu den „unabhängigen“, von Max Hoelz angeführten bewaffneten Kräften und andere. Siehe auch die Intervention von Hempel auf dem Dritten Kongress (La Gauche Allemande, S. 41), der erkannte, dass die März-Aktion den Kapitalismus nicht stürzen konnte, aber auch darauf bestand, dass es notwendig gewesen sei, den Schlachtruf, die Regierung zu stürzen, anzustimmen – eine Position, der es an Konsequenz zu mangeln scheint, da es für die KAPD nicht darum ging, in Ermangelung einer proletarischen Diktatur eine Art hybride „Arbeiterregierung“ zu befürworten.
[14] Hempels Haltung gegenüber den Anarchisten und Syndikalisten war ebenfalls frei von sektiererischem Geist; er unterstrich das Erfordernis, mit den wahrhaft revolutionären Ausdrücken dieser Strömung zusammenzuarbeiten (s. La Gauche Allemande, S. 44 f.).
[15] Protokoll des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale, Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921, S. 97 f.
[16] Ebenda, S. 493
In Syrien kommt es jeden Tag zu neuen Massakern. Nun ist auch dieses Land im Sumpf der imperialistischen Kriege im Nahen Osten versunken. Nach Palästina, Irak, Afghanistan und Libyen ist nun Syrien an der Reihe. Leider wirft diese Entwicklung sofort eine sehr besorgniserregende Frage auf. Was wird in der Zukunft passieren? Der Nahe und Mittlere Osten stehen vor einem Flächenbrand, dessen Ausgang schwer vorherzusehen ist. Hinter Syrien zieht der Iran die Fäden. Der Iran ruft selbst die größten Ängste hervor und facht die imperialistischen Appetite an; alle großen imperialistischen Räuber sind fest entschlossen, ihre Interessen in der Region zu verteidigen. Auch hier befinden wir uns am Rande des Krieges, dessen dramatischen Konsequenzen völlig wahnsinnig und zerstörerisch für das kapitalistische System selbst wären.
Aus der Sicht der internationalen Arbeiterbewegung wie für alle Ausgebeuteten der Erde kann die Antwort auf diese Frage nur folgende sein: Verantwortlich ist das Kapital, und nur dieses allein. Dies war schon bei den Massakern im Ersten und Zweiten Weltkrieg der Fall. Und auch bei all den endlosen Kriegen, die seitdem mehr Tote hinterlassen haben als die beiden Weltkriege zusammen. Vor mehr als 20 Jahren erklärte der damalige Präsident George Bush lange bevor sein Sohn ins Weiße Haus einzog, triumphierend, dass „die Welt nun eine neue Weltordnung“ erleben werde. Der Sowjetblock war sprichwörtlich zusammengebrochen. Die UdSSR befand sich in der Auflösung, und mit ihrem Verschwinden sollten gleichzeitig alle Kriege und Massaker verschwinden. Dank des siegreichen Kapitalismus und unter dem Schutz der USA würde jetzt Frieden auf der Welt einkehren. Natürlich handelte es sich nur um Lügen, die sofort von der Wirklichkeit bloßgestellt wurden. So löste zum Beispiel G. Bush eine kurze Zeit nach dieser zynischen und heuchlerischen Rede den ersten Irak-Krieg Anfang 1991 aus.
1982 hat die syrische Armee die Erhebung der Bevölkerung in der Stadt Hama blutig niedergeschlagen. Die Zahl der Opfer konnte nie zuverlässig ermittelt werden: man schätzt zwischen 10.000 und 40.000 Ermordete. [1] Niemand sprach seinerzeit davon, dort einzugreifen um der Bevölkerung zu helfen; niemand verlangte damals den Rücktritt von Hafez Al-Assad, dem Vater des gegenwärtigen syrischen Präsidenten. Der Gegensatz zur gegenwärtigen Lage ist nicht unerheblich. Der Grund liegt darin, dass 1982 die Weltlage noch beherrscht wurde durch die Rivalitäten zwischen den beiden großen imperialistischen Blöcken. Trotz des Sturzes des Schahs von Persien und seine Ersetzung durch das Regime der Ajatollahs Anfang 1979 und der russischen Invasion in Afghanistan ein Jahr später wurde damals die US-Vorherrschaft in der Region noch nicht durch die anderen imperialistischen Mächte herausgefordert und die USA waren damals noch in der Lage, eine relative Stabilität zu garantieren.
Seitdem hat sich die Lage geändert: Der Zusammenbruch der Blöcke und die Schwächung der „US-Führerschaft“ haben den imperialistischen Bestrebungen der Regionalmächte wie Iran, Türkei, Ägypten, Syrien, Israel usw. freien Lauf gelassen. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise treibt die Bevölkerung in die Armut und verstärkt das Gefühl der Verzweiflung und der Revolte gegenüber den Machthabern.
Während heute kein Kontinent der Zuspitzung der inter-imperialistischen Spannungen ausweichen kann, bündeln sich die Gefahren im Nahen und Mittleren Osten mit am gefährlichsten. Im Mittelpunkt der Spannungen steht gegenwärtig Syrien, nachdem zuvor monatelang gegen Arbeitslosigkeit und Armut von allen Ausgebeuteten protestiert worden war. Daran beteiligten sich gemeinsam Drusen, Sunniten, Christen, Kurden, Männer, Frauen, Kinder, denn sie alle hoffen auf ein besseres Leben. Aber die Lage ist schnell umgeschlagen. Die Sozialproteste wurden schnell auf ein verhängnisvolles Terrain gedrängt, so dass die ursprünglichen Forderungen alle begraben und die Bewegung vereinnahmt wurde. In Syrien ist die Arbeiterklasse sehr schwach, die imperialistischen Appetite sind sehr stark; deshalb war in Anbetracht des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses und dem Niveau der Arbeiterkämpfe diese Perspektive nahezu unvermeidbar.
Innerhalb der syrischen Bourgeoisie haben sich alle wie Geier auf die revoltierende und verzweifelte Bevölkerung gestürzt. Für die herrschende Regierung und die Bachir Al-Assad unterstützende Armee geht es darum, die Macht mit allen Mitteln zu erhalten. Und die Opposition, deren verschiedene Flügel bereit sind sich gegenseitig umzubringen und die nur über die Notwendigkeit einig sind, Bachir Al-Assad zu stürzen, versucht die Macht an sich zu reißen. Vor kurzem gab es Versammlungen dieser Opposition in Paris und London. Niemand wollte die Zusammensetzung dieser Opposition näher aufschlüsseln. Wofür stehen der syrische Nationalrat oder das Nationale Koordinationskomitee oder die Freie syrische Armee? Welche Macht haben die Kurden, die Muslimbrüder oder die salafistischen Jihadisten in ihren Reihen? Es handelt sich um einen Haufen zusammengewürfelter bürgerlicher Cliquen, von denen jede mit den anderen rivalisiert. Einer der Gründe, weshalb das Regime Assads noch nicht gestürzt ist, besteht darin, dass Assad die Machtkämpfe innerhalb der syrischen Gesellschaft zu seinen Gunsten ausnutzen konnte. So reagieren die Christen ablehnend gegenüber dem Machtzuwachs der Islamisten und befürchten das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Kopten in Ägypten. Ein Teil der Kurden versucht mit dem Regime zu verhandeln. Die Regierung selbst wird noch teilweise von der religiösen Minderheit der Alawiten unterstützt, welcher die Präsidentenclique angehört.
Jedenfalls könnte der Nationalrat militärisch und politisch nicht wirklich bestehen, wenn er nicht von ausländischen Kräften unterstützt würde, wobei jeder auf seine eigenen Vorteile erpicht ist. Dazu gehören die Arabische Liga, Saudi-Arabien an führender Stelle, die Türkei, aber ebenso Frankreich, Großbritannien, Israel und die USA.
All diese imperialistischen Haie nehmen das unmenschliche Verhalten des Regimes als Vorwand zur Kriegsvorbereitung in Syrien. Die russische Medienstimme „Voice of Russia“, welche wiederum das öffentliche Fernsehen des Irans Press TV zitierte, brachte Informationen in Umlauf, denen zufolge die Türkei sich mit US-Hilfe anschickte, Syrien anzugreifen. Zu diesem Zweck habe die Türkei Truppen und Material an der syrischen Grenze zusammengezogen. Seitdem wurde diese Information von allen westlichen Medien aufgegriffen. In Syrien wurden in Russland produzierte Boden-Boden-Raketen in der Region von Kamechi und Deir ez-Zor entlang der irakischen Grenze installiert. Und das Regime Al-Assads wird selbst wiederum von ausländischen Mächten unterstützt, insbesondere von China, Russland und Iran.
Dieser Machtkampf zwischen den stärksten imperialistischen Geiern der Erde um Syrien wird ebenso in der Räuberversammlung namens UNO ausgetragen. In der UNO hatten Russland und China schon zweimal ihr Veto gegenüber Resolutionsprojekten gegen Syrien eingelegt. Das letzte Resolutionsprojekt unterstützte zum Beispiel den Vorschlag der Arabischen Liga, der die Absetzung Bachir Al-Assads vorsah. Nach tagelangen schmutzigen Verhandlungen ist die Heuchelei aller Beteiligten noch einmal offen zutage getreten. Der UN-Sicherheitsrat hat mit russischer und chinesischer Zustimmung am 21. März eine Erklärung verabschiedet, in welcher die Beendigung der Gewalt gefordert wird, weil ein berühmter Sondergesandter der UNO, Kofi Annan, im Land eintraf. Natürlich war diese Erklärung in keiner Weise bindend. Das bedeutet, nur diejenigen sind verpflichtet, die sich zu irgendetwas verpflichtet fühlen. All das ist ein schmutziges Manöver.
Wir stehen somit vor einer anderen Frage. Wie ist es möglich, dass bislang noch keine in diesem Konflikt involvierte ausländische imperialistische Macht direkt eingegriffen hat – natürlich zugunsten ihrer eigenen nationalen Interessen – wie zum Beispiel vor einigen Monaten in Libyen? Hauptsächlich weil die Flügel der syrischen Bourgeoisie, die sich gegenüber Bachir Al-Assad in Opposition befinden, dies offiziell nicht wollen. Sie wenden sich gegen eine massive militärische ausländische Intervention, und sie haben das lautstark verkündet. Jeder dieser Flügel hat sicherlich verständlicherweise Angst davor, in diesem Fall von der Machtbeteiligung ausgeschlossen zu werden. Aber dies schließt nicht aus, dass die Gefahr des totalen imperialistischen Krieges, die an den Grenzen Syriens lauert, gebannt werden kann. Der Krieg kann dort weiterhin Einzug halten, auch wenn der Schlüssel für die weitere Entwicklung der Lage woanders liegt.
Man muss sich die Frage stellen, warum dieses Land heute die imperialistischen Appetite so auf sich zieht. Die Antwort liegt woanders – im Osten Syriens – im Iran.
Am 7. Februar 2012 erklärte die New York Times: “Syrien war der Anfang des Krieges mit dem Iran.” Ein Krieg, der zwar noch nicht direkt ausgelöst wurde, der im Schatten des Konfliktes in Syrien weiter schwelt. Das Regime Bachir Al-Assads ist der Hauptverbündete Teherans in der Region, und Syrien ist für den Iran ein strategischer Dreh- und Angelpunkt. Die Allianz mit Syrien ermöglicht Teheran einen direkten Zugang zum strategisch wichtigen Mittelmeerraum und gegenüber Israel zu erlangen, mit der Möglichkeit einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Israel. Aber diese Kriegsgefahr, die sich eher verdeckt entwickelt, hat ihre tieferliegenden Wurzeln in dem Machtkampf, der im Mittleren Osten stattfindet, wo erneut alle kriegerischen Spannungen, die in dem verfaulenden System stecken, aufbrechen.
Dieser Teil der Welt ist ein großes Drehkreuz an dem Berührungspunkt zwischen Ost und West. Europa und Asien stoßen in Istanbul aufeinander. Russland und Europa werden durch das Mittelmeer vom afrikanischen Kontinent und den Weltmeeren getrennt. Und während die Weltwirtschaft immer mehr erschüttert wird, wird das schwarze Gold zu einer herausragenden wirtschaftlichen und militärischen Waffe. Jeder muss versuchen, die Transportwege des Öls zu kontrollieren. Ohne Öl kämen alle Fabriken zum Stillstand, kein Jagdflugzeug könnte vom Boden abheben. Diese Tatsachen erklären, weshalb alle Imperialismen im Machtkampf in dieser Region mitmischen. Aber all diese Betrachtungen sind nicht die wichtigsten Faktoren, welche diese Region in den Krieg treiben.
Seit mehreren Jahren standen die USA, GB, Israel und Saudi-Arabien an der Spitze einer gegen den Iran gerichteten ideologischen Kampagne. Diese Kampagne ist in der jüngsten Zeit noch einmal verstärkt worden. Der jüngste Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) hat verlautbaren lassen, dass der Iran möglicherweise militärische Absichten hinter seinem Atomprogramm verbirgt. Und ein mit Atomwaffen bewaffneter Iran ist aus der Sicht vieler imperialistischer Länder der Region unerträglich. Der Aufstieg des Irans als eine Atommacht, die sich überall in der Region durchsetzen könnte, ist für all diese imperialistischen Haie undenkbar. Zudem bleibt der israelisch-palästinensische Konflikt weiterhin ein Schwelbrand. Der Iran ist militärisch völlig umzingelt. Die US-Armee verfügt über Stützpunkte entlang all der Grenzen Irans. Im Persischen Golf treiben sich so viele Kriegsschiffe aller Größenordnungen herum, dass man – wenn man sie aneinanderreiht – den Golf nahezu trockenen Fußes überqueren könnte. Der israelische Staat erklärt unaufhörlich, dass er den Iran nie in den Besitz der Atombombe kommen lassen würde; israelischen Quellen zufolge würde der Iran spätestens innerhalb eines Jahres zu einer Atommacht werden. Diese in der ganzen Welt verbreitete Aussage ist angsteinjagend, denn diese Konfrontation birgt viele Gefahren in sich. Der Iran ist nicht Irak und nicht Afghanistan. Es gibt mehr als 70 Millionen Einwohner mit einer „respektabel“ ausgerüsteten Armee.
Aber der Einsatz von Atomwaffen durch den Iran ist nicht die einzige Gefahr und auch nicht das Wichtigste. In der jüngsten Zeit haben die politischen und religiösen Führer Irans behauptet, dass sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel reagieren würden, wenn ihr Land angegriffen würde. Tatsächlich verfügt der Iran über Waffen, deren Wirkung niemand richtig einschätzen kann. Wenn der Iran sich dazu entschließen würde, die Straße von Hormus zu blockieren, selbst wenn er dabei eigene Boote versenken müsste, würde der Schiffsverkehrt dort unterbrochen. Das hätte weltweit katastrophale Auswirkungen.
Ein beträchtlicher Anteil der Weltölförderung würde nicht mehr die Abnehmer erreichen. Die jetzt schon offen ausgebrochene Weltwirtschaftskrise würde dann noch einmal neue Ausmaße erreichen. Die Schäden wären in Anbetracht einer jetzt schon kranken Wirtschaft noch einmal beträchtlich.
Die ökologischen Konsequenzen könnten unumkehrbar sein. Ein Angriff auf iranische Atomanlagen, die unter Tausenden Tonnen von Beton und Kubikmetern Erde geschützt liegen, würde einen taktischen Luftschlag mit gezielten Atomwaffeneinsätzen erforderlich machen. Dies ist jedenfalls die Meinung von Militärexperten aus allen imperialistischen Staaten. Wenn es dazu käme, was würde aus der gesamten Region des Mittleren Osten werden? Welche Auswirkungen könnte man auf die Bevölkerung und das Ökosystem weltweit erwarten? All das sind keine Überlegungen eines völlig verrückt gewordenen Wahnsinnigen. Das ist auch nicht irgendwie ein Szenario eines neuen Horrorfilms. Dieser Angriffsplan ist ein integraler Bestandteil der Strategie, welche der israelische Staat sich ausgedacht und geplant hat – unter Beteiligung der USA, die sich aber bislang noch zurückhaltend verhalten. Der israelische Generalstab plant jedenfalls im Falle eines Scheiterns eines klassischen israelischen Luftangriffs den Übergang zu solch einer höheren Stufe der Zerstörung. Der Wahnsinn breitet sich immer mehr aus in diesem niedergehenden System.
Seit der Auslösung der Kriege im Irak, Afghanistan, Libyen während der letzten Jahre hat ein immer größeres Chaos in diesen Ländern Einzug gehalten. Der Krieg hat sich festgefressen. Jeden Tag gibt es neue, immer mörderischere Anschläge. Die Bevölkerung kämpft jeden Tag verzweifelt um ihr Überleben. Die bürgerliche Presse bestätigt es: „Jeder ist Afghanistan überdrüssig. Dem Überdruss der Afghanen entspricht der Überdruss des Westens“ (Le Monde, 21.3.2012). Während die bürgerliche Presse von einem Überdruss hinsichtlich der endlosen Fortsetzung des Krieges in Afghanistan spricht, ist die Bevölkerung verbittert und entkräftet. Wie kann man im Krieg und dem ständigen kriegerischen Chaos überleben? Und falls es zu einem Krieg im Iran käme, wäre die menschliche Katastrophe noch unvorstellbarer. Die Bevölkerungsdichte, die eingesetzten Zerstörungsmittel lassen das Schlimmste befürchten. Und so lautet das Szenario – Krieg mit all seinen Zerstörungen im Iran, ein im Chaos versinkender Mittlerer Osten. Keiner der zivilen oder militärischen Staatsführer, die alle zu Massenmorden fähig sind, kann sagen, wo der Krieg im Iran aufhören würde. Was würde in der arabischen Bevölkerung der Region passieren? Wie würden die Schiiten reagieren? Diese Vorstellung ist einfach katastrophal für die Menschen.
Auch nur an einen kleinen Teil der Folgen zu denken, jagt schon den Teilen der Herrschenden Angst ein, die noch ein wenig klarer sehen. Die kuwaitische Zeitung Al-Jarida ließ eine Information durchsickern, welche die israelischen Geheimdienste in Umlauf bringen wollten. Ihr letzter Chef, Meir Dagan, meinte nämlich, dass „die Perspektive eines Angriffs gegen den Iran die dümmste Idee sei, die er jemals gehört habe“. Diese Auffassung vertritt wohl auch ein anderer Flügel der Geheimdienste, der israelische Auslandsgeheimdienst – Shin Bet.
Es ist allseits bekannt, dass ein ganzer Teil des israelischen Generalstabs diesen Krieg nicht möchte. Aber ebenso bekannt ist, dass ein Teil der politischen Klasse Israels, die sich um Netanjahu schart, dessen Auslösung zu einem für Israel günstigen Zeitpunkt anstrebt. In Israel schwelt eine politische Krise in Anbetracht der einzuschlagenden Ausrichtung der imperialistischen Politik. Im Iran prallt der religiöse Führer Ali Chamenei ebenso wegen dieser Frage mit dem Präsidenten des Landes, Mahmud Ahmadinejad zusammen. Aber am spektakulärsten erscheint der Machtkampf zwischen den USA und Israel wegen dieser Frage. Gegenwärtig möchte die US-Administration keinen offenen Krieg mit dem Iran. Tatsächlich ist die Erfahrung der USA im Irak und in Afghanistan keine Ermunterung, und die Obama-Administration hat bislang immer heftigere Sanktionen befürwortet. Der Druck der USA auf Israel, dass das Land sich geduldig verhält, ist gewaltig. Aber die historische Schwächung der US-Führungsrolle ist eben auch bei seinem traditionellen Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten zu spüren. Denn Israel behauptet lautstark, es werde den Besitz von Atomwaffen in den Händen des Irans nicht zulassen, was immer seine ihm am stärksten verbündeten Alliierten auch meinen. Der Druck der USA auf Israel ist nicht mehr so wirkungsvoll; sogar Israel fordert jetzt die Autorität der USA offen heraus. Aus der Sicht einiger bürgerlicher Kommentatoren könnte es sich um erste Bruchstellen des Bündnisses zwischen den USA und Israel handeln, das bislang als unzerbrechlich galt.
Die Haupttriebkraft in der unmittelbaren Nachbarschaft ist die Türkei, die über die größte Zahl Soldaten im Nahen Osten verfügt (mehr als 600’000). Während das Land zuvor ein unzertrennlicher Verbündeter der USA und einer der seltenen Freunde Israels war, ist die türkische Bourgeoisie mit dem Aufstieg des Erdogan-Regimes danach bestrebt, ihre eigene Karte des „demokratischen“ und „gemäßigten“ Islamismus zu spielen. Sie versucht, die Erhebungen in Ägypten und Tunesien zu ihren Gunsten auszuschlachten. Und dies erklärt auch den Kurswechsel ihrer Beziehungen zu Syrien. Früher verbrachte Erdogan seine Ferien mit den Assads, aber von dem Zeitpunkt an, als der syrische Führer sich weigerte, den Forderungen Ankaras nachzugeben und mit der Opposition Verhandlungen aufzunehmen, zerbrach das Bündnis. Die Bemühungen der Türkei, ihr eigenes „Modell“ des „gemäßigten“ Islams zu exportieren, stehen in direktem Gegensatz zu den Bemühungen Saudi-Arabiens, seinen eigenen Einfluss in der Region mit Hilfe des erzkonservativen Wahabismus zu vergrößern.
Die Möglichkeit der Auslösung eines Krieges in Syrien und vielleicht später im Iran hat sich dermaßen zugespitzt, dass die Führer Chinas und Russlands immer stärker reagieren. Der Iran ist für China von großer Bedeutung, da China aus dem Iran 11% seiner Energieimporte erhält.[2] Seit dem industriellen Aufstieg Chinas ist das Land zu einem wichtigen Player in der Region geworden. Im letzten Dezember warnte China vor der Gefahr eines weltweiten Konfliktes um Syrien und Iran. In der Global Times[3] erklärte China: „Der Westen leidet unter einer Wirtschaftskrise, aber seine Bestrebungen des Umsturzes von nicht-westlichen Regierungen aufgrund von politischen und militärischen Interessen haben einen neuen Höhepunkt erreicht. China wie auch sein großer Nachbar Russland müssen wachsam bleiben und notwendige Gegenmaßnahmen ergreifen.“[4] Auch wenn eine direkte Konfrontation zwischen den imperialistischen Großmächten der Welt unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht denkbar erscheint, lassen solche Erklärungen den Ernst der Lage deutlich werden.
Der Mittlere Osten ist ein Pulverfass – einige sind bereit, dort das Feuer zu legen. Einige imperialistische Staaten sind bereit und planen kaltblütig den Einsatz von bestimmten Atomwaffen in einem möglichen Krieg gegen den Iran.
Die Militärmaschinerie ist gerüstet und hat sich strategisch auf dieses Szenario eingestellt. Da im dahinsiechenden Kapitalismus bei dessen Todeszuckungen das Schlimmste am wahrscheinlichsten ist, können wir solch einen Krieg nicht ausschließen. Jedenfalls treibt die Flucht nach vorn des Kapitalismus, der völlig senil und morsch geworden ist, die Irrationalität dieses Systems auf immer neue Höhen. Sollte es zu einem eskalierenden Konflikt in der Region kommen, wird der Zerstörungsdrang des Kapitalismus eine neue Stufe erreichen. Wenn der Kapitalismus, der durch die Geschichte verdammt ist, verschwindet, wird die Arbeiterklasse und die Menschheit ihm keine Träne nachweinen. Aber leider birgt der Zerstörungsdrang des Systems die Gefahr einer vollständigen Zerstörung der Menschheit in sich. Die Feststellung, dass der Kapitalismus dabei ist die ganze Zivilisation mit in den Abgrund zu reißen, darf uns nicht den Mut nehmen, nicht in Verzweiflung treiben oder in Passivität verfallen lassen. Wir schrieben zu Anfang des Jahres: „Die Wirtschaftskrise ist keine endlose Geschichte. Sie kündigt das Ende eines Systems und den Kampf für eine neue Gesellschaft an.“ Diese Behauptung stützt sich auf die Entwicklung des Klassenkampfes auf internationaler Ebene.
Dieser weltweite Kampf für eine andere Gesellschaft hat eben erst begonnen. Er verläuft sicher noch sehr langsam und mit großen Schwierigkeiten, aber er ist in Gang gesetzt worden. Diese in Gang gekommene Bewegung, deren beeindruckendster Ausdruck bislang die Bewegung der „Empörten“ letztes Jahr in Spanien war, erlaubt uns zu sagen, dass es potentiell die Mittel gibt, all diese kapitalistische Barbarei von diesem Planeten hinwegzufegen.
Tino, 11. Mai.2012Oskar Anweiler wies in seinem Werk Die Rätebewegung in Russland 1905-1921[3] auf die zahllosen Versuche hin, die Sowjets im Anschluss an die Niederlage der Revolution im Dezember 1905 wiederzubeleben. So tauchte im Frühjahr 1906 in St. Petersburg ein Rat auf, der Delegierte zu den Fabriken entsandte, um auf die Erneuerung des Sowjets zu drängen. Ein Treffen von 300 Delegierten im Sommer 1906 verlief wegen der Schwierigkeiten, den Kampf wiederaufzunehmen, im Sande. Dieser Rat siechte aufgrund des Abflauens der Mobilisierung Stück für Stück dahin und verschwand im Frühjahr 1907 endgültig von der Bildfläche. Auch in Moskau, Karkow, Kiew, Poltawa, Jekaterinburg, Baku, Batum, Sostoum und Kronstadt tauchten 1906 mehr oder wenig flüchtig Arbeitslosenräte auf.
Einige Sowjets tauchten auch 1906-07 in einigen Industriestädten des Urals auf. Doch der ernsthafteste Versuch, einen Sowjet zu installieren, fand in Moskau statt. Im Juli brach ein Streik aus, der sich schnell auf zahllose Arbeiterkonzentrationen ausbreitete. Schnell wurden um die 150 Delegierte mandatiert, die sich versammelten, um ein Exekutivkomitee zu bilden und Appelle zur Ausweitung der Kämpfe und zur Bildung von Sowjets an die Arbeiter zu richten. Jedoch waren die Umstände nicht die gleichen wie 1905, und die Regierung, die das Echo wahrnahm, das von der Mobilisierung in Moskau ausgelöst wurde, übte eine gewaltsame Repression aus, die dem Streik und jedem neuen Sowjet ein Ende bereitete.
Bis 1917 verschwanden die Sowjets von der gesellschaftlichen Bühne. Dieses Verschwinden erstaunt viele Genossen, die sich fragen, wie es möglich war, dass dieselben Arbeiter, die mit so viel Begeisterung an den Sowjets von 1905 teilgenommen hatten, dieselben vergessen konnten. Wie kann man verstehen, dass die „Räte“-Form, die 1905 ihre ganze Wirkungskraft und ihre Stärke demonstriert hatte, ein Jahrzehnt lang wie durch Zauberhand verschwand?
Um diese Frage zu beantworten, kann man nicht von der Ansicht der bürgerlichen Demokratie ausgehen, einer Ansicht, die die Gesellschaft als eine Summe von „freien und souveränen“ Individuen betrachtet, die „frei“ seien, ebenso Arbeiterräte zu bilden wie an Wahlen teilzunehmen. Wenn dies der Fall wäre, ist es natürlich schwer zu verstehen, dass Millionen von Bürgern, die 1905 „beschlossen hatten“, Sowjets zu bilden, es anschließend vorzogen, diese Organisationsform viele Jahre lang links liegen zu lassen.
Solch eine Auffassung kann nicht begreifen, dass die Arbeiterklasse nicht eine Summe von „freien und selbstbestimmten“ Individuen ist, sondern eine Klasse, die sich selbst nur ausdrücken, handeln und organisieren kann, wenn sie sich durch ihre kollektive Aktion im Kampf bestätigt. Dieser Kampf ist nicht das Resultat „individueller Entscheidungen“, sondern vielmehr das Produkt einer ganzen Reihe von objektiven Faktoren (die erniedrigenden Existenzbedingungen und die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft) und subjektiven Faktoren (Empörung, Sorge um die Zukunft, die Erfahrungen aus dem Kampf und die Entwicklung des Klassenbewusstseins, das von der Intervention der Revolutionäre angeregt wird). Die Aktion und Organisation der Arbeiterklasse ist ein sozialer, kollektiver und historischer Prozess, der eine Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zum Ausdruck bringt.
Darüber hinaus muss diese Dynamik des Klassenkampfes umgekehrt in den historischen Kontext gesetzt werden, der die Geburt der Sowjets ermöglichte. In der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs – und besonders in seinem „Goldenen Zeitalter“ zwischen 1873 und 1914 – war das Proletariat in der Lage gewesen, große permanente Massenorganisationen (besonders die Gewerkschaften) zu bilden, deren Existenz eine der ersten Bedingungen war, um erfolgreiche Kämpfe zu unternehmen. In der historischen Epoche, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffnete, die Epoche der Dekadenz des Kapitalismus, die durch den Ersten Weltkrieg markiert wurde, wird die allgemeine Organisation der Arbeiterklasse in und durch den Kampf gebildet und verschwindet wieder, wenn Letzterer nicht imstande ist, bis zum Ende zu gehen, das heißt, bis zur revolutionären Auseinandersetzung, um den bürgerlichen Staat zu zerstören.
Unter solchen Bedingungen konnten die Errungenschaften der Kämpfe weder buchhalterisch zu einer Summe von gestaffelten Gewinnen, die Jahr für Jahr konsolidiert wird, addiert noch durch permanente Massenorganisationen erzielt werden. Sie wurden vielmehr durch „abstrakte“ Erträge konkretisiert (die Entwicklung von Bewusstsein, Bereicherung des historischen Programms angesichts der Lehren aus dem Kampf, Perspektiven für die Zukunft…), die in großen Momenten der Agitation errungen wurden, welche anschließend aus dem unmittelbaren Verständnis der breiten Massen verschwinden und sich auf eine kleine Welt von Minderheiten beschränken, was die Illusion erzeugt, sie hätten niemals existiert.
Zwischen 1905 und 1917 wurden die Sowjets also auf nichts als eine „Idee“ reduziert, die den Denkprozess und auch den politischen Kampf einer Handvoll Militanter eine Richtung gab. Die pragmatische Methode, die nur dem Wichtigkeit verleiht, was man sehen und anfassen kann, lässt nicht den Gedanken zu, dass die Sowjets eine immense materielle Macht enthalten. Ein Jahrzehnt vor 1917 schrieb Trotzki: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass der nächste, neue Ansturm der Revolution überall die Gründung von Arbeiterräten nach sich ziehen wird.“[4] Die großen Akteure der Februarrevolution waren im Kern die Sowjets.
Die revolutionären Minderheiten und insbesondere die Bolschewiki nach 1905 vertraten und propagierten die Idee, Sowjets zu errichten, um den Kampf voran zu bringen. Diese Minderheiten hielten die Idee der Arbeiterräte im kollektiven Gedächtnis der Arbeiterklasse am Leben. Aus diesem Grund gab es nach den Streiks, die im Februar ausbrachen und rasch ein größeres Ausmaß annahmen, zahllose Initiativen und Appelle, die zur Bildung von Sowjets aufriefen. Anweiler betonte, dass „im Februar 1917 (…) der Gedanke einer Neugründung des Arbeiterrates (entstand). Er wurde sowohl in den streikenden Fabriken als auch in Kreisen der bürgerlichen Intelligenz geboren. Augenzeugen berichten, dass in einigen Fabriken seit dem 24. Februar Vertrauensleute für einen ins Leben zu rufenden Sowjet gewählt wurden.“[5] Mit anderen Worten: die Idee der Sowjets, die sich lange Zeit auf einige Minderheiten beschränkt hatte, wurde von den kämpfenden Massen weitgehend übernommen.
Zweitens trug die bolschewistische Partei ganz wesentlich zum Aufstieg der Sowjets bei. Und sie tat dies, ohne sich auf ein vorgefasstes organisatorisches Schema zu stützen, das eine ganze Reihe von dazwischen geschalteten Organisationen, die schließlich zur Bildung von Sowjets führen würden, erfordert hätte, sondern durch einen ganz anders gearteten Beitrag in der harten politischen Auseinandersetzung, wie wir sehen werden.
Im Winter 1915, als die Streiks vor allem in Petrograd auszubrechen begannen, heckte die liberale Bourgeoisie einen Plan aus, um die Arbeiter in die Kriegsproduktion zu zwingen, und schlug vor, dass eine Arbeitergruppe aus den Fabriken in das Komitee der Kriegsindustrie gewählt werden sollte. Die Menschewiki traten ebenfalls dafür ein und versuchten, nachdem sie eine große Mehrheit erlangt hatten, die Arbeitergruppe zur Aufstellung von Forderungen zu benutzen. Sie schlugen, getreu der Gewerkschaften in anderen europäischen Ländern, faktisch vor, eine „Arbeiterorganisation“ zu benutzen, um die Kriegsanstrengungen umzusetzen.
Die Bolschewiki widersetzten sich im Oktober 1915 diesem Ansinnen mit den Worten Lenins: „Wir sind gegen die Beteiligung an den kriegsindustriellen Ausschüssen, die den imperialistischen reaktionären Krieg fördern.“[6] Die Bolschewiki riefen zur Wahl von Streikkomitees auf und das Petrograder Parteikomitee schlug vor: „Die Vertreter der Fabriken und Werkstätten, gewählt auf der Grundlage des proportionalen Vertretungssystems in allen Städten, sollen den gesamtrussischen Sowjet der Arbeiterdeputierten bilden…“[7]
Zunächst hatten die Menschewiki mit ihrer Wahlpolitik zugunsten der Arbeitergruppen die Situation im eisernen Griff. Die Streiks im Winter 1915 und die noch zahlreicheren Streiks in der zweiten Jahreshälfte 1916 blieben unter der Kontrolle der menschewistischen Arbeitergruppen, wobei da und dort Streikkomitees auftauchten. Erst im Februar begann die Saat zu sprießen.
Der erste Versuch, einen Sowjet einzurichten, fand während eines improvisierten Treffens statt, das am 27. Februar im Taurischen Palast abgehalten wurde. Die Teilnehmerschaft war nicht repräsentativ; es gab einige Elemente aus der menschewistischen Partei und der Arbeitergruppe mit einigen bolschewistischen Repräsentanten und anderen unabhängigen Elementen. In ihr entwickelte sich eine sehr bedeutsame Debatte, in der zwei völlig entgegengesetzte Optionen auf den Tisch gelegt wurden: Die Menschewiki verfochten die Idee, dass das Treffen sich selbst zum Provisorischen Sowjetkomitee ausrufen solle; der Bolschewik Schljapnikow „argumentierte dagegen, dass dies nicht in der Abwesenheiten der von den Arbeitern gewählten Repräsentanten getan werden könne. Er forderte ihre dringende Einberufung, und die Versammlung stimmte ihm zu. Es wurde beschlossen, die Sitzung zu beenden und Appelle an die Hauptkonzentrationen der Arbeiter und an die aufständischen Regimenter zu richten.“[8]
Der Vorschlag hatte dramatische Auswirkungen. In der Nacht des 27. Februar begann er sich in den Arbeiterbezirken, den Fabriken und Kasernen zu verbreiten. Arbeiter und Soldaten verfolgten den Verlauf der Ereignisse sehr genau. Am folgenden Tag fanden zahllose Versammlungen in den Fabriken und Kasernen statt, und eine nach der anderen übernahm diese Entscheidung: einen Sowjet aufzustellen und einen Delegierten zu wählen. Am Nachmittag war der Taurische Palast zum Bersten voll mit Arbeiter- und Soldatendelegierten. Suchanow schildert in seinen Memoiren[9] das Treffen, das den historischen Beschluss fällte, den Sowjet zu konstituieren: „Als die Sitzung eröffnet wurde, waren vielleicht 250 Deputierte anwesend, doch ergossen sich in endloser Folge neue Gruppen in den Raum.“[10] Er rief in Erinnerung, wie die Sitzung, als sie über die Tagesordnung abstimmte, immer wieder von Soldatendelegierten unterbrochen wurde, die Botschaften von den Versammlungen ihrer entsprechenden Regimenter weiterleiten wollten. Und einer von ihnen machte folgende Zusammenfassung: „Die Offiziere sind verschwunden. Wir wollen nicht mehr gegen das Volk dienen. Wir schließen uns mit unseren Arbeiterbrüdern zusammen, alle vereint, um die Sache des Volkes zu verteidigen. Wir werden unser Leben dieser Sache geben. Unsere allgemeine Versammlung bat uns, euch zu grüßen.“ Suchanow fügte hinzu: „Und mit einer Stimme voller Emotionen fügte der Deputierte unter donnerndem Applaus hinzu: Lang lebe die Revolution!“[11] Das Treffen, das ständig von der Ankunft neuer Delegierter unterbrochen wurde, die die Position jener, die sie repräsentierten, übermitteln wollten, setzte sich zunehmend mit schwierigen Fragen auseinander: Bildung von Milizen in den Fabriken, Schutz vor Plünderungen und den Aktionen der zaristischen Kräfte. Ein Delegierter schlug die Schaffung einer „literarischen Kommission“ vor, um einen an das ganze Land gerichteten Appell zu verfassen, der überall Gehör finden würde.[12] Die Ankunft eines Delegierten aus dem Semionowski-Regiment – berüchtigt für seine Loyalität zum Zaren und für seine repressive Rolle im Jahr 1905 – führte zu einer weiteren Unterbrechung. Der Delegierte verkündete: „Genossen und Brüder, ich überbringe euch die Grüße von allen Männern des Semionowski-Regiments. Bis auf den letzten Mann haben wir beschlossen, uns dem Volk anzuschließen.“ Dies löste „einen Sturm der Begeisterung aus, der die gesamte Versammlung erfasste.“ (Suchanow). Die Versammlung organisierte einen „Generalstab“ für den Aufstand, der alle strategischen Punkte in Petrograd besetzen ließ.
Die Sowjetversammlung fand nicht im luftleeren Raum statt. Die Massen waren mobilisiert. Suchanow wies auf die Atmosphäre hin, die in der Sitzung herrschte: „Die Menge war dicht gedrängt; Zehntausende von Menschen kamen zusammen, um die Revolution zu begrüßen. Die Palast-Räumlichkeiten konnten nicht all die Menschen aufnehmen, und vor den Türen kamen die Posten der Militärischen Kommission zusammen, um noch größere Menschenmengen zurückzuhalten.“[13]
Binnen 24 Stunden war der Sowjet Herr der Lage. Der Triumph der Petrograder Erhebung löste die Ausweitung der Revolution aufs ganze Land aus. „Das Netz der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte in ganz Russland bildete das Rückgrat der Revolution.“[14] Wie konnte es zu solch einer gigantischen Ausweitung kommen, die in kurzer Zeit das ganze russische Territorium erfasste? Es gab Unterschiede zwischen den Sowjets von 1905 und jenen von 1917. 1905 brachen die Streiks im Januar aus, die aufeinanderfolgenden Streikwellen entwickelten sich ausnahmslos ohne jegliche Massenorganisation. Die Sowjets bildeten sich erst im Oktober. Im Gegensatz dazu wurden 1917 die Sowjets zu Beginn der Kämpfe gebildet. Die Appelle des Petrograder Sowjet am 28. Februar trafen auf offene Ohren. Die beeindruckende Geschwindigkeit, mit der sich die Sowjets gebildet hatten, war an sich schon ein Zeichen für den Gestaltungswillen, der große Schichten von Arbeitern und Soldaten ergriffen hatte.
Täglich wurden Versammlungen abgehalten, die sich nicht damit begnügten, Delegierte für den Sowjet zu wählen. Häufig geschah es, dass sie mit einer Generalversammlung einhergingen. Gleichzeitig bildeten sich Bezirkssowjets in den Arbeiterbezirken. Der Sowjet richtete einen solchen Appell an die Arbeiterklasse; noch am gleichen Tag übernahm der kämpferische Wyborger Bezirk, ein proletarischer Vorort von Petrograd, die Führung bei der Bildung eines Bezirkssowjets und rief zur Bildung solcher Sowjets im ganzen Land auf. Arbeiter aus vielen Arbeiterbezirken folgten in den nächsten Tagen diesem Beispiel.
Auf dieselbe Weise wurden auch Fabrik-räte gebildet. Zwar entstanden sie aus der Notwendigkeit von unmittelbaren Forderungen und der Organisierung der Arbeit, aber sie beschränkten sich nicht auf diese Aspekte und politisierten sich immer mehr. Anweiler erkannte: „In Petersburg gaben sich die Betriebsräte im Laufe der Zeit eine feste Organisation, die in gewisser Hinsicht eine Konkurrenz zum Arbeiterdeputiertenrat darstellte. Sie schlossen sich zu Rayonsräten zusammen, die ihre Vertreter in einen Zentralrat wählten, an dessen Spitze ein Vollzugsausschuss stand (…) Dadurch, dass sie den Arbeiter unmittelbar an seinem Arbeitspatz erfassten, wuchs ihre revolutionäre Rolle jedoch in demselben Maße, wie der Sowjet sich zu einer Dauereinrichtung verfestigte und den engen Kontakt mit den Massen einzubüßen begann.“[15]
So verbreiteten sich die Sowjets wie ein Flächenbrand. In Moskau „fanden in den Betrieben Deputiertenwahlen statt, und der Sowjet trat zu seiner ersten Sitzung zusammen, auf der ein dreißigköpfiges Exekutivkomitee gewählt wurde. Am Tage darauf formierte sich der Arbeiterrat endgültig: man legte die Vertretungsnormen fest, wählte Delegierte in den Petersburger Sowjet und begrüßte die Bildung der neuen Provisorischen Regierung.“[16] „Der Siegeszug der Revolution, die sich von Petersburg über ganz Russland fortpflanzte und in wenigen Tagen zum Zusammenbruch der zaristischen Regierungsgewalt und der alten Behörden führte, war begleitet von einer Welle revolutionärer Organisationstätigkeit aller Gesellschaftsschichten, die ihren stärksten Ausdruck in der Bildung von Sowjets in den Städten des ganzen Reiches, von Finnland bis zum Stillen Ozean, fand.“[17]
Auch wenn sich die Sowjets um lokale Angelegenheiten kümmerten, ging es ihnen hauptsächlich um allgemeine Probleme - den Weltkrieg, das Wirtschaftschaos, die Ausweitung der Revolution auf andere Länder -, und sie ergriffen Maßnahmen, um ihre Bemühungen zu konkretisieren. Es ist zu betonen, dass die Bemühungen, die Sowjets zu zentralisieren, von „unten“ kamen, und nicht von oben. Wie wir oben sahen, beschloss der Moskauer Sowjet, Delegierte nach Petersburg zu entsenden, womit er Letzteren ohne viel Aufheben als Zentrum der gesamten Bewegung anerkannte. Anweiler unterstrich: „Die Arbeiter- und Soldatenräte anderer Städte schickten ihre Delegationen nach Petersburg oder unterhielten ständige Beobachter im Sowjet.“[18] Ab Mitte März tauchten die ersten Initiativen für einen Regionalkongress der Sowjets auf. In Moskau fand vom 25. bis zum 27. März eine Konferenz desselben Charakters statt; es nahmen 70 Arbeiterdeputierte und 38 Soldatendeputierte teil. Im Donez-Becken gab es eine Konferenz mit denselben Inhalten, an der 48 Sowjets teilnahmen. All diese Anstrengungen kulminierten in der Abhaltung des Ersten Allrussischen Sowjetkongresses, der vom 29. März bis zum 3. April stattfand und Delegierte von 480 Sowjets versammelte.
Der „Organisationsvirus“ sprang auf die Soldaten über, die des Krieges leid von den Schlachtfeldern flohen, meuterten, ihre Offiziere vertrieben und beschlossen, nach Hause zurückzukehren. Im Gegensatz zu 1905, als sie praktisch nicht existiert hatten, wucherten sie 1917 geradezu in den Regimentern, Waffenfabriken, Marinebasen und Arsenalen… Die Armee setzte sich aus einem Konglomerat von Gesellschaftsklassen zusammen, hauptsächlich Bauern, in dem die Arbeiter die Minderheit waren. Trotz dieser Heterogenität vereinte sich die Mehrheit der Sowjets ums Proletariat. Wie der bürgerliche Historiker und Ökonom Tugan-Baranowski bemerkte: „Nicht die Armee, sondern die Arbeiter haben den Aufstand begonnen. Nicht Generale, sondern Soldaten sind zur Reichsduma[19] marschiert. Die Soldaten haben die Arbeiter unterstützt, nicht in gehorsamer Ausführung der Befehle ihrer Offiziere, sondern, weil ... sie sich blutsverwandt fühlten mit den Arbeitern, als einer Klasse ebenso werktätiger Menschen wie sie selbst.“[20]
Die Sowjetorganisation gewann immer mehr an Boden und erlebte im Mai 1917 eine weitere Verbreitung, als die Bildung von Bauernsowjets die Massen auf dem Lande zu bewegen begann, die jahrhundertelang wie Lasttiere behandelt worden waren. Dies war ein weiterer fundamentaler Unterschied zu 1905, als es verhältnismäßig wenig, zumeist völlig unorganisierte Aufstände auf dem Lande gegeben hatte. Dass das gesamte Russland von einem gigantischen Netzwerk von Räten durchzogen war, ist eine historische Tatsache von enormer Bedeutung. Wie Trotzki anmerkte: „…in allen früheren Revolutionen kämpften auf den Barrikaden Arbeiter, Handwerksgehilfen, zum Teil auch Studenten, Soldaten gingen zu ihnen über, die Macht aber nahm dann die solide Bourgeoisie an sich, die, unter Wahrung aller Vorsicht, den Barrikadenkampf von den Fenstern aus verfolgt hatte.“[21], doch dies geschah diesmal nicht. Die Massen hörten auf, „für die anderen“ zu kämpfen, und kämpften mittels der Räte für sich selbst. Sie widmeten sich dem ganzen Geschäft des wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Lebens.
Die Arbeitermassen waren mobilisiert. Der Ausdruck dieser Mobilisierung waren die Sowjets und, um sie herum, ein großes Netzwerk von Sowjet-artigen Organisationen (Bezirkssowjets, Fabrikräte), ein Netzwerk, das sich selbst nährte und umgekehrt den Impuls zu einer beeindruckenden Anzahl von Versammlungen, Treffen, Debatten und kulturellen Aktivitäten gaben, die regelrecht explodierten… Arbeiter, Soldaten, Frauen und Jugendliche entwickelten eine fieberhafte Aktivität. Die Arbeit wurde niedergelegt, um die Fabrikversammlung, den Stadt- oder Bezirkssowjet, Aufmärsche, Treffen oder Demonstrationen aufzusuchen. Es ist bedeutsam, dass es nach dem Februarstreik bis auf einige wenige Ausnahmen praktisch keine Streiks gab. Im Gegensatz zu jener Sichtweise, die den Kampf allein auf Streikaktionen reduziert, bedeutete die Abwesenheit von Streiks nicht eine Demobilisierung der Arbeiter. Die Arbeiter befanden sich in einem permanenten Kampf, denn der Klassenkampf bildet, wie Engels sagte, eine Einheit aus dem wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Kampf. Und die Arbeitermassen waren im Begriff, diese drei Dimensionen ihrer Schlacht gleichzeitig anzunehmen. Mit Massenaktionen, Demonstrationen, Zusammenkünften, Debatten, mit der Zirkulation von Büchern und Zeitungen hatten die Arbeitermassen Russlands ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und in sich selbst einen unerschöpflichen Vorrat an Ideen, Initiativen und Erfahrungen entdeckt, die sie unermüdlich in kollektiven Foren einbrachten.
„Vom Sowjet wurden alle Post- und Telegraphenämter besetzt, das Radio, alle Petrograder Bahnhöfe, alle Druckereien, so daß man ohne seine Erlaubnis weder ein Telegramm abschicken, noch aus Petrograd verreisen, noch einen Aufruf drucken konnte.“ Dies waren die Worte eines Abgeordneten der Kadettenpartei[22] aus dessen Memoiren. Jedoch herrschte, wie Trotzki bemerkte, ein fürchterliches Paradoxon seit dem Februar: Die Mehrheit in den Sowjets (Menschewiki und Sozialrevolutionäre) überließ der Bourgeoisie die Macht, indem sie sie praktisch dazu zwang, die Provisorische Regierung zu bilden[23], der ein zaristischer Prinz vorstand und die sich aus reichen Industriellen, Kadetten und, um noch einen daraufzusetzen, aus dem „Sozialisten“ Kerenski[24] zusammensetzte. Die Provisorische Regierung verfolgte, hinter den Sowjets versteckt, ihre Kriegspolitik und zeigte wenig Interesse daran, irgendeine Lösung für die ernsten Probleme zu finden, vor denen die Arbeiter und Bauern standen. Dies führte dazu, dass die Sowjets wirkungslos wurden und verschwanden, wie man angesichts dieser Erklärungen führender Sozialrevolutionäre mutmaßen kann: „Die Sowjets wollten nicht die Konstituierende Versammlung ersetzen, in der sich die Abgeordneten ganz Russlands versammeln. Im Gegenteil, ihr Hauptaugenmerk richten die Sowjets darauf, das Land zur Konstituierenden Versammlung hinzuführen… Die Sowjets stellen keine Regierungsmacht neben der Konstituierenden Versammlung dar, und sie stehen auch nicht in einer Reihe mit der Provisorischen Regierung. Sie sind Berater des Volkes in seinem Kampf um seine Interessen… sie sind sich bewusst, dass sie nur einen Teil des Volkes repräsentieren und nur das Vertrauen derjenigen Volksmassen genießen, für deren Interessen sie kämpfen.“[25]
Anfang März wurde sich jedoch ein Teil der Arbeiterklasse der Tatsache bewusst, dass die Sowjets dazu tendierten, zur Abschirmung und als Instrument der Politik der Bourgeoisie zu dienen. Es gab auch sehr anregende Debatten in einigen Sowjets, Fabrik- und Bezirkskomitees über die „Machtfrage“. Die bolschewistische Minderheit hinkte dem hinterher, hatte ihr Zentralkomitee[26] doch gerade eine Resolution angenommen, die die Provisorische Regierung trotz starker Opposition aus verschiedenen Teilen der Partei kritisch unterstützte.[27]
Die Debatte nahm im März an Schärfe zu. „Das Wyborger Komitee führte tausendköpfige Versammlungen von Arbeitern und Soldaten durch, die fast einstimmig Resolutionen über die Notwendigkeit der Machtergreifung durch den Sowjet annahmen (…)Die Resolution der Wyborger wurde in Anbetracht ihres Erfolges gedruckt und plakatiert. Das Petrograder Komitee aber belegte diese Resolution mit einem direkten Verbot“.[28]
Die Ankunft Lenins im April veränderte die Lage von Grund auf. Lenin, der mit Sorge aus seinem Schweizer Exil die wenigen Informationen über das beschämende Verhalten des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei vernommen hatte, kam zu denselben Schlussfolgerungen wie das Wyborger Komitee. In seinen Aprilthesen drückte er es deutlich aus: „Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland besteht in dem Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewußtseins und der mangelhaften Organisiertheit des Proletariats die Bourgeoisie an die Macht brachte, zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss.“[29] Viele Autoren sehen in dieser entscheidenden Intervention Lenins nicht einen Ausdruck für die Rolle der Avantgarde der revolutionären Partei und ihrer renommiertesten Mitglieder, sondern im Gegenteil einen Akt des Opportunismus. Ihnen zufolge ergriff Lenin die Gelegenheit, die Sowjets als eine Plattform zur Eroberung der „absoluten Macht“ zu nutzen; er habe sich seines „streng jakobinischen“ Gewandes entledigt und es gegen dasjenige eines anarchistischen Anhängers der „direkten Macht der Massen“ getauscht. Tatsächlich drückte sich ein altes Parteimitglied so aus: „Viele Jahre blieb der Platz Bakunins in der Russischen Revolution unbesetzt, jetzt ist er von Lenin besetzt worden.“[30] Diese Legende ist völlig falsch. Das Vertrauen, das Lenin in die Sowjets hatte, ging sehr weit zurück, zu den Lehren, die er aus der Revolution von 1905 zog. In einem Resolutionsentwurf, den er dem 4. Parteikongress 1906 vorschlug, sagte er, dass, „insofern die Räte Keime der revolutionären Macht darstellen, ihre Stärke und Bedeutung ganz und gar von der Macht und dem Erfolg des Aufstandes abhängt“, und er fügte hinzu: „Solche Einrichtungen sind unvermeidlich zum Untergang verurteilt, wenn sie sich nicht auf die revolutionäre Armee stützen und die Regierungsgewalten stürzen (d.h. in eine revolutionäre Regierung verwandeln).“[31] 1915 kehrte er zur gleichen Idee zurück: „Arbeiterdelegiertenräte und ähnliche Institutionen müssen betrachtet werden als Organe des Aufstandes, als Organe der revolutionären Gewalt. Diese Institutionen können nur von sicherem Nutzen sein im Zusammenhang mit der Entfaltung des politischen Massenstreiks und im Zusammenhang mit dem Aufstand, je nach dem Grad seiner Vorbereitung, seiner Entwicklung und seinem Fortschritt.“[32]
Lenin war sich darüber bewusst, dass die Auseinandersetzung erst begonnen hatte: „Nur durch den Kampf gegen diese blinde Vertrauensseligkeit (der ausschließlich mit geistigen Waffen, durch kameradschaftliche Überzeugung, durch Hinweis auf die Erfahrungen des Lebens geführt werden kann und darf) können wir uns von der grassierenden revolutionären Phrase befreien und wirklich sowohl das Bewusstsein des Proletariats als auch das Bewusstsein der Massen sowie ihre kühne, entschlossene Initiative überall im Lande (…) vorantreiben“.[33]
Dies wurde zurzeit des Ersten Kongresses der Allrussischen Sowjets auf bittere Weise bestätigt. Einberufen, um das Netzwerk der verschiedenen Arten von Sowjets, die sich übers Land verbreitet hatten, zu vereinen und zu zentralisieren, richteten sich seine Resolutionen nicht nur gegen die Sowjets, sondern führten zur Zerstörung der Sowjets. Im Juni und Juli trat ein ernstes politisches Problem auf: die Krise der Sowjets und ihre Entfremdung von den Massen.
Die allgemeine Lage zeichnete sich durch ein völliges Chaos aus: Anstieg der Arbeitslosigkeit, Stillstand des Transportwesens, Ernteausfälle auf dem Land und allgemeine Rationierung. Die Fahnenflucht in der Armee vervielfachte sich, ebenfalls die Versuche, sich mit dem Feind an der Front zu verbrüdern. Das imperialistische Lager der Entente (Frankreich, Großbritannien und später die USA) setzte die Provisorische Regierung unter Druck, damit diese eine allgemeine militärische Offensive gegen die Deutschen eröffnete. Die menschewistischen und sozialrevolutionären Delegierten, gern zu Diensten, verabschiedeten auf dem Sowjetkongress eine Resolution, die für die militärische Offensive eintrat, während eine wichtige Minderheit, nicht nur Bolschewiki, dagegen war. Um das Ganze noch zu krönen, lehnte der Kongress einen Vorschlag ab, den Arbeitstag auf acht Stunden zu begrenzen, und zeigte keinerlei Interesse an den Problemen auf dem Land. Einst die Stimme der Massen, wurde der Rätekongress nun zum Sprachrohr dessen, was man über alles gehasst hatte – der Fortsetzung des bürgerlichen Regimes und des imperialistischen Krieges.
Nach der Verbreitung der Kongressresolutionen – und insbesondere jener, die die militärische Offensive unterstützten – breitete sich tiefe Enttäuschung in den Massen aus. Sie sahen, dass ihre Organisation zwischen ihren Fingern zerrann, und sie begannen zu reagieren. Der Bezirkssowjet von Petrograd, der Sowjet der Nachbarstadt Kronstadt, viele Fabrikräte und etliche Regimentskomitees schlugen für den 10. Juni eine Großdemonstration vor, deren Ziel es sein sollte, Druck auf den Kongress auszuüben, so dass er seine Politik änderte und sich in Richtung Machtübernahme bewegte, indem er die kapitalistischen Minister aus seinen Reihen ausschloss.
Die Antwort des Kongresses bestand darin, die Demonstrationen unter dem Vorwand der „Gefahr eines monarchistischen Komplotts“ zeitweilig zu verbieten. Es wurden Delegierte des Kongresses mobilisiert, die sich vor die Fabriken und den Regimentern begeben sollten, um die Arbeiter und Soldaten „eines Besseren zu belehren“. Die Aussage eines menschewistischen Delegierten war vielsagend: „Die Mehrheit des Kongresses, über 500 seiner Mitglieder, hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, in Zehnergruppen zerschlagen besuchte sie die Petrograder Fabriken und Truppenteile mit der Aufforderung, von der Demonstration abzusehen. Der Kongress besitzt in einem großen Teil der Fabriken und Werkstätten und auch bei gewissen Teilen der Garnison keine Autorität ... Die Kongressmitglieder wurden durchaus nicht immer freundlich, mitunter sogar feindselig empfangen und nicht selten im bösen verabschiedet.“[34]
Die Führung der Bourgeoisie hatte die Notwendigkeit verstanden, ihre wichtigste Karte zu schützen – die Beschlagnahme der Räte -, um sie gegen den ersten ernsthaften Versuch der Massen zu benutzen, sie vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Dies tat sie mit ihrem angeborenen Machiavellismus, indem sie die Bolschewiki als Objekt ihrer Kraftprobe benutzte und eine wilde Kampagne gegen sie entfachte. Auf dem Kosakenkongress, der zur gleichen Zeit wie der Sowjetkongress stattfand, verkündete Miljukow, dass „die Bolschewiki die schlimmsten Feinde der Revolution waren (…) Es ist Zeit, diesen Herren den Gnadenstoß zu geben.“[35] Der Kosakenkongress beschloss, „die bedrohten Sowjets zu unterstützen. Wir Kosaken werden niemals mit den Sowjets streiten“.[36] Wie Trotzki betonte, waren „die Reaktionäre (…) bereit, gegen die Bolschewiki sogar mit dem Sowjet zusammenzugehen, um ihn später um so sicherer erdrosseln zu können“[37]. Der Menschewik Liber zeigte deutlich das Ziel, als er dem Sowjetkongress erklärte: „Wollt ihr die Masse bekommen, die zu den Bolschewiki geht, dann brecht mit dem Bolschewismus.“
Die gewaltsame bürgerliche Gegenoffensive gegen die Massen geschah in einer Situation, wo sie insgesamt politisch noch zu schwach waren. Die Bolschewiki begriffen dies und schlugen die Absage der Demonstration am 10. Juni vor, was von einigen Regimentern und den kämpferischsten Fabrikbelegschaften nur widerwillig hingenommen wurde.
Als diese Nachricht den Sowjetkongress erreichte, schlug ein Delegierter vor, dass für den 18. Juni eine „wirkliche“ Sowjetdemonstration einberufen werden solle. Miljukow analysierte diese Initiative so: „Im Anschluss an einige Reden mit einem liberalen Tonfall, denen es gelang, eine bewaffnete Demonstration am 10. Juni zu verhindern (…) hatte der sozialistische Minister das Gefühl, dass sie bei ihrer Annäherung an uns zu weit gegangen seien, dass der Boden unter ihren Füßen wegbrach. Aufgeschreckt wendeten sie sich abrupt den Bolschewiki zu.“[38]
Dies war ein bitterer Rückschlag für den bürgerlich beherrschten Sowjetkongress. Arbeiter und Soldaten beteiligten sich massenhaft an der Demonstration am 18. Juni und schwenkten Transparente, auf denen zu „Alle Macht den Sowjets“, zur Entlassung der kapitalistischen Minister, zum Ende des Krieges aufgerufen und an die internationale Solidarität appelliert wurde. Auf den Demonstrationen wurden die Orientierungen der Bolschewiki aufgegriffen und das Gegenteil dessen gefordert, was der Kongress wollte.
Die Situation verschärfte sich. Von ihren Alliierten in der Entente unter Druck gesetzt, sah sich die russische Bourgeoisie in einer Sackgasse. Die famose militärische Offensive endete im Fiasko, die Arbeiter und Soldaten wollten einen radikalen Wechsel in der Sowjetpolitik. Doch die Situation in den Provinzen und auf dem Land war nicht so klar; hier blieb die große Mehrheit trotz einer gewissen Radikalisierung den Sozialrevolutionären und der Provisorischen Regierung noch treu.
Es wurde für die Bourgeoisie Zeit, den Massen in Petrograd einen Hinterhalt zu legen, um eine vorzeitige Konfrontation zu provozieren, die es ihr erlauben würde, zu einem plötzlichen Schlag gegen die Avantgarde der Bewegung auszuholen und so der Konterrevolution Tür und Tor zu öffnen.
Die Kräfte der Bourgeoisie reorganisierten sich. Es wurden „Offizierssowjets“ gebildet, deren Aufgabe es war, Elitekräfte zu organisieren, um die Revolution militärisch auszulöschen. Ermutigt von den westlichen Demokratien, erhoben die zaristischen Schwarzhundertschaften ihr Haupt. Nach Lenins Worten funktionierte die alte Duma als ein konterrevolutionäres Büro, dem die führenden sozialverräterischen Sowjet-Führer keine Hindernisse in den Weg stellten.
Eine Reihe subtiler Provokationen wurde in Gang gesetzt, um die Arbeiter von Petrograd in die Falle einer vorzeitigen Erhebung zu locken. Zuerst zog die Kadettenpartei ihre Minister aus der Provisorischen Regierung zurück, so dass Letztere sich nur noch aus „Sozialisten“ zusammensetzte. Dies war sozusagen eine Einladung an die Arbeiter, die unmittelbare Machtübernahme zu fordern und sich in den Aufstand zu stürzen. Die Entente stellte daraufhin der Provisorischen Regierung ein veritables Ultimatum: die Wahl zwischen den Sowjets und einer konstitutionellen Regierung. Letztlich war die gewaltsamste Provokation die Drohung, die kämpferischsten Regimenter aus der Hauptstadt abzuziehen und an die Front zu schicken.
Eine große Anzahl von Arbeitern und Soldaten in Petrograd erlag der Versuchung. Von zahllosen Bezirks-, Fabrik- und Regimentssowjets wurde zu einer bewaffneten Demonstration am 4. Juli aufgerufen. In ihrem Schlachtruf forderten sie, dass die Sowjets die Macht an sich reißen. Diese Initiative zeigte, dass die Arbeiter verstanden hatten, dass es kein anderes Resultat geben kann als die Revolution. Doch gleichzeitig forderten sie, dass die Macht von den Sowjets, so wie sich diese damals präsentierten, ergriffen werden soll, d.h. mit der Mehrheit in den Händen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, denen es darum ging, die Sowjets der Bourgeoisie unterzuordnen. Die anschließend zelebrierte Szene, als ein Arbeiter sich an ein menschewistisches Mitglied des Sowjets wandte („Warum übernehmt ihr nicht die Macht ein für allemal?“) steht für die fortbestehenden Illusionen innerhalb der Arbeiterklasse. Dies war, als würde man den Wolf in eine Schafsherde einladen! Die Bolschewiki warnten vor dieser Falle. Sie taten dies nicht aus Selbstgefälligkeit, vom hohen Sockel herab, den Massen aufzählend, in welchen Punkten sie falsch lagen. Sie stellten sich selbst an die Spitze der Demonstration, Schulter an Schulter mit den Arbeitern und Soldaten, um all ihre Kräfte beizusteuern, damit die Antwort massiv war, aber nicht auf eine entscheidende Konfrontation hinauslief, was von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.[39] Die Demonstration nahm ein geordnetes Ende und setzte keinen revolutionären Angriff in Gang. So wurde ein Massaker vermieden, was sich in der nahen Zukunft für die Massen auszahlen sollte. Doch die Bourgeoisie konnte nicht zum Rückzug blasen; sie musste ihre Offensive fortsetzen. Die Provisorische Regierung, die nun völlig aus „Arbeiter“-Ministern bestand, löste daraufhin eine brutale Repression aus, die sich besonders gegen die Bolschewiki richtete. Die Partei wurde für illegal erklärt, zahllose Mitglieder wurden eingesperrt, ihre gesamte Presse wurde verboten, und Lenin musste in den Untergrund gehen.
Durch kraftraubende, aufopfernde Bemühungen trug die bolschewistische Partei entscheidend dazu bei, dass eine Niederlage der Massen und ihre Zerstreuung, die durch ihre Desorganisation drohte, vermieden wurden. Der Petrograder Sowjet, der im Gegensatz dazu das gewählte Exekutivkomitee auf dem jüngsten Sowjetkongress unterstützte, erwies sich als ein Abgrund der Niederträchtigkeit, als er die brutale Repression und Reaktion befürwortete.
Die Organisation der Massen in den Arbeiterräten ab Februar 1917 schuf die Gelegenheit, ihre Stärken, Organisation und ihr Bewusstsein für den finalen Angriff gegen die bürgerliche Macht zu entwickeln. Die folgende Periode, die so genannte Periode der Doppelherrschaft von Proletariat und Bourgeoisie, bildete eine kritische Ebene für die beiden antagonistischen Klassen, die entweder für die eine oder für die andere zum politischen und militärischen Triumph über die gegnerische Klasse führen konnte.
Während dieser Zeitspanne bildete der Bewusstseinsgrad in den Massen, der, verglichen mit der Notwendigkeit einer proletarischen Revolution, immer noch schwach war, die Bresche, durch die die Bourgeoisie hineinzustoßen versuchte, um dem entstehenden revolutionären Prozess ein Ende zu bereiten. Dafür benutzte sie eine Waffe, die so gefährlich wie schädlich war - die Sabotage durch bürgerliche Kräfte, die sich hinter einer „radikalen“ Arbeitermaske versteckten. Dieses Trojanische Pferd der Konterrevolution wurde damals in Russland von den menschewistischen und sozialrevolutionären „sozialistischen“ Parteien gebildet.
Anfangs hegten viele Arbeiter noch Illusionen in die Provisorische Regierung und betrachteten sie als ein Produkt der Sowjets, während in der Realität sie ihr schlimmster Feind war. Was die Menschewiki und Sozialrevolutionäre angeht, so genossen sie ein gewisses Vertrauen in den großen Massen der Arbeiter, die sie mit ihren radikalen Reden, mit ihrer revolutionären Phraseologie in die Irre geführt hatten, ein Vertrauen, das es ihnen erlaubte, die große Mehrheit der Sowjets politisch zu dominieren. Aus dieser Position der Stärke heraus strebten sie danach, diese Organe ihres revolutionären Inhalts zu entleeren, um sie in die Dienste der Bourgeoisie zu stellen. Wenn sie bei diesem Versuch scheiterten, dann weil die permanent mobilisierten Massen durch ihre eigenen Erfahrungen und mit der Unterstützung durch die bolschewistische Partei in der Lage waren, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre zu demaskieren, was so weit ging, dass Letztere dazu verleitet wurden, die Orientierung der Provisorischen Regierung in solch fundamentalen Fragen wie den Krieg und die Lebensbedingungen anzunehmen.
Im nächsten Artikel werden wir sehen, wie die Sowjets ab Ende August 1917 in die Lage versetzt wurden, sich selbst zu erholen und zu einem wirklichen Sprungbrett für die Machtübernahme zu werden, was schließlich im Triumph der Oktoberrevolution kulminierte.
C.Mir, 8. März 2010[1] Siehe Internationale Revue Nr. 48
[2] Wir haben mittlerweile eine Menge Material und viel mehr Details darüber, wie sich die Russische Revolution entwickelte, und auch über die entscheidende Rolle, die die Bolschewistische Partei dabei spielte. Insbesondere Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution, Zehn Tage, die die Welt erschütterten von John Reed, unsere Broschüren über die Russische Revolution wie auch zahllose Artikel in unserer Internationalen Revue.
[3] Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden E.J. Brill, 1958. Obwohl er sehr antibolschewistisch ist, bleibt der Autor den Fakten treu und erkennt objektiv den Beitrag der Bolschewiki an, was sich abhebt von den sektiererischen und dogmatischen Urteilen, die immer wieder zum Besten gegeben werden.
[4] Zitiert bei Anweiler, s.o., S. 110.
[5] Ebenda, S. 127.
[6] Ebenda, S. 122.
[7] Ebenda, S. 123.
[8] Gérard Walter, Overview of the Russian Revolution, eigene Übersetzung.
[9] 1922 in sieben Bänden veröffentlicht, vermitteln sie die Perspektive eines unabhängigen Sozialisten, eines Mitarbeiters Gorkis und von Martows menschewistischen Internationalisten. Auch wenn er mit den Bolschewiki nicht einer Meinung war, unterstützte er die Oktoberrevolution. Dieses und die folgenden Zitate sind aus einer Zusammenfassung seiner in Spanisch veröffentlichten Memoires entnommen und übersetzt.
[10] Laut Anweiler gab es um die 1.000 Delegierte am Ende der Sitzung und bis zu 3.000 auf der nächsten Sitzung.
[11] Suchanow, a.a.O, eigene Übersetzung
[12] Diese Kommission schlug die ständige Ausgabe einer Sowjetzeitung vor: Iswestja (Die Nachrichten), die seither regelmäßig erschien.
[13] Suchanow, a.a.O., eigene Übersetzung
[14] Anweiler, a.a.O., S. 144
[15] Ebenda, S. 155 f.
[16] Ebenda, S. 140
[17] Ebenda, S. 139
[18] Ebenda, S. 151
[19] Abgeordnetenkammer
[20] zit. bei Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Band 1, Kap. Wer leitete den Februaraufstand?
[21] a.a.O. Kap. Das Paradoxon der Februarrevolution
[22] Konstitutionell-Demokratische Partei (KD) des Großbürgertums, 1905 eilig gegründet. Ihr Führer war Miljukow, die graue Eminenz der russischen Bourgeoisie damals.
[23] Trotzki schildert, wie gelähmt die Bourgeoisie war und wie die menschewistischen Oberhäupter ihren Einfluss in den Sowjets nutzten, um für sich selbst bedingungslose Macht zu reservieren, wobei Miljukow „nicht seine Befriedigung und angenehme Überraschung verhehlte“ (Memoiren von Suchanow, einem Menschewiken, der die Geschehnisse in der Provisorischen Regierung unmittelbar miterlebte).
[24] Dieser Rechtsanwalt, der vor der Revolution sehr beliebt war in den Arbeiterbezirken, endete als offizieller Kopf der Provisorischen Regierung und führte schließlich etliche Versuche aus, um den Arbeitern den Gnadenstoß zu geben. Seine Absichten wurden in den Memoiren des britischen Botschafters zu jener Zeit enthüllt: „Kerenski zwang mich, Geduld zu haben, und versicherte mir, dass die Sowjets letztendlich eines natürlichen Todes sterben würden. Sie würden bald ihre Funktionen an die demokratischen Organe einer autonomen Verwaltung abgeben.“
[25] Zitiert bei Anweiler, s.o., S. 177.
[26] Zusammengesetzt aus Stalin, Kamenew und Molotow. Lenin war im Schweizer Exil und hatte praktisch keine Möglichkeiten, die Partei zu kontaktieren.
[27] Auf dem Treffen des Petrograder Parteikomitees am 5. März wurde der von Schljapnikow vorgestellte Resolutionsentwurf abgelehnt. Es hießt in ihm: „Die Aufgabe des Augenblicks ist die Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung, die aus der Vereinigung der örtlichen Räte der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten erwächst. Als Vorbereitung der vollen Eroberung der Zentralgewalt ist es unerlässlich: a) die Macht der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte zu befestigen…“ (zitiert von Anweiler, s.o., S. 183f.)
[28] Trotzki, s.o., Kap. 15.
[29] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/april.htm [9]. Wir können hier nicht den Inhalt dieser Thesen diskutieren, auch wenn sie äußerst interessant sind. Siehe die Internationale Revue Nr. 19, „Die Aprilthesen - Leitlinien der proletarischen Revolution“.
[30] Zitiert bei Trotzki, s.o., Kap. 15.
[31] Zitiert bei Anweiler, s.o., S. 100.
[32] Ebenda, S. 104.
[33] Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, Lenin Werke Band 24 S. 47 f.
[34] Zitiert bei Trotzki, s.o., Kap. 22.
[35] Dass das Haupt der Bourgeoisie in Russland im Namen der Revolution sprechen konnte, zeigt den ganzen Zynismus auf, der für diese Klasse so typisch ist.
[36] Diese Regimenter zeichneten sich durch ihren Gehorsam gegenüber dem Zaren und der etablierten Ordnung aus. Sie waren die letzten, die zur Revolution überliefen.
[37] Trotzki, a.a.O., Kap. 22
[38] Alle Zitate sind Auszüge aus Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution.
[39] Siehe unseren Artikel „Die Juli-Tage: Die Partei ist eine lebenswichtige Notwendigkeit“, Internationale Revue Nr. 20. Wir verweisen unsere Leser auf diesen Artikel für eine detailliertere Analyse dieses Ereignisses.
In der Serie „Was sind Arbeiterräte?“ wollen wir auf die gestellte Frage antworten, indem wir die historische Erfahrung des Proletariats analysieren. Es geht nicht darum, die Räte als das unfehlbare Vorbild darzustellen, das es einfach zu kopieren gelte. Vielmehr wollen wir die Schwächen und die Stärken verstehen, so dass kommende Generationen mit diesem Wissen gerüstet weiter fahren können.
Im ersten Artikel sahen wir, wie die Arbeiterräte erstmals in der Revolution von 1905 in Russland auftauchten[1]. Im zweiten Artikel sahen wir, wie sie das Herzstück der Februarrevolution waren, und wie sie im Juni-Juli 1917 in eine tiefe Krise gerieten, bis sie von der bürgerlichen Konterrevolution in Geiselhaft genommen wurden[2].
Im dritten Artikel werden wir sehen, wie sie von den Massen der Arbeiter und Soldaten zurück erobert wurden, die dann so die Macht im Oktober 1917 übernehmen konnten.
Der Prozess einer Entwicklung ist niemals linear, weder in der Natur noch in der menschlichen Gesellschaft, er ist vielmehr ein Weg voller Wiedersprüche, Konvulsionen, dramatischer Rückschläge und Fortschritte. Diese Analyse kann auf den Kampf des Proletariats angewendet werden, einer Klasse die per Definition vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen ist und keine ökonomische Macht besitzt. Der Kampf des Proletariats ist der von Wiedersprüchen, Konvulsionen, von scheinbaren Verlusten an für dauerhaft gehaltenen Errungenschaften, mit langen Phasen der Apathie und Entmutigung.
Nach der Februarrevolution schienen die Arbeiter und Soldaten von einem Sieg zum anderen zu springen, der Bolschewismus nahm an Einfluss zu. Die Massen, besonders in der Gegend von Petrograd, bewegten sich in Richtung Revolution. Es war wie eine reifende Frucht.
Im Juli gab es Momente der Zauderns, die typisch für den proletarischen Kampf sind. „Unmittelbar hatten eine Niederlage die Arbeiter und Soldaten Petrograds erlitten, die bei ihrem Vordringen einerseits auf das Unklare und Widerspruchsvolle ihres eigenen Zieles, andererseits auf die Rückständigkeit der Provinz und der Front gestoßen waren.“[3]
Die Bourgeoisie nutzte die Gelegenheit, um eine Offensive zu starten: Die Bolschewiki wurden als deutsche Agenten[4] gebrandmarkt und massenhaft verhaftet. Paramilitärische Banden wurden organisiert, die die Bolschewiki auf der Straße physisch angriffen, den Boykott ihrer Versammlungen organisierten, ihre Lokale und Druckereien zerstörten. Die gefürchteten zaristischen Schwarzhunderter, die monarchistischen Zirkel, die offiziellen Vereine gewannen wieder die Oberhand. Die Bourgeoisie, mit dem Rückhalt der französischen und englischen Diplomatie, versuchte die Räte zu zerstören und eine brutale Diktatur zu installieren[5].
Die Revolution erreichte einen Punkt, an dem eine Niederlage sehr wahrscheinlich schien: “Vielen schien es, die Revolution habe sich erschöpft. In Wirklichkeit hatte sich nur die Februarrevolution bis zur Neige erschöpft. Diese innere Krise des Massenbewusstseins in Verbindung mit Repression und Verleumdung führte zur Verwirrung und Rückzügen, manchmal panischer Art. Die Gegner wurden kühner. In den Massen selbst kam alles Rückständige, Träge, mit den Erschütterungen und Entbehrungen Unzufriedene nach oben.“[6]
Wie auch immer, in dieser schwierigen Zeit bewiesen die Bolschewiki, dass sie ein proletarischer Fels in der Brandung waren. Verfolgt, verleumdet, erschüttert durch die heftigen Debatten innerhalb der Organisation und durch Austritte vieler Mitglieder, wurden sie nicht schwach und verfielen nicht dem Chaos. Sie konzentrierten ihre Kräfte, um die Lehren aus den Niederlagen zu ziehen, ganz besonders die wesentliche Lehre: Weshalb waren die Räte zu Geiseln der Bourgeoisie geworden? Bis hin zur Gefahr ihres Verschwindens?
Von Februar bis Juli gab es eine Doppelmacht. Die Sowjets (Räte) waren auf der einen Seite, auf der anderen war der bürgerliche Staat, welcher noch nicht zerstört worden war und immer noch genug Reserven hatte, um sich ganz zu erholen. Die Ereignisse im Juli zerstörten das unmögliche Gleichgewicht, das zwischen den Sowjets und der Staatsmacht existierte. „(…) der Generalstab und die Kommandospitzen der Armee haben mit der mehr oder weniger bewussten Hilfe Kerenskis, den sogar die angesehensten Sozialrevolutionäre jetzt einen Cavaignac[7] nennen, die tatsächliche Staatsmacht ergriffen und sind dazu übergegangen, gegen revolutionäre Truppenteile an der Front mit Waffengewalt vorzugehen, revolutionäre Truppen und Arbeiter in Petrograd und Moskau zu entwaffnen, in Nishni-Nowgorod niederzuschlagen und zu unterdrücken, die Bolschwiki zu verhaften und ihre Zeitungen nicht nur ohne Gerichtsverfahren, sondern auch ohne Regierungsverfügung mundtot zu machen. (….) der wahre Inhalt der Politik der Militärdiktatur, die heute herrscht und von den Kadetten und Monarchisten unterstützt wird, (besteht) darin (…), die Auseinanderjagung der Sowjets vorzubereiten“[8].
Lenin wies auch nach, wie die Menschewiki und Sozialrevolutionäre „die Sache der Revolution endgültig verraten, sie den Konterrevolutionären ausgeliefert und sich und ihre Parteien sowie die Sowjets zum Feigenblatt der Konterrevolution gemacht“ haben[9].
Unter solchen Umständen waren „alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung der russischen Revolution (…) endgültig verschwunden. Die objektive Lage ist so: entweder voller Sieg der Militärdiktatur oder Sieg des bewaffneten Aufstandes mit einer machtvollen Erhebung der Massen (…) Die Losung „Alle Macht den Räten“ war die Losung der friedlichen Entwicklung der Revolution, die möglich war im April, im Mai und im Juni, bis zum 5.-9. Juli“[10].
In seinem Buch „Die Rätebewegung in Russland 1905-1921“ griff Anweiler[11] auf diese Analyse zurück, um zu beweisen versuchen, dass „Damit (…) zum erstenmal in kaum verhüllter Form das Ziel der alleinigen Machteroberung durch die Bolschewiki proklamiert (war), das bisher immer hinter der Losung „Alle Macht den Räten“ verborgen blieb.“[12]
Hier tritt nun die oft wiederholte Anklage zu Tage, dass „Lenin sich der Sowjets taktisch bedient“ habe, um die absolute Macht zu erringen. Wenn man aber genauer den Artikel betrachtet, den Lenin in der Folge dieser Ereignisse schrieb, sieht man, dass seine Sorge eine gänzlich andere war, als die, welche Anweiler Lenin zuschreibt: „Er versuchte, die Räte aus der Krise, in welcher sie sich befanden, herauszuholen, er wollte sie vom falschen Pfad abbringen, der zu ihrer Auflösung geführt hätte.“
Im Artikel Zu den Losungen äußerte sich Lenin unmissverständlich: “Eben das revolutionäre Proletariat muss, nach der Erfahrung vom Juli 1917, die Staatsmacht selbständig in seine Hände nehmen – anders ist der Sieg der Revolution nicht möglich. Die Macht in den Händen des Proletariats, das von der armen Bauernschaft oder den Halbproletariern unterstützt wird, dies ist der einzige Ausweg (…) Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie. Dass wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt. Das ist nicht eine Frage der Sowjets schlechthin, sondern eine Frage des Kampfes gegen die gegenwärtige Konterrevolution und gegen den Verrat der gegenwärtigen Sowjets.“[13] Er behauptet: „Ein neuer Zyklus fängt an, einer, der die alten Klassen, Räte, Parteien nicht miteinschließt. Aber im Feuer des Kampfes verjüngte Klassen, Parteien und Räte, welche im Prozess des Kampfes geschult, gehärtet und umgestaltet werden.“ Und weiter präzisierte er: „Es beginnt ein neuer Zyklus, in den nicht die alten Klassen, nicht die alten Parteien und nicht die alten Sowjets eintreten, sondern die im Feuer des Kampfes erneuerten, durch den Verlauf des Kampfes gestählten, geschulten und umgeformten.“[14]
Diese Schriften Lenins waren Teil einer stürmischen Debatte innerhalb der bolschewistischen Partei, einer Debatte, welche sich am Sechsten Parteikongress zuspitzte. Er fand vom 26. Juli bis zum 3. August unter absoluter Geheimhaltung statt - ohne Lenin und Trotzki, die von der Polizei am meisten gesucht wurden. An diesem Kongress wurden drei Positionen vertreten: Die erste, die unter dem Eindruck der Juli-Niederlage und dem Abdriften der Sowjets stand, trat offen dafür ein, „sie aufzugeben“ (Stalin, Molotow, Sokolnikow); die zweite Position unterstütze vehement die alte Position „Alle Macht den Räten“; und die dritte vertrat, dass man sich auf die „Basis“-Organisationen stützen soll (Fabrikräte, Territorialräte, Quartierräte), um so die kollektive Macht der Arbeiter wiederherzustellen.
Diese dritte Position sollte den Nagel auf den Kopf treffen. Ab Mitte Juli begannen die „Basis-Sowjets“ für eine Erneuerung der Sowjets zu kämpfen.
Im zweiten Artikel dieser Serie sahen wir, wie die Massen mit verschiedenartigen Sowjetorganisationen sich als großes Netzwerk rund um die Sowjets gruppierten. Dies drückte ihre Einheit und Stärke aus.[15] Die Spitze der Sowjets – die Sowjets in den Städten – standen nicht einer passiven großen Masse vor; im Gegenteil es gab ein intensives kollektives Leben, das sich in Tausenden von Versammlungen konkretisierte, die von Fabrikräten, Bezirks-Sowjets, überregionalen Versammlungen, Konferenzen, formellen und informellen Versammlungen einberufen wurden ... In seinen Memoiren gibt uns Suchanow[16] einen Einblick in die Stimmung, die an den Konferenzen der Petrograder Fabrikräten herrschte. „Am 30. Mai fand in den Weißen Hallen eine Konferenz von Werkstatt- und Fabrikkomitees aus der Hauptstadt und Umgebung statt. Diese Konferenzen wurden von der „Basis“ aus organisiert. Die Planung wurde in den Fabriken ausgearbeitet ohne irgendwelche Teilnahme der offiziellen Organe, die für Arbeitsfragen zuständig waren, nicht einmal die Organe der Sowjets beteiligten sich daran. (...) Die Konferenz war wirklich repräsentativ: Arbeiter, die direkt von ihren Arbeitsplätzen kamen, beteiligten sich in großer Zahl an diesen Arbeiten. Während zwei Tagen diskutierte man in diesem Arbeiterparlament über die Krise und den Zusammenbruch des Landes.“[17]
Selbst in den schlimmsten Augenblicken, welche den Julitagen folgten, konnten die Massen ihre Organisationen aufrechterhalten, die weniger von der Krise betroffen waren, als die „großen Sowjetorgane“: der Petrograder Sowjet, der Kongress der Sowjets und sein Exekutivkomitee, das ZEK (Zentrale Exekutivkomitee).
Zwei zusammengehörende Gründe erklären diesen Unterschied: Erstens kann man festhalten, dass die Sowjetorganisationen „von unten“ direkt aufgrund des Druckes den die Massen ausübten, einberufen wurden. Sie waren sich der Probleme und Gefahren bewusst und diese Versammlungen dauerten demnach nur ein paar Stunden. Die Situation der Sowjetorganisationen „von oben“ unterschied sich beträchtlich davon: „Im gleichen Maße jedoch, in dem die Arbeit des Sowjets gut zu funktionieren begann, verlor er zu einem beträchtlichen Teil den unmittelbaren Kontakt mit den Massen. Die Plenarsitzungen, die in den ersten Wochen fast täglich stattgefunden hatten, wurden seltener und von den Deputierten oft nur schwach besucht. Die Sowjetexekutive verselbständigte sich zusehends, auch wenn sie nach wie vor einer gewissen Kontrolle durch die Deputierten unterstand, die das Recht hatten, sie abzulösen.“[18]
Zweitens konzentrierten sich Menschewiki und Sozialrevolutionäre in den Kernen der großen bürokratischen Sowjetorgane. Suchanow beschreibt die Stimmung im Petrograder Sowjet, die von Intrigen und Manipulationen beherrscht war: Das Präsidium des Sowjets, der in seinem Ursprung ein Organ des inneren Verfahrensablaufs war, tendierte dazu die Funktionen des Exekutivkomitees einzunehmen und es zu ersetzen. Unter anderem verstärkt es sich mit einer wenig versteckten sogenannten „Kammer der Sterne“. Dort findet man die Mitglieder des Präsidiums wieder und eine Art Kamarilla, die aus devoten Freunden von Tschcheidse und Zereteli zusammengesetzt ist. Letzterer ist ein Verantwortlicher der diktatorischen Verhaltensweisen innerhalb der Sowjets, mit aller Ehr- und Würdelosigkeit, die das mit sich bringt.
Die Bolschewiki hingegen betrieben eine aktive und tägliche Intervention in die Basisorgane der Sowjets. Ihre Gegenwart war sehr dynamisch, sie waren oft die Ersten, die den Versammlungen Debatten oder die Annahme von Resolutionen vorschlugen, die es den Massen ermöglichten, dadurch ihren Willen und ihre Fortschritte auszudrücken.
Am 15. Juli fand eine Demonstration von Arbeitern aus den großen Betrieben von Petersburg statt, die sich vor dem Gebäude des Sowjets zusammenfanden. Die Verleumdungen gegen die Bolschewiki wurden angeprangert und die Freilassung der Gefangenen gefordert. Am 20. Juli forderte die Betriebsversammlung der Rüstungsarbeiter von Sestroretsk die Auszahlung der Löhne, welche aufgrund ihrer Teilnahme an den „Julitagen“ zurückgehalten wurden. Sie verwendeten das Geld, welches sie erstritten hatten, für die Presse gegen den Krieg. Trotzki erzählt, wie am 24. Juli, „eine Versammlung der Arbeiter aus 27 Betrieben des Bezirks Peterhof eine Resolution verabschiedete, die gegen die verantwortungslose Regierung und seine konterrevolutionäre Politik protestierte.“[19]
Trotzki unterstreicht auch, dass am 21. Juli Soldatendelegationen von der Front in Petrograd ankamen. Sie waren erschöpft von den durchgemachten Entbehrungen und der Repression, welche die Offiziere gegen die bekanntesten von ihnen entfesselt hatten. Sie richteten sich an das Exekutivkomitee des Sowjets, das ihnen keinerlei Beachtung schenkte. Mehrere bolschewistische Militante rieten ihnen darauf, mit den Betrieben, den Regimentern der Soldaten und Matrosen Kontakt aufzunehmen. Der Empfang war total anders: Sie wurden wie Brüder aufgenommen, ernährt und beherbergt. „An einer Konferenz die niemand von oben einberufen hatte, weil sie von unten entstanden war, beteiligten sich Delegierte aus 29 Regimentern, 90 Betrieben, Matrosen von Kronstadt und Garnisonen aus der Vorstadt.
Im Mittelpunkt der Konferenz standen die Delegierten die von den Schützengräben kamen, es waren auch einige junge Offiziere darunter. Die Arbeiter von Petrograd hörten gespannt zu und versuchten kein Wort zu verpassen von dem, was die Delegierten sagten. Diese erzählten, wie die Offensive und ihre Konsequenzen die Revolution auffraßen. Dunkle Soldatengestalten, die keineswegs Agitatoren waren, beschrieben mit einfachen Worten, den grauen Alltag an der Front. Diese Einzelheiten waren sehr aufwühlend, weil es klar das wiederaufkommen der am Meisten verhassten Züge des alten Regimes aufzeigte“, beschreibt Trotzki und fügt anschließend hinzu: „Auch wenn bei den Delegierten von der Front die Sozialrevolutionäre in der Mehrheit waren, wurde eine scharfe bolschewistische Resolution angenommen. Es gab nicht mehr als vier Enthaltungen. Die angenommene Resolution blieb nicht folgenlos: Einmal getrennt, erzählten die Delegierten die Wahrheit, wie sie von den versöhnlerischen Führern zurückgestoßen wurden und wie sie von den Arbeitern empfangen wurden“[20].
Der Sowjet von Kronstadt – einer der Vorposten der Revolution – ließ sich auch vernehmen. „Am 20. Juli verlangte eine Versammlung am Ankerplatz, dass die Sowjets wieder an die Macht gesetzt werden, dass die Kosaken, die Polizisten und die Feldwebel der Stadt an die Front geschickt werden. Sie fordern weiter die Abschaffung der Todesstrafe, die Zulassung von Delegierten aus Kronstadt zu Tsarskoié-Sélo um zu überprüfen, ob Nikolaus II in seiner Haft auch wirklich genügend streng überwacht wird, die Ausweisung der „Todesschwadronen“, die Konfiszierung der bürgerlichen Presse etc.“[21] In Moskau hatten die Fabrikräte gemeinsam mit den Regimentskomitees entschieden, Sitzungen abzuhalten und Ende Juli eine Konferenz der Fabrikräte abzuhalten, bei der Delegierte der Soldaten eingeladen waren; dort wurde eine Resolution angenommen, welche die Regierung anprangerte und die Forderung „neuer Sowjets um die Regierung zu ersetzen“ aufstellte. Nach den Wahlen am 1. August, hatten sechs der zehn Stadtteilräte in Moskau eine bolschewistische Mehrheit. Gegenüber der von der Regierung bestimmten Preiserhöhungen und der Schließung von Betrieben, die von den Unternehmern beschlossen wurden, begannen Streiks und Demonstrationen sich rasch zu vermehren. Daran nahmen auch Sektoren der Arbeiterklasse teil, die bisher als „rückständig“ galten (Papier, Gerberei, Kautschuk, Hausmeister etc.).
Aus der Arbeitersektion des Sowjets von Petrograd rapportiert Suchanow eine wichtige Begebenheit: „Die Arbeitersektion des Sowjets gründete ein Präsidium, welches sie vorher nicht besaß. Dieses Präsidium war aus Bolschewiken zusammengesetzt.“[22]
Im August fand in Moskau eine nationale Konferenz statt, deren Ziel es war, wie Suchanow es anprangerte: „die Sowjets zu zwingen, vor dem Willen der restlichen Bevölkerung zurückzuweichen, die nichts als die ‚nationale Einheit‘ wolle (…) die Regierung zu befreien von allen Arten von Arbeiter- und Bauernorganisationen, von Zimmerwaldern, halb deutschen, halb jüdischen und anderen Verbrechergruppen“.
Die Arbeiter nahmen die Gefahr wahr, und zahlreiche Versammlungen stimmten für Anträge, die den Generalstreik vorschlugen. Der Moskauer Sowjet verwarf diese Anträge mit 364 gegen 304 Stimmen, aber die Stadtteilsowjets protestierten gegen diese Entscheidung: „die Betriebe verlangten unverzüglich Neuwahlen für den Sowjet von Moskau, der sich nicht nur von den Massen entfernt hatte, sondern in einer schwerwiegenden Gegnerschaft zu ihnen stand. Im Sowjet des Kreises von Zamoskvorietchie (Vorort von Moskau, südlich der Moskwa), forderte er in Übereinstimmung mit den Fabrikkomitees, dass die Abgeordneten, welche gegen die Richtung „des Willens der Arbeiterklasse“ marschierten, ersetzt werden und dies mit einem Stimmenverhältnis von 175 gegen 4, mit 19 Enthaltungen!“[23] Mehr als 400‘000 Arbeiter traten in den Streik, der sich auf andere Städte wie Kiew, Kostrava und Tsatarin ausweitete.
Die Mobilisierung und Selbstorganisation der Massen verhindert den Militärstreich von Kornilow
Was wir hier aufzählen, ist nur eine kleine Anzahl von wichtigen Ereignissen, ist die Spitze des Eisbergs, die den breiten Prozess des Wendepunkts aufzeigen, gegenüber den Verhaltensweisen von Februar bis Juni. Das Verhalten war noch von vielen Illusionen und einer gewissen Passivität geprägt, da die Mobilisierungen entweder auf den Arbeitsplatz, die Stadtteilen oder auf die Stadt beschränkt blieben:
– Die gemeinsamen Versammlungen der Arbeiter und Soldaten, offen auch für Bauerndelegierte, vermehrten sich ständig. Die Konferenzen der Stadtteilsowjets und Betriebe luden zu ihrer Arbeit auch Soldaten und Matrosen ein;
– das wachsende Vertrauen zu den Bolschewiki: Im Juli wurden sich noch verleumdet, jetzt wuchs die Empörung gegenüber ihrer Verfolgung, dies förderte die immer weiter um sich greifende Glaubwürdigkeit ihrer Analysen und Losungen;
– die Häufung der Forderungen, welche neue Sowjets und die Machtübernahme wollten. Die Bourgeoisie merkte, dass ihr Erfolg vom Juli sich in Rauch auflösen könnte. Die Niederlage an der nationalen Moskauer-Konferenz, war ein schwerer Schlag. Die englischen und französischen Botschaften drängten darauf, „entscheidende“ Maßnahmen zu treffen. In diesem Zusammenhang taucht der „Plan“ des Militärstreichs des General Kornilow auf.[24] Suchanow unterstreicht: „Miljukow, Rodzianko und Kornilow, sie verstanden! Noch erstaunt, bereiteten diese Helden der Revolution in aller Eile, aber geheim ihre Aktion vor. Um einen Stimmungswechsel in der Öffentlichkeit herbeizuführen, verleumdeten sie einen Betrieb, der den Bolschewiki nahe stand.“[25]
Wir können an dieser Stelle nicht auf alle Einzelheiten der Operation eingehen.[26] Das Wichtige ist, dass die gewaltige Mobilisierung der Arbeiter- und Soldatenmasse dazu führte, die Militärmaschine zu paralysieren. Was hervorsticht, ist, dass diese Reaktion auf den Militärstreich, eine organisatorische Anstrengung verlangte, welche die Sowjets erneuerte und diese in die Lage versetzte, die Machteroberung in Angriff zu nehmen.
In der Nacht vom 27. August schlägt der Petrograder Sowjet die Bildung eines Militärischen Revolutionskomitees vor, das die Hauptstadt verteidigen sollte. Die bolschewistische Minderheit akzeptierte den Vorschlag, aber fügte hinzu, dass ein solches Organ „sich auf den Massen der Arbeiter und Soldaten abstützen muss“.[27] Im Laufe der folgenden Session machten die Bolschewiki einen neuen Vorschlag, der nur mit großem Vorbehalt von der menschewistischen Mehrheit akzeptiert wurde: „das Verteilen der Waffen in den Fabriken und den Arbeiterstadtteilen“[28]. Kurz danach führte dies dazu, dass „in den Arbeiterstadtteilen, gemäß der Arbeiterpresse, ‚sich beeindruckende Warteschlangen bildeten, von Männern, die der Roten Garde angehören wollten.’ Kurse wurden gegeben, wie man mit einem Gewehr umgeht und schießt. Man ließ erfahrene Soldaten kommen, die das Ganze überwachen sollten. Ab dem 29. formierten sich in fast allen Stadtteilen Kompanien (druschiny). Die Rote Garde erklärte sich bereit, unverzüglich 40‘000 bewaffnete Männer bereitzustellen (...) Die riesigen Putilow-Werke werden das Zentrum des Widerstands des Bezirks Peterhof. In aller Eile werden Kampfverbände gegründet. Es wird Tag und Nacht gearbeitet: Neue Kanonen werden gebaut, um proletarische Artilleriedivisionen zu bilden.“[29]
In Petrograd, „fanden sich die Bezirkssowjets enger zusammen und beschlossen: die Beratung der Bezirke in Permanenz zu erklären; eigene Vertreter dem vom Exekutivkomitee gebildeten Stab anzugliedern; eine Arbeitermiliz zu schaffen; die Regierungskommissare unter Kontrolle der Bezirkssowjets zu stellen; fliegende Abteilungen zu organisieren zwecks Festnahme konterrevolutionärer Agitatoren“[30] Diese Maßnahmen bedeuteten „nicht nur Aneignung von bedeutenden Funktionen der Regierung, sondern auch von Funktionen des Petrogrades Sowjets (…) Das Eintreten der Petrograder Bezirke in die Arena des Kampfes veränderte jäh dessen Richtung und Schwung. Wieder bewies die Erfahrung die unerschöpfliche Lebensfähigkeit der Sowjetorganisation: von oben durch die Leitung der Versöhnler paralysiert, erwachte sie im kritischen Moment unter dem Vorstoß der Massen von unten zu neuem Leben.“[31]
Diese Verallgemeinerung der Selbstorganisation der Massen breitete sich über das ganze Land aus. Trotzki zitiert den Fall von Helsingfors, wo „eine Generalversammlung sämtlicher Sowjetorganisationen ein Revolutionskomitee (schuf), das in das Generalgouvernement, die Kommandantur, Konterspionage und in andere wichtige Institutionen seine Kommissare entsandte. Von nun an hatte kein Befehl ohne deren Unterschrift Gültigkeit. Telegraph und Telephon werden unter Kontrolle gestellt“[32], und es geschah etwas Bedeutsames: „Am nächsten Tage erscheinen im Komitee gemeine Kosaken mit der Erklärung, das gesamte Regiment sei gegen Kornilow. Kosakenvertreter werden zum erstenmal in den Sowjet eingeführt.“[33]
September 1917: die Gesamterneuerung der Sowjets
Die Niederschlagung des Kornilow-Putsches zog eine drastische Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen nach sich: Die provisorische Regierung von Kerensky spielte dabei gar keine Rolle. Die Massen übernahmen das Steuerrad bei diesen Ereignissen, indem sie ihre kollektiven Organe verstärkten und wiederbelebten. Ihre Antwort auf Kornilow war „der Anfang einer radikalen Umwälzung der ganzen Dynamik, eine Rache für die Juli-Tage. Der Sowjet war wieder geboren!“[34].
Die Zeitung der Kadetten-Partei[35] Retsch lag nicht falsch, als sie feststellte: „Auf den Straßen sind bereits Massen von bewaffneten Arbeitern, die den friedlichen Einwohnern einen Schrecken einjagen. Im Sowjet verlangten die Bolschewiki energisch die Freilassung ihrer verhafteten Genossen. Alle sind überzeugt, dass die Bolschewiki, wenn die Bewegung des Generals Kornilow beendet sein wird, obwohl in der Minderheit im Sowjet ihre ganze Energie darauf verwenden werden, den Sowjet zu zwingen, mindestens teilweise den Weg ihres Programms zu beschreiten.“
Retsch irrte sich jedoch in einer Hinsicht: Es waren nicht die Bolschewiki, die den Sowjet zwangen, ihr Programm umzusetzen, sondern es waren die Massen die die Sowjets zwangen, das bolschewistische Programm anzunehmen.
Die Arbeiter hatten enormes Vertrauen in sich selbst gewonnen und wollten dies in der vollständigen Erneuerung der Sowjets umsetzen. In einer Stadt nach der anderen, in einem Sowjet nach dem anderen wurden in einem atemberaubenden Prozess die alten sozialverräterischen Mehrheiten beseitigt, und Sowjets mit Mehrheiten von bolschewistischen und anderen revolutionären Delegierten (linken Sozialrevolutionären, internationalistischen Menschewiki, Anarchisten) wurden nach Debatten und massenhaften Wahlen neu bestellt.
Suchanow beschreibt den Geisteszustand der Arbeiter und Soldaten wie folgt: „Getrieben vom Klasseninstinkt und in gewisser Weise durch das Klassenbewusstsein; unter dem organisierten Einfluss der Bolschewiki; kriegsmüde und der durch den Krieg verursachten Leiden überdrüssig; enttäuscht von der Sinnlosigkeit der Revolution, die ihnen bis jetzt noch nichts gebracht hatte; verärgert über die Herrschenden und die Regierung, die sehr wohl bequem lebten; vom Wunsch beseelt, endlich die errungene Macht zu gebrauchen; drängten sie danach, in die Entscheidungsschlacht zu stürzen“[36].
Die Episoden dieser Rückeroberung und Erneuerung der Sowjets sind lang: „In der Nacht zum 1. September nahm der Sowjet, noch immer unter Vorsitz Tschcheidses, eine Abstimmung über die Macht der Arbeiter und Bauern vor. Die einfachen Mitglieder der Versöhnlerfraktionen unterstützten fast ausnahmslos die bolschewistische Resolution. Der konkurrierende Antrag Zeretelis bekam etwa fünfzehn Stimmen. Das Versöhnlerpräsidium traute seinen Augen nicht. Rechts verlangte man namentliche Abstimmung, die sich bis 3 Uhr nachts hinzog. Um nicht offen gegen ihre Partei stimmen zu müssen, entfernten sich viele Delegierte. Und doch erhielt die Resolution der Bolschewiki trotz allen Druckmitteln bei der endgültigen Abstimmung zweihundertundneunundsiebzig Stimmen gegen einhundertundfünfzehn. Dies war eine bedeutsame Tatsache. Es war der Anfang vom Ende. Das betäubte Präsidium legte seine Vollmachten nieder.“[37]
Am 2. September nahm eine Konferenz aller Sowjets in Finnland eine Resolution zugunsten der Machtübergabe an die Sowjets mit 700 Stimmen gegen 13 bei 6 Enthaltungen an. Die regionale Konferenz der Sowjets in Sibirien nahm eine ähnliche Resolution an. Der Moskauer Sowjet tat dasselbe am 5. September während einer dramatischen Sitzung, in der eine Misstrauensmotion gegen die provisorische Regierung und gegen den zentralen Vollzugsausschuss angenommen wurde. „Am 8. wird im Kiewer Sowjet der Arbeiterdeputierten mit einhundertunddreißig Stimmen gegen sechsundsechzig eine bolschewistische Resolution angenommen, obwohl die offizielle bolschewistische Fraktion nur fünfundneunzig Mitglieder zählt.“[38] Zum ersten Mal wählte der Sowjet der Bauerndeputierten der Petrograder Provinz einen bolschewistischen Delegierten.
Der Höhepunkt in diesem Prozess war die geschichtsträchtige Sitzung des Petrograder Sowjets vom 9. September. Unzählige Versammlungen in Fabriken, Stadtvierteln und Regimentern hatten sie vorbereitet. Ungefähr 1000 Delegierte nahmen an der Sitzung teil, an der das Präsidium vorschlug, die Abstimmung vom 31. August zu widerrufen. Die Abstimmung zog einen Schlussstrich unter die Politik der Sozialverräter: 519 Stimmen gegen den Widerruf und für die Machtübernahme durch die Sowjets, 414 für das Präsidium bei 67 Enthaltungen.
Ein oberflächlicher Blick auf die Ereignisse könnte dazu verleiten anzunehmen, dass die Erneuerung der Sowjets einfach eine Änderung der Mehrheiten von den Sozialverrätern zu den Bolschewiki bedeutete.
Es ist wahr – und wir werden darauf ausführlicher im folgenden Artikel dieser Serie eingehen –, dass die Arbeiterklasse und dementsprechend auch ihre Parteien noch stark von der parlamentarischen Sichtweise geprägt waren, derzufolge die Klasse „Vertreter, die in ihrem Namen handeln“, wählt; aber es ist wichtig zu verstehen, dass dies nicht der vorherrschende Aspekt bei der Erneuerung der Sowjets war, sondern:
1. Die Erneuerung war das Resultat eines gewaltigen Netzes von Versammlungen der Sowjets an der Basis (Fabrikräte, Stadtviertels-Räte, Regimentskomitees, gemeinsame Versammlungen). Nach dem Kornilowputsch verbreiteten sich diese Strukturen tausendfach. Jede Sitzung des Sowjets fasste eine Riesenmenge von Vorbereitungssitzungen zusammen und gab ihnen einen beschlussfassenden Ausdruck.
2. Diese Selbstorganisierung der Massen wurde bewusst und aktiv durch die erneuerten Sowjets vorangetrieben. Während sich die früheren Sowjets verselbständigt und kaum Massenversammlungen abgehalten hatten, trafen sich die neuen täglich zu offenen Sitzungen. Während die früheren die Fabrik- und Stadtteilversammlungen fürchteten und ihnen sogar die Kompetenzen streitig machten, riefen die neuen ständig dazu auf, solche Versammlungen abzuhalten. Bei jeder bedeutenden Debatte, jeder wichtigen Entscheidung rief der Sowjet zu Versammlungen „der Basis“ auf, damit sie Stellung beziehe. Im Hinblick auf die 4. Koalition der provisorischen Regierung (am 25. September) breitete sich, „abgesehen von der Resolution des Petersburger Sowjets, der sich weigerte, die neue Koalition zu unterstützen, eine Welle von Meetings in den beiden Hauptstädten und in der Provinz aus. Hundertausende von Arbeitern und Soldaten protestierten gegen die Bildung einer neuen bürgerlichen Regierung und nahmen einen entschlossenen Kampf gegen sie auf, indem sie gleichzeitig die Macht für die Sowjets forderten.“[39]
3. Regionale Kongresse der Sowjets werden, wie durch ein Lauffeuer verbreitet, ab Mitte September in allen Teilen Russlands abgehalten. „In diesen Wochen fanden im ganzen Lande zahlreiche regionale Rätekongresse statt, deren Zusammensetzung und Verlauf das politische Stimmungsbild der Massen widerspiegelte. Bezeichnend für die rasche Bolschewisierung und die zunehmende Spaltung der Sowjets war der Verlauf des Gebietskongresses der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte in Moskau in den ersten Oktobertagen. Während zu Beginn der Beratungen die von den Sozialrevolutionären eingebrachte Resolution, die sich gegen die Machtübergabe in die Hände der Sowjets aussprach, 159 Stimmen gegen 132 auf sich vereinigte, gelang es drei Tage später der bolschewistischen Fraktion bei einer anderen Abstimmung, 116 Stimmen gegen 97 für sich zu gewinnen. [...] Auf einer Reihe weiterer Rätekongresse wurden ebenfalls bolschewistische Resolutionen angenommen, die die Machtübernahme durch den Allrussischen Sowjetkongress und die Absetzung der Provisorischen Regierung verlangten: In Ekaterinburg versammelten sich am 13. Oktober 120 Delegierte von 56 Räten des Ural, unter ihnen 86 Bolschewiki [...] In Saratov lehnte der Gebietskongress des Wolgagebiets eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Resolution ab und nahm stattdessen eine bolschewistische an“[40].
Der erste ist die Tatsache, dass die Mehrheiten für die bolschewistischen Resolutionen weit mehr bedeuteten als eine Stimmabgabe für eine Partei. Die bolschewistische Partei war die einzige, die klar nicht nur für eine Machtübernahme eintrat, sondern auch konkret vorschlug, wie dies zu geschehen habe: ein bewusst vorbereiteter Aufstand, der die Provisorische Regierung beseitigen und die Staatsmacht stürzen sollte. Während die Sozialverräter-Parteien ankündigten, dass sie die Sowjets zwingen wollten, Harakiri zu machen, während andere revolutionäre Parteien unrealistische oder vage Vorschläge vortrugen, war nur für die Bolschewiki klar, „dass der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten nur als Organ des Aufstands, nur als Organ der revolutionären Macht real ist. Außerhalb dieser Aufgabe sind die Sowjets ein bloßes Spielzeug, das unvermeidlich zur Apathie, Gleichgültigkeit und Enttäuschung der Massen führt, denen die endlose Wiederholung von Resolutionen und Protesten mit vollem Recht zuwider geworden ist.“[41]
Es war somit natürlich, dass die Arbeitermassen Vertrauen in die Bolschewiki hatten, nicht um ihnen einen Blankoscheck auszustellen, sondern weil sie sie als Werkzeug ihres eigenen Kampfes sahen, der sich seinem Höhepunkt näherte: dem Aufstand und der Machtergreifung.
„Das Lager der Bourgeoisie war mit gutem Grund höchst beunruhigt. Die Krise spitzte sich zu. Die Bewegung der Massen kochte über; die Aufregung in den Arbeitervierteln von Petrograd war offensichtlich. Man hörte nur noch die Bolschewiki. Vor dem berühmten Cirque Moderne, wo Trotski, Volodarski und Lunatscharski sprachen, sah man endlose Warteschlangen, und das riesige Gebäude war nicht in der Lage, die Massen aufzunehmen. Die Agitatoren riefen dazu auf, von den Worten zu den Taten überzugehen, und versprachen die Machtübernahme durch den Sowjet für die nahe Zukunft.“[42] So nahm Suchanow, der immerhin ein Gegner der Bolschewiki war, die Atmosphäre Mitte Oktober wahr.
Der zweite Aspekt ist, dass die Ereignisse, die sich im September und Oktober überstürzen, einen wichtigen Geistesumschwung in den Massen ausdrücken. Wie wir im vorangehenden Artikel dieser Reihe gesehen haben, war die Losung „Alle Macht den Räten“, die im März schüchtern vorgetragen, im April von Lenin theoretisch untermauert, in den Demonstrationen vom Juni und Juli massenhaft verkündet wurde, bis jetzt eher ein Wunsch als ein bewusst übernommenes Aktionsprogramm.
Ein Grund für das Scheitern der Juli-Bewegung war, dass die Mehrheit forderte, dass der Sowjet die Provisorische Regierung „zwingen“ soll, „sozialistische Minister“ zu ernennen.
Diese Aufteilung zwischen Sowjet und Regierung drückte ein klares Unverständnis der Aufgabe der proletarischen Revolution aus, die nicht darin besteht, „ihre Regierung zu wählen“ und folglich die Struktur des alten Staates beizubehalten, sondern vielmehr den Staatsapparat zu zerstören und die Macht direkt auszuüben. Im Bewusstsein der Massen bahnte sich ein viel konkreteres und genaueres Verständnis der Losung „Alle Macht den Räten“ seinen Weg, auch wenn, wie wir in einem weiteren Artikel sehen werden, viele Probleme völlig neu und die Konfusionen beträchtlich waren.
Trotzki zeigt wie die Sozialverräter, die jede Kontrolle über den Petrograder Sowjet verloren hatten, alle verfügbaren Mittel in ihrer letzten Bastion konzentrierten, im Zentral-Exekutivkomitee: „Das Zentral-Exekutivkomitee beraubte rechtzeitig den Petrograder Sowjet der beiden von ihm geschaffenen Zeitungen, sämtlicher Verwaltungsabteilungen, aller finanziellen und technischen Mittel, einschließlich der Schreibmaschinen und Tintenfässer. Die zahlreichen Automobile, die während den Februartagen dem Sowjet zur Verfügung gestellt worden waren, wurden bis auf das letzte dem Versöhnlerolymp überwiesen. Die neuen Leiter besaßen keine Kasse, keine Zeitungen, keinen Kanzleiapparat, keine Verkehrsmittel, keine Bleistifte. Nichts außer nackten Wänden und – dem flammenden Vertrauen der Arbeiter und Soldaten. Dies erwies sich als völlig ausreichend.“[43]
Anfang Oktober ging eine Flut von Resolutionen verschiedenster Sowjets durchs ganze Land, welche die Einberufung eines Sowjetkongresses verlangten, den die Sozialverräter ständig hinausschoben. Die Sowjets wollten ihrer Macht eine Form geben.
Diese Orientierung war eine Antwort nicht nur auf die russische Situation, sondern auch auf die internationale Lage. In Russland breiteten sich die Bauernrevolten in fast allen Gebieten aus, Landbesetzungen wurden zu einem allgemeinen Phänomen; in den Kasernen desertierten die Soldaten, und sie kehrten kriegsmüde in ihre Dörfer zurück, da der Staat keine Lösung zu bieten hatte; in den Fabriken standen die Arbeiter zum Teil der Sabotage der Produktion durch Unternehmer und höhere Kader gegenüber; die ganze Gesellschaft stand vor der Gefahr einer Hungersnot aufgrund mangelnder Versorgung und ständig steigender Lebensmittelpreise. Auch an der internationalen Front nahmen die Desertionen zu, die Befehlsverweigerungen der Truppen, die Verbrüderungen von Soldaten über die Kampffronten hinweg; eine Streikwelle fegte über Deutschland, ein Generalstreik brach im August 1917 in Spanien aus. Das russische Proletariat musste die Macht nicht bloß als Antwort auf die unlösbaren Probleme im Land ergreifen, sondern auch und vor allem, um eine Bresche zu öffnen, durch die sich die Weltrevolution gegen die schrecklichen Leiden des schon drei Jahre dauernden Krieges Bahn brechen könnte.
Die Bourgeoisie setzte ihre Waffen gegen den revolutionären Ansturm ein. Im September versuchte sie, eine demokratische Konferenz abzuhalten, welche wie schon diejenige von Moskau scheiterte. Die Sozialverräter ihrerseits schoben den Sowjetkongress möglichst hinaus mit dem Ziel, die Sowjets des ganzen Landes verstreut und unorganisiert zu belassen und ihre Vereinigung in der Machtübernahme zu verhindern.
Aber die gefürchtetste Waffe und diejenige, die je länger je mehr in Stellung gebracht wurde, war der Versuch, die Verteidigung Petrograds aufzugeben, damit die deutsche Armee die fortgeschrittenste Bastion der Revolution niederwerfe. Kornilow, der „Patriot“, hatte diesen Schlag schon im August vorgemacht, als er das revolutionäre Riga[44] aufgab und der Invasion der deutschen Truppen überließ, die blutig die „Ordnung wiederherstellten“. Die Bourgeoisie erklärt die nationale Verteidigung zwar zu ihrem obersten Ziel, ist aber angesichts der drohenden Machtübernahme durch ihren Klassenfeind ohne weiteres bereit, sich mit ihren schlimmsten imperialistischen Rivalen zu verbünden.
Um diese Frage der Verteidigung Petrograds kreisten die Diskussionen des Sowjets, die schließlich zur Gründung des militärischen Revolutionskomitees führten, das aus Delegierten zusammengesetzt war, die vom Petrograder Sowjet, von der Soldatensektion dieses Sowjets, dem Sowjet der Delegierten der Baltischen Flotte, der Roten Garde, dem regionalen Komitee der Sowjets von Finnland, der Konferenz der Fabrikräte, der Eisenbahngewerkschaft und der militärischen Organisation der bolschewistischen Partei gewählt waren. An die Spitze dieses Komitees wurde Lasimir gestellt, ein junges und kämpferisches Mitglied der SR-Linken. Die Ziele dieses Komitees bestanden ebenso in der Verteidigung Petrograds wie auch in der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes - „diese zwei bisher einander ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt tatsächlich einander genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird der Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen“[45].
Am nächsten Tag wurde eine Ständige Konferenz der ganzen Garnison von Petrograd und Umgebung einberufen. Mit diesen beiden Organen gab sich das Proletariat die Mittel für den Aufstand – notwendige und unverzichtbare Mittel für die Machtergreifung.
In einem früheren Artikel der Internationalen Revue haben wir gezeigt, wie – entgegen der bürgerlichen Legendenbildung, die den Oktober als einen „bolschewistischen Staatsstreich“ darstellt – der Aufstand ein Werk der Sowjets und konkreter desjenigen von Petrograd war[46]. Das Militärische Revolutionskomitee (MRK) und die Ständige Konferenz der Garnisonen waren die Organe, die Schritt für Schritt und minutiös die militärische Niederlage der Provisorischen Regierung vorbereiteten, die das letzte Bollwerk des bürgerlichen Staates war. Das MRK verpflichtete das Hauptquartier der Armee, ihm jeden Befehl oder Entscheid, so bedeutungslos er sein möge, zur Genehmigung zu unterbreiten, was die Armee total lähmte. Am 22. Oktober akzeptierte das letzte widerspenstige Regiment – dasjenige der Peter-und-Paul-Festung – nach einer dramatischen Sitzung, sich dem MRK zu unterstellen. Am 23. Oktober, einem bewegenden Tag, machten sich Tausende von Arbeiter- und Soldatenversammlungen daran, definitiv die Macht zu übernehmen. Das Schachmatt wurde am 25. Oktober durch den Aufstand vollzogen, der das Hauptquartier und den Sitz der Provisorischen Regierung besetzte, die letzten loyal gebliebenen Bataillone besiegte, Minister und Generäle festnahm, die Kommunikationszentren besetzte und so die Bedingungen schaffte, damit am nächsten Tag der gesamtrussische Sowjetkongress die Machtübernahme abschließen konnte[47].
Im folgenden Artikel dieser Serie werden wir die gewaltigen Probleme betrachten, vor denen die Sowjets nach der Machtübernahme standen.
C.Mir 6. Juni 2010[1] Internationale Revue Nr. 48
[2] Vgl. Artikel in der vorliegenden Revue
[3] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Massen unter den Schlägen
[4] Vgl. dazu die Widerlegung dieser These durch Trotzki im Kapitel Ein Monat der großen Verleumdung in seiner Geschichte der Russischen Revolution
[5] General Knox, der Chef der englischen Botschaft, sagte: „Ich bin an der Kerenski-Regierung desinteressiert, sie ist zu schwach; man braucht die Militärdiktatur, man braucht die Kosaken, dieses Volk braucht die Knute! Diktatur – das ist’s, was not tut.“ So drückte es der Vertreter der Regierung der ältesten Demokratie aus, zitiert nach Trotzki.
[6] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Massen unter den Schlägen
[7] Cavaignac: französischer General (1802-1957) und Schlächter während der Niederschlagung des Aufstand der Pariser Arbeiter 1848
[8] Lenin, Die politische Lage (Vier Thesen), 10. (23.) Juli 1917, Lenin Werke Bd. 25 S. 174
[9] A.a.O.
[10] A.a.O.
[11] Vgl. Angaben dazu im vorangehenden Artikel dieser Serie.
[12] A.a.O., Taktische Experimente, S. 213
[13] Lenin, Zu den Losungen, Mitte Juli 1917, Lenin Werke Bd. 25 S. 187f.
[14] A.a.O.
[15] Vgl. den vorangehenden Artikel dieser Serie, Untertitel „März 1917: ein gigantisches Netz von Sowjets verbreitete sich über ganz Russland“, in der vorliegenden Internationalen Revue
[16] Suchanow war internationalistischer Menschewik, d.h. Mitglied einer Linksabspaltung des Menschewismus, in der auch Martow tätig war. Er publizierte seine Memoiren in sieben Bänden. Eine gekürzte Fassung ist auf Französisch unter dem Titel La révolution russe erschienen, aus welcher unsere selbst ins Deutsche übersetzten Zitate stammen (Editions Stock, 1965; auch die Titel aus dieser Version sind von uns auf Deutsch übersetzt worden).
[17] Suchanow, Die Russische Revolution; Der Triumph der Reaktion; Um die Koalition, S. 210
[18] Anweiler: Die Rätebewegung in Russland 1905-1921, Kap. Der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat, S. 133
[19] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Massen unter den Schlägen
[20] ebenda
[21] ebenda
[22] Suchanow, Die Russische Revolution; Konterrevolution und Zerfall der Demokratie; Nach dem Juli: zweite und dritte Koalition, S. 306
[23] Suchanow, a.a.O., Die Schande von Moskau, S. 310
[24] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Kerenski und Kornilow
[25] Kornilow: Ein ziemlich unfähiges Militärkader, das sich durch ständige Niederlagen an der Front auszeichnete und das dann die bürgerlichen Parteien nach den Julitagen beweihräucherten und als „Vaterlandshelden“ betrachteten.
[26] Suchanow, Die Bourgeoisie geeint in Aktion, S. 312
[27] Vgl. dazu: Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, insbesondere die Kapitel Die Konterrevolution erhebt das Haupt, Kerenski und Kornilow, Kornilows Verschwörung und Kornilows Aufstand.
[28] Suchanow, a.a.O. S. 317
[29] ebenda
[30] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Bourgeoisie misst ihre Kräfte mit der Demokratie
[31] Bezirkssowjet und Stadtteilsowjet bezeichnen in den verschiedenen Übersetzungen, die diesem Artikel zugrunde liegen, (soweit ersichtlich) dasselbe.
[32] ebenda
[33] ebenda, Hervorhebung von uns
[34] ebenda
[35] ebenda
[36] Suchanow, Die geeinte Bourgeoisie in Aktion, S. 314 (der frz. Ausgabe)
[37] Kadetten-Partei: verfassungsmäßige demokratische Partei, damals die wichtigste bürgerliche Partei
[38] Suchanow, Die Auflösung der Demokratie nach der Kornilow-Erhebung, S. 330 (der frz. Ausgabe)
[39] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Brandung
[40] A.a.O.
[41] Suchanow, Die Vorbereitung der Artillerie, S. 351
[42] Anweiler, a.a.O., Kapitel Bolschewismus und Räte 1917, S. 228 f.
[43] Lenin, Thesen zum Referat in der Konferenz der Petersburger Organisation, Über die Losung „Alle Macht den Sowjets“, 8. Oktober 1917 (Lenin Werke Bd. 26 S. 128)
[44] Suchanow, Die Vorbereitung der Artillerie, S. 364
[45] Geschichte der Russischen Revolution, a.a.O.
[46] Hauptstadt Lettlands, das damals zum Russischen Reich gehörte.
[47] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 2. Halbband, Kapitel Das militärische Revolutionskomite
In den vorangehenden Artikeln haben wir das Auftauchen der Arbeiterräte in Russland (auf Russisch Sowjets) während der Revolution von 1905, ihr Verschwinden und dann ihr Wiederauftauchen in der Revolution von 1917 und ihre Krise und Wiedereroberung durch die Arbeiter, die sie 1917 an die Macht brachten, betrachtet[1]. In diesem Artikel geht es um den Versuch der Arbeiterräte, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen, einen gewichtigen Moment in der Geschichte der Menschheit: „denn es ist das erste Mal , dass nicht die Minderheit, nicht allein die Reichen und Gebildeten, sondern die wirklichen Massen, die ungeheure Mehrheit der Werktätigen selbst ein neues Leben aufbauen, aus eigener Erfahrung über die schwierigsten Fragen sozialistischer Organisationen entscheiden“[2].
Oktober 1917 – April 1918: Der Aufstieg der Arbeiterräte
Animiert von einem außerordentlichen Enthusiasmus widmeten sich die Arbeitermassen der Aufgabe, das, was sie schon vor der Revolution begonnen hatten, zu sichern und weiterzuführen. In seiner Beschreibung der Atmosphäre dieser ersten Monate hebt der Anarchist Paul Avrich hervor, wie „ein Grad an Freiheit und ein Gefühl der Macht, das in der Geschichte (der Arbeiterklasse in Russland) einzigartig war, existierte“[3].
Die Funktionsweise der Arbeiterräte unterschied sich radikal von derjenigen des bürgerlichen Staates, wo die Exekutive – die Regierung – die Macht fast komplett besitzt, während die Legislative – das Parlament – und die Judikative, die theoretisch einen Gegenpol bilden sollten, ihr in der Realität fast ganz untergeordnet sind. Diese drei Staatsgewalten sind aber vor allem von der großen Mehrheit der Bevölkerung getrennt, deren Rolle darauf begrenzt ist, regelmäßig ihre Wahlzettel in die Urnen zu werfen[4]. Die Macht der Arbeiterräte stützte sich, verglichen damit, auf zwei gänzlich neue Ansätze:
– die aktive und massive Beteiligung der Arbeiter;
– es waren sie – das heißt die Arbeitemassen – die debattierten, entschieden und ausführten.
Lenin sagte auf dem 2. Kongress
der Sowjets: „Die Macht zeigt sich aus der Sicht der Bourgeoisie, wenn die
Massen blind zum Schlachthof gehen (…) Die Bourgeoisie anerkennt eine Regierung
nur dann als stark, wenn sie in der Lage ist, mit der ganzen Potenz des
Regierungsmechanismus die Massen dorthin zu werfen, wo es ihr beliebt. Unser
Begriff von Macht ist ein anderer. Nach unserer Meinung ist eine Regierung
stark an Bewusstsein der Massen. Sie ist stark, wenn die Massen alles wissen,
über alles urteilen und alles bewusst akzeptieren.“[5]
Seit sie die Macht ergriffen hatten, trafen die Arbeiterräte auf ein Hindernis:
die Konstituierende Versammlung, welche exakt die Negation ihrer Zielsetzungen
repräsentierte und nur eine Rückkehr in die Vergangenheit darstellte: die
Delegierung der Macht und ihre Ausführung an eine Kaste bürokratischer
Politiker.
Gegenüber dem Zarismus hatte die russische Arbeiterbewegung die Konstituierende Versammlung als einen Schritt vorwärts zu einer bürgerlichen Republik betrachtet, aber die Revolution von 1917 hatte diese alte Losung überholt. Das Gewicht der Vergangenheit manifestierte sich im Einfluss, den die Konstituierende Versammlung weiter hatte, auch nach der Proklamierung der Rätemacht, und dies nicht nur in den breiten Massen der Arbeiter, sondern auch bei vielen Militanten der bolschewistischen Partei, die glaubten, die Konstituierende Versammlung lasse sich mit der Macht der Arbeiterräte verbinden.
„Es war einer der größten und folgenreichsten Fehler der bürgerlich sozialistischen Koalitionsregierung, dass sie vorwiegend aus juristischen Erwägungen die Wahl und die Eröffnung der Nationalversammlung immer wieder verschob“[6]. Die Regierungen, die sich zwischen Februar und Oktober 1917 abwechselten, schoben diese immer wieder vor sich her und widersprachen damit dem, was sie als ihr Ziel verkündet hatten. Die Bolschewiki – jedoch auch nicht ohne Meinungsverschiedenheiten in ihren Reihen – unterstützten sie grundsätzlich im vollem Bewusstsein, dass dies in einem Widerspruch zur Losung „Alle Macht den Räten!“ stand.
So entstand ein Paradox: Drei Wochen nach der Machtübernahme durch die Sowjets erfüllten diese ihre Versprechen durch einen Aufruf zur Wahl der Konstituierenden Versammlung. Die Wahl ergab eine Mehrheit für die rechten Sozialrevolutionäre (299 Sitze), weitab gefolgt von den Bolschewiki (168), dann von den linken Sozialrevolutionären (39) und von anderen weniger gewichtigeren Gruppen.
Wie war es möglich, dass das Wahlresultat die Verlierer des Oktobers als Sieger hervorgehen ließ?
Die Konstituierende Versammlung war natürlich vollkommen funktionslos. Sie diskreditierte sich selber. Sie fällte hochtrabende Entscheide, die wirkungslos blieben, ihre Versammlungen waren nichts mehr als langweiliges Geschwätz. Die bolschewistische Agitation, gestützt von Anarchisten und linken Sozialrevolutionären, beleuchtetet klar das Dilemma: Arbeiterräte oder Konstituierende Versammlung, und trug so zur Klärung des Bewusstsein bei. Nach verschiedenen Metamorphosen wurde die Konstituierende Versammlung unter der Aufsicht der Matrosen im Januar 1918 stillschweigend aufgelöst.
Die Macht ging vollends in die Hände der Arbeiterräte über, indem die Arbeitermassen ihre politische Präsenz entwickelten. In den ersten Monaten der Revolution und mindestens bis zum Sommer 1918 lebte die permanente Selbsttätigkeit der Masen, wie sie schon im Februar 1917 sichtbar gewesen war, nicht nur weiter, sondern sie stärkte und verbreitete sich noch. Die Arbeiter, die Frauen, die Jugend lebten in einer Dynamik der Vollversammlungen, Fabrik- und Quartierräte, lokaler Räte, Konferenzen, Treffen, usw. „Die erste Phase des Regimes der Sowjets war die einer fast unbegrenzten Autonomie seiner lokalen Institutionen. Angeregt durch ein intensives und immer zahlreicheres Leben, waren die Basis-Sowjets auf ihre Autorität eingeschossen“[7]. Die lokalen Arbeiterräte diskutierten vornehmlich über Angelegenheiten, die ganz Russland betrafen, und auch über die internationale Situation, vor allem über die Entwicklung der revolutionären Bewegungen[8].
Der Rat der Volkskommissare, gebildet durch den 2. Kongress, stellte keine eigenständige Regierung dar, das heißt nicht eine selbstherrliche Macht, die alles in den Fingern hat, sie war im Gegenteil ein Animator und Motor der Aktion der Massen. Anweiler zufolge sah die von Lenin geleitete Agitationskampagne folgendermaßen aus: „Am 18. November rief Lenin die Werktätigen auf, „alle Regierungsangelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen: eure Sowjets sind von nun an die allmächtigen und allein entscheidenden Regierungsorgane.“[9] Dies war nicht einfach Rhetorik. Der Rat der Volkskommissare verfügte nicht wie die bürgerlichen Regierungen über einen riesigen Stab von Beratern, Karrierefunktionäre, Bodyguards, Mitarbeitern, usw. Victor Serge[10] berichtet, dass dieses Organ nur einen Sekretär und zwei Mitarbeiter hatte. Seine Sitzungen erarbeiteten alle Fragen mit den Arbeiterdelegationen, den Mitgliedern des Exekutivkomitees der Räte oder den Räten von Petersburg oder Moskau. „Die geheimen Beratungen der Ministerstäbe“ waren abgeschafft.
1918 wurden vier Allrussische Rätekongresse abgehalten: der dritte im Januar, der vierte im März, der fünfte im Juli und der sechste im November. Dies zeigt die Lebendigkeit und den Weitblick, die den Arbeiterräten zugrunde lagen. Diese Allrussischen Rätekongresse, die eine enorme Mobilisierungsanstrengung erforderten – das Transportwesen war lahmgelegt und der Bürgerkrieg behinderte die Anreise der Delegierten enorm – drückten eine große Einheit der Sowjets aus und konkretisierten ihre Entscheide.
Die Kongresse waren von lebendigsten Debatten geprägt, an denen nicht nur die Bolschewiki teilnahmen, sondern auch die internationalistischen Menschewiki, die linken Sozialrevolutionäre, die Anarchisten, usw. Die Bolschewiki trugen dort sogar ihre eigenen Meinungsverschiedenheiten aus. Die Atmosphäre war ein kritischer Geist, den Victor Serge so beschrieb: „Um ehrlich zu bleiben, muss die Revolution stets auf der Hut sein vor ihren eigenen Missbräuchen, ihren eigenen Exzessen, ihren eigenen Verbrechen und ihren eigenen reaktionären Neigungen. Sie hat ein vitales Interesse an Kritik, Opposition und Zivilcourage derer, die das formulieren.“[11]
Auf dem dritten und vierten Kongress entbrannte eine stürmische Debatte über die Unterzeichnung des Friedensabkommens mit Deutschland von Brest-Litowsk[12]. Es ging dabei um zwei Fragen: Wie kann die Macht der Räte aufrechterhalten werden, während man auf die internationale Revolution wartet? Wie kann die Rätemacht in Russland zu dieser internationalen Revolution einen wirklichen Beitrag leisten? Der vierte Kongress wurde Schauplatz einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Bolschewiki und den linken Sozialrevolutionären. Der sechste Kongress konzentrierte sich auf die Revolution in Deutschland und beschloss Maßnahmen zu deren Unterstützung, unter anderem die Entsendung von mit enormen Mengen von Weizen beladenen Güterzügen, Ausdruck größter Solidarität und Selbstlosigkeit der russischen Arbeiterklasse, welche selbst unter Rationierungen litt: lediglich 50 Gramm Brot täglich!
Die Aktivität der Massen erstreckte sich über alle Aspekte des sozialen Lebens. Wir können hier keine detaillierte Analyse davon machen. Erwähnt sei hier aber die Bildung von Gerichten in den Arbeiterquartieren, welche die Form von Vollversammlungen hatten und in denen die Delikte besprochen wurden; die Urteile, die da gefällt wurden, zielten auf die Änderung des Verhaltens der Delinquenten ab, und nicht auf pure Bestrafung oder Rache. „Die Ehefrau von Lenin erzählte, dass Arbeiter und Arbeiterinnen öffentlich das Wort ergriffen und dabei sehr heftig debattierten. Der „Anwalt“ habe sich in seiner Verlegenheit regelrecht den Schweiß von der Stirn wischen müssen, wonach der Angeklagte mit Tränen im Gesicht versprochen habe, seinen Sohn nicht mehr zu schlagen. In Wahrheit war es weniger ein Gericht, als vielmehr eine öffentliche Versammlung, die eine Kontrolle über das Verhalten der Bürger ausübte. Unter unseren Augen nahm die proletarische Ethik Gestalt an.“[13]
Dieser ganze Elan ging jedoch zurück und beeinträchtigte die Räte, die sich von der großen Mehrheit der Arbeiter zu entfernen begannen. Schon im Mai 1918 entstanden innerhalb der Arbeiterklasse in Moskau und St. Petersburg wachsende Kritiken an der Politik der Räte dieser zwei Städte. Wie schon im Juli-September 1917 gab es eine Reihe von Versuchen der Wiederbelebung der Sowjets[14]. In diesen zwei Städten wurden unabhängige Konferenzen abgehalten, auch wenn diese auf der Basis von ökonomischen Forderungen einberufen wurden, die sich als primäres Ziel die Erneuerung der Räteorgane setzten. Die Menschewiki hatten dort die Mehrheit. Dies führte die Bolschewiki dazu, diese Konferenzen abzulehnen und sie als konterrevolutionär zu bezeichnen. Die Gewerkschaften wurden mobilisiert, um sie aufzulösen und sie verschwanden schnell.
Diese Maßnahme trug zur Untergrabung der Existenz der Räte bei. Im dritten Artikel dieser Serie haben wie aufgezeigt, wie die Räte sich nicht im luftleeren Raum bewegten, sondern dass sie Ausdruck einer großen proletarischen Bewegung waren, die aus unzähligen Räteorganen, Fabrikkomitees, Quartierkomitees, Massenversammlungen usw. bestand. Ab Mitte 1918 begannen diese Organismen sich langsam zurückzubilden und verschwanden immer mehr. Die Fabrikkomitees (auf die wir noch zurückkommen werden) verschwanden als erste, dann die Quartierräte, die ab Sommer 1918 in eine Agonie verfielen, welche bis zu ihrem kompletten Verschwinden Ende 1919 anhielt.
Die zwei lebenswichtigen Bestandteile der Räte sind das massenhafte Fundament von Basis-Räteorganen als Lebensquelle und ihre permanente Erneuerung. Das Verschwinden des ersten Bestandteils war von der wachsenden Ausschaltung des zweiten begleitet. Die Räte tendierten zu gleichbleibender Ausstrahlung und entwickelten sich Schritt für Schritt in Richtung einer starren Bürokratie.
Die bolschewistische Partei nahm an diesem Prozess unfreiwillig teil. Um die gegenrevolutionäre Agitation der Menschewiki und Anderer in den Räten zu bekämpfen, griffen sie auf administrative Ausschlussmaßnahmen zurück, was eine bleierne Atmosphäre der Passivität, ein Absterben der Debatte und eine zunehmende Unterordnung unter das Diktat der Partei hervorrief.[15]
Diese repressive Herangehensweise war zu Beginn nur punktuell, wurde aber in den ersten Monaten des Jahres 1919 Alltag, als die Zentralorgane der Partei offiziell die Räte dazu aufriefen, sich den lokalen Komitees der Partei zu unterstellen und andere Parteien auszuschließen.
Der Mangel an Leben und Debatte, die Bürokratisierung, die Unterstellung unter die Partei usw. wurden immer gewichtiger. Auf dem 7. Kongress gestand Kamenev ein: „Die Plenarversammlungen als politische Organisationen siechen oft dahin, die Leute beschäftigen sich mit rein technischen Arbeiten (…) Die allgemeinen Versammlungen finden selten statt, und wenn sich die Deputierten zusammenfinden, dann nur, um einen Bericht entgegenzunehmen, eine Rede anzuhören usw.“[16] Dieser Kongress vom Dezember 1919 hatte als Hauptthema die Erneuerung der Sowjets, und es gab nicht nur von Seiten der Bolschewiki – die dort das letzte Mal ihre internen Differenzen offen ausdiskutierten – Redebeiträge, sondern auch von den internationalistischen Menschewiki, deren Führer Martow eine aktive Rolle spielte.
Es gab Anstrengungen, die Beschlüsse des Kongresses in die Realität umzusetzen. Im Januar 1920 wurden in einer absolut offenen Atmosphäre Wahlen zur Erneuerung der abgehalten. „Martow anerkannte zu Beginn des Jahres 1920, dass außer in St. Petersburg, wo Wahlen „à la Sinowjew“ abgehalten wurden, die Rückkehr zu demokratischeren Methoden Platz hatte und die Wahlen oft zugunsten von Kandidaten seiner eigenen Partei ausfielen.“[17]
Zahlreiche Räte erwachten wieder, und die bolschewistische Partei versuchte, ihre Irrtümer der bürokratischen Kontrolle, an der sie immer mehr teilgenommen hatte, zu korrigieren. „Die Regierung kündigte ihre Absicht an, einige Vorrechte, die sie sich angemaßt hatte, zurückzunehmen und in ihrem Gesetz das Exekutivkomitee [der Sowjet, vom Kongress gewählt] wieder einzuführen, welches – laut der Verfassung von 1918 – die Aktivitäten der Volkskommissare zu überwachen hatte.“[18]
Doch diese Hoffnungen verflüchtigten sich bald. Die Verschärfung des Bürgerkrieges durch die Offensive des Generals Wrangel und die polnische Invasion, die Zuspitzung der Hungersnot, das wirtschaftliche Chaos, die Bauernaufstände fegten diese Bemühungen weg. „Der Verfall der Wirtschaft, die Demoralisierung der Bevölkerung, die Isolation einer zunehmend ruinierten und ausgebluteten Nation ließen die ganzen Bedingungen zur Erneuerung der Räte verschwinden.“[19]
Der Aufstand von Kronstadt im März 1921 mit der Forderung nach einer kompletten Erneuerung der Räte, die wirklich die Macht ausüben sollten, war das letzte Röcheln der Agonie; seine Niederschlagung durch die bolschewistische Partei signalisierte das definitive Ende der Sowjets als Organe der Arbeiterklasse.[20]
Weshalb gerieten die Arbeiterräte in eine Dynamik, der sie, verglichen mit dem September 1917, nicht mehr entrinnen konnten? Auch wenn der Mangel an Sauerstoff und Unterstützung, den nur die Entfaltung der internationalen Revolution hätte kompensieren können, der grundlegende Faktor war, so müssen wir auch die anderen, „internen“ Faktoren untersuchen. Diese lassen sich in zwei Hauptpunkten zusammenfassen, die stark miteinander verbunden sind: der Bürgerkrieg und die Hungersnot einerseits und das ökonomische Chaos andererseits.
Beginnen wir mit dem Bürgerkrieg.[21] Es war ein von den mächtigsten imperialistischen Staaten organisierter Krieg: England, Frankreich, USA, Japan usw., welche ihre Truppen zu einer zusammengewürfelten bewaffneten Massenarmee, den so genannten „Weißen“ formierten, um die abgesetzte russische Bourgeoise zu unterstützen. Dieser Krieg blutete das Land bis 1921 aus, forderte mehr als 6 Millionen Tote und verbreitete ungeheure Zerstörung. Die Weißen wüteten mit sadistischen Repressalien und einer ungeheuerlichen Barbarei. „Der weiße Terror war wesentlicher Grund (des Zerbrechens der Rätemacht), die Siege der Konterrevolution waren meist nicht nur von Massakern an Kommunisten begleitet, sondern auch von Ausrottungen der aktiven Mitglieder der Räte und ihrer Auflösung.“[22]
Dies ist der erste Grund der Schwächung des Rätesystems. Die Weiße Armee unterdrückte die Sowjets und ermordete ihre Mitglieder wahllos.
Aber es kamen zu den Massakern noch komplexere Gründe hinzu. Als Antwort auf den Krieg fällte der Rat der Volkskommissare zwei wichtige Entscheidungen: die Bildung der Roten Armee und den Aufbau der Tscheka, ein Organ, das zur Aufdeckung konterrevolutionärer Verschwörungen dienen sollte. Es war das erste Mal, dass dieser Rat eine Entscheidung fällte ohne vorherige Debatte mit den Arbeiterräten oder wenigstens mit dem Exekutivkomitee der Arbeiterräte.
Der Aufbau eines Organs wie der Tscheka war nach der Revolution unvermeidlich. Konterrevolutionäre Machenschaften hielten an, vor allem von Seiten der rechten Sozialrevolutionäre, der Menschewiki, der Kadettenpartei, aber auch von Monarchisten, Kosaken, unterstützt von englischen und französischen Agenten. Der Aufbau der Roten Armee war, sobald der Bürgerkrieg ausbrach, ebenfalls eine Notwendigkeit.
Diese zwei Strukturen – die Tscheka und die Rote Armee – waren nicht einfach zwei Instrumente, derer man sich sorglos bedienen konnte. Es sind staatliche Organe, und als solche sind sie vom Gesichtspunkt der Arbeiterklasse aus zweischneidige Waffen; die Arbeiterklasse ist gezwungen, sich ihrer zu bedienen, solange das Proletariat sich nicht auf Weltebene durchgesetzt hat, doch ihr Gebrauch birgt große Gefahren, weil sie die Tendenz haben, sich gegenüber der Macht der Arbeiterklasse zu verselbständigen.
Aus welchem Grund wurde eine Armee aufgebaut, auch wenn die Arbeiterklasse über ein militärisches Räteorgan verfügte, das den Aufstand geleitet hatte: das Militärische Revolutionskomitee?[23]
Während des Septembers 1917 zerfiel die russische Armee immer mehr. Nach der Ausrufung des Friedens begannen sich die Soldatenräte schnell aufzulösen. Einziger Wunsch vieler Soldaten war der Wunsch nach Rückkehr in ihre Dörfer. So widersprüchlich es auch scheinen mag, die Soldatenräte – aber in geringerem Ausmaß auch die der Matrosen –, welche sich nach der Machtübernahme der Sowjets überall ausgebreitet hatten, trugen nun wesentlich zur Auflösung der Armee bei, um eine chaotische Flucht von Wehrpflichtigen und allfällige Soldatenbanden, die mit ihren Waffen die Bevölkerung terrorisieren könnten, zu verhindern. Anfang Januar 1918 war die Armee aufgelöst. Russland war der deutschen Armee ausgeliefert. Der Friede von Brest-Litowsk bedeutete einen Waffenstillstand, der es erlaubte, eine Armee zum Schutz der Revolution aufzubauen.
Am Anfang war die Rote Armee eine Freiwilligenarmee. Die Jugend der Mittelklasse und die Bauern drückten sich davor, es waren die Arbeiter aus den Fabriken und den großen Städten, welche zu Beginn diese Reihen füllten. Resultat war eine richtiggehende Ausblutung der Arbeiterklasse, die ihre engagiertesten Menschen in einem blutigen und grausamen Krieg verlor. „Wir wissen, dass durch den Krieg die besten Arbeiter massenweise aus den Städten abgezogen wurden, und manchmal entsteht daher ein Zustand, dass es in dieser oder jener Gouvernements- oder Kreisstadt schwerfällt, einen Sowjet zu bilden und die Grundlagen für seine regelmäßige Arbeit zu schaffen.“[24]
Hier also sehen wir den zweiten Hauptgrund für die Krise der Arbeiterräte: die entschlossensten Arbeiter wurden durch die Rote Armee absorbiert. Um ein Bild davon zu erhalten: im April 1918 mobilisierte Petrograd 25‘000 Freiwillige, die große Mehrheit davon politisch aktive Arbeiter; Moskau 15‘000; im ganzen Land waren es 106‘000 Freiwillige.
Der dritte Grund war nichts anderes als die Rote Armee selbst, welche die Räte als ein Hindernis betrachtete. Sie versuchte sich deren Kontrolle zu entziehen und verlangte von der Zentralregierung, die Sowjets davon abzuhalten, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Die Rote Armee wies auch Unterstützungsangebote der bewaffneten Einheiten der Räte (Rote Garden, Partisanen) ab. Der Rat der Volksdeputierten unterwarf sich allen Bedürfnissen der Roten Armee.
Weshalb wendet sich ein Organ, das zur Verteidigung der Räte gegründet wurde, gegen sie? Die Armee ist ein staatliches Organ, dessen Existenz und Funktionsweise notwendigerweise soziale Folgen haben. Vor allem, wenn es eine blinde Disziplin gibt, sich eine Hierarchie breitmacht und ein Offizierskorps entsteht, das lediglich die Autorität der Regierung anerkennt. Um solche Tendenzen zu vermeiden, wurde ein Netzwerk von politischen Beratern aus vertrauenswürdigen Arbeitern zusammen gestellt, dessen Ziel die Kontrolle der Offiziere war. Leider mit geringem Erfolg, wenn nicht sogar kontraproduktiv, denn dieses Netzwerk wurde selbst zu einer zusätzlichen bürokratischen Struktur.
Die Rote Armee entzog sich nicht nur immer mehr der Kontrolle durch die Arbeiterräte, sie führte ihre Methoden der Militarisierung in der gesamten Gesellschaft ein. In seinem Buch Das ABC des Kommunismus spricht Preobraschenski sogar von der militärischen Diktatur des Proletariates!
Die Bedingungen des Krieges und die blinde Unterordnung unter die Bedürfnisse der Roten Armee führten die Regierung im Sommer 1918 dazu, ein Militärisches Revolutionskomitee auf die Beine zu stellen, das nichts mehr zu tun hatte mit demjenigen, das die Oktoberrevolution angeführt hatte. Das zeigte schon sein erster Beschluss: die Gründung von lokalen Militärischen Komitees, welchen sich die Arbeiterräte unterzuordnen hatten. „Ein Entscheid des Rates der Volkskommissare verpflichtete die Arbeiterräte, sich den Anordnungen dieser Komitees bedingungslos zu fügen.“[25]
Die rote Armee wie die Tscheka hörten nach und nach auf, das zu sein, was sie am Anfang sein wollten, nämlich Waffen zur Verteidigung der Rätemacht. Sie lösten sich von dieser Aufgabe, verselbständigten sich, um sich letztlich gegen sie zu wenden. Während die Tscheka in einer ersten Phase ihre Aktivitäten vor den lokalen Sowjets rechtfertigen musste und versuchte, eine gemeinsame Arbeit aufzubauen, so wurden bald die schnellen Methoden der Tscheka auf die ganze sowjetische Gesellschaft übertragen. «Am 28. August 1918 erteilte das Hauptquartier der Tscheka den lokalen Kommissionen die Weisung, sich nicht der Autorität der Sowjets zu unterstellen. Es sollten umgekehrt diese Kommissionen den Sowjets den Willen aufzwingen können. Dies gelang ihnen den auch ohne Mühe in den vielen von militärischen Operationen betroffenen Gegenden.»[26]
Die Tscheka zernagte die Macht der Sowjets so weit, dass im November 1918 eine Umfrage erwies, dass 96 Sowjets die Auflösung der Tscheka forderten, 119 forderten die Unterstellung unter die legalen Sowjets und nur 19 stimmten dem Tun der Tscheka zu. Diese Umfrage war absolut wirkungslos, denn die Tscheka häufte weitere Macht an. „ ‚Alle Macht den Räten‘ hat aufgehört das Prinzip zu sein, auf dem das Regime fußt, wie es ein Mitglied des Volkskommissariats des Innern sagte, es ist durch die Losung: ‚Alle Macht der Tscheka‘ ersetzt worden“.
Der Weltkrieg hinterließ ein schreckliches Erbe. Der produktive Apparat der meisten europäischen Länder war ausgeblutet, der Verkehr von Konsumgütern oder Lebensmitteln war schwer angeschlagen, wenn nicht lahmgelegt. «Der Verbrauch von Lebensmitteln hatte um 30-50% abgenommen. Die Lage der Alliierten war dank der Unterstützung der USA etwas besser. Der Winter 1917-1918, der in Frankreich und England durch die Rationierung von Lebensmitteln und Brennstoffen gezeichnet war, war sehr hart“.
Russland litt ganz besonders unter dieser Situation. Der Oktoberrevolution gelang es nicht, dies aufzuheben, und zwar umso weniger, als sie einem provozierten Chaos gegenüberstand: einer Sabotage nicht nur der Unternehmer, welche die Politik der verbrannten Erde einer Übergabe der Produktionsmittel an das Proletariat bevorzugten, sondern auch von Technikern, Betriebsleitern und teilweise von spezialisierten Arbeitern, die der Macht der Sowjets feindselig gegenüber standen. Die Sowjets prallten auf eine massive Streikbewegung der Beamten, von Telegraphenarbeitern und Eisenbahnern, die von Gewerkschaften unter Führung der Menschewiki manipuliert waren. Diese Streiks wurden über einen gewerkschaftlichen Keilriemen initiiert und geführt durch eine „Schattenregierung mit M. Prokopowitsch an der Spitze, der offiziell die Nachfolge des ‚abgetretenen‘ Kerenski übernommen hatte. Dieser geheime Minister lenkte die Streiks der Beamten mittels eines Streikkomitees. Die großen Firmen der Industrie, des Handels und des Bankensektors, so die Agrarbank von Tula, die Moskauer Volksbank, das Kaukasische Kreditinstitut bezahlten den Beamten weiterhin ihr Gehalt. Das alte Gesamtrussische Exekutivkomitee (Menschewiki und Sozialrevolutionäre) setzte seine Guthaben, die eigentlich der Arbeiterklasse gehörten, zum gleichen Zweck ein.“[27]
Diese Sabotage gesellte sich zum ökonomischen Chaos, das sich durch den Bürgerkrieg verschlimmerte. Wie sollte man die Hungersnot in den Dörfern bekämpfen? Wie sollte man auch nur ein Minimum an Versorgung garantieren?
Hier konkretisierte sich auf katastrophale Weise ein Phänomen, welches das Jahr 1918 charakterisieren sollte: Die gesellschaftliche Koalition, die 1917 die bürgerliche Regierung gestürzt hatte, hatte sich aufgelöst. Die Macht der Sowjets war eine Koalition, auf der Basis der Gleichheit, unter den Sowjets der Arbeiter, Bauern und Soldaten. Die Soldatenräte hatten sich bis Ende 1917 bis auf wenige Ausnahmen aufgelöst. Das führte dazu, dass die Sowjetmacht praktisch ohne Armee dastand. Aber was machten die Bauernräte, die den Schlüssel zur Lösung der Versorgung der Städte in den Händen hielten?
Das Dekret des 2. Sowjetkongresses über die Aufteilung des Ackerlandes wurde im größten Durcheinander umgesetzt, was eine Unzahl von Missbräuchen förderte. Obwohl nun viele arme Bauern Zugang zu einer Parzelle hatten, waren oft die großen und mittleren Bauern die Gewinner, da sie ihren Reichtum vergrößern konnten, was sich auch darin ausdrückte, dass sie fast generell die Bauernräte beherrschten. Der Privateigentümern eigene Egoismus wurde beflügelt. „Die Bauern, die für ihren Weizen im Austausch Rubel erhielten, konnten damit nur mit großen Schwierigkeiten eine begrenzte Zahl von Manufakturprodukten erstehen, vorherrschend war der Tausch von Lebensmitteln gegen Industrieprodukte. Ein Morast von kleinen Spekulanten entstand zwischen den Bauern und den Städten.“[28] Die Bauern verkauften ihre Produktion den Spekulanten, die diese an sich rissen und die Not vergrößerten, indem sie die Preise hochtrieben.
Im Juni 1918 setzte die Sowjetregierung ‚Komitees der Dorfarmut‘ ein, um diese Situation zu bekämpfen. Das Ziel war, die Bauernräte den Arbeiterräten näherzubringen und den Klassenkampf in die Dörfer zu tragen, aber auch Brigaden zu bilden, um Weizen und andere Lebensmittel zu erhalten und so die schreckliche Hungersnot in den Städten zu lindern.
Diese Komitees widmeten sich „zusammen mit bewaffneten Abteilungen [der Aufgabe], bei reichen Bauern Getreide zu beschlagnahmen, Vieh und Geräte zu requirieren und unter den Landarmen zu verteilen und sogar den Boden neu aufzuteilen“[29]. Die Bilanz dieser Erfahrung war im Allgemeinen negativ. Es gelang weder die genügende Versorgung der hungrigen Städte noch die Erneuerung der Bauernräte. Das Resultat war, dass 1919 die Bolschewiki ihre Politik änderten, um die mittlere Bauernschaft für sich zu gewinnen, und sie zerschlugen mit Gewalt die ‚Komitees der Dorfarmut‘.
Die moderne kapitalistische Produktion macht die Versorgung der Konsumenten mit landwirtschaftlichen Produkten von einem komplexen Transportsystem abhängig, welches hoch technologisiert ist und seinerseits von anderen Industrien abhängt. Auf dieser Grundlage scheiterte die Versorgung der hungernden Bevölkerung am Zusammenbruch des industriellen Produktionsapparats in Folge des Krieges und anschließend der ökonomische Sabotage der Kapitalisten sowie des Bürgerkriegs ab April 1918.
Die Fabrikräte hätten eine bestimmende Rolle einnehmen können, wie wir es im vorhergehenden Artikel dieser Serie sehen konnten. Sie spielten eine sehr wichtige Rolle in Sinne einer Avantgarde im sowjetischen System. Sie hätten auch die Sabotage der Kapitalisten verhindern und somit den Mangel und die Lähmung bekämpfen können.
Sie versuchten sich zu koordinieren und ein zentrales Kontrollorgan zu schaffen, um die Produktion zu koordinieren und die Sabotage und die Lahmlegung der Transporte zu bekämpfen[30]. Aber die Politik der Bolschewiki sprach sich dagegen aus, sie konzentrierten die Leitung der Fabriken in einem Organ, das aus Beamten bestand, die von der Exekutive abhängig waren. In jener ersten Zeit wurde die Akkordarbeit eingeführt, die durch die Militarisierung der Arbeit gesteigert wurde und 1920/21 das höchste Niveau erreichte. Das stärkte die Gewerkschaften. Dieses Beamtenorgan war ein vehementer Gegner der Fabrikräte und führte eine intensive Kampagne gegen sie, die schließlich die Auflösung der Fabrikräte Ende 1918 nach sich zog.[31]
Die Maßnahmen der Bolschewiki versuchten, die Tendenz gewisser Betriebsräte besonders in der Provinz zu bekämpfen, sich als neue Besitzer zu sehen und als autonome Einheiten zu agieren. Diese Tendenz hatte zum Teil ihren Ursprung „in der Schwierigkeit, einen regelmäßigen Kreislauf von Verteilung und Austausch aufzubauen, was zur Isolierung von zahlreichen Fabriken und Produktionsstätten führte. Sie erschienen eher als „anarchistische Komunen“, die auf sich selbst beschränkt waren.“[32]
Es ist offensichtlich, dass diese Tendenzen die Spaltung der Arbeiterklasse in Russland vorantrieb. Aber es handelte sich nicht um generelle Tendenzen, sie hätten auch bekämpft werden können. Mit Debatten in den Betriebsräten, in denen die globale Sicht durchaus vorhanden war. Die gewählte Methode, sich auf die Gewerkschaften zu stützen, führte dazu, dass die Pfeiler der proletarischen Macht angegriffen wurden, was schon zu Beginn ein politisches Problem war, das aber durch den Enthusiasmus der Sowjets in den ersten Monaten überdeckt wurde: „Die Schwächung der russischen Arbeiterklasse, ein Verlust des Elans und der Substanz, die zu einer fast totalen Deklassierung und in gewisser Weise zu deren vorübergehenden Verschwinden führen sollte.“[33]
Im April 1918 verschwanden 265 der 799 Industriebetriebe in Petrograd. Die Hälfte der Arbeiter dieser Stadt hatte keine Arbeit; die Bevölkerung zählte 1,5 Millionen Leute, während sie vorher 2,5 Millionen betrug. Moskau verlor etwa eine halbe Million Bewohner in dieser Zeit.
Die Arbeiterklasse litt unter dem Hunger und unter den schrecklichsten Krankheiten. Jacques Sadoul, Beobachter auf der Seite der Bolschewiki beschreibt die Situation im Frühling 1918 in Moskau: „In den Vororten gibt es eine schreckliche Not, Epidemien wie Typhus, Pocken, Kinderkrankheiten. Die Säuglinge sterben in Massen. Die Leute, denen man begegnet, sind abgemagert und in erbärmlichem Zustand. In den Arbeiterquartieren begegnet man nur zu häufig armen bleichen Müttern, die traurig den Sarg aus versilbertem Holz tragen, der wie eine Wiege aussieht, und darin liegt der leblose Körper des Kindes, das ein bisschen Brot oder Milch am Leben hätten halten können.“[34]
Viele Arbeiter fliehen aufs Land, um dort Landwirtschaft unter prekären Bedingungen zu betreiben. Der schreckliche Druck des Hungers, der Krankheiten, der Rationierungen und der langen Warteschlangen zwingen die Arbeiter, den ganzen Tag dem Überlebenskampf zu opfern. Wie es ein Arbeiter aus Petrograd bezeugt: „Hier steht eine Menge von Arbeitern, die zurückgewiesen wurden. Auch wenn wir zu den Besten gehören, man hört kein Wort in der Politik; niemand spricht von Revolution, über den deutschen Imperialismus oder alle anderen aktuellen Probleme. Für all diese Leute, die sich kaum auf den Beinen halten können, scheinen all diese Fragen furchtbar weit weg.“[35]
Der Prozess der Krise der Arbeiterklasse in Russland ist so alarmierend, dass Lenin im Oktober 1921 die NÖP[36] mit den Worten rechtfertigte: „Die Kapitalisten werden aus unserer Politik Vorteile ziehen und werden ein Industrieproletariat schaffen, das bei uns durch den Krieg und die furchtbare Verwüstung und Zerrüttung deklassiert, d.h. aus seinem Klassengeleise geworfen ist und aufgehört hat, als Proletariat zu existieren.“[37]
Wir haben eine Reihe von allgemeinen Umständen aufgezeigt, zu denen unvermeidbare Fehler hinzu kamen und die vereint die Sowjets schwächten, bis sie schließlich als Organe der Arbeiter verschwanden. Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir die politischen Probleme, welche die Verschlechterung dieser Situation verstärkten, aufzeigen.
C.Mir, 1. September 2010
[1] Siehe nebst dieser Internationalen Revue den ersten Artikel in der Internationalen Revue Nr. 48
[2] Lenin, Brief an die amerikanischen Arbeiter, 20. August 1918, Werke Band 28, Seite 59
[3] Zitiert nach Marcel Liebman, Le Léninisme sous Lénine, Band 2, Seite 190. Dieses sehr lesenswerte und gut dokumentierte Buch ist von einem Autor, der sich nicht zur kommunistischen Bewegung zählt.
[4] Es gab ein Phase, als der Kapitalismus noch ein progressives System war, während der das Parlament ein Ort war, wo sich die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie vereinten oder aufeinanderprallen, um die Gesellschaft zu regieren. Das Proletariat konnte sich dort beteiligen, um zu versuchen, die Politik der Bourgeoisie auf eine Art zu beeinflussen, welche die Verteidigung seiner Interessen unterstützte, auch wenn diese Politik die große Gefahr der Mystifizierung enthielt. Doch auch in dieser Epoche waren die drei Staatsgewalten von der großen Mehrheit der Bevölkerung getrennt.
[5] Zitat nach Victor Serge, einem anarchistischen Militanten der sich den Bolschewiki anschloss, in L’An I de la Révolution Russe, Seite 84, Kapitel 3: «Les grands décrets»
[6] Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905-1921, Kapitel 5: Die Errichtung der Sowjetdiktatur, Abschnitt: Konstituierende Versammlung oder Räterepublik?, Seite 260
[7] Marcel Liebman, a.a.O., Seite 31
[8] Die Verfolgung der Situation in Deutschland und Neuigkeiten von Streiks und Meutereien bildeten den Hauptteil ihrer Diskussionen.
[9] Oskar Anweiler, a.a.O., Seite 274
[10] Victor Serge, a.a.O., Seite 99, Kapitel 3: „L`initiative des masses“
[11] Marcel Liebman, a.a.O., Seite 94
[12] Dieser Vertrag wurde zwischen der Sowjetregierung und dem deutschen Staat im März 1918 unterzeichnet. Zum Preis harter Zugeständnisse erlaubte er der Sowjetregierung einen Waffenstillstand als Atempause und demonstrierte der internationalen Arbeiterklasse den Willen, den Krieg zu beenden. Siehe dazu unsere Artikel: „Oktober 1917 : Anfang der proletarischen Revolution (Teil 2)“ in Internationale Revue Nr. 6, und: „Le communisme n’est pas un bel idéal «(8e partie) : La compréhension de la défaite de la Révolution russe«, Revue Internationale Nr. 99, 1999.
[13] Marcel Liebman, ebenda, Seite 176
[14] Siehe den 3. Artikel dieser Serie (in der vorliegenden Revue), Kapitel: „September 1917: Die totale Erneuerung der Sowjets“
[15]
Man muss anfügen, dass diese Maßnahmen nicht durch Einschränkungen der
Pressefreiheit begleitet waren. Im oben zitierten Buch unterstreicht Victor
Serge, dass „die Diktatur des Proletariats lange mit dem Verbot der feindlichen
Presse zögerte. (…) Erst im Juli 1918 waren die letzten Organe der Bourgeoisie
und der Kleinbourgeoisie verboten. Die legale Presse der Menschewiki verschwand
erst 1919; die der regierungsfeindlich gesinnten Anarchisten und Maximalisten
erschien bis 1920; die der linken Sozialrevolutionäre noch länger.“ (Fußnote Seite 109, Kapitel:
„Réalisme prolétarien et rhétorique révolutionnaire“)
[16] Oskar Anweiler, a.a.O., Seite 297
[17] Marcel Liebman, a.a.O., Seite 35. Sinowjew, ein Bolschewiki, hatte große Qualitäten und war engagierter Animator der Kommunistischen Internationale, war aber auch bekannt wegen seiner Schlauheit und Manövrierfähigkeit.
[18] ebenda
[19] ebenda
[20] Wir können in diesem Artikel nicht auf die Details von Kronstadt und auf die Lehren eingehen, die daraus gezogen werden müssen. Siehe dazu: Internationale Revue Nr. 28, „Kronstadt verstehen“
[21] Für diejenigen, die sich ein Bild des Bürgerkriegs von 1918 machen wollen, empfehlen wir die Lektüre des zitierten Buches von Victor Serge.
[22] Marcel Liebman, ebenda, Seite 32
[23] Siehe dazu in dieser Internationalen Revue im 3. Teil dieser Serie, Abschnitt „Das Militärische Revolutionskomitee, Organ der Räte für den Aufstand“
[24] Rede von Kamenew, zit. bei Oskar Anweiler, a.a.O., Seite 297
[25] Marcel Liebman, a.a.O., Seite 33
[26] A.a.O. S. 32
[27] A.a.O. S. 164
[28] Victor Serge, a.a.O., S. 162, Kap. V “Das Problem im Januar 1918”
[29] Victor Serge, a.a.O., S. 99, Kap. III, “Die Sabotage”
[30] A.a.O., S. 227, Kap. VI, „Das Problem“
[31] A.a.O., Victor Serge beschreibt, dass eine Politik der Gewerkschaften darin bestand, Handelsgenossenschaften zu gründen, die sich der Lebensmittelspekulation zum Profit der Genossenschafter widmeten.
[32] Anweiler, a.a.O., S. 299
[33] Oskar Anweiler berichtet: „Einige Wochen nach dem Oktoberumsturz versuchten die in mehreren Städten bestehenden örtlichen Zentralräte der Fabrikkomitees eine eigene nationale Organisation zu errichten, die ihre faktische wirtschaftliche Diktatur sichern sollte.“ A.a.O. S. 277
[34] A.a.O., Anweiler berichtet: „Die Gewerkschaften verhinderten die Einberufung eines allrussischen Betriebsrätekongresses und erreichten stattdessen, dass ihnen die Betriebsräte als unterste Organisationen eingegliedert wurden.“ S. 277 („Betriebsrat“ und „Fabrikrat“ werden in diesem Artikel als Synonyme verwendet.)
[35] Marcel Liebman, a.a.O. S. 189
[36] Ebenda, S. 23
[37] Ebenda, S. 24
Links
[1] https://thecommune.wordpress.com/ideas-encounter-with
[2] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1915/krieg/
[3] https://de.internationalism.org/deka/39
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Hama_massacre
[6] https://iranprimer.usip.org/resource/iran-and-china
[7] https://www.solidariteetprogres.org/Iran-La-Chine-ne-doit-pas-reculer-devant-une-possible-confrontation-avec-l_08360
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/2/37/die-revolution-re-welle-1917-1923
[9] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/april.htm