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Wir haben eine Einladung zur Teilnahme an einer „Werkstatt für empörte Beschäftigte“ erhalten, die von der Asamblearios-TIA () veranstaltet wird. Wir unterstützen und beteiligen uns aktiv an dieser Initiative.
Wir sind der Ansicht, dass solche Werkstätten einem wirklichen Interesse an der Klärung von wesentlichen Fragen des politischen Verständnisses des Kapitalismus und der Suche nach Alternativen zu demselben dienen. Von den konkreten und unmittelbaren Kämpfen ausgehend haben die GenossInnen die Schlussfolgerung gezogen, dass es notwendig ist, die Wirklichkeit tiefgreifend zu verstehen, um die revolutionäre Theorie zu verstärken. Wir unterstützen diese Initiative enthusiastisch, weil damit eine Gelegenheit zu Diskussionen geschaffen wird, in denen wir alle die Wirklichkeit genauer erfassen und über Mittel diskutieren können, diese umzuwälzen.
Natürlich verfügen wir über kein Rezept und keine magische Formel, um die aufgeworfenen Fragen zu lösen. Aber wir sind davon überzeugt, dass es notwendig ist, in den Kämpfen zu intervenieren. Dabei müssen wir uns auf ein tieferes Verständnis stützen, auch um nicht in die Fallen des Gegners zu laufen und um Demoralisierung und Frustration zu vermeiden.
Was ein wundervolles Spinnennetz von der Arbeit eines Architekten unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Mensch, bevor er solch ein Projekt erstellt, einen Plan in seinem Gehirn und die Mittel zur Umsetzung dieses Plans entwickelt.
Diese Fähigkeit, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen oder ein Vorhaben anzupacken, das sich auf unser Verständnis der Realität stützt, ist das, was man „Theorie“ nennt. Die Theorie hat wesentlich zur Entwicklung der Menschheit mit beigetragen. Ohne die Fähigkeit zur Analyse, Schlussfolgerungen zu ziehen und in Übereinstimmung mit unseren Notwendigkeiten und den angestrebten Zielen zu handeln, würden wir sicherlich weiterhin in primitiven Jäger- und Sammlergesellschaften leben.
Die Theorie ist keinesfalls – und aus der Sicht der Arbeiterklasse noch weniger – das Ergebnis eines abstrakten Denkprozesses, der von der Praxis oder den unmittelbaren Bedürfnissen losgelöst ist. Die Theorie ist im Gegenteil Bestandteil derselben Praxis der Revolutionäre. Ohne Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.
Der Kapitalismus ist die Gesellschaft, in der sich die Warenwirtschaft ausgebreitet hat, in welcher der Tauschwert in Geld verwandelt wurde, das die menschlichen Beziehungen bestimmt, auch im Bereich der Gefühle und Emotionen. Infolgedessen entspricht die gesellschaftliche Produktion den Notwendigkeiten der Warengesellschaft, anstatt die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, so dass diese materielle Wirklichkeit der Produktion eine herrschende Ideologie bestimmt, die als „gesunder Menschenverstand“ betrachtet wird. Jegliche Infragestellung der kapitalistischen Gesellschaft erfordert die Untersuchung und Kritik des herrschenden „gesunden Menschenverstandes“, der in Wirklichkeit nichts anderes als der Versuch der herrschenden Klasse ist, eine Denkweise aufzuzwingen, die den Anschein erweckt, eine „natürliche“ und die einzig mögliche und gültige zu sein. Ohne einen gründlichen Denkprozess ist diese Infragestellung des Kapitals nicht möglich.
Aber die „Theorie“ ist auch nicht das Werk von begnadeten Genies oder eines dogmatischen Katechismus. Im Gegenteil, die revolutionäre Theorie kann nur das kollektive und historische Werk einer ausgebeuteten Klasse sein, die in ihrem Wesen schon Trägerin einer zukünftigen, ausbeutungsfreien Gesellschaft ist. Diese theoretische Erarbeitung kann nur das Werk einer gemeinsamen Kultur des Nachdenkens und der Debatte sein, die dazu in der Lage ist, den „gesunden Menschenverstand“ der herrschenden Klasse in Frage zu stellen und eine Theorie zu erarbeiten, die uns ermöglicht, mit der Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit aufzuräumen.
Die Bewegung des 15M (15.Mai 2011) war eine spontane Bewegung, die die Unzufriedenheit und die Empörung der Ausgebeuteten zum Ausdruck brachte; zudem hob sie die Notwendigkeit, den Kampf massiv zu führen, auf eine neue Stufe. Nach dem 15M und ähnlichen Ausdrücken in anderen Ländern sind Gruppen entstanden, die sich der Notwendigkeit bewusst sind, dass man tiefergehend nachdenken muss Die Praxis hat es schon bewiesen: Wenn es an Theorie mangelt, kann man leicht in die Fallen laufen, die der Staatsapparat aufstellt, um uns dazu bewegen, uns für die Interessen des Feindes zu opfern. Diese kleinen Gruppen sind sich bewusst, dass der revolutionäre Kampf eine „theoretische Dimension“ erfordert; es entstehen Diskussionsforen, auf denen diskutiert wird, wie und wofür wir kämpfen. Solche Fragen zu stellen ist eine Notwendigkeit der revolutionären Praxis.
Wie die Asembalearios-TIA schreiben, ist die Selbstorganisierung der Beschäftigten der einzige Weg, um unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Die Systematisierung der Diskussionen, in denen wir alle die politischen Fragen des Kampfes zu klären versuchen, ist die Form der notwendigen Selbstorganisierung in diesen Zeiten der „latenten“ Kämpfe.
Die Krise des Kapitalismus zeigt zum einen auf, wie wir immer mehr in Armut, Barbarei und Zerstörung des Planeten abrutschen, zum anderen wird die Schwierigkeit ersichtlich, eine alternative Gesellschaft zu errichten, in der all die Widersprüche des kapitalistischen Systems überwunden sind. Die Herausforderung ist sehr groß. Deshalb ist es unverzichtbar, dem Kampf eine historische und internationale Perspektive zu verleihen, wodurch wir die Mittel und unser Ziel in der Tiefe begreifen können. Die Schaffung von wirklichen Diskussionsräumen und Orten des Nachdenkens ist die Aufgabe der Stunde für die zukünftigen KämpferInnen. Wir ermutigen die Minderheiten, die überall auf der Welt entstehen, dass sie diese Diskussionsräume und Orte des Nachdenkens schaffen und sich die revolutionäre Theorie aneignen, die unerlässlich ist für die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer neuen Gesellschaft.
Nachfolgend stellen wir den Aufruf der GenossInnen vor, wir für einen Liste von Literaturvorschlägen hinzu. Wir wünschen eine fruchtbare Debatte! IKS 27.12.2012
Werkstätten für empörte Beschäftigte
Alles, was ihr schon immer über den Arbeiterkampf diskutieren wolltet,
aber nie gewagt habt zu tun.
Alicante 2013
Wer sind wir?
Wir sind Beschäftigte, Arbeitslose, StudentInnen... wie du. Menschen, die unter diesem Ausbeutungssystem leiden. Wir haben uns in einer Gruppe organisiert, die sowohl handeln als auch diskutieren möchte. Unsere Gruppe nennt sich „Asamblearias-TIA“ (Empörte und selbstorganisierte Beschäftigte).
Was steckt hinter den Werkstätten?
Mit den Werkstätten, die wir organisieren werden, wollen wir einen Ort des Nachdenkens und des Zusammenkommens schaffen, in denen wir unsere Erfahrung, unser Wissen austauschen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, wo wir aufgrund der tagtäglichen Angriffe des Kapitals in die Enge getrieben werden, halten wir die Schaffung von Orten des Nachdenkens für nötig, die dazu dienen, besser voranzukommen bei der Umsetzung unserer Ziele.
Welche Ziele verfolgen wir?
Es war immer unser Anliegen, die Analyse zu vertiefen und unsere Wirklichkeit mit der geschichtlichen Erfahrung der Bewegung der Ausgebeuteten zu verbinden. Wir glauben an die Notwendigkeit theoretischer, historischer Anstrengungen als eine Waffe, um die Welt zu ändern; eine Waffe, die uns aus den Händen gerissen und in die Hände unseres „Feindes“ gelegt wurde. Diese Werkstätten sollen einen Beitrag in diesem Sinne leisten. Ihr Inhalt und ihre Form drehen sich um die Bewegung der Leute von „Unten“; sie gehen von dieser Bewegung aus und beteiligen sich an ihr. Es geht nicht um irgendwelche Vorlesungen, die irgendein schlauer Professor hält, sondern es geht darum, die Geschichte und eine Theorie zu ergründen, um die Welt zu verändern. Nicht mehr und nicht weniger.
Hinsichtlich des Inhaltes und der Methode wollen wir uns bemühen, die Sachen tiefer zu verstehen; wir wollen zu Aktionen anregen, die sich auf einen Denkprozess stützen, und wir wollen unsere Geschichte und unsere Sprache wiederentdecken. Wir sind ambitiös, weil wir wissen, dass wir obwohl zahlenmäßig wenig, nicht alleine dastehen. Wir wissen, dass wir viele sind in den Reihen dieser „gewaltigen Mehrheit, die eine gewaltige Mehrheit repräsentiert.“
Wie werden wir vorgehen?
Wir wollen uns um Jahre 2013 monatlich zu den Werkstätten treffen, mit Ausnahme der Monate Juli und August. Die vorgeschlagene Methode setzt die Beteiligung der Teilnehmer voraus, womit wir sicherstellen wollen, dass alle Standpunkte mit eingebracht werden können. Wir werden an die Teilnehmer zum entsprechenden Thema Vorbereitungstexte schicken; wir wollen jeweils Einleitungen zum Thema machen, die auf die Vorbereitungstexte eingehen. Dann wollen wir in die Debatte einsteigen.
In der Debatte werden wir auf Begriffe und Wörter stoßen, von denen wir ein Glossar erstellen wollen. Das Glossar wird all diese Begriffe definieren, die uns für die Debatte wichtig erscheinen; dabei wollen wir auf alle möglichen Bedeutungen eingehen.
Worüber wollen wir reden und wann?
- 11.Januar: „Vorstellung der Werkstätten“
- 25. Januar: „Was ist eine Krise und wie dagegen kämpfen?
- 15. Februar: „Der Klassenkampf“
- 15. März: „Selbstorganisierung und Arbeiterautonomie“
- 12. April: „Internationalismus“
- 17. Mai: „Soziale Revolution“
- 14. Juni: „Was meinen wir mit Nationalismus?“
- 20. September: „Demokratie und Befreiung“
- 18. Oktober: „Selbstverwaltung“
-15. November „Syndikalismus“
-13. Dezember: „Parlamentarismus“
Wie kannst du dich beteiligen und wo finden die Werkstätten statt?
Um teilzunehmen, melde dich an unter: [email protected] [2]
Schicke uns deinen Namen, die Werkstätten, an denen du dich beteiligen willst (eine, mehrere, alle) und eine Kontakt-Mailadresse. Wir werden mit allen TeilnehmerInnen eine Einführungsveranstaltung machen, um uns zu organisieren und kennenzulernen. Sie findet am 11. Januar in den Räumen des ASIA statt.
Muss man etwas zahlen?
Um den Raum (und die dort stattfindenden Aktivitäten) zu finanzieren, müssen wir fünf Euro Teilnehmerkosten erheben. Um es deutlich zu sagen, alle eingesammelten Gelder werden für die Selbstverwaltung des ASIA verwendet (Selbstverwaltete ganzheitliche medizinische Hilfe). Wir warten auf Euch. Für weitere Kontaktaufnahmen: [email protected] [2]
Eine Übersicht über die Werkstätten
11. Januar: „Vorstellung der Werkstätten“
Wir verschaffen uns einen Überblick und teilen uns die Themen auf, besprechen Methode und Inhalt, gehen auf Vorschläge und mögliche Änderungsvorschläge ein. Wir wollen auch über die Themenauswahl und die Namensbezeichnung reden.
25. Januar: „Was ist eine Krise und wie kämpft man dagegen?“
Was ist eine Krise? Ist sie Wesensbestandteil des Kapitalismus? Welche Theorien über die Krise gibt es? „Krise“ ist der am häufigsten verwendete Begriff, die Krise rechtfertigt alles. Der Kapitalismus scheint in der Krise zu stecken. Handelt es sich um eine Niedergangskrise? Wenn dies der Fall ist, erfordert dies, auf eine revolutionäre Umwälzung als einziger Ausweg für die Menschheit hinzuarbeiten?
15. Februar: „Der Klassenkampf“
Was ist Klassenkampf? Gibt es ihn heute noch? Ist der Kampf „zentral“, der Dreh- und Angelpunkt? Was versteht man unter Arbeiterklasse? Warum sprechen wir von Klasse? Sind nur Beschäftigte im „Blaumann“ ArbeiterInnen? Gegenüber dem angeblich „modernen“ Staatsbürger als gesellschaftliche Kraft wollen wir auf das historische Subjekt par excellence zurückkommen: die Arbeiterklasse, das Proletariat, die Ausgebeuteten.
15. März: „Selbstorganisierung und Arbeiterautonomie“
Was ist Selbstorganisierung? Warum ist sie so notwendig? Wie können wir sie erreichen? An wen müssen wir uns wenden? Wir bestehen auf der Selbstorganisierung der Versammlungen, auf der Autonomie der Arbeiterklasse. Die Geschichte zeigt uns, dass Selbstorganisierung und Autonomie wesentliche Bestandteile für die Entwicklung der Arbeiterbewegung waren. „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“ (Marx und Engels, MEW 19, S. 165, 1879).
12. April: „Internationalismus“
Was ist Internationalismus? Kann es einen Internationalismus geben, der kein proletarischer ist? Warum ist er für die Arbeiterbewegung so grundlegend? Wie hat er sich in der Geschichte entwickelt? Der Internationalismus ist für die Entwicklung einer wirklichen Bewegung der Ausgebeuteten von grundsätzlicher Bedeutung. Die Befreiung der ArbeiterInnen kann nur weltweit erfolgen.
17. Mai: „Soziale Revolution“
Was ist eine Revolution? Was ist eine Revolution der Arbeiterklasse? Ist die Revolution möglich? Ist sie unvermeidbar? Welche Gesellschaft wollen wir errichten? Wir alle meinen, dass dieses System unhaltbar ist, und viele denken darüber nach, was wir ändern müssen, um in einer Gesellschaft zu leben, die die Bedürfnisse der Menschheit befriedigt.
14. Juni: „Was meinen wir mit Nationalismus?“
Was ist der Nationalismus? Wessen Klasseninteresse spiegelt die nationalistische Ideologie wider? Gibt es eine Verbindung zwischen Nationalismus und Internationalismus? Die nationalistischen Konflikte nehmen immer mehr an Schärfe zu (vor allem in Zeiten der „Krise“). Wir müssen einen Klassenstandpunkt gegenüber dieser Frage einnehmen, die die imperialistischen Konflikte immer mehr aufstachelt.
20. September: „Demokratie und Befreiung“
Was ist Demokratie? War oder ist der Demokratismus eine Befreiungsbewegung der Menschheit? Warum verwendet man diesen Begriff Demokratie so häufig? Wirkliche Demokratie, partizipative Demokratie, direkte Demokratie... In Anbetracht der vielen Verwendungen und Missbräuche des Begriffs der „Demokratie“ müssen wir klären: Was ist die Demokratie und wem dient sie? Was meinen wir in Wirklichkeit, wenn wir von Demokratie reden und warum benutzen wir diesen Begriff nicht?
18. Oktober: „Selbstverwaltung“
Was ist Selbstverwaltung? Warum gibt es solch unterschiedliche Definitionen? Ist Selbstverwaltung das gleiche wie Selbstorganisierung? Ist die Selbstverwaltung eine revolutionäre Waffe für die Arbeiter?
15. November: „Syndikalismus“
Was ist der Syndikalismus? Wie entwickelte er sich in der Arbeiterklasse? Ist er für die Arbeiterklasse weiterhin eine Waffe? Wenn nicht, warum ist das so? Worin unterscheiden sich Selbstorganisierung/Arbeiterautonomie und Syndikalismus? Intuitiv wird dieser Aktivitä von Arbeitern häufig kritisiert, aber die Gewerkschaften haben immer noch einen großen Einfluss in der Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften sind nicht mehr nützlich, sie führen uns in die Niederlage. Warum ist das so?
13. Dezember: Parlamentarismus“
Wie entstand der Parlamentarismus? Ist er heute zu etwas nützlich? Welche Entscheidungen werden im Parlament getroffen? Kann der Parlamentarismus reformiert werden? Ebenso wie der Syndikalismus werden heute die Politiker und Wahlen ernsthaft von der Bevölkerung infrage gestellt. Diese zunehmende Infragestellung hat eine tiefere Bedeutung, die wir ergründen müssen.
Warum heute über den primitiven Kommunismus schreiben? Der abrupte Sturz in eine katastrophale Wirtschaftskrise und die Ausbreitung von Kämpfen auf der Welt stellen neue Probleme für die Arbeiterklasse auf; dunkle Wolken ballen sich über die Zukunft des Kapitalismus zusammen, alldieweil die Hoffnung auf eine bessere Welt sich offensichtlich nicht durchsetzen kann. Ist es wirklich an der Zeit, die Gesellschaftsgeschichte unserer Spezies in der Periode ihrer Entstehung etwa 200.000 Jahre vor Beginn der Neolithischen Revolution (vor etwa 10.000 Jahren) zu untersuchen? (1) Was uns selbst betrifft, so sind wir davon überzeugt, dass die Frage für die heutigen Kommunisten mindestens genauso wichtig ist wie für Marx und Engels im 19. Jahrhundert, sowohl aus wissenschaftlichem Interesse als auch als ein Element in unserem Verständnis der Menschheit und ihrer Geschichte und für unser Verständnis der Perspektiven und Möglichkeiten einer künftigen kommunistischen Gesellschaft, die in der Lage ist, den todgeweihten Kapitalismus zu ersetzen.
Aus diesem Grund können wir die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel Le Communisme primitif n’est plus ce qu’il était („Der primitive Kommunismus ist nicht das, was er war“) von Christophe Darmangeat im Jahr 2009 nur begrüßen; und in der Tat ist es noch ermutigender, dass das Buch bereits seine zweite Auflage erlebt, was deutlich ein öffentliches Interesse an diesem Thema signalisiert. (2) Dieser Artikel wird in einer kritischen Rückschau versuchen, zu den Problemen zurückzukehren, die sich angesichts der ersten menschlichen Gesellschaften stellten; wir werden dabei von der Gelegenheit profitieren, die Ideen zu erkunden, die vor rund zwanzig Jahren von Chris Knight (3) in seinem Buch Blood Relations vorgestellt worden waren. (4)
Ehe wir ans Eingemachte gehen, sollte eins klar sein: Die Frage des primitiven Kommunismus und der „menschlichen Art“ sind wissenschaftliche Fragen, nicht politische. In diesem Sinn ist es für eine politische Organisation indiskutabel, sich zum Beispiel eine „Position“ über die menschliche Natur anzumaßen. Wir sind davon überzeugt, dass eine kommunistische Organisation solche Debatten und den Durst ihrer Mitglieder nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und, allgemeiner, in der Arbeiterklasse anregen sollte, doch das Ziel hier ist es, die Entwicklung einer materialistischen und wissenschaftlichen Sichtweise der Welt auf der Grundlage der modernen wissenschaftlichen Theorie zu ermutigen, zumindest soweit dies möglich ist für Nicht-Wissenschaftler, die die meisten von uns sind. Die vorgestellten Ideen können daher nicht als „Positionen“ der IKS betrachtet werden: Sie liegen allein in der Verantwortung des Autors resp. der Autorin. (5)
Warum ist die Frage nach unseren Ursprüngen so wichtig?
Warum ist schließlich die Frage nach dem Ursprung unserer Spezies und nach den ersten menschlichen Gesellschaften eine wichtige für Kommunisten? Die Begrifflichkeit des Problems hat sich seit dem 19. Jahrhundert geändert, als Marx und Engels mit Begeisterung das Werk des amerikanischen Anthropologen Lewis Morgan entdeckt hatten. 1884, als Engels Die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates veröffentlichte, war die Wissenschaft gerade erst den Fängen einer Epoche entkommen, in der die Schätzungen des Alters des Planeten oder der menschlichen Gesellschaft auf den biblischen Berechnungen des Bischofs Ussher beruhten. (6) Wie Engels in seinem Vorwort von 1891 schrieb: „Bis zum Anfang der sechziger Jahre kann von einer Geschichte der Familie nicht die Rede sein. Die historische Wissenschaft stand auf diesem Gebiet noch ganz unter dem Einflusse der fünf Bücher Mosis. Die darin ausführlicher als anderswo geschilderte patriarchalische Familienform wurde nicht nur ohne weiteres als die älteste angenommen, sondern auch – nach Abzug der Vielweiberei – mit der heutigen bürgerlichen Familie identifiziert, so daß eigentlich die Familie überhaupt keine geschichtliche Entwicklung durchgemacht hatte…“ (7) Dasselbe traf auf den Eigentumsbegriff zu; die Bourgeoisie konnte gegenüber dem kommunistischen Programm der Arbeiterklasse immer noch einwenden, dass das „Privateigentum“ der menschlichen Gesellschaft immanent ist. Die Idee einer Existenz von gesellschaftlichen Bedingungen für den primitiven Kommunismus waren 1847 derart unbekannt, dass das Kommunistische Manifest mit den Worten begann: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ (eine Erklärung, die Engels mit einer Bemerkung 1884 zu korrigieren meinte).
Morgans Buch Ancient Society war eine großartige Hilfe bei der Demontage der ahistorischen Sichtweise einer menschlichen Gesellschaft, die auf Privateigentum beruht, auch wenn sein Beitrag von der offiziellen Anthropologie oft versteckt oder mit Schweigen übergangen wurde, besonders in Großbritannien. Wie Engels ebenfalls in seinem Vorwort anmerkte: „… machte Morgan das Maß übervoll, indem er nicht nur die Zivilisation, die Gesellschaft der Warenproduktion, die Grundform unserer heutigen Gesellschaft, in einer Weise kritisierte, die an Fourier erinnert, sondern von einer künftigen Umgestaltung dieser Gesellschaft in Worten spricht, die Karl Marx gesagt haben könnte“.
Heute, im Jahr 2012, ist die Situation eine ganz andere. Eine Reihe von Entdeckungen haben den Ursprung des Menschen immer weiter in die Vergangenheit gerückt, so dass wir heute nicht nur wissen, dass das Privateigentum keinesfalls von Anbeginn zum gesellschaftlichen Fundament des Menschen gehörte, sondern im Gegenteil auch, dass es eine verhältnismäßig junge Erfindung ist, da die Landwirtschaft und somit das Privateigentum sowie die Spaltung der Gesellschaft in Klassen erst etwa 10.000 Jahre alt sind. Sicherlich hat die Bildung von Reichtum und Klassen, wie Alain Testart in seinem Werk Les chasseurs-cueilleurs des inégalités gezeigt hatte, nicht über Nacht stattgefunden; es muss eine lange Zeit bis zur Entstehung einer vollentwickelten Landwirtschaft verstrichen sein, in der die Entwicklung von Lagerungstechniken zur Entstehung einer ungleichen Verteilung des angehäuften Reichtums ermuntert hatte. Nichtsdestotrotz ist heute klar, dass der bei weitem längste Abschnitt der menschlichen Geschichte nicht vom Klassenkampf beherrscht war, sondern einer Gesellschaft ohne Klassen vorbehalten war: einer Gesellschaft, die wir zu recht primitiven Kommunismus nennen können.
Heute wird gegenüber der Idee des Kommunismus nicht mehr eingewendet, dass er das ewige Prinzip des Privateigentums vergewaltige, sondern dass er angeblich der „menschlichen Natur“ zuwiderlaufe. „Man kann die menschliche Natur nicht ändern“, wird uns erzählt, und damit ist die angeblich gewalttätige, wetteifernde und egozentrische Natur des Menschen gemeint. Die kapitalistische Ordnung ist also nicht mehr ewig, sondern lediglich das logische und unvermeidliche Resultat einer unveränderlichen Natur. Dieses Argument ist beileibe nicht auf rechte Ideologien beschränkt. Humanistische Wissenschaftler, die, wie sie glauben, derselben Logik einer genetisch vorbestimmten menschlichen Natur folgen, kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Die New York Review of Books (ein tendenziell linkes Intellektuellenblatt) gibt uns in ihrer Ausgabe vom Oktober 2011 ein Beispiel für dieses Räsonieren: „Menschen wetteifern um Ressourcen, Lebensräume, Partner, gesellschaftlichen Status und um fast alles andere. Jeder lebende Mensch ist der Gipfel eines Geschlechts erfolgreicher Wettbewerber, das bis zu den Ursprüngen des Lebens zurückreicht. Wir sind nichts anderes als fein abgestimmte Konkurrenten. Der Zwang zu konkurrieren hat fast in allem, was wir tun, Einzug gehalten, ob wir dies anerkennen oder nicht. Und die besten Wettbewerber unter uns sind oftmals jene, die am meisten belohnt werden. Man muss nicht weiter schauen als bis zur Wall Street, um ein besonders krasses Beispiel dafür zu nennen (…) Das menschliche Dilemma der Überbevölkerung und der Überausbeutung der Ressourcen wird im Wesentlichen durch die ursprünglichen Impulse angetrieben, die einst unsere Urahnen dazu getrieben haben, einen überdurchschnittlichen Reproduktionserfolg zu erzielen.“ (8)
Dieses Argument scheint auf dem ersten Blick unwiderlegbar zu sein: Man muss in der Tat nicht weit schauen, um endlose Beispiele der Habgier, der Gewalt, der Grausamkeit und des Egoismus in der heutigen Gesellschaft und in der Geschichte zu finden. Aber folgt daraus, dass diese Defekte genetisch vorbestimmt sind – wie wir heute sagen würden? Nichts könnte zweifelhafter sein. Um eine Analogie zu bemühen: Ein Baum, der an einer windumtosten Stelle steht, wächst verbogen und verkrüppelt. Dennoch steht dies nicht in seinen Genen geschrieben; unter besseren Bedingungen würde der Baum gerade und hoch wachsen.
Können wir dasselbe über die menschlichen Wesen sagen?
Es ist eine in unseren Artikeln häufig anzutreffende Binsenweisheit, dass der Widerstand des Weltproletariats gegen die Krise des Kapitalismus nicht der Gewaltsamkeit der Angriffe entspricht, denen es ausgesetzt ist. Die kommunistische Revolution war vielleicht niemals notwendiger und trotzdem gleichzeitig so schwierig wie heute. Einer der Gründe hierfür ist sicherlich – aus unserer Sicht -, dass die ArbeiterInnen nicht nur in ihrer eigenen Kraft, sondern auch in der Möglichkeit des Kommunismus ein mangelndes Vertrauen haben. „Es ist eine schöne Idee“, sagen die Menschen uns, „aber weißt du, die menschliche Natur…“
Um sein Selbstvertrauen wiederzuerlangen, muss sich das Proletariat nicht nur den unmittelbaren Problemen des Kampfes stellen; es muss sich auch den größeren historischen Problemen widmen, die sich durch seine potenziell revolutionäre Konfrontation mit der herrschenden Klassen stellen. Unter diesen Problemen gibt es genau jenes der „menschlichen Natur“, und dieses Problem kann nur im wissenschaftlichen Geist erforscht werden. Wir haben kein Interesse an der „Beweisführung“, dass der Mensch „gut“ ist. Wir hoffen zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was der Mensch ist, um diese Erkenntnis in das politische Projekt des Kommunismus zu integrieren. Das kommunistische Ziel hängt nicht vom „Guten“ im Menschen ab: Die Notwendigkeit des Kommunismus als einzige Lösung der gesellschaftlichen Blockade ist in den Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft angelegt, die uns zweifellos in eine katastrophale Zukunft führen wird, wenn der Kapitalismus nicht einer kommunistischen Revolution Platz macht.
Wissenschaftliche Methode
Bevor wir fortfahren, möchten wir uns kurz der Frage der wissenschaftlichen Methode widmen, besonders ihrer Anwendung auf die Untersuchung der menschlichen Geschichte und des menschlichen Verhaltens. Eine Passage zu Beginn des Buches von Knight scheint uns die Frage, welchen Platz die Anthropologie in den Wissenschaften einnimmt, sehr gut zu schildern: „Mehr als jedes Gebiet der Erkenntnis überbrückt die Anthropologie, als Ganzes genommen, die Kluft, die traditionellerweise die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften trennt. Daher nimmt sie potenziell, wenn auch nicht immer in der Praxis, eine zentrale Stellung unter den Wissenschaften insgesamt ein. Der ausschlaggebende Faden, der die Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften verknüpfen könnte, müsste mehr als durch jedes andere Gebiet durch die Anthropologie verlaufen. Hier kommen die Enden zusammen – hier, wo das Studium der Natur endet und das der Kultur beginnt. An welchem Punkt auf der Skala der Evolution hörten biologische Prinzipien auf, die Vorherrschaft auszuüben, und begannen andere, komplexere Prinzipien ihren Platz einzunehmen? Wo genau verläuft die Trennungslinie zwischen dem tierischen und dem menschlichen Gesellschaftsleben? Ist die Unterscheidung eine grundsätzliche oder eher eine graduelle? Und ist es in Anbetracht dieser Frage wirklich möglich, menschliche Phänomene wissenschaftlich zu untersuchen – mit derselben unvoreingenommenen Objektivität, wie ein Astronom auf Galaxien verweisen kann oder ein Physiker auf subatomare Partikel?
Wenn die Frage des Verhältnisses zwischen den Wissenschaften für viele verworren erscheint, liegt dies nur zum Teil an den wirklichen Schwierigkeiten, die darin enthalten sind. Wissenschaft mag mit dem einen Ende in der objektiven Realität verwurzelt sein, doch mit dem anderen Ende ist sie in der Gesellschaft und in uns selbst verwurzelt. Letztendlich aus gesellschaftlichen und ideologischen Gründen ist die moderne Wissenschaft, fragmentiert und verzerrt unter dem immensen, größtenteils noch uneingestandenen politischen Druck, zufällig auf ihr größtes Problem und auf ihre größte Herausforderung gestoßen – die Geistes- und Naturwissenschaften auf der Basis des Verständnisses der Evolution und des Platzes der Menschheit im Rest des Universums in einer einzigen vereinten Wissenschaft zusammenzuschließen.“ (9)
Die Frage der „Trennungslinie“ zwischen der tierischen Welt, deren Verhalten vor allem von der genetischen Erblast vorbestimmt wird, und der menschlichen Welt, wo das Verhalten neben den Genen in einem weitaus größeren Umfang von unserer kulturellen Entwicklung abhängt, scheint uns in der Tat kreuzwichtig zu sein, um die „menschliche Natur“ zu verstehen. Andere Primaten sind durchaus in der Lage, zu lernen und bis zu einem gewissen Punkt zu erfinden und neue Verhaltensweisen zu übermitteln, doch dies bedeutet nicht, dass sie eine „Kultur“ im menschlichen Sinn besitzen. Diese erlernten Verhaltensweisen bleiben „marginal bei der Aufrechterhaltung der sozio-strukturellen Kontinuität“. (10) Was es der Kultur ermöglicht, in einer „kreativen Explosion“ (11) die Oberhand zu gewinnen, ist die Entwicklung der Kommunikation unter den menschlichen Gruppen, die Entwicklung einer symbolischen Kultur, die auf Sprache und Rituale basiert. Knight zieht in der Tat einen Vergleich zwischen der symbolischen Kultur und der Sprache, die den menschlichen Wesen gestattet, miteinander zu kommunizieren und somit Ideen und daher überall Kultur und Wissenschaften zu übermitteln, die ebenfalls auf einen gemeinsamen Symbolismus gründen, welcher sich auf eine planetare Übereinstimmung zwischen allen Wissenschaftlern und zumindest potenziell zwischen allen menschlichen Wesen stützt. Die wissenschaftliche Praxis ist untrennbar verbunden mit der Debatte und der Fähigkeit eines Jeden, die Schlussfolgerungen zu verifizieren, zu der die Wissenschaft gelangt ist: Sie ist daher der Erzfeind jeder Form der Esoterik, die vom Geheimwissen lebt, das dem Nicht-Eingeweihten verschlossen bleibt.
Weil sie eine universelle Form des Wissens ist und weil sie seit der industriellen Revolution eine eigenständige Produktivkraft gewesen war, die von der assoziierten Arbeit sowohl zeitlich als auch räumlich abhängig ist (12), ist die Wissenschaft von Haus aus internationalistisch, und in diesem Sinn sind Proletariat und Wissenschaft natürliche Verbündete. (13) Dies bedeutet überhaupt nicht, dass es so etwas wie eine „proletarische Wissenschaft“ geben kann. In seinem Artikel über „Marxismus und Wissenschaft“ zitiert Knight diese Worte von Engels: „… je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter.“ (14). Knight fährt fort: „Die Wissenschaft als einzige universelle, internationale und die Spezies vereinigende Form des Wissens hat Vorrang. Wenn sie in den Interessen der Arbeiterklasse verwurzelt werden musste, dann nur in dem Sinne, dass alle Wissenschaft in den Interessen der menschlichen Spezies insgesamt verwurzelt sein muss, wobei die internationale Arbeiterklasse diese Interessen in der modernen Epoche verkörpert, so wie die Erfordernisse der Produktion in früheren Perioden immer diese Interessen verkörpert haben.“
Es gibt zwei weitere Aspekte im wissenschaftlichen Denken, die in Carlo Rovellis Buch über den griechischen Philosophen Anaximander von Miletos (15) beleuchtet werden, die wir hier aufgreifen wollen, weil sie uns fundamental erscheinen: Respekt für die Vorgänger und Zweifel.
Rovelli zeigt, dass Anaximanders Haltung gegenüber seinem Meister Thales mit dem Verhalten brach, dass seine Epoche charakterisierte: entweder totale Ablehnung, um sich selbst als neuer Meister zu etablieren, oder sklavische Ergebenheit gegenüber den Worten des „Meisters“, dessen Gedanken in einem Zustand der Mumifizierung gehalten werden. Die wissenschaftliche Haltung besteht im Gegenteil darin, uns auf das Werk der „Meister“ zu stützen, die von uns gegangen sind, und gleichzeitig ihre Fehler zu kritisieren und zu versuchen, das Wissen zu erweitern. Dies ist die Haltung, die wir in Knights Buch bezüglich Lévi-Strauss und bei Darmangeat hinsichtlich Morgan finden.
Der Zweifel ist fundamental für die Wissenschaft, die das ganze Gegenteil der Religion ist, welche stets Gewissheit und Trost in der Unveränderlichkeit einer ewigen Wahrheit anstrebt. Wie Rovelli sagt: „Die Wissenschaft bietet die besten Antworten an, eben weil sie ihre Antworten nicht als absolute Wahrheiten betrachtet; daher ist sie immer in der Lage, zu lernen und neue Ideen aufzunehmen.“ (16) Dies trifft besonders auf die Anthropologie und Paläo-Anthropologie zu, deren Daten oftmals diffus und ungewiss sind und deren beste Theorien über Nacht durch neue Entdeckungen umgekippt werden können.
Ist es überhaupt möglich, eine wissenschaftliche Sicht auf die Geschichte zu haben? Karl Popper (17), der eine Referenz für die meisten Wissenschaftler verkörpert, sagte nein. Er betrachtete Geschichte als ein „einmaliges Ereignis“, das daher nicht reproduzierbar sei. Da die Verifizierung einer wissenschaftlichen Hypothese von einem reproduzierbaren Experiment abhängt, könne die Geschichte nicht als wissenschaftlich erachtet werden. Aus den gleichen Gründen lehnte Popper die Evolutionstheorie als nicht-wissenschaftlich ab. Und doch ist es heute offensichtlich, dass die wissenschaftliche Methode sich als imstande erwiesen hat, die wesentlichen Mechanismen des evolutionären Prozesses soweit offenzulegen, dass die Menschheit nun die Evolution durch die Gentechnologie manipulieren kann. Ohne so weit zu gehen wie Popper, ist es dennoch klar, dass die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Untersuchung der Geschichte bis zu dem Punkt, dass wir Vorhersagen über ihre weitere Entwicklung machen können, eine äußerst heikle Übung ist. Auf der einen Seite verkörpert die menschliche Geschichte – wie die Meteorologie zum Beispiel – eine unkalkulierbare Anzahl von unabhängigen Variablen, auf der anderen Seite – und vor allem weil, wie Marx sagte, die Menschen ihre eigene Geschichte machten – ist die Geschichte daher durch Gesetze determiniert, aber auch durch die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) der menschlichen Wesen, ihre Handlungen auf bewusstes Denken und auf die Kenntnis dieser Gesetze zu gründen. Die historische Evolution ist stets Beschränkungen unterworfen: In einem bestimmten Moment sind gewisse Entwicklungen möglich, andere nicht. Doch die Art, in der sich eine bestimmte Situation entwickelt, wird ebenfalls von der Fähigkeit des Menschen bestimmt, sich dieser Einschränkungen gewahr zu werden und auf der Grundlage dieses Bewusstseins zu handeln.
Es ist daher besonders wagemutig von Knight, wenn er die volle Strenge der wissenschaftlichen Methode akzeptiert und seine Theorie experimentellen Tests unterwirft. Natürlich ist es unmöglich, die Geschichte experimentell zu „reproduzieren“. Knight macht daher Vorhersagen auf der Basis seiner Hypothese (1991, dem Jahr, als Blood Relations publiziert wurde) bezüglich künftiger archäologischer Entdeckungen: insbesondere dass die frühesten Spuren der symbolischen Kultur des Menschen einen extensiven Gebrauch von rotem Ocker enthüllen würden. 2006, fünfzehn Jahre später, scheinen sich diese Vorhersagen durch die Entdeckungen der ersten bekannten Spuren menschlicher Kultur in der Blombos-Höhle (Südafrika) bestätigt zu haben. (18) Diese beinhalteten in Stein eingravierten roten Ocker, durchbohrte Meeresmuscheln, anscheinend als Körperschmuck benutzt, und sogar den ersten Farbtopf der Welt, was alles in das Evolutionsmodell passt, das Knight vorschlägt (zu dem wir später zurückkehren werden). Es liegt auf der Hand, dass dies kein „Beweis“ seiner Theorie ist, doch erscheint es uns unbestreitbar, dass es seine Hypothese stärkt.
Die wissenschaftliche Methode unterscheidet sich deutlich von dem Ansatz, der von Darmangeat verfolgt wurde, welcher sich, wie uns scheint, auf die induktive Methode einengt, eine Methode, die Tatsachen zusammenbringt, um anschließend aus ihnen einige gemeinsame Faktoren zu extrahieren. Diese Methode ist nicht ohne Wert im wissenschaftlichen Geschichtsstudium: Im Grunde genommen muss jegliche Theorie mit der Realität übereinstimmen. Doch Darmangeat scheint sehr zurückhaltend gegenüber dem Versuch zu sein, weiter zu gehen, und dies scheint uns eher ein empirischer denn ein wissenschaftlicher Ansatz zu sein: Wissenschaft schreitet nicht durch die Induktion aus beobachteten Tatsachen voran, sondern durch die Hypothese, die sich sicherlich in Übereinstimmung mit der Beobachtung befinden muss, aber auch einen Ansatz (experimentell, wenn möglich) anregen sollte, der es ermöglichen würde, weiter zu gehen in Richtung neuer Entdeckungen und neuer Beobachtungen. Die String-Theorie in der Quantenmechanik ist ein eindrucksvolles Beispiel für diese Methode: Obwohl sie soweit wie möglich mit beobachteten Fakten übereinstimmt, kann sie heute experimentell nicht verifiziert werden, da die Partikel (oder „Strings“), deren Existenz sie postuliert, zu klein sind, um mit den existenten Technologien gemessen werden zu können. Die String-Theorie bleibt somit eine spekulative Hypothese – doch ohne diese Art von gewagter Spekulation wäre die Wissenschaft nicht in der Lage, voran zu schreiten.
Ein anderes Problem mit der induktiven Methode besteht darin, dass sie notgedrungen eine Auswahl ihrer Beobachtungen aus der Unermesslichkeit der bekannten Realität treffen muss. So verfährt Darmangeat, wenn er sich allein auf ethnographische Beobachtungen stützt und jegliche Berücksichtigung der Rolle von Evolution und Genetik außer Acht lässt – was uns für ein Werk, das bezweckt, „den Ursprung der Unterdrückung der Frauen“ (so der Untertitel von Darmangeats Buch) offenzulegen, als ein Unding erscheint.
Morgan, Engels und die wissenschaftliche Methode
Wenden wir uns nun, nach diesen sehr bescheidenen Anmerkungen über die Frage der Methodik, wieder Darmangeats Buch zu, das der Ausgangspunkt dieses Artikels ist.
Das Buch ist in zwei Hälften geteilt: Der erste Teil untersucht das Werk des amerikanischen Anthropologen Lewis Morgan, auf dem Engels sein Buch Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates basierte, während der zweite Teil Engels‘ Frage bezüglich der Ursprünge der Unterdrückung der Frau aufgreift. In diesem zweiten Teil konzentriert sich Darmangeat darauf, den Gedanken zu attackieren, dass einst ein primitiver, auf dem Matriarchat basierender Kommunismus existierte.
Der erste Teil erscheint uns besonders interessant (19), und wir können Darmangeat rückhaltlos zustimmen, wenn er jene angeblich „marxistische“ Position attackiert, die das Werk von Morgan (und erst recht von Engels) in den Rang eines unantastbaren religiösen Textes hebt. Nichts könnte dem wissenschaftlichen Geist des Marxismus fernerliegen. Auch wenn wir von Marxisten erwarten sollten, das Erscheinen und die Entwicklung der materialistischen Gesellschaftstheorie von einem historischen Standpunkt aus zu betrachten und somit auch früheren Theorien Rechnung zu tragen, ist es völlig klar, dass wir Texte aus dem 19. Jahrhundert nicht als letztes Wort nehmen und die immense Anhäufung von ethnographischen Erkenntnissen seither ignorieren können. Sicherlich ist es notwendig, eine kritische Sichtweise in diesem Zusammenhang aufrechtzuhalten: Darmangeat besteht wie Knight auf die Tatsache, dass der Kampf gegen Morgans Theorien in keiner Weise auf der Grundlage einer „reinen“, „neutralen“ Wissenschaft geführt wurde. Wenn Morgans zeitgenössische und spätere Gegner seine Fehler aufzeigten oder wenn sie die Aufmerksamkeit auf Entdeckungen lenkten, die nicht in seine Theorie passen, war ihr Ziel im Allgemeinen nicht unvoreingenommen. Indem sie Morgan angriffen, attackierten sie die evolutionäre Sichtweise der menschlichen Gesellschaft und versuchten, die patriarchalische Familie und das Privateigentum der bürgerlichen Gesellschaft als „ewige“ Kategorien aller menschlichen Gesellschaften in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wiederherzustellen. Dies war ganz eindeutig der Fall bei Malinowski, einem der größten Ethnographen des frühen 20. Jahrhunderts, der 1931 in einem Rundfunkinterview äußerte: „Ich glaube, dass das zerstörerischste Element in den modernen revolutionären Tendenzen die Idee ist, dass die Elternschaft kollektiv ausgeübt werden kann. Falls wir je an dem Punkt gelangten, die Einzelfamilie als das Schlüsselelement unserer Gesellschaft abzuschaffen, werden wir uns einer gesellschaftlichen Katastrophe gegenübersehen, gegen die der politische Umbruch der Französischen Revolution und die ökonomischen Veränderungen des Bolschewismus unbedeutend sind. Daher ist die Frage, ob die Gruppenmutterschaft eine Institution ist, die niemals existiert hat, oder ob sie ein Arrangement ist, das mit der menschlichen Natur und der sozialen Ordnung kompatibel ist, von einem beträchtlichen praktischen Interesse.“ (18) Hier sind wir weit entfernt von wissenschaftlicher Objektivität…
Kommen wir nun zu Darmangeats Kritik an Morgan. Diese ist in unseren Augen von größtem Interesse, und sei es nur, weil sie mit einer ziemlich detaillierten Zusammenfassung von Morgans Theorie beginnt und diese somit auch für die Nichteingeweihten unter den Lesern zugänglich macht. Besonders begrüßen wir dabei die Tabelle, die die verschiedenen Stufen der Gesellschaftsentwicklung auflistet, die von Morgan und der Anthropologie seiner Zeit benutzt wurden („Wildheit“, „Barbarei“, etc.) und die heute benutzt werden (Altsteinzeit, Jungsteinzeit, etc.), was es erleichtert, sich in die historische Zeit zu versetzen, und die erläuternden Diagramme verschiedener Verwandtschaftssysteme. Der ganze Abschnitt ist voll von klaren, didaktischen Erläuterungen.
Das Fundament der Theorie Morgans besteht darin, die Familienform, das Verwandtschaftssystem und die technische Entwicklung in einer Reihe von evolutionären Schritten zusammenzubringen, die aus dem „Zustand der Wildheit“ (der ersten Stufe der menschlichen Gesellschaftsentwicklung, die der Altsteinzeit entsprach) in die „Barbarei“ (die Jungsteinzeit, Eisen- und Bronzezeit) und schließlich in die Zivilisation führten. Diese Evolution wird demzufolge von der technischen Entwicklung bestimmt, und der scheinbare Widerspruch zwischen den Familien- und Verwandtschaftssystemen, den Morgan in vielen Völkern (insbesondere den Irokesen) beobachtet hat, stellt für ihn die dazwischen liegenden Stufen zwischen einer primitiven und einer fortgeschrittenen Wirtschaft und Technologie dar. Traurig nur für die Theorie, dass, wenn wir genauer hinschauen, dies nicht der Fall ist. Um nur eins der vielen Beispiele Darmangeats zu geben: laut Morgan soll das „punaluanische“ Verwandtschaftssystem angeblich eine der primitivsten technischen und gesellschaftlichen Stufen darstellen, und doch kann es auf Hawaii in einer Gesellschaft angetroffen werden, die Wohlstand, soziale Ungleichheit und eine aristokratische Gesellschaftsschicht beherbergt und die im Begriff ist, sich in einen voll entfalteten Staat und in eine Klassengesellschaft zu verwandeln. Familien- und Verwandtschaftssysteme werden also von gesellschaftlichen Bedürfnissen bestimmt, jedoch nicht in direkter Linie von den primitivsten zu den modernsten.
Bedeutet dies, dass die marxistische Sichtweise der gesellschaftlichen Evolution in die Mülltonne geworfen werden sollte? Ganz oder gar nicht, sagt Darmangeat. Jedoch müssen wir trennen, was Morgan und nach ihm Marx und Engels zusammenzubringen versuchten: die Evolution der Technologie (und somit der Produktivität) und die Familiensysteme. „Obgleich sich die Produktionsweisen alle qualitativ voneinander unterscheiden, besitzen sie alle eine gemeinsame Quantität, die es ermöglicht, sie in eine aufsteigende Reihe einzuordnen, die darüber hinaus grob ihrer chronologischen Ordnung entspricht (…) (Für die Familie) gibt es keine gemeinsame Quantität, die dazu benutzt werden könnte, eine aufsteigende Reihe von verschiedenen Formen herzustellen“. (20) Es liegt auf der Hand, dass die Ökonomie „in letzter Instanz“ (um Engels Worte zu benutzen) der ausschlaggebende Faktor ist: Wenn es keine Ökonomie (d.h. keine Reproduktion von allem Lebensnotwendigen für das menschliche Leben) gäbe, dann würde es auch kein gesellschaftliches Leben geben. Aber diese „letzte Instanz“ hinterlässt einen großen Raum für andere Einflüsse, seien sie geographischer, historischer, kultureller oder anderer Art. Ideen, Kulturen – in ihrem breitesten Sinn – sind ebenfalls ausschlaggebende Faktoren in der Gesellschaft. Am Ende seines Lebens bedauerte es Engels, dass die dringende Not, den historischen Materialismus auf eine sichere Basis zu stellen, Marx und ihm selbst zu wenig Zeit übrig ließ, andere historisch bestimmende Faktoren zu analysieren. (21)
Die Kritik der Anthropologie
Im zweiten Teil seines Buches stellt Darmangeat seine eigenen Gedanken vor. Wir finden hier zwei grundlegende Themen: auf der einen Seite eine historische Kritik der anthropologischen Theorie über die Stellung der Frauen in primitiven Gesellschaften, auf der anderen Seite haben wir die Erläuterungen seiner eigenen Schlussfolgerung zu diesem Subjekt. Die historische Kritik konzentriert sich auf die Evolution dessen, was für Darmangeat die marxistische – oder zumindest marxistisch beeinflusste – Sichtweise des primitiven Kommunismus vom Standpunkt der Frau in der primitiven Gesellschaft ist, und ist eine heftige Anprangerung der „feministischen“ Versuche, die Idee eines urzeitlichen Matriarchats in den ersten menschlichen Gesellschaften zu vertreten.
Diese Auswahl ist nicht unbegründet, auch wenn sie unserer Auffassung nach nicht immer glücklich ist und den Autor dazu verleitet, einige marxistischen Theoretiker zu ignorieren, die in eine solche Untersuchung hineingehören, und andere mit einzuschließen, die dort überhaupt nichts zu suchen haben. Nehmen wir nur einige Beispiele: Darmangeat kritisiert mehrere Seiten lang Alexandra Kollontai (22), sagt aber nichts über Rosa Luxemburg. Nun, welche Rolle Kollontai auch immer in der Russischen Revolution und im Widerstand gegen ihre Degeneration (sie spielte eine führende Rolle in der „Arbeiteropposition“) gespielt hatte, Kollontai hatte nie einen großen Anteil an der Entwicklung der marxistischen Theorie und noch weniger an der Theorie der Anthropologie.
Auf der anderen Seite war Luxemburg nicht nur eine führende marxistische Theoretikerin, sie war auch die Autorin von Einführung in die Nationalökonomie, die sich auf der Grundlage der zu damaliger Zeit aktuellsten Forschungsergebnissen zu einem bedeutenden Teil der Frage des primitiven Kommunismus widmet. Die einzige Rechtfertigung für dieses Ungleichgewicht ist, dass Kollontai zunächst in der sozialistischen Bewegung, schließlich im frühen Sowjet-Russland eine wichtige Rolle im Kampf für die Frauenrechte spielte, während Luxemburg nie großes Interesse am Feminismus zeigte. Zwei weitere marxistische Autoren, die über das Thema des primitiven Kommunismus schrieben, sind nicht einmal erwähnt worden: Karl Kautsky (Ethik und die materialistische Geschichtsauffassung) und Anton Pannekoek (Anthropogenesis).
Unter den unglücklichen Berücksichtigungen finden wir zum Beispiel Evelyn Reed: Dieses Mitglied der amerikanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (einer trotzkistischen Organisation, die die Teilnahme am II. Weltkrieg „kritisch“ unterstützte) wird mit berücksichtigt, weil sie 1975 Feminism and Anthropology schrieb, ein Werk, das damals einen gewissen Erfolg in linken Zirkeln erzielte. Doch wie Darmangeat sagt, wurde das Buch von Anthropologen fast vollständig ignoriert, hauptsächlich wegen der Dürftigkeit seiner Argumente, auf die selbst freundlich gesinnte Kritiker hinwiesen.
Wir finden dieselben blinden Flecken unter den Anthropologen: Claude Lévi-Strauss, eine der wichtigsten Gestalten in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts, dessen Theorie über den Übergang von der Natur zur Kultur auf der Idee des Austausches von Frauen zwischen den Männern gründet, erhält nur eine Statistenrolle, während Bronislaw Malinowski erst gar nicht vorkommt.
Doch der blinde Fleck, der am meisten überrascht, ist Chris Knight. Darmangeats Buch konzentriert sich besonders auf die Lage der Frauen in primitiven kommunistischen Gesellschaften und auf die Kritik der Theorien, die einer bestimmten marxistischen oder marxistisch beeinflussten Tradition angehören. 1991 veröffentlichte der britische Anthropologe Chris Knight, der sein Werk ausdrücklich innerhalb der marxistischen Tradition ansiedelt, ein Buch, Blood Relations (Blutsverwandtschaften), das sich exakt mit dem Thema, das Darmangeat umtreibt, beschäftigt. Man könnte erwarten, dass Darmangeat ihm seine größte Aufmerksamkeit widmen würde, dies umso mehr, weil er selbst die „große Belesenheit“ anerkennt, die in diesem Buch zum Ausdruck kommt. Doch nichts davon kommt in Darmangeats Buch vor, ganz das Gegenteil. Er widmet nicht einmal eine Seite (S. 321) Knights These, wo er uns mitteilt, dass Knight „ständig die schwerwiegenden methodischen Fehler von Reed und Briffault wiederholt (Knight sagt nichts über den Erstgenannten, aber zitiert ausgiebig den Letztgenannten)“, was bei einem französisch sprachigen Leser ohne Zugang zu einem Buch, das nur auf Englisch erhältlich ist, den Eindruck hinterlässt, dass Knight nichts andere täte, als Leuten hinterherzulaufen, die von Darmangeat bereits als nicht ernst zu nehmen bezeichnet wurden. (23) Doch ein flüchtiger Blick auf Knights Bibliographie reicht aus, um zu zeigen, dass er, obwohl er in der Tat Briffault zitiert, Marx, Engels, Lévi-Strauss, Marshall Sahlins und vielen mehr einen viel größeren Platz einräumt. Und wenn man sich die Mühe macht, seine Bezugnahmen auf Briffault zu untersuchen, findet man schnell heraus, dass Knight das Werk des Letzteren (1927 veröffentlicht) ungeachtet seiner Verdienste als „überholt in seinen Quellen und seiner Methodik“ (24) betrachtet.
Kurz, unser Gefühl ist, dass Darmangeat uns „zwischen zwei Stühlen sitzen“ lässt: Wir landen bei einer kritischen Schilderung, die weder eine wahre Kritik der von Marxisten vertretenen Positionen noch eine wirkliche Kritik der anthropologischen Theorie ist, und dies vermittelt uns zuweilen den Eindruck, als schauten wir Don Quixote bei seinem Kampf gegen die Windmühlenflügel zu. Die Wahl dieser Struktur scheint uns obskurer als alles andere, ein Argument, das in anderen Zusammenhängen von einem beträchtlichen Interesse ist.
Jens (Fortsetzung folgt)
1) Eine Gesellschaftsgeschichte, die für einige menschliche Populationen bis zum heutigen Tag fortdauert.
2) Editions Smolny, Toulouse, 2009. Wir sind uns der Veröffentlichung der zweiten Ausgabe von Darmangeats Buch (Smolny, Toulouse, 2012) just zu dem Zeitpunkt gewahr geworden, als dieser Artikel kurz vor seiner Veröffentlichung stand, und wir fragten uns natürlich, ob wir diese Rezension neu schreiben müssen. Nachdem wir uns durch die zweite Ausgabe durchgelesen hatten, hatten wir den Eindruck, dass wir diesen Artikel im Wesentlichen in seinem ursprünglichen Zustand belassen konnten. Der Autor wies selbst in einem neuen Vorwort darauf hin, dass er nicht „die Kernideen des Textes verändert (habe), auch nicht die Argumente, auf die er basierte“, und ein Studium der zweiten Ausgabe bestätigt dies. Wir haben uns daher darauf beschränkt, einige Argumente auf der Basis der zweiten Ausgabe näher auszuführen.
3) Chris Knight ist ein englischer Anthropologe und Mitglied der „Radical Anthropology Group“. Er hat an den Debatten über die Wissenschaft auf dem 19. Kongress der IKS teilgenommen, und wir haben seinen Artikel über „Marxismus und Wissenschaft“ auf unserer Website veröffentlicht.
4) Yale University Press, New Haven and London, 1991.
5) Abgesehen davon, verdankt der Autor bzw. die Autorin sehr viel den Diskussionen in der Organisation, ohne die es mit Sicherheit unmöglich gewesen wäre, diese Ideen zu entwickeln.
6) Bischof Ussher war ein umtriebiger Gelehrter des 17. Jahrhunderts, der das Alter der Erde auf der Basis biblischer Ahnenforschungen berechnete: Er datierte die Schaffung der Erde auf das Jahr 4004 v.Chr.
7) MEW, Band 22, S. 212.
8) https://www.nybooks.com [6] articles/archives/2011/oct/13/can-our-species-escape-destruction.
9) Knight, ob.zit., S. 56f.
10) Ebenda, S. 11. Wir sehen hier eine Analogie zur Warenproduktion und zur kapitalistischen Gesellschaft. Warenproduktion und Handel existierten seit Beginn der Zivilisation oder vielleicht noch länger, doch wurden sie erst im Kapitalismus zu bestimmenden Faktoren.
11) Ebenda, S. 12.
12) Siehe unseren Artikel „Reading notes on science and Marxism“.
13) Dies trifft auf die Wissenschaft wie auch auf andere Produktivkräfte im Kapitalismus zu: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangnen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden gestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten (…) Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehn, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig, für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums.“ (Marx/Engels, Das kommunistische Manifest, Teil 1, „Bourgeois und Proletarier“.
14) Engels, „Ludwig Feuerbach und das Ende der klassischen deutschen Philosophie. MEW, Band ??.
15) The first scientist: Anaximander and his legacy, Westholme Publishing, 2011.
16) Unsere Übersetzung aus dem Französischen, zitiert in einem auf unserer französischen Website veröffentlichten Artikel.
17) Karl Popper (1902-1994) wurde in Wien, Österreich geboren. Er war einer der einflussreichsten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts und ein unumgänglicher Referenzpunkt für alle WissenschaftlerInnen, die an Fragen der Methodik interessiert sind. Er besteht insbesondere auf die Idee der „Widerlegbarkeit“, die feststellt, dass jegliche Hypothese, möchte sie als wissenschaftlich anerkannt werden, in der Lage sein muss, Experimente vorzuschlagen, die es gestatten würden, sie zu widerlegen: Sollten solche Experimente unmöglich sein, kann eine Hypothese nicht in Anspruch nehmen, wissenschaftlich zu sein. Auf dieser Grundlage meinte Popper, dass der Marxismus, die Psychoanalyse und – zumindest anfänglich – der Darwinismus nicht behaupten könnten, eine wissenschaftliche Disziplin zu sein.
18) Siehe das Werk der Stellenbosch-Konferenz, das in The cradle of language, OUP, 2009, und den Artikel, der in der Ausgabe von La Recherche (www.larecherche.fr/content/recherche/article?id=30891 [7]) im November 2011 veröffentlicht wurde.
19) Ironischerweise hat Darmangeat in der zweiten Ausgabe den ersten Teil des Buches als Appendix angehängt, anscheinend aus Furcht davor, die fachfremden Leser mit der „Trockenheit“ dieses Teils abzuschrecken, um die Worte des Autors selbst zu benutzen.
20) S. 136 in der ersten Ausgabe. Die Übersetzung aus dem Französischen ist von uns.
21) „Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirklung beteiligten Momente zu ihrem Rcht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich. Es ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren ‚Marxisten‘ nicht ersparen, und es ist da auch wunderbares Zeug geleistet worden.“ (Engels, Brief an J. Bloch, 21. September 1890)
22) In der zweiten Ausgabe hat Kollontai sogar einen eigenen Unter-Abschnitt.
23) Die Kritik an Knights Werk ist in der zweiten Ausgabe nicht mehr so ausführlich, mit Ausnahme einer Bezugnahme auf eine kritische Rezension von Joan M. Gero, eine feministische Anthropologin und Autorin von Engendering archaeology. Diese Rezension scheint uns ein wenig oberflächlich und politisch parteiisch. Hier ein typisches Beispiel: „Was Knight als eine ‚erzeugte‘ Perspektive über die Ursprünge der Kultur vorstellt, ist eine paranoide und verzerrende Sichtweise der ‚weiblichen Solidarität‘, die (alle) Frauen als sexuelle Ausbeuter und Manipulatoren (aller) Männer darstellt. Zwischengeschlechtliche Beziehungen werden immerdar und überall als Verhältnisse zwischen Opfern und Manipulatoren charakterisiert; ausbeuterischen Frauen wird stets unterstellt, Männer durch das eine oder andere Mittel in eine Falle locken zu wollen, und tatsächlich würde ihre Verschwörung als die eigentliche Grundlage der Entwicklung unserer Spezies dienen. Die LeserInnen könnten sich durch die Behauptung gekränkt fühlen, dass Männer stets promiskuitiv gewesen seien und dass lediglich guter Sex, gemessen von sich zierenden, aber berechnenden Frauen, sie zu Hause halten und an ihren Nachwuchs interessiert machen könne. Nicht nur, dass das Szenario unwahrscheinlich und nicht erwiesen ist und gleichermaßen abscheulich für Feministen und Nicht-Feministen ist, hinzu kommt, dass die soziologische Begründung all die nuancierten Versionen der Gesellschaftskonstruktion von geschlechtlichen Verhältnissen, Ideologien und Handlungen aufgibt, die so zentral und faszinierend in den Gender-Studien heute sind“. Kurz, wir werden eingeladen, eine wissenschaftliche These abzulehnen, nicht weil sie falsch ist – Gero hat nichts darüber zu sagen und macht sich nicht die Mühe, dies zu beweisen -, sondern weil sie für bestimmte Feministen „abscheulich“ ist.
24) Darmangeat, ob.zit. S. 328.
Erneut übernimmt die französische Bourgeoisie in einem bewaffneten Konflikt in Afrika eine Führungsrolle. Und erneut rechtfertigt sie dies im Namen des Friedens. In Mali geht es angeblich um den Kampf gegen den Terrorismus und um die Sicherheit der Völker. Natürlich steht die Grausamkeit der bewaffneten Banden, die im Norden Malis die Bevölkerung terrorisieren, außer Frage. Diese Warlords hinterlassen viele Tote und verbreiten nur Schrecken. Doch das Motiv der französischen Intervention ist nicht die Verhinderung des Leids der einheimischen Bevölkerung. Der französische Staat will nur seine eigenen, schmutzigen imperialistischen Interessen schützen. In einigen Stadtvierteln der malischen Hauptstadt Bamako haben die Einwohner Freudentänze aufgeführt und François Hollande als Retter gefeiert. Dies sind die einzigen Bilder des Krieges, die die Medien verbreiten: eine feiernde Bevölkerung, die darüber erleichtert ist, dass der Vormarsch der mafia-ähnlichen Banden auf die Hauptstadt gestoppt worden ist. Aber diese Freude wird nicht lange anhalten. Wenn eine „große Demokratie“ mit ihren Panzern durchs Land rasselt, bleibt das Gras nicht mehr grün! Im Gegenteil: sie hinterlässt Verwüstung, Chaos, Elend. Ein Blick auf die Landkarte zeigt die Schauplätze der Hauptkonflikte und Hungersnöte auf, die in Afrika seit den 1990er Jahren gewütet haben. Die Ergebnisse sind erschreckend: Alle Kriege, die - wie in Somalia 1992 oder in Ruanda 1994 - oft unter dem Banner der „humanitären Hilfe“ geführt wurden, haben katastrophale Nahrungsmittelengpässe verursacht. Das Gleiche steht Mali bevor. Dieser neue Krieg wird die ganze Region destabilisieren und das Chaos vergrößern.
Ein imperialistischer Krieg„Wenn ich Präsident bin, wird das System des ‚französisch beherrschten Afrikas‘ aufhören“. Diese Riesenlüge von François Hollande riefe nur ein müdes Lächeln hervor, wenn sie nicht mit noch mehr Blutvergießen einherginge. Die linken Parteien beschwören stets ihre „humanitären“ Anliegen und verstecken so seit einem Jahrhundert ihr wahres Wesen. Sie sind eine bürgerliche Fraktion, die genau wie alle anderen bereit ist, jedes nur denkbare Verbrechen zu begehen, um das Interesse der Nation zu verteidigen. Denn genau darum geht es auch in Mali: die strategischen Interessen Frankreichs zu schützen. Wie François Mitterrand, der seinerzeit ein militärisches Eingreifen im Tschad, Irak, im damaligen Jugoslawien, in Somalia und Ruanda veranlasst hatte, beweist auch François Hollande, dass die „Sozialisten“ niemals zögern, ihre „Werte“ (d.h. die bürgerlichen Interessen der französischen Nation) auch bewaffnet zu verteidigen.
Seit Beginn der Besetzung des Nordens des Landes durch die Islamisten trieben insbesondere Frankreich und die USA hinter den Kulissen die Länder dieser Zone zu einem militärischen Eingreifen an; sie boten dazu finanzielle Unterstützung und logistische Hilfe an. Aber die USA schienen sich bei diesen Manipulationen und Ränkespielen um Bündnisse als die Überlegenen zu erweisen; ihr Einfluss nahm in der Region zu. Für Frankreich war es jedoch überhaupt nicht hinnehmbar, dass man ihm in seinem Hinterhof den Rang ablief; es musste reagieren und mit der Faust auf den Tisch schlagen: „Als Entscheidungen anstanden, hat Frankreich reagiert und sich auf sein Vorrecht als ehemalige Kolonialmacht berufen. Mali näherte sich sicherlich zu sehr den USA. Das ging sogar so weit, dass der halbamtliche Sitz von Africom, der vereinigten militärischen Kommandozentrale für Afrika, den George Bush 2007 einberufen hatte und seitdem von Barack Obama konsolidiert wurde, in Mali eingerichtet wurde“ (Courrier international, 17.1. 2013).
In Wirklichkeit sind in diesem Teil der Erde die imperialistischen Bündnisse äußerst komplex und sehr instabil. Die Verbündeten von heute können morgen schon Feinde sein, wenn sie es nicht gar gleichzeitig sind. So pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Saudi-Arabien und Katar, die von Frankreich und den USA als „enge Verbündete“ bezeichnet werden, auch die Hauptgeldgeber der in der Sahel-Zone agierenden islamistischen Gruppen sind. Deshalb überraschte es nicht, am 18. Januar in Le Monde zu lesen, dass der Premierminister Katars sich gegen die Intervention Frankreichs in Mali aussprach und die Operation „Serval“ ablehnte. Und was soll man von den Supermächten USA und China halten, die offiziell Frankreich unterstützen, um gleichzeitig hinter den Kulissen das Gegenteil zu tun und ihre eigenen Figuren in Stellung zu bringen?
Frankreich verstrickt sich im Sahel für eine lange ZeitWie für die USA in Afghanistan besteht das große Risiko, dass Frankreich im Morast des neuen Kriegsschauplatzes stecken bleibt. Frankreich wird schnell im „malischen Sumpf“ und der angrenzenden Sahel-Zone versinken; und es sieht danach aus, dass dies lange andauern wird (Hollande sagt: die „notwendige Zeit“). „Auch wenn die militärische Operation in Anbetracht der Gefahren gerechtfertigt ist, den die terroristischen, gut bewaffneten und immer fanatischer werdenden Gruppen darstellen, gibt es dennoch das Risiko, dass die Stabilität in der ganzen west-afrikanischen Region dauerhaft gefährdet wird und Frankreich in einen Sumpf gerät. Man muss die Lage mit Somalia vergleichen. Die Gewalt, die sich nach den tragischen Ereignissen von Mogadischu Anfang der 1990er Jahre ausbreitete, ist auf das ganze Horn von Afrika übergesprungen, so dass nun 20 Jahre danach noch immer keine Stabilität erreicht werden konnte“ (A. Bourgi, Le Monde, 15. 1.2013). Hier haben wir das Ergebnis der angeblich „humanitären“ und „antiterroristischen“ Kriege. Wenn die „großen Demokratien“ „zum Wohl des Volkes“, der „Moral“ und des „Friedens“ die Kriegstrommel rühren, bleiben tatsächlich immer Ruinen und Leichengeruch zurück.
Von Libyen bis Mali, von der Elfenbeinküste bis Algerien - das Chaos breitet sich immer weiter aus„Man kommt nicht umhin festzustellen, dass der jüngste Staatsstreich in Mali ein Kollateralschaden der Aufstände im Norden ist, die wiederum die Folgen der Destabilisierung Libyens durch eine westliche Koalition sind, die seltsamerweise keine Gewissensbisse und Schuldgefühle verspürt. Ebenso muss man feststellen, dass dieser afrikanische Wind Harmattan nun über Mali weht, nachdem er vorher durch die Nachbarstaaten Elfenbeinküste, Guinea, Niger und Mauretanien gezogen ist" (Courrier International, 11.4.2012). Tatsächlich kämpften viele bewaffnete Gruppen an der Seite Gaddafis; sie üben heute ihr Handwerk in Mali aus, nachdem sie zuvor noch die geheimen Waffenlager in Libyen geplündert hatten.
Doch die „westliche Koalition“ griff auch in Libyen angeblich nur ein, um Ordnung und Recht herzustellen und den Interessen des libyschen Volkes zu dienen. Heute leiden die Unterdrückten dieser Region unter der gleichen Barbarei und das Chaos sich weiter aus. Der Krieg in Mali wird auch Algerien destabilisieren. Am Donnerstag, den 17. Januar 2013, nahm eine Einheit von AQMI (al-Qaida in Mali) Hunderte von Beschäftigten in einer Gasförderanlage in Tagantourine als Geisel. Die algerische Armee ging massiv gegen die Geiselnehmer vor, auf beiden Seiten gab es viele Tote. Zu diesem Massaker hat Hollande wie jeder andere Kriegsherr, wie jeder Angehöriger der herrschenden Klasse, der ihre Interessen zu verteidigen sucht, erklärt: „Ein Land wie Algerien hat, wie mir scheint, die beste Antwort geliefert, denn man darf mit diesen Leuten nicht verhandeln.“ Der Eintritt Algeriens in den Sahel-Krieg, der von dem französischen Staatschef im Sinne der Logik des imperialistischen Krieges begrüßt wurde, zeigt den Teufelskreis auf, in dem der Kapitalismus steckt. „Die auf seinem Territorium bislang nicht dagewesene Eskalation treibt Algier ein Stückchen weiter in einen Krieg, den das Land um jeden Preis vermeiden wollte, weil es die Konsequenzen im Landesinnern befürchten muss.“ (Le Monde, 18. 1. 2013)
Seit Beginn der Krise in Mali betrieben die Machthaber in Algier ein doppeltes Spiel: Einerseits „verhandelte“ Algier mit islamistischen Gruppen, von denen sich einige gar auf algerischem Territorium mit Benzin versorgen konnten, um die Eroberung der Stadt Konna zu ermöglichen und ihren Vormarsch auf Bamako fortzusetzen. Andererseits hat Algerien französischen Militärflugzeugen den algerischen Luftraum zur Verfügung gestellt, damit sie dschihadistische Gruppen im Norden Malis bombardieren. Diese widersprüchliche Position und die Tatsache, dass die Kämpfer von AQMI so leicht auf die Gasförderanlage in diesem „sichersten Land“ vordringen konnten, offenbart, wie weit der Staatsapparat sowie die Gesellschaft Algeriens insgesamt verrottet sind. Wie schon die Entwicklung im Süden des Sahel wird der Eintritt Algeriens in den Krieg den Zerfallsprozess in der Region beschleunigen.
All diese Kriege zeigen, dass der Kapitalismus einer äußerst gefährlichen Spirale anheimfällt, die das Überleben der Menschheit aufs Spiel setzt. Ganze Weltregionen werden in Chaos und Barbarei gestürzt. Immer mehr vermischen sich die Gräueltaten der Folterknechte vor Ort (Warlords, Clanführer, terroristische Banden...) mit der Grausamkeit zweitrangiger Imperialisten (kleine und mittlere Staaten) und der vernichtenden Gewalt der großen Nationen. Jeder Beteiligte ist zu allem bereit, zu allen möglichen Intrigen, Manipulationen, Verbrechen, Attentaten. Die Grausamkeiten kennen keine Grenzen, wenn es darum geht, die eigenen Interessen zu verteidigen. Die ständigen Bündniswechsel vermitteln den Eindruck eines makabren Tanzballs.
Dieses todgeweihte System wird weiter in Gewalt versinken; die kriegerischen Konflikte werden sich weiter ausdehnen und immer größere Gebiete verwüsten. Für eine Seite Stellung beziehen, um „das geringere Übel“ zu verteidigen, heißt, sich dieser Dynamik zu unterwerfen, die keinen „Ausweg“ haben wird als noch mehr Tod und die Zerstörung der Menschheit. Nur eine Alternative ist realistisch, nur eine Kraft kann uns aus diesem Teufelskreislauf hinausführen: der massive und internationale Kampf der Ausgebeuteten auf der ganzen Welt für eine Gesellschaft ohne Klasse und ohne Ausbeutung, ohne Elend und ohne Krieg. Amina, 19.Januar 2013Im politischen Milieu im deutschsprachigen Raum, das den Anspruch hat, eine Rolle bei einer zukünftigen revolutionären Umgestaltung der menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu spielen, ist seit einiger Zeit eine Diskussion über das Wesen der Gewerkschaften im Gang. Es geht dabei insbesondere um die Fragen, ob die Arbeiterklasse sich noch auf diese Organe stützen könne und ob sie für eine Revolution mit dem Ziel einer Gesellschaft der freien Assoziation der Produzierenden von Nutzen oder umgekehrt ein Hindernis seien. Ein Beitrag zu dieser Diskussion ist Ende 2011 in Kosmoprolet Nr. 3 unter dem Titel Schranken proletarische Emanzipation – zur Kritik der Gewerkschaften erschienen. In der Schweiz ist die Debatte namentlich auf dem Internetforum undergrounddogs.net weiter geführt worden, wobei auch Artikel und andere Stellungnahmen der IKS zur Gewerkschaftsfrage zitiert und kritisiert worden sind.1 Der folgende Beitrag möchte auf zwei aus unserer Sicht offen gebliebene Fragen zurück kommen und versuchen, die begonnenen Gedanken weiter zu spinnen. Dabei geht es einerseits um die Frage, ob die Gewerkschaften heute einen eindeutigen Klassencharakter haben oder umgekehrt „zwiespältig“, „ambivalent“ seien, andererseits um das Argument, die IKS-Position zu den Gewerkschaften sei letztlich eine Art Verschwörungstheorie.
Klassencharakter der Gewerkschaften oder Ambivalenz?
In der Tradition der italienischen und französischen kommunistischen Linken, in der sich die IKS sieht, sind die Gewerkschaften seit Beginn der Dekadenz des Kapitalismus – seit dem Ersten Weltkrieg – Teil des kapitalistischen Staates. Da ab diesem Zeitpunkt die objektiven Bedingungen für eine revolutionäre Überwindung des Kapitalismus reif und umgekehrt für die Arbeiterklasse keine substantiellen und dauerhaften Reformen mehr herauszuschlagen sind, verlieren die bisherigen Organe der Arbeiterklasse, die sie sich zur Erkämpfung solcher Reformen geschaffen hatte, ihre Funktion. Sie werden für die Arbeiterklasse wertlos. Da sie aber nicht abgeschafft, sondern von der Bourgeoisie und ihrem Staat für ihre Zwecke angeeignet wurden (zur Erhaltung des „Burgfriedens“ und zur Mobilisierung der proletarischen Massen für den Krieg), verloren sie ihren proletarischen Klassencharakter2. Sie wurden in den totalitären Staat der Bourgeoisie (sei er demokratisch, stalinistisch oder faschistisch) integriert.3 Ihr Klassencharakter ist kapitalistisch, bürgerlich geworden. Die Gewerkschaftsführer sind oft Parlamentarier oder andere Funktionsträger des bürgerlichen Staats, während die Gewerkschaftsmitglieder weiterhin Arbeiter_innen sind, die sich je nach politischer und wirtschaftlicher Situation mehr oder weniger mit der Politik der Gewerkschaft identifizieren und sich durch sie vertreten fühlen – oder unabhängig von ihnen Kämpfe führen und sich selber organisieren.
Die in den Diskussionen aufgetauchte Position der Ambivalenz, des zwiespältigen Charakters der Gewerkschaften, unterscheidet nicht zwischen verschiedenen geschichtlichen Phasen des Kapitalismus, sondern versucht, das Wesen der Gewerkschaften rein „ihrem Inhalt nach“ zu bestimmen: „(…) die Gewerkschaften waren und sind keine Kampfform der Gesamtklasse. Dreierlei fällt auf, wenn man sie sich diesbezüglich anschaut: Erstens vertreten sie grundsätzlich die Interessen ihrer spezifischen Klientel und vertiefen damit die Zersplitterung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Betriebe und Sektoren, sowie in Gelernte und Ungelernte. Zweitens sind die Gewerkschaften in ihrer Rolle als ‚Sozialpartner‘ im nationalen Rahmen entstanden und an diesen gebunden. (…) Auch die Spaltung der Klasse in Nationen wird somit von den Gewerkschaften verdoppelt. Drittens schliesslich ist zu beobachten, dass die Gewerkschaften – da sie sich in ihren Forderungen stets auf den vom Kapitalismus vorgegebenen Rahmen beschränken müssen – ihr Handeln immer an den durch die Konjunktur gegebenen Möglichkeiten ausrichten.“4
In der Diskussion auf undergrounddogs.net formuliert Muoit das zwiespältige Wesen so: „Die Gewerkschaften vertreten ähnlich wie der Staat das Interesse des Gesamtkapitals - auch gegen den Widerstand einzelner Kapitale oder Kapitalfraktionen - an der Reproduktion der Gesamtklasse und sie haben ein Interesse daran, dass die Arbeiterklasse verwaltet werden kann und nicht komplett aus dem Ruder läuft. In diesem Sinne sind sie tatsächlich ein Teil des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis. Gleichzeitig aber sind sie Vertreter des variablen Kapitalteils, welches halt in der kapitalistischen Realität mit den immanenten Interessen der ArbeiterInnen zusammenfällt. Dieser Doppelcharakter zeigt die innere Widersprüchlichkeit der Gewerkschaften ziemlich gut auf: Auf der einen Seite vertreten sie ihre Klientel innerhalb des Kapitalismus - und sind dabei übrigens von der Mobilisierungsfähigkeit ihrer Basis abhängig! - andererseits haben sie dafür zu sorgen, dass die ArbeiterInnen eben gerade nicht unkontrollierbar werden und im Ernstfall dann mit ihrer Rolle als ArbeiterIn schluss machen wollen.“
Einigkeit besteht zwischen den beiden Positionen vermutlich in der Feststellung, dass die Gewerkschaften keine Organe der Revolution sind5. Die beiden Analysen scheiden sich auch nicht hinsichtlich der Frage, was passiert, wenn die Arbeiter_innen sich für ihre Kämpfe auf die Gewerkschaften verlassen: Diese haben die Aufgabe, die Kämpfe in Bahnen zu lenken, die das System nicht bedrohen, d.h. die nationalstaatliche Logik und ein in die verschiedenen Sektoren und Berufsgattungen gespaltenes Proletariat sind die Folgen. Grundsätzlich könnte man die gemeinsame Basis, auf der wir argumentieren, so zusammenfassen:
- Ablehnung jeder nationalstaatlichen Logik;
- das Proletariat muss für seine Ziele selbst kämpfen und
- sich dabei selbst, in eigenen von ihm kontrollierten Strukturen organisieren.
Worin besteht denn die wesentliche Differenz zwischen den beiden Positionen? – Vielleicht kann man sie so auf einen einfachen Nenner bringen: Während die IKS behauptet, dass die Gewerkschaften in der niedergehenden Phase des Kapitalismus für die Arbeiter_innen nicht nur unnütz sind, sondern ihrem Klassenfeind, der Bourgeoisie, dienen, entgegnet die „Position der Ambivalenz“: Dies ist zu einfach – wenn die Arbeiter_innen hinter den Gewerkschaften stehen, so fühlen sie sich in ihren Interessen, soweit diese im Kapitalismus realisierbar sind, vertreten und sind es auch; insofern sind die Gewerkschaften nicht nur Organe fürs Kapital, sondern auch fürs (nicht revolutionäre) Proletariat.
Aber die „Position der Ambivalenz“ macht es sich unseres Erachtens zu einfach, obwohl sie vorgibt, differenzierter zu sein.
Niemand wird bestreiten, dass die Gewerkschaften verschiedene Funktionen haben, je nach Sichtwinkel. Aus der Sicht eines Gewerkschaftsmitgliedes erfüllen diese Organisationen manchmal die Funktion, punktuelle, von ihm erwünschte Verbesserungen durchzusetzen. Aus der Sicht des bürgerlich-demokratischen Staates sind die Gewerkschaften „Sozialpartner“ und konstitutive Elemente der verfassungsmässigen Ordnung. Weiter ist auch klar, dass die Einstellung der Arbeiter und Arbeiterinnen zu den Gewerkschaften empirisch betrachtet ambivalent ist. In normalen Zeiten fühlen sie sich von ihnen vertreten; wenn es stürmisch wird, wenden sie sich enttäuscht von ihnen ab. Die Frage kann aber aus „kommunistischer“6 Sicht nicht sein, alle möglichen subjektiven Gesichtspunkte demokratisch gegeneinander abzuwägen und daraus eine „Objektivität“ zu kreieren – den Doppelcharakter –, sondern von einem Klassenstandpunkt aus zu bestimmen versuchen, welches ihre wesentliche Funktion ist.
Gehen wir von Muoits Feststellungen aus, dass die Gewerkschaften „Teil des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis“ sind und „ähnlich wie der Staat das Interesse des Gesamtkapitals (…) an der Reproduktion der Gesamtklasse“ vertreten. Für die aufsteigende Phase des Kapitalismus wären wir mit dieser Charakterisierung nicht einverstanden, weil die Gewerkschaften in der damaligen Zeit ein lebendiger Ausdruck des Kampfes der Arbeiterklasse waren, auch wenn ihr Ziel nicht unmittelbar die Revolution war. Darin zeigt sich eine interessante Dialektik zwischen Ziel und Erreichbarkeit desselben: In den Zeiten, als die Gewerkschaften entstanden, erreichten sie genau die Ziele, die sie sich vornahmen – es ging um die langfristige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter_innen. Sie waren noch kein Organ, das im Interesse des Gesamtkapitals fungierte. Obwohl nicht explizit revolutionär waren die Gewerkschaften damals auf lange Sicht durchaus im Einklag mit den Interessen der Revolution. – Aber hier interessiert uns die Aktualität, so dass wir die Beschreibung Muoits gelten lassen können. Was folgt daraus? Die Gewerkschaften sind gemäss „Position der Ambivalenz“ Organe fürs Kapital – und gleichzeitig Organe fürs Proletariat. Sofern man von einem antagonistischen Verhältnis zwischen den Interessen des Proletariats und denen des Kapitals ausgeht (und diesen Ausgangspunkt werden die Verteidiger der Ambivalenz nicht in Frage stellen wollen), wäre dies als stabiler Zustand unmöglich. Dass Organe sich bekämpfender Klassen einen Doppelcharakter haben, kommt nur als Ausnahme in revolutionären Zeiten vor, beispielsweise bei den Sowjets bzw. Arbeiterräten im Frühsommer 1917 in Russland und im November/Dezember 1918 in Deutschland. Letztlich bedeutet die Position einer stabilen Ambivalenz, auf das Kriterium des Klassencharakters zu verzichten.
Vermutlich steckt hinter dieser Position die nicht zu Ende gedachte Erfahrung, dass es zwischen der „Klasse an sich“ und der „Klasse an und für sich“ in normalen Zeiten eine grosse Kluft gibt. Die „Klasse an sich“ ist das Proletariat, das in der Regel der herrschenden Ideologie unterworfen ist, in der bürgerlichen Demokratie mitmacht, die Gewerkschaften okay findet, in Milliarden von Individuen aufgeteilt ist – kurz: das Proletariat, das sich gar nicht als eigenständige und weltumspannende Klasse, als kollektives Subjekt wahrnimmt. Die „Klasse an und für sich“ ist das selbstbewusste, die Geschichte in die eigenen Hände nehmende Proletariat – eine Ausnahmeerscheinung. Bedeutet aber die Erfahrung, dass die Klasse im normalen kapitalistischen Alltag (selbst in wirtschaftlichen Krisenzeiten) seine antagonistischen Interessen zum Kapital nicht ausdrücklich formuliert, dass wir die Begriffe Klasseninteressen oder gar das Erkennen des Klassenwesens aufgeben müssen?
Marx schrieb in Die heilige Familie: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat, als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ – Diese viel zitierte Stelle kann natürlich als Abkömmling des Hegelschen Weltgeistes oder schlicht deterministisch à la Bordiga7 interpretiert werden. Wenn man sich aber von diesen idealistischen Schalen befreit und nach dem materialistischen Kern fragt, so stösst man auf einen nützlichen Begriff: den des proletarischen Wesens, d.h. das, was das Proletariat geschichtlich ist (sein Sein). Daran misst sich das proletarische Interesse. Es zielt darauf ab, die kapitalistische Ausbeutung und damit sich selbst aufzuheben.
Gibt es einen Erkenntnisvorteil, wenn man von einem nicht eindeutigen, eben einem ambivalenten Charakter der Gewerkschaften ausgeht? Die „Position der Ambivalenz“ stellt sich als differenziert und „dialektisch“8 dar. Sie will insbesondere eine wesentliche Differenz zwischen dem Kapital und dem Staat machen: Die Gewerkschaften seien sehr wohl Teil des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis, aber nicht Teil des Staats, obwohl sie wie dieser Interessen des Gesamtkapitals verträten. Selbst wenn wir diesem Gedanken folgen könnten und diese Differenzierung übernähmen, ist doch in Bezug auf die Frage des Klassencharakters der Gewerkschaften nichts Neues gewonnen. Wenn sie Teil der kapitalistischen gesamtgesellschaftlichen Reproduktion sind, üben sie eine Funktion fürs Kapital aus. Dass sie dabei gleichzeitig eine Funktion fürs Proletariat übernähmen, wird von der „Position der Ambivalenz“ nur insofern behauptet, als es um die „immanenten Interessen der Arbeiter_innen“ geht. Mit diesem Argument könnte auch ein kapitalistisches Unternehmen wie IKEA als ambivalent bezeichnet werden: Abgesehen davon, dass es dem Kapital Profit abwirft, kann sich auch der Arbeiter als Käufer an seinen neuen günstigen Möbeln freuen … Die subjektiven Befindlichkeiten von Gewerkschaftsmitgliedern oder Konsumenten zum Ausgangspunkt zu nehmen, wenn man die wesentliche Funktion einer gesellschaftlichen Organisation bestimmen will, ist nicht seriös. Die Dialektik dieses Zwiespalts ist die zwischen Wesen und – Schein.
Praktische Bedeutung der Divergenz?
Manche_r wird sich vielleicht in der Zwischenzeit gefragt haben, was die praktischen Folgen dieser scheinbar tiefschürfenden Meinungsverschiedenheiten sind. Wir wissen es auch nicht genau. Wir können es uns aber nicht verkneifen, da noch ein paar Gedanken anzustricken.
Betrachten wir die anscheinend praktischste aller Fragen – die der Intervention, des Eingreifens in den Klassenkampf. Verleitet die Position der Ambivalenz angesichts fehlender Kampfbereitschaft der „Klasse an sich“ nicht zur Schlussfolgerung, man könne das Terrain getrost der Gewerkschaften überlassen? Das Proletariat sei „selber schuld“, wenn es nur immanent kämpfe? – Fast jeder Kampf der Arbeiterklasse beginnt auf dem zunächst rein wirtschaftlichen Terrain der Verteidigung von vermeintlichen (oder tatsächlichen) Errungenschaften. Führt diese Position des zwiespältigen Charakters der Gewerkschaften nicht zur Aussage: Für solche Kämpfe sind die Gewerkschaften genau der richtige Helfer?
Wir haben diese Position in der laufenden Diskussion nicht gehört oder gelesen. Aber wenn es sie gäbe, wäre ihr zu entgegnen: Eine ambivalente Haltung gegenüber den Gewerkschaften in der heutigen Gesellschaft kann Ausdruck eines passiven Rollenverständnisses der Revolutionäre gegenüber der Kernfrage des Bewusstseins sein. Im Sinne von: Die Forderungen und Haltungen der Klasse „an sich“ seien in einem gewissen Sinne neutral – so sei sie halt, die Klasse, die „nur immanent“ kämpfe. Die Gewerkschaften helfen ihnen immanent, und für die grosse Sache ist nichts verloren – weit gefehlt! Wenn die Gewerkschaften (= „Vertreter des variablen Kapitalteils“) der richtige Ort für sich immanent wehrende Arbeiter sind, so sind sie logischerweise auch der richtige Ort für unser Eingreifen. So können, ja müssen wir Funktionen in diesem Räderwerk übernehmen, sei es im Gewerkschaftsapparat oder wenigstens an der Basis?
Die wohl gravierendste Schwäche und Konsequenz dieser Position der Ambivalenz ist die Reduzierung der Rolle der Gewerkschaften auf das ökonomische Terrain, da sie ja dort die Interessen des variablen Kapitals (sprich der Arbeiterklasse) repräsentieren würden. Die Gewerkschaften haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts mitnichten nur in der Auseinandersetzung über Löhne, Arbeitsbedingungen oder Betriebsschliessungen eine Rolle gespielt. Sie waren (neben dem Tagesgeschäft der Teilnahme am demokratischen Abstimmungs- und Wahlzirkus)die unabdingbaren ideologischen und praktischen Faktoren für das Kapital zur Mobilisierung der Arbeiterklasse in die Weltkriege. Bekanntestes Beispiel dafür ist vielleicht die Rolle der deutschen Gewerkschaften 1914. Der Klassencharakter einer Organisation wie der Gewerkschaften zeigt sich unverblümt in Momenten der offenen Klassenkonfrontationen oder des Krieges. Gerade hier ist nicht nachvollziehbar, was die Rede vom „ambivalenten Charakter“ differenzieren will. Das Wesen der Gewerkschaften anhand einer auf die Ökonomie und die relativ „friedlichen Zeiten“ eingegrenzten Sichtweise beurteilen zu wollen, führt wohl zwangsläufig zu einer Unterschätzung ihrer konterrevolutionären Macht.
Da wird munter am alten kapitalistischen Verblendungszusammenhang gesponnen, unabhängig davon, ob sich die Protagonisten des Dramas dessen bewusst sind oder nicht.
Im zweiten Teil des Artikels werden wir auf die Kritik eingehen, die Haltung der IKS zu den Gewerkschaften habe Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien.Maluco, 29.01.13 - Fortsetzung folgt
2 Der Begriff des Klassencharakters oder Klassenwesens wird von dieser Position vorausgesetzt. Sie erklärt ihn nicht. Als Hinweis darauf, dass es sich dabei um eine für die Erkenntnis wichtige Kategorie handeln könnte, mag derjenige auf Marxens Analyse des Klassencharakters der Commune in Der Bürgerkrieg in Frankreich aushelfen (MEW 17 S. 342).
3 Diese Position wird ausführlicher begründet in unserer Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse.
4 Kosmoprolet Nr. 3, S. 57 und 59f.
5 Auch auf diesem Gebiet wird es aber noch einige Fragen zu debattieren geben – z.B. mit den Anarchosyndikalist_innen.
6 So definiert wie im Kommunistischen Manifest: „Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.“
7 "Die kommunistische Revolution ist so sicher, als wäre sie bereits geschehen."
8 Muoit auf undergrounddogs.net: „Dialektik zwischen der Funktion der Gewerkschaften als Verwalter und Vertreter des variablen Kapitals und ihrer Rolle als Ordnungsfaktor“
"Gewerkschaftsdebatte, 2. Teil: Sind die Gewerkschaften Verschwörer? [14]"Die Krise im Euro-Raum nimmt immer dramatischere Züge an. Griechenland, das einst zu den Ländern mit den niedrigsten Selbstmordraten weltweit zählte, erlebt zurzeit eine Welle von Selbstmorden. Allein 2011 ist – laut der Zeitung „Ta Nea“ - die Selbstmordrate um 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. In vielen Abschiedsbriefen wird ausdrücklich die Krise als Grund für den Freitod angegeben, etliche Selbstmorde werden „öffentlich inszeniert, um auf die schlechte Lage aufmerksam zu machen“ (SPIEGEL online, 1 5.4.1 2). Doch dieses Phänomen ist nicht nur eine Reaktion auf die Krise und auf die mit ihr einhergehende Verarmung und Verelendung weiter Teile der Bevölkerung. Vollständig erklären lässt es sich nur, wenn man noch einen weiteren Faktor dabei berücksichtigt. Die Selbstmordwelle in Griechenland und anderswo wirft ein Schlaglicht auf die akute Perspektivlosigkeit, die derzeit beileibe nicht nur in der griechischen Arbeiterklasse grassiert. Im Gegensatz zu den Arbeitergenerationen des 19. Jahrhunderts, deren Kämpfe noch vom Streben nach einer besseren Gesellschaft beseelt gewesen waren, hat unsere Klasse heute ihren Glauben am Kommunismus verloren bzw. noch nicht wiederentdeckt. Auf Dauer reicht es jedoch nicht aus zu wissen, wogegen man kämpft; erst wenn sich die Ausgebeuteten auch bewusst sind, wofür sie kämpfen, erst wenn sie überzeugt sind, dass der Kommunismus nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist, wird ihr Widerstand jene moralische Kraft erlangen, die unerlässlich ist, um die Mutlosigkeit und Depression zu vertreiben, die sich derzeit in wachsenden Teilen der Arbeiterklasse breitmachen.
Noch eine andere Zahl lässt aufhorchen: Seit Ausbruch der Krise haben sich in Italien allein rund sechzig mittelständische Unternehmer das Leben genommen. Sie verzweifelten an säumige Schuldner, die selbst pleite sind, und an Banken, die nicht mehr bereit sind, Kredite zu vergeben. Ihr Freitod ist der krasseste Ausdruck für den Bankrott der herrschenden Klasse, für die Ausweglosigkeit der Lage der kapitalistischen Klasse, die – anders als im oben geschilderten Fall der Arbeiterklasse – nicht nur eine gefühlte, sondern auch eine faktische Ausweglosigkeit ist. Die Bourgeoisie, vom kleinen Familienunternehmer bis hin zum arrivierten Großkapital, ist eine Klasse, deren Uhr abgelaufen ist, die nur dank der Schwäche der Ausgebeuteten dieser Welt noch nicht von der historischen Bühne abgetreten ist.
Zur gleichen Schlussfolgerung kam Marc Sprenger, Leiter des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Dieser warnte am 6. Dezember, der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung und sogar der grundlegenden Hygiene in Griechenland könne in ganz Europa Pandemien in Gang setzen. Es fehlt an Geld für Handschuhe, Kitteln und Desinfektionstüchern, Wattebäuschen, Kathetern und Papierunterlagen zur Bedeckung von Untersuchungsbetten. Patienten mit hochinfektiösen Erkrankungen wie Tuberkulose erhalten nicht die notwendige Behandlung, das Risiko für die Ausbreitung resistenter Viren in Europa steigt.
Die Entwicklung in Griechenland führt uns den eklatanten Gegensatz vor Augen, der zwischen dem technisch Möglichen und der Wirklichkeit im Kapitalismus besteht.
Im 19. Jahrhundert starben oft bis zu einem Drittel der Patienten aufgrund mangelnder Hygiene in den Krankenhäusern, insbesondere Frauen bei der Entbindung. Was seinerzeit zu einem Großteil auf Unwissenheit zurückzuführen war, dass nämlich viele Ärzte und das Pflegepersonal sich vor Eingriffen nicht die Hände wuschen und oft mit blutverschmierten Kitteln von einem Patienten zum anderen eilten, wurde durch neue Erkenntnisse (zum Beispiel durch Semmelweis oder Lister) zurückgedrängt. Neue Hygienemaßnahmen und Entdeckungen hinsichtlich Keimübertragungen erlaubten eine deutliche Reduzierung der Infektionsgefahren im Krankenhaus; mittlerweile gehören Hygienehandschuhe und Einmalbesteck in den Operationssälen zum Mindeststandard moderner Medizin. Doch im Gegensatz zu den Zuständen im 19. Jahrhundert sind die jetzigen Gefahren, die in den Krankenhäusern in Griechenland erkennbar werden, kein Zeichen von Unwissenheit, sondern ein Ausdruck der Bedrohung der Menschheit durch ein vollkommen überholtes, bankrottes Produktionssystem.
Wenn heute in der einstigen Hochburg der Zivilisation, Griechenland, die Gesundheit von Menschen aufgrund von nicht bezahlbaren Hygienehandschuhen bedroht ist; wenn schwangere Frauen, die zur Geburt ins Krankenhaus kommen, abgewiesen werden, weil sie kein Geld oder keine Krankenversicherung haben; wenn herzkranke Menschen ihre lebenserhaltenden Medikamente nicht mehr bezahlen können, dann ist dies nicht anderes als ein vorsätzlicher und lebensgefährlicher Angriff gegen die Menschen. Die Tatsache, dass in einem Krankenhaus das für Hygiene unerlässliche Reinigungspersonal nicht mehr bezahlt wird und Ärzte sowie Pfleger, die selbst seit langem keinen Lohn mehr erhalten haben, die Putzaufgaben übernehmen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die „Gesundung“ der Wirtschaft, von der die herrschende Klasse redet. Die „Gesundung" der Wirtschaft: eine Bedrohung für das Leben der Menschen!
Aber nicht nur in Griechenland wird das Gesundheitssystem abgebaut, nicht nur dort geht es scheibchenweise zugrunde. Auch anderswo wird das Gesundheitswesen immer mehr demontiert, wie zum Beispiel in Spanien. In der alten Industriehochburg Barcelona wie auch in anderen Städten werden Notaufnahmestationen zum Teil nur stundenweise geöffnet, um Kosten zu sparen. In Spanien, Portugal und Griechenland erhalten viele Apotheken wegen der Zahlungsunfähigkeit der Patienten bzw. wegen ihrer eigenen Insolvenz keine lebenswichtigen Medikamente mehr. So liefert die deutsche Pharmafirma Merck nicht länger ihre Krebsarznei „Erbitux“ an griechische Krankenhäuser. Biotest, ein Unternehmen, das aus Blutplasma Mittel zur Behandlung von Hämophilie und Tetanus gewinnt, hatte seine Lieferungen wegen unbezahlter Rechnungen schon im Juni eingestellt.
Kannte man bislang solch eine desolate medizinische Versorgung hauptsächlich aus afrikanischen Ländern oder aus vom Krieg zerrütteten Regionen, sorgt die Krise nun auch in den Industriezentren des Westens immer mehr dafür, dass lebenswichtigen Bereiche wie die Gesundheitsversorgung auf dem Altar des Profits geopfert werden. Medizin also nicht nach dem medizinischen Möglichen, sondern nur nach Barzahlung! Griechenland ist lediglich der extreme Ausdruck dessen, was auch im hiesigen Gesundheitssystem gängige Praxis ist: die Umwandlung der Krankenhäuser in „profit center“, die Metamorphose des Patienten zum „Kunden“ und die Banalisierung des kostbaren Gutes der Gesundheit zu einer einfachen Ware.Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/WR%20176.pdf
[2] mailto:[email protected]
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1917-russische-revolution
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1919-deutsche-revolution
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1980-massenstreik-polen
[6] https://www.nybooks.com/
[7] http://www.larecherche.fr/content/recherche/article?id=30891
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/frauenfrage
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/gender
[10] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/kultur
[11] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/menschwerdung
[12] https://de.internationalism.org/en/tag/3/53/vorkapitalistische-gesellschaften
[13] http://www.undergrounddogs.net/phpbb/viewtopic.php?t=6012&highlight=ferieninitiative
[14] https://de.internationalism.org/Weltrevolution177_gewerkschaftsdebatte
[15] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/gewerkschaftsdebatte
[16] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/suizide-griechenland
[17] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/suizide-krise
[18] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/syrien-krieg
[19] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/burgerkrieg-syrien