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April 2013

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60 Jahre nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR

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Wir veröffentlichen auf unserer Website einen Artikel, den wir im Jahr 1978 in der Internationalen Revue Nr. 2 - also 25 Jahre nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juli 1953 in der damaligen DDR – geschrieben und abgedruckt haben. Die stalinistischen Regime des Ostblocks, zu denen die DDR gehörte und mit denen die Arbeiterklasse in den massiven Kämpfen in Berlin und Ostdeutschland damals direkt konfrontiert waren, sind 1989 zusammengebrochen. Die kapitalistische Unterdrückung hat in diesen Ländern nach 1989 eine Wir veröffentlichen auf unserer Website einen Artikel, den wir im Jahr 1978 in der Internationalen Revue Nr. 2 - also 25 Jahre nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juli 1953 in der damaligen DDR – geschrieben und abgedruckt haben. Die stalinistischen Regime des Ostblocks, zu denen die DDR gehörte und mit denen die Arbeiterklasse in den massiven Kämpfen in Berlin und Ostdeutschland damals direkt konfrontiert waren, sind 1989 zusammengebrochen. Die kapitalistische Unterdrückung hat in diesen Ländern nach 1989 eine „demokratischere“ Form angenommen – die Lage der Arbeiterklasse ist die der Ausbeutung geblieben! Nur schon deshalb bleiben die fast vergessenen Kämpfe von damals auch heute, nach 60 Jahren, aktuell. Eine zentrale Frage blieb bei der Bilanz des Arbeiteraufstandes von 1953 das Problem großer Illusionen innerhalb der Arbeiterklasse selbst. Es manifestierte sich 1953 in der DDR vor allem in der Hoffnung, den Fall der verhassten Regierungsclique um Walter Ulbricht erwirken und sich so ein besseres Leben und mehr Demokratie schaffen zu können. Auch 27 Jahre später, während der Massenstreiks 1980 in Polen, stellte das Gewicht demokratischer Illusionen in den Reihen der Arbeiterklasse eine der größten Schwierigkeiten dar. Heute steht die Arbeiterklasse immer noch vor der Gefahr ähnlicher Illusionen: Dies haben wir unter anderem in Tunesien und Ägypten 2011 während des Falls der Regime von Ben Ali und Mubarak gesehen. Illusionen in die bürgerliche Demokratie zu überwinden, wird für die Arbeiterklasse weltweit eine der zähesten und permanenten Hürden im Klassenkampf sein. Nebst der Entdeckung eines weitgehend unbekannten oder von der Geschichtsschreibung oft komplett verzerrten Kapitels unserer Geschichte hoffen wir mit der Lektüre dieses Artikels auch einen Beitrag zum selbstkritischen Nachdenken über unsere eigenen Schwächen und Illusionen leisten zu können.

IKS, Frühling 2013

Einleitung von 1978

Der Text, den wir über den 17. Juni 1953 veröffentlichen, soll keine Gedächtnisfeier sein. Seit langem versucht die Bourgeoisie, die Gespenster zu beschwören, die sie während ihres Niedergangs quälen. Diese Gespenster sind die der proletarischen Revolution, der revolutionären Bewegungen, die sie niedergeschlagen hat, und deren schicksalhafte Rückkehr (wenn nicht in der unmittelbaren Gegenwart, doch zumindest in den „friedlichen“ Gedanken der herrschenden Klasse) sie befürchtet. Sie versucht dann ihre abergläubische Furcht vor den „Schicksalsdaten“ zu überwinden, indem sie das Ereignis auf ihre Art feiert und es ein zweites Mal begräbt. Das erste Mal setzt sie all ihre militärischen und ideologischen Kräfte gegen die Arbeiterklasse ein, die die Grundlage ihrer Klassenherrschaft bedroht; das zweite Mal verfälscht sie den Klasseninhalt des Kampfes und macht aus ihm einen gewöhnlichen Kampf für das „Vaterland“, die „Demokratie“, die „Freiheit“.

Das hat die Bourgeoisie im Osten wie im Westen noch einmal praktiziert; die einen machten aus dem Kampf der ostdeutschen Arbeiter einen Kampf gegen die „stalinistischen Exzesse“, die anderen einen Kampf für die „parlamentarische und pluralistische Demokratie“. Jede Fraktion der Weltbourgeoisie versucht noch einmal, das Proletariat von Ost-Berlin und Sachsen zu ermorden mit der Verfälschung, der Beschimpfung, der Transformation seines Kampfes mit dessen Verleugnung.

Die Revolutionäre machen aus dem Kampf des Proletariats kein Studien- oder Kultobjekt. Für sie ist dieser Kampf der Vergangenheit immer noch aktuell. Deshalb ist es keine Gedenkfeier ihrerseits, sondern einen Waffe für den zukünftigen Kampf, eine Anregung zur revolutionären Aktion. Die Ereignisse von 1953 sind unsere, weil sie ein Moment des historischen Kampfes des Proletariats für seine Emanzipation sind. Sie sind ein sicherer Beweis der kapitalistischen Natur der Ostländer, die die Trotzkisten als „sozialistisch“ bezeichnen. Sie sind der Beweis, dass die unerbittlichste Diktatur des Kapitals durch seinen totalitären Staat dem Klassenkampf kein Ende bereitet. Dieser wird bestehen, solange es eine Teilung der Gesellschaft in Klassen gibt und also die Ausbeutung. Das Proletariat hat gegen die Intensivierungsmaßnahmen der Ausbeutung reagiert und der stalinistischen und trotzkistischen Lüge des „Sozialistischen und Arbeiterstaates“ eine scharfe Antwort gegeben. Die Arbeiter in Ostdeutschland haben vor den Arbeitern in Ungarn 1956 und in Polen 1970 festgestellt, dass die Kugeln der Polizei und der Armee gleicher Natur waren wie die der Jahre 1918-20 von Berlin bis Budapest. Mit dem Aufstand der ostdeutschen Arbeiter hat der Mythos der „sozialistischen Staaten“ im Bewusstsein des Weltproletariats begonnen zusammenzubrechen.

Aber vor allem haben die ostdeutschen Arbeiter – trotz ihrer Niederlage – gezeigt, dass sie die einzige Kraft sind, die zur Zerstörung der kapitalistischen Ausbeutung fähig sind. Trotz ihrer Illusionen in den „demokratischen“ Westen – Gegenstück zur Mystifikation der eisernen Diktatur des kapitalistischen Staates im Osten – haben sie die Möglichkeit einer zukünftigen proletarischen Revolution im russischen Block bewiesen: durch die Entstehung von Streik- und Fabrikkomitees über das ganze Land innerhalb einiger Tage. Nur das Gewicht der siegreichen Konterrevolution konnte die Intervention der russischen Armee und die Isolierung des ostdeutschen Proletariats vom Westteil Deutschlands und der anderen europäischen Länder ermöglichen.

Heute ist die Periode der Konterrevolution, die den proletarischen Kampf isoliert, geschwächt und gedreht hat, zu Ende. Mai 68 hat gezeigt, dass das Proletariat in Europa nicht „integriert“ ist; die Arbeiterrevolten in Polen im Dezember 1970 und Januar 1971 haben gezeigt, dass der Klassenkampf weiterging und dass die Ereignisse von 1953 nicht zufällig oder das Produkt der „Stalinisierung“ dieser Länder waren. Die allgemeine Krise des Kapitalismus gibt den Arbeitern aller Länder im Westen wie im Osten einen Anstoß in ihrem Widerstand gegen die Ausbeutung.

Trotz aller Stimmen, die in Polen (KOR, Verteidigungskomitee der gefangenen Arbeiter), in der CSSR (Charta 77) den Arbeitern weis machen wollen, dass sie für die „freie Nation“ kämpfen sollten oder sich im „Volk“ verschmelzen, können sich die Arbeiter im Ostblock nur in den internationalen Kampf des Proletariats integrieren. Gestern isoliert, werden die Arbeiter aller Länder im revolutionären Kampf vereinigt und trotz aller „eisernen Vorhänge“ morgen zum Angriff übergehen.

Der Arbeiteraufstand von 1953

Am Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Regierungen aller Länder den Arbeitern Frieden und dauerhaftes Gedeihen verspochen. Heute, dreißig Jahre danach, befinden wir uns schon wieder inmitten einer internationalen Wirtschaftskrise, welche im Osten wie im Westen den Lebensstandard der Arbeiter massiv angreift. Angesichts eines wachsenden Mangels an Märkten, einer schwebenden Inflation, Massenarbeitslosigkeit und eines drohenden Bankrotts des Systems, ist der Kapitalismus gezwungen, sich auf einen weiteren Weltkrieg – das dritte globale Massaker gegenüber dem Proletariat in diesem Jahrhundert – vorzubereiten.

In der BRD schlägt die Bourgeoisie, vor allem aber ihre extremen Fraktionen (wie etwa die Maoisten, Trotzkisten und die Neo-Faschisten) ein vereinigtes, unabhängiges, demokratisches und sogar „sozialistisches“ Deutschland als Lösung für den „deutschen“ Teil der Weltkrise vor. Wir können die Bedeutung dieser „nationalen Unabhängigkeit“ und Einheit verstehen, wenn wir uns daran erinnern, dass die Bonner Regierung den 17. Juni und die Niederlage der ostdeutschen Arbeiter immer noch zum Feiertag der deutschen Einheit macht. Hier sehen wir wieder, dass die Einheit des Bürgertums auf den Knochen der Arbeiterklasse errichtet ist. In Wirklichkeit gibt es keine kapitalistische Lösung der Krise im dekadenten Kapitalismus, welcher in einen Teufelskreis der Krise – Krieg – Wiederaufbau – neue Krise usw. marschiert und damit fortsetzen muss, bis er die Menschheit endlich zerstört hat. Gerade weil der einzige Ausweg aus dieser Barbarei die proletarische Weltrevolution ist, ist es eine lebenswichtige Aufgabe der Revolutionäre, die vergangenen Erfahrungen und Kämpfe unserer Klasse zu untersuchen, so dass aus den Niederlagen von gestern und heute der Sieg von morgen wird.

Die sogenannt „sozialistischen Länder“ Osteuropas waren als Ergebnis der imperialistischen Aufteilung der Erdkugel durch den Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Parole des heiligen Kreuzzuges gegen den Faschismus war nichts als eine Lüge, die von der westlichen und russischen Bourgeoisie benutzt wurde, um ihre Arbeiter für den Kampf um mehr Profite, Märkte und Rohstoffquellen zu mobilisieren. Die Demokratieliebe der Alliierten hatte z.B. Stalin nicht daran gehindert, ein Geschäft mit Hitler Anfangs des Krieges zu machen, wodurch Russland große Gebiete in Osteuropa erobern konnte.[1]

Als es immer klarer wurde, dass die Alliierten den Krieg gewinnen, wuchs der Interessenskonflikt offenbar innerhalb des „demokratischen Lagers“ selbst, vor allem zwischen Russland auf der einen und den USA auf der anderen Seite. Die Russen hatten nur ein Minimum an Versorgungsgütern vom Westen erhalten, und Großbritannien wollte sogar die „zweite Front“ gegen Deutschland nicht in Frankreich sondern auf dem Balkan eröffnen, um die Besetzung Osteuropas durch die Russen zu verhindern.

Was dieses Bündnis von Gangstern zusammenhielt, war die Angst, dass der Krieg, wie der Erste Weltkrieg, besonders in den niedergeschlagenen Ländern durch den Ausbruch von Klassenkämpfen frühzeitig beendet werden könnte. Die brutale Bombardierung der Alliierten gegen deutsche Städte war auf das Zermalmen der Widerstandsfähigkeit der Arbeiterklasse gerichtet. In den meisten Städten waren die Arbeiterbezirke ausgelöscht, während aber nur 10% der industriellen Anlagen zerstört wurden[2]. Der wachsende Widerstand der Arbeiter, der bis zu Aufstandsaktionen in Konzentrationslagern und in Betrieben führte, und die Unzufriedenheit der Soldaten (wie etwa die Desertionen an der Ostfront, denen mit Massenhinrichtungen begegnet wurde) wurde eiligst von den Besatzungsmächten gebrochen. Diesem Muster wurde überall gefolgt. Im Osten hat die russische Armee beiseite gestanden, während die Deutschen den 63 Tage dauernden Warschauer Aufstand niederschlugen (240`000 Tote). Und es war die russische Armee, die für die Wiederherstellung von Ordnung und sozialen Frieden in Bulgarien und anderswo auf dem Balkan sorgte. Im Westen waren die KPs in die Nachkriegsregierungen von Frankreich und Italien eingetreten, um dort aufflammende Streikbewegungen und Unruhe zu bekämpfen. An der Macht unterstützte die italienische KP die gleichen demokratischen Alliierten, die die italienischen Arbeiter, die kurz vor Kriegsende Fabriken besetzt hatten, unbarmherzig bombardierten.

Die „Sowjets“ fingen dann an, eine organisierte Ausplünderung der besetzten Gebiete Osteuropas auszuüben. In der „Sowjetischen Besatzungszone“ (SBZ) Ostdeutschlands betrug die Demontage von industriellen Anlagen, die in die Sowjetunion transportiert wurden, 40% der industriellen Leistungsfähigkeit der SBZ. Die „Sowjetischen Aktiengesellschaften“ (SAG) wurden 1946 gegründet. Zweihundert Betriebe in den Schlüsselindustrien, einschließlich beispielsweise die Leuna-Werke, wurden von den Russen übernommen. Nach Kriegsende hatten die Arbeiter in manchen Gebieten selbst Betriebe wieder repariert und in Gang gesetzt – solche Betriebe wurden besonders gern übernommen. 1950 hatten die SAGs folgendes Gewicht in der ostdeutschen Wirtschaft: „…knapp 23% der Chemie, ein Drittel der metallurgischen Erzeugnisse und rund ein Viertel der Produkte des Maschinenbaus“ (Staritz, Sozialismus in einem halben Land, S. 103). Die Profite wurden zu gutem Teil auf Reparationskonten der Russen überwiesen. Die DDR war bis 1953-54 zu Reparationszahlungen an Russland verpflichtet, bis zu dem Zeitpunkt als es klar wurde, dass die Reparationen der russischen Wirtschaft selber schadeten[3]. Und so war das ostdeutsche Proletariat gezwungen, für den Wieder- und Weiteraufbau der sowjetischen Kriegswirtschaft mit zu zahlen. Stalin hatte aber nie erklärt, warum das „sozialistische Mutterland“ die Arbeiterklasse und den „Arbeiterstaat“ in Deutschland für die Verbrechen ihrer Ausbeuter zahlen ließ.

Die Konsolidierung der Wirtschaftsmacht des russischen Imperialismus in Ostdeutschland und Osteuropa wurde von der Machteroberung pro-russischer Fraktionen in diesen Ländern begleitet. In der SBZ kamen die Stalinisten der KPD mit den sozialdemokratischen Mördern der Deutschen Revolution zusammen, um die Sozialistische Einheitspartei (SED) zu bilden. Ihre unmittelbaren Nachkriegsziele waren schon kurz vor dem Krieg von der KPD deutlich zum Ausdruck gebracht worden: „Die neue demokratische Republik wird (…) (dem) Faschismus seine materielle Basis durch die Enteignung des faschistischen Trustkapitals entziehen und sich (…) in der Armee, der Polizei und im Beamtenapparat zuverlässige Verteidiger der demokratischen Freiheiten und der demokratischen Volksrechte schaffen.“ (Staritz, S. 49)

Verstärkung und „Demokratisierung“ der Armee, der Polizei, des Beamtenapparates… solche Lehren hatten diese gutbürgerlichen „Marxisten“ von Marx, von Lenin und aus der Pariser Kommune gezogen!

Und dann, drei Jahre nach Kriegsende, wurde angekündigt, dass nun der Aufbau des Sozialismus begonnen habe. Ein wundervoller Sozialismus, der auf den Leichen eines vollständig niedergeschlagenen Proletariats aufgebaut wurde. Es ist interessant zu notieren, dass zwischen 1945-48 nicht einmal die SED heuchelte, dass die staatskapitalistischen Maßnahmen, die durchgesetzt wurden, irgendetwas mit Sozialismus zu tun hätten. Und heute wollen Linkstümler aller Arten, die die Lüge Verstaatlichung = Sozialismus verkaufen, gern den hohen Grad der Verstaatlichung in den osteuropäischen Ländern schon vor dem Krieg und vor allem unter den „reaktionärsten“ Regierungen wie in Polen und Jugoslawien „übersehen“[4]. Diese Zentralisierung der Wirtschaft unter der Leitung des Staates wurde während der deutschen Besetzung fortgesetzt. In der Tat – die berühmte Deklarierung „Der Aufbau des Sozialismus“ und die nach 1948 erfolgte ökonomische, politische und militärische Umorganisierung in Osteuropa waren das direkte Resultat einer Festigung des globalen Konflikts zwischen dem amerikanischen und dem russischen Block.

„Der Zweijahresplan sah (gemessen an 1947) bis 1950 die Erhöhung der Produktion um 35% vor, rechnete mit einer Steigerung der Arbeitsproduktivität um 30%, einem Anwachsen der Gesamtlohnsumme um 15% und einer Senkung der Selbstkosten der Volkseigenen Betriebe um sieben Prozent. Die SED zielte mithin darauf, die Arbeitsproduktivität doppelt so rasch zu erhöhen wie die Löhne. Mittel zu diesem Zweck sahen die Planer vor allem in der Verbesserung der Arbeits-Organisation, dem Übergang zu Leistungslöhnen, der Einführung einer „richtigen Normung“ und im Kampf gegen die Arbeitsbummelei“[5].

Kurzfristige Lohnerhöhungen nach 1948 waren, sofern sie stattfanden, durch Akkordleistungen und „Produktivitätserrungenschaften“ – also durch eine Steigerung der Ausbeutungsrate – erreicht worden. Diese Periode war von der Hennecke-Bewegung (das DDR-Gegenstück zum russischen Stachanowismus) und von einer eisernen, von der Gewerkschaft auferlegten Parteidisziplin charakterisiert. Aber trotzdem waren diese Lohnerhöhungen immer unerträglicher für die Wirtschaft und mussten daher gestoppt werden. Der wirtschaftlich schwächere Ostblock sah sich ständig weniger in der Lage, mit den von den Amerikanern geleiteten Konkurrenten Schritt zu halten. Um überhaupt zu überleben, war es notwendig, Superprofite aus den Proletariern zu pressen und diesen Mehrwert in die Schwerindustrie (also in die zur Kriegsführung notwendigen Industrien) zu investieren, zum Nachteil der Entwicklung der Infrastruktur, der Konsumgüterindustrie und verschiedener anderer. Diese Lage, die die unmittelbare und zentralisierte Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat forderte, hatte die Bourgeoisie dazu gezwungen, einen frontalen Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu unternehmen.

Die Antwort des Proletariats darauf war eine Welle von Klassenkämpfen, welche zwischen 1953-56 Osteuropa erschütterten. Die Bewegung fing im frühen Juni 1953 mit den Arbeiterdemonstrationen in Pilsen (CSSR) an, denen unmittelbar danach der Aufstand in der DDR und die Revolte in den riesigen Vorkuta-Zwangsarbeitslagern in der UdSSR folgten. Und sie erreichte 1956 mit den Ereignissen in Polen und dann in Ungarn, wo Arbeiterräte gebildet wurden, ihren Höhepunkt.

Es wurde geschätzt, dass in Osteuropa der reale Lohn 1950 etwa die Hälfte des Standards von 1936 betrug. Im Juli 1952 kündigte die SED die Eröffnung einer neuen Periode des „beschleunigten Aufbaus des Sozialismus“ an, womit gemeint war: eine weitere Erhöhung der Investitionen in der Schwerindustrie, weitere Produktivitätssteigerungen, eine weitere Erhöhung der Produktionsnormen. Der Nachkriegswiederaufbau sollte beschleunigt werden. Im Frühling 1953, in einer Zeit als die Gewerkschaften in Westberlin Probleme hatten, die Kampfbereitschaft der Bauarbeiter zu kontrollieren, eröffnete die Ostberliner Regierung eine Kampagne, um die Produktionsnormen, unter anderem der Bauarbeiter, zu erhöhen. Am 28. Mai hatten 60% der Arbeiterschaft auf den riesigen Baustellen der Stalinallee ihre Normen „freiwillig erhöht“ (dies ist die Sprache des realen Sozialismus). Die Auswirkungen der über das Land verbreiteten Produktionskampagne auf die Arbeiterklasse waren bereits zu erkennen. Im Mai wurde in Magdeburg und in Karl-Marx-Stadt gestreikt. Als Antwort darauf hatte die Regierung eine allgemeine Normerhöhung um 10% für den 5. Juni angekündigt.

Eine durch die Stimmung unter den Arbeitern verunsicherte Anti-Ulbricht-Gruppierung innerhalb der SED-Führung setzte nun vermutlich mit Unterstützung des Kremls ein Reformpaket durch, das offenbar dem Zweck dienen sollte, die Unterstützung der Mittelschichten für die Regierung zu gewinnen. Zunächst wollte diese Gruppierung die Sache mit den Normen langsamer angehen[6].

Aber jetzt war es sowieso zu spät, den proletarischen Ausbruch mit irgendwelchen Manövern zu verhindern. Am 16. Juni waren die Bauarbeiter auf die Straße gegangen und bildeten einen militanten Zug, um die anderen Arbeiter mitzuziehen. Die Demonstration führte zuletzt zu den Regierungsgebäuden. Der für den folgenden Tag ausgerufene Generalstreik legte Ostberlin lahm und wurde in allen wichtigen Städten befolgt. Der Kampf war durch von Regierung und Gewerkschaft unabhängige Streikkomitees organisiert, welche von den Arbeitern in offenen Versammlungen gewählt wurden und unter ihrer Kontrolle blieben. Die Auflösung der Parteizelle im Betrieb war oftmals die erste Forderung der Arbeiter. In Halle, Merseburg und Bitterfeld, dem industriellen Herz Ostdeutschlands, wurden Streikkomitees für die gesamte Stadt gebildet, und die Streikkomitees dieser drei Städte versuchten ihren Kampf gemeinsam zu koordinieren und zu führen. Diese Komitees übernahmen die Aufgabe, den Kampf zu zentralisieren und die Versorgung der Städte vorübergehend zu verwalten. „In Bitterfeld forderte das zentrale Streikkomitee die Feuerwehr auf, die Mauern von offiziellen Parolen zu säubern. Die Polizei nimmt weiterhin Verhaftungen vor; das Komitee bildet Kampfabteilungen und lässt systematisch die Stadtviertel besetzten. Aus dem Bitterfelder Gefängnis werden die politischen Häftlinge im Namen des Streikkomitees entlassen. Dagegen wird im Namen derselben Autorität der frühere Bürgermeister festgenommen.“ (Benno Sarel, Arbeiter gegen den Kommunismus, S. 146).

Über das ganze Land hinweg waren die Parteizentralen besetzt oder niedergebrannt. Die Gefängnisse wurden geöffnet und die Gefangenen auf freien Fuß gesetzt. Der repressive Apparat des Staates war paralysiert. Nur die russischen Panzer konnten der Regierung helfen. In Ostberlin wurde der Widerstand des mit Flaschen und Stangen ausgerüsteten Proletariats durch 25.000 Mann russische Truppen und 300 Panzer niedergeschlagen. In Leipzig, Magdeburg und Dresden wurde die Ordnung innerhalb einiger Stunden wiederhergestellt. In anderen Gebieten dauerte es länger. In Ostberlin fanden drei Wochen später immer noch Streiks statt.

Wegen der Geschwindigkeit, mit der die Arbeiter auf die Straße gegangen waren, den Kampf verbreitet und sich direkt politisiert hatten, vor allem aber weil die Notwendigkeit, den Staat offen zu konfrontieren verstanden wurde, war es dem Proletariat gelungen, die repressiven Einrichtungen der ostdeutschen Bourgeoise zu paralysieren. Jedoch ebenso wie die rasche Verbreitung des Streiks über das ganze Land die effektive Benutzung der Polizei gegen die Arbeiter verhindert hatte, hätte es eine internationale Ausdehnung des Kampfes gebraucht, um der Gefahr der „Roten Armee“ zu begegnen. In diesem Sinn können wir sagen, dass in der Tiefe einer weltweiten Konterrevolution infolge der Niederlage der revolutionären Welle 1917-23 der Aufstand der ostdeutschen Arbeiter wegen ihrer Isolation gegenüber ihren Klassenbrüdern im Ausland, im Osten wie im Westen, niedergeschlagen wurde. Tatsächlich hat das Gewicht einer langen Konterrevolution eine politische Schranke vor die Erweiterung des Kampfes errichtet – gegen die Möglichkeit, die Bewegung von einer Revolte in eine Revolution zu wenden – die furchtbarer war als die Bajonette des russischen Imperialismus. Der Faden, der die Klasse mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit ihren bisherigen Erfahrungen und Kämpfen verbindet, war längst durch Noske, Hitler, Stalin, den blutigen Helden der Konterrevolution, durch Konzentrationslager und Flächenbombardierung, durch Demoralisierung und Zerstörung ihrer politischen Fraktionen (z.B. der Mord an Liebknecht und Luxemburg, der Sieg der Konterrevolution in Russland, die Zersplitterung der KAPD) zerschnitten worden. Nachdem sie so lange unter dem Faschismus und dem Stalinismus gelitten hatten, stellten sich die Arbeiter vor, dass vielleicht die parlamentarische Demokratie sie vor der schlimmsten Ausbeutung etwas schützen würde. Und so forderten sie „freie Wahlen“. Sie schickten Delegierte nach Westberlin, um die Hilfe und Solidarität des dortigen Staates und der Gewerkschaften zu erbitten: Sie erhielten nichts. Die Westberliner Polizei, französischen und britische Truppen waren entlang der Stadtgrenzen mit Ostberlin aufgestellt, um Solidaritätsbewegungen zwischen den östlichen und westlichen Arbeitern zu verhindern. Die westlichen Gewerkschaften lehnten den Vorschlag, einen Solidaritätsstreik auszulösen, ab und warnten die östlichen Arbeiter vor Illegalität und Abenteuern. Die Arbeiter forderten die russische Armee auf, neutral zu bleiben (sich nicht „in die inneren Angelegenheiten der Deutschen einzumischen“, laut den Streikkomitees vor allem in Bitterfeld). Die Arbeiter wollten Ulbricht und seine Freunde aus der Welt schaffen. Sie sahen nicht, dass ein Ulbricht durch Andere ersetzt werden kann, dass wir nicht diese oder jene Regierung stürzen müssen, sondern das kapitalistische Weltsystem zerstören müssen, das wie ein Stein an unserem Hals hängt. Sie kamen aber nicht so weit, den Kampf durch Arbeiterräte politisch zu zentralisieren, um den bürgerlichen Staat zu vernichten.

Die DKP und die westdeutschen Maoisten meinten, dass der 17. Juni ein von Bonn und Washington organisierter „faschistischer“ Aufstand gewesen sei. Dadurch beweisen sie wieder einmal ihren anti-proletarischen Charakter. Die Arbeiterklasse wird solche Strömungen (oder andere – wie die des „Genossen“ Bahro, der den östlichen Staatskapitalismus und seinen beliebten „Arbeiterstaat“ so gerne demokratisieren möchte, um soziale Ruhe und Ordnung zu sichern) auf die Müllkippe der Geschichte werfen. Die Logik solcher Strömungen zeigt z.B. ein Flugblatt, das der KBW zum 25. Jahrestag der DDR-Ereignisse herausbrachte. Diese selbsternannten Wachhunde der stalinistischen Reinheit argumentieren: Die „Tatsache“, dass die westdeutsche Regierung den Aufstand „unterstützt“ habe, beweise, dass es sich damals um nichts anderes gehandelt habe als um einen faschistischen Putschversuch. Tatsächlich unterstützte die Bourgeoisie im Westen diesen Aufstand auf die gleiche Weise wie die Gewerkschaften Streikbewegungen unterstützen: um sie in die Sackgasse zu führen. „Stimmen tut lediglich, dass die Leute, die dort am 17. Juni ihr Unwesen getrieben haben, in der Tat machtlos waren, gerade weil es keine „mutigen Arbeiter“ waren, sondern Provokateure, Imperialistenknechte ohne Rückendeckung von der Arbeiterklasse, die natürlich wie Hasen anfangen zu laufen, wenn die Rote Armee, damals eine Armee der Arbeiterklasse, gegen diesen konterrevolutionären Putschversuch auftritt.“ (Flugblatt des KBW, 15. Juni 1978)

Ja, so einfach kann das alles erklärt werden. Trotzdem ist es für diese Papageien der Konterrevolution notwendig, über die Fehler Onkel Walters (Ulbricht) und die Konfusionen der Arbeiterklasse etwas zu murmeln. Wie war es denn passiert, dass drei Jahre nach diesem ersten „Faschistenabenteuer“ Massen von ungarischen Arbeitern Stalins Panzer mit Molotov-Cocktails bekämpften? Warum greifen die Arbeiter ihre „eigene“ Armee so oft und so wütend an? Und wieso haben diese „mutigen Arbeiter“ keinen Finger gerührt, um „ihren Staat“ und „ihre Revolution“ vor der in maoistischen Kreisen berühmten blutlosen „Konterrevolution“ durch Chruschtschow zu retten?

Es gehört zu den Bedingungen des Klassenkampfes im dekadenten Kapitalismus, dass die Arbeiter in Ostdeutschland 1953 und in Ungarn 1956 in ihren Zusammenstößen mit dem System unmittelbar mit der Macht und der Feindseligkeit der Weltbourgeoisie konfrontiert wurden. Die betrügerischen, von westlichen Propagandisten gestellten Ziele der Demokratie und der Einheit Deutschlands begleiteten die Aktionen der Roten Armee bei der Niederschlagung des Proletariats. In der Manipulation von Lügen erwies sich die Bourgeoisie der „alten“ Kapitale erneut als wahrer Meister. Ihre Strategie war:

die Arbeiterkämpfe sobald wie möglich zu beenden, und vor allem zu verhindern, dass die Bewegung sich über die Grenzen hinaus nach Westen ausdehnt;

durch die Umleitung der Bewegung auf ein bürgerliches Terrain (ein Kampf für „Demokratie“, „Freiheit“ usw.), hoffte der Westen, seinen politischen Einfluss auf den russischen Block zu vergrößern.

Jedoch war die Ideologie der westlichen Bourgeoisie in erster Linie gegen ihr „eigenes“ Proletariat gerichtet. Die ganzen Reden über den niedrigen Lebensstandard und den Freiheitsmangel „des Volkes“ im Osten werden vor allem jetzt mehr und mehr Teil des Versuches, die Demokratie zu benutzen, um den Widerstand der Arbeiter gegen die Austerität und die totale Kriegswirtschaft zu brechen. Die ideologische Intervention des westlichen Blocks war 1953 besonders wichtig; dadurch dass sie beigetragen hat, die Arbeiter politisch zu entwaffnen, half sie sogar dem Stalinismus, an der Macht zu bleiben.

1956 in Ungarn und Polen war es vor allem der Nationalismus, als wirksamste Waffe, der den Arbeiterwiderstand bremste und auflöste. Nur Monate nach der Niedermetzlung der Arbeiter in Poznan (Posen) war die KP in Polen in der Lage, der Bevölkerung Warschaus Waffen zu geben, um das Vaterland gegen die Russen zu verteidigen. Im Gegensatz dazu fühlte sich die Regierung in Ostberlin durch den deutschen Nationalismus zum Teil sogar bedroht, weil dieser Nationalismus die Gefahr des Westens – die Angst, von Bonn aufgefressen zu werden – verkörperte. Genauso war eine Zusammenschluss aller Klassen, um das nationale Kapital gegen die Russen zu verteidigen, von vorneherein ausgeschlossen. Die Existenz der DDR selbst hängt von der Macht Russlands ab. Unfähig, selbst Mystifikationen zu verbreiten, lässt sich die SED von ausländischen Panzern und Demokratie-Gelaber retten.

Die Arbeiterklasse gibt den Klassenkampf nie auf, sie war nie und konnte niemals eine Klasse-fürs-Kapital sein. Gegenüber den Lügen der Bourgeoisie und ihren linken Fraktionen – welche unaufhörlich der Arbeiterklasse Militarismus, Aristokratismus, Rassismus usw. vorwirft; gegenüber einer Vorstellung, die die Klasse nur unmutig, resigniert und niedergeschlagen sieht, verteidigen die Revolutionäre das Verständnis, dass das Herz der Klassengesellschaft heute der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital ist, welche einander in von den materiellen Bedingungen ihrer Existenz bestimmter Lage in permanenter Feindseligkeit gegenüberstehen. Da das Proletariat keine ökonomische Macht innerhalb dieser Gesellschaft besitzt, kann die Zerstörung des Kapitalismus nur eine politische Handlung sein, eine Übung des revolutionären Bewusstseins und des Willens der Arbeitenden. Es war ein bestimmter Erfahrungs- und Bewusstseinsmangel seitens der Klasse und ihrer revolutionären Minderheiten, an dem die Oktoberrevolution 1917 scheiterte. In der gleichen Weise waren alle Versuche der 1940er und 50er Jahre, dem Kapitalismus zu widerstehen, durch die tiefe Konfusion und Demoralisierung infolge der Niederlage der Oktoberrevolution zum Scheitern verurteilt.

Den Gipfel des Idealismus erreichen die Rätekommunisten, zum Beispiel Daad en Gedachte in Holland, mit ihrer Behauptung, dass die Ereignisse vom Juni 1953 wieder einmal die grenzenlose Macht der Massenspontaneität des Proletariats – welche sie der Notwendigkeit einer Klassenpartei entgegenstellen – bewiesen habe. Aber genauso fremd zum Marxismus ist der typische Begriff der Bordigisten, welche jede Niederlage durch das Fehlen der revolutionären Partei erklären will. Durch seine Natur als eine ausgebeutete und zugleich revolutionäre Klasse, tritt das Proletariat ohne Vorbereitung in den Kampf ein. Aber um sich zu verteidigen und um das Kapital konfrontieren zu können, müssen die Arbeiter ihre Kämpfe im vollen Bewusstsein organisieren und führen. Die Klasse schmiedet ihre Waffen, ihre Organe, in den Flammen des Klassenkampfes selbst. Durch diese Organe stellt sie ihren unmittelbaren Kampf auf den Boden ihrer Klasseninteressen, des Kampfes um den Kommunismus. In revolutionären Konfrontationen organisiert sich die Masse der Arbeiter in Räten, welche die Offensiven und die vorübergehenden Rückzüge veranlassen und koordinieren, und den Tag des Aufstandes vorbereiten. Dadurch überschreitet die Klasse ihre eigene Spontaneität und wird eine einzige untrennbare revolutionäre Kraft.

In der Tat stellen die Rätekommunisten und die Bordigisten die Frage auf die falsche Weise. Es sind nicht die Räte oder die Partei „an sich“, sondern die bewusste Selbstorganisation der Klasse, die für den Sieg der Revolution unerlässlich ist. Die Gründung der Partei und der Räte sind zwei getrennte und grundsätzliche Momente dieses Prozesses der Selbstorganisation der Klasse. Kein einziger Kampf der Arbeiter, noch weniger in der Tiefe einer konterrevolutionären Periode, erreicht den Sieg, nur weil jemand die Weltpartei gründet. Die Weltpartei ist nicht allein eine Sammlung von Prinzipien; noch weniger ist sie der als eine Realität wahrgenommene Traum irgendeiner kranken Sekte. Die Weltpartei von Morgen bedeutet die militante und disziplinierte Selbstorganisation der kämpferischsten und bewusstesten Elemente der Klasse, welche einen dynamischen Beitrag leisten zu den Kämpfen des Proletariats, ihren Bestrebungen, sich zu organisieren, und ihrer Aufgabe, sich als Klasse zu begreifen. Als Produkt des Klassenkampfes bildet sich die Partei nicht spontan durch denselben, sondern wird durch lange Jahre organisierter theoretischer und praktischer Arbeit erreicht. Und wir sind in dieser Arbeit der Vorbereitung jetzt engagiert.

Während das Fehlen von revolutionären Minderheiten in den Kämpfen von 1953-56 ein Symptom der Schwäche der Klasse während dieser Periode war, zeigt uns das Auftauchen und die Konsolidierung solcher Minderheiten seit 1968, dass eine neue revolutionäre Periode eröffnet ist. Die Streiks in Ostberlin und in Karl-Marx-Stadt sowie die Unruhen in Wittenberg und Erfurt, die in der letzten Zeit stattfanden, kündigen an, dass auch die DDR in eine neue Ära von Klassenkämpfen und sozialen Krisen geraten ist. In Osteuropa wurden die ersten mutigen Versuche der Arbeiter, der Krise zu widerstehen (in Polen, Rumänien usw.) niedergeschlagen, ohne dass sie einen hohen Grad an Politisierung erreicht haben. Heute verstärkt sich ideologisch und militärisch eine Weltbourgeoisie, die sich jetzt der Notwendigkeit bewusst wird, ihre internen Konflikte dem allgemeinen Ziel der Niederschlagung des Proletariats zu unterwerfen. Weil es für die Imperialisten notwendig wird, zum Krieg hinzuarbeiten, bereiten sie sich vor allem auf den Bürgerkrieg vor, weil nur geschlagene Arbeiter gute Soldaten sind.

Diese neue Offensive der Bourgeoisie, die uns kaputt hauen und in den Krieg zu schicken versuchen, muss von der Arbeiterklasse in Ost und West beantwortet werden. 25 Jahre nach dem Aufstand der Arbeiter in Ostdeutschland setzen wir der lügnerischen Einheitsrede der Bourgeoisie die Einheit und Solidarität der Arbeiter und Revolutionäre aller Länder entgegen.

Krespel, 1978

[1] Man könnte ein ganzes Buch mit schönen Zitaten von Stalinisten über den Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts 1939 schreiben. Der Funktionär Ulbricht schreibt im Februar 1940: „Wer gegen die Freundschaft zwischen dem deutschen und dem Sowjetvolk intrigiert, ist ein Feind des deutschen Volkes und wird als Helfershelfer des englischen Imperialismus gebrandmarkt.“

Und die Erklärung der KPD vom August 1939: „Das ganze deutsche Volk muss Garant für die Erhaltung des Nichtangriffspakts (…) sein“, der dem deutschen „Volk“ sogar die Gelegenheit gebe, „Hitler zur Aufgabe der imperialistischen Kriegspolitik zu zwingen“.    

[2] Die Alliierten wollten die industriellen Anlagen deshalb nicht zerstören, weil sie sie nach dem Krieg mit nach Hause nehmen wollten.

[3] Dadurch, dass Russland die DDR so weitgehend ausgeraubt hatte, musste es auch auf die notwendigen Güter verzichten, die ihnen die Ostdeutschen mit ihrer sehr ausgebildeten Arbeiterklasse sehr gut und billig geliefert hätten. Ein weiterer Grund, die Reparationen zu streichen, war die Gefahr der sozialen Instabilität, die nach 1953 ziemlich deutlich geworden war.        

[4] Die Situation der Tschechoslowakei zeigt uns die Wahrheit dieser staatskapitalistischen Entwicklung, die auch ohne Stalinisten und „Arbeiterparteien“ in Gang gesetzt worden war. Laut Benes, dem damaligen konservativen tschechoslowakischen Staatspräsidenten: „Die Deutschen übernahmen einfach die Kontrolle über die hauptsächlichen Industrien und alle Banken. Wenn sie sie nicht direkt nationalisierten, warfen sie sie in die Hände großer deutscher Konzerne… Auf dieser Weise bereiteten sie automatisch die Wirtschaft und das Finanzkapital unseres Landes auf die Nationalisierung vor. Das Eigentum und die Banken in die Hände tschechischer Individuen zurückzugeben oder sie ohne finanzielle Garantien zu konsolidieren, war einfach unmöglich. Der Staat hatte einzugreifen.“ (Bureaucracy and Revolution).           

[5] Staritz, S. 107. Der Autor vergisst hier, dass ein Anwachsen der Gesamtlohnsumme um 15% nicht eine Lohnerhöhung um 15% bedeutet, sondern in erster Linie eine Zunahme der Zahl der Beschäftigten. 

[6] Es geht um die Gruppe um Franz Dehlem. Bei jeder politischen Krise im Ostblock schieben sich Fraktionen der Bourgeoisie vor, die irgendetwas demokratisieren oder verändern wollen, um eine Konfrontation mit dem Proletariat zu vermeiden. 1956 waren es Gomulka in Polen und Nagy in Ungarn. 1968 war es Dubcek in der CSSR. Heute ist es mit der Opposition in Polen, den Bürgerrechtlern in Russland, der Charta 77 in der CSSR und Bahro, Havemann, Biermann und Freunden in der DDR genauso.   

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [1]

Die Rolle der Frau bei der Entstehung der menschlichen Solidarität (Teil 2)

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Im ersten Teil dieses Artikels, der auf Deutsch in der Weltrevolution Nr. 176 [2] sowie auf unserer Homepage veröffentlicht wurde, betrachteten wir - auf der Grundlage einer Kritik von Christoph Darmangeats Buch Le communisme primitif n’est plus ce qu’il était - die Rolle der Frau bei der Entstehung der Kultur in unserer Spezies, dem Homo sapiens.[1] In diesem zweiten und letzten Teil wollen wir eines der mutmaßlich fundamentalsten Probleme untersuchen, die sich der primitiven kommunistischen Gesellschaft stellten: Wie produzierte die Evolution der Gattung der Hominini eine Spezies, deren bloßes Überleben auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Solidarität beruht, und wie sah insbesondere die Rolle der Frau in diesem Prozess aus? Dabei gründen wir uns selbst im Wesentlichen auf das Werk des britischen Anthropologen Chris Knight Im ersten Teil dieses Artikels, der auf Deutsch in der Weltrevolution Nr. 176 [2] sowie auf unserer Homepage veröffentlicht wurde, betrachteten wir - auf der Grundlage einer Kritik von Christoph Darmangeats Buch Le communisme primitif n’est plus ce qu’il était - die Rolle der Frau bei der Entstehung der Kultur in unserer Spezies, dem Homo sapiens.[1] In diesem zweiten und letzten Teil wollen wir eines der mutmaßlich fundamentalsten Probleme untersuchen, die sich der primitiven kommunistischen Gesellschaft stellten: Wie produzierte die Evolution der Gattung der Hominini eine Spezies, deren bloßes Überleben auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Solidarität beruht, und wie sah insbesondere die Rolle der Frau in diesem Prozess aus? Dabei gründen wir uns selbst im Wesentlichen auf das Werk des britischen Anthropologen Chris Knight.

Die Rolle der Frauen in der primitiven Gesellschaft

Was ist laut Christophe Darmangeat schließlich die Rolle und die Situation der Frauen in der primitiven Gesellschaft? Wir können hier nicht die gesamte Argumentation wiedergeben, die in seinem Buch enthalten ist und die sich durch solide Kenntnisse der Ethnographie und bemerkenswerte Beispiele auszeichnet. Wir werden uns stattdessen auf eine Zusammenfassung seiner Schlussfolgerungen beschränken.

Eine erste Feststellung, die einleuchtend erscheint, es in der Realität aber nicht ist, lautet, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung eine universelle Konstante in der menschlichen Gesellschaft bis zum Erscheinen des Kapitalismus ist. Der Kapitalismus bleibe eine fundamental patriarchalische Gesellschaft, die auf der Ausbeutung basiert (welche die sexuelle Ausbeutung, die Sexindustrie als eine der profitabelsten Industrie in der neueren Zeit mit beinhaltet). Nichtsdestotrotz habe der Kapitalismus durch die offene Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft und durch die Entwicklung einer Maschinerie (so dass die Körperkraft nicht mehr eine wichtige Rolle im Arbeitsprozess spielt) die Arbeitsteilung zwischen der „maskulinen“ und der „femininen“ Rolle in der gesellschaftlichen Arbeit zerstört. Auf diese Weise habe er das Fundament für eine wirkliche Befreiung der Frauen in der kommunustischen Gesellschaft gelegt.[2]

Die Lage der Frauen unterscheidet sich in den unterschiedlichen primitiven Gesellschaften, die Anthropologen zu untersuchen in der Lage waren, enorm: In einigen Fällen leiden Frauen unter einer Unterdrückung, die mehr als einen flüchtigen Vergleich mit der Klassenunterdrückung standhält, während sie in anderen nicht nur eine gesellschaftliche Wertschätzung genießen, sondern auch ganz real gesellschaftliche Macht ausüben. Wo solche Macht existiert, basiert sie auf den Eigentumsrechten über die Produktion, die durch das religiöse und rituelle Leben der Gesellschaft verstärkt werden: Um nur ein Beispiel zu nennen, berichtet uns Bronislaw Malinowski (in Argonauten des westlichen Pazifik), dass die Frauen der Trobriand-Inseln nicht nur das Monopol auf die Arbeit des Gartenbaus (von größter Bedeutung für die Inselwirtschaft) hatten, sondern auch auf verschiedene Formen der Magie, einschließlich jener, die als die gefährlichsten anerkannt sind)[3].

Während jedoch die geschlechtliche Arbeitsteilung von einem Volk und einer Existenzweise zum/zur nächsten sehr unterschiedliche Situationen umfassen kann, gibt es eine Regel, die fast ohne Ausnahme angewandt wird: Überall sind es die Männer, die das Recht haben, Waffen zu tragen, und die daher ein Monopol auf die Kriegführung haben. Infolgedessen haben sie ein Monopol auf die „äußeren Beziehungen“. Als sich die gesellschaftliche Ungleichheit zu entwickeln begann, zunächst mit der Lagerhaltung von Lebensmitteln, dann, in der Jungsteinzeit, mit der voll entfalteten Landwirtschaft und dem Aufkommen des Privateigentums und der gesellschaftlichen Klassen, erlaubte es ihre spezifische Situation den Männern, Stück für Stück die Totalität des Gesellschaftslebens zu dominieren. In diesem Sinn lag Engels zweifellos richtig, wenn er in Ursprung der Familie… sagte: „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“.[4] Dennoch sollte man tunlichst vermeiden, die Dinge schmeatisch zu betrachten, da selbst die ersten Zivilisationen in dieser Hinsicht alles andere als homogen waren. Eine Vergleichsstudie etlicher früher Zivilisationen[5] weist auf ein breites Spektrum hin: Während die Lage der Frauen in mittelamerikanischen und Inkagesellschaften wenig beneidenswert war, besaßen beispielsweise unter den Yoruba in Afrika die Frauen nicht nur Eigentum und übten ein Monopol auf bestimmte Produkte aus, sie betrieben auch einen ausgedehnten Handel auf eigene Rechnung und konnten selbst diplomatische und militärische Expeditionen anführen.

Die Frage der Mythologie

Bisher beschränkten wir uns mit Darmangeat auf den Bereich von Untersuchungen „historisch bekannter“ primitiver Gesellschaften (in dem Sinn, dass sie von den schriftkundigen Gesellschaften, von der antiken Welt bis zur modernen Anthropologie, beschrieben worden waren). Dies kann uns allenfalls etwas über die Lebensumstände seit der Erfindung der Schrift vor ungefähr 6000 Jahren verraten. Doch was können wir über die 200.000 Jahre des anatomisch modernen Menschen sagen, die dem vorausgingen? Wie sollen wir den entscheidenden Augenblick verstehen, als die Natur der Kultur als determinierender Hauptfaktor im menschlichen Verhalten Platz machte, und wie sind genetische und kulturelle Elemente in der menschlichen Gesellschaft miteinander verwoben? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine rein empirische Betrachtung bekannter Gesellschaften völlig unzureichend.

Einer der auffälligsten Aspekte in der Untersuchung früher Zivilisationen (s.o.) ist, dass, wie unterschiedlich auch immer das Bild ist, das sie von den Lebensbedingungen der Frauen zeichnen, sie alle Legenden enthalten, die sich auf Frauen als Häuptlinge beziehen, welche gelegentlich mit Göttinnen identifiziert werden. Alle von ihnen haben im Laufe der Zeit einen Niedergang in der Lage der Frauen erlebt. Man ist versucht, ein allgemeines Gesetz hierin zu erblicken: Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto größer war die gesellschaftliche Autorität, die die Frauen besaßen.

Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn wir noch primitivere Gesellschaft untersuchen. Auf jedem Kontinent finden wir ähnliche oder gar identische Mythen: Einst besaßen die Frauen Macht, doch seither haben die Männer ihnen diese Macht entrissen, und nun sind sie es, die herrschen. Überall wird die Macht der Frauen mit dem mächtigsten Zauber von allen in Verbindung gebracht: dem Zauber, der auf dem Monatszyklus der Frauen und ihrem Menstruationsblut basiert, was bis zu Ritualen reicht, in denen Männer die Menstruation imitieren.[6]

Was können wir aus dieser allgegenwärtigen Realität schließen? Können wir daraus den Schluss ziehen, dass sie eine historische Realität repräsentiert und dass einst eine Gesellschaft existierte, in der Frauen eine führende, wenn nicht gar notwendigerweise eine herrschende Rolle innehielten?

Für Darmangeat ist die Antwort unmissverständlich und negativ: „… der Gedanke, dass Mythen, die von der Vergangenheit berichten, von einer wirklichen Vergangenheit, wenn auch deformiert, erzählen, ist eine äußerst kühne, um nicht zu sagen: haltlose Hypothese“ (S. 167). Mythen „erzählen Geschichten, die nur in Bezug auf die gegenwärtige Realität eine Bedeutung haben und die die Funktion haben, Letztere zu rechtfertigen. Die Vergangenheit, von der sie sprechen, wird allein dafür erfunden, um dieses Ziel zu erfüllen“ (S. 173).

Dieses Argument ist in zweierlei Hinsicht problematisch.

Das erste Problem ist, dass Darmangeat ein Marxist zu sein behauptet, der bei der Aktualisierung seiner Schlussfolgerungen der Methode von Engels treu geblieben sei. Doch auch wenn Engels‘Ursprünge der Familie… sich ausgiebig auf Lewis Morgan stützt, pflichtet er auch dem Werk des Schweizer Juristen Bachofen große Bedeutung bei, der der erste war, der die Mythologie als eine Grundlage zum Verständnis der Geschlechterbeziehungen in der fernen Vergangenheit benutzte. Laut Darmangeat ist Engels „überaus vorsichtig bei seiner Rezeption von Bachofens Matriarchats-Theorie (…) obgleich er sich zurückhält bei der Kritik an der Theorie des Schweizer Juristen, unterstützt er sie nur sehr eingeschränkt. Es gibt nichts Überraschendes hier: In Anbetracht seiner eigenen Analyse der Gründe für die Vorherrschaft des einen Geschlechts über das andere konnte Engels kaum akzeptieren, dass vor der Entwicklung von Privateigentum der Vorherrschaft der Männer über die Frauen die Vorherrschaft der Frauen über die Männer vorausging; er stellte sich die prähistorischen Geschlechterbeziehungen vielmehr als eine bestimmte Form der Gleichheit vor“ (S. 150f.).

Engels mag durchaus vorsichtig gewesen sein, was Bachofens Schlussfolgerungen anbelangte, aber er hatte keine Bedenken, was Bachofens Methode anging, die die mythologische Analyse nutzte, um die historische Wirklichkeit zu enthüllen: In seinem Vorwort zur 4. Ausgabe vonUrsprung der Familie… (mit anderen Worten: nachdem er eine Menge Zeit hatte, sein Werk neu zu strukturieren, einschließlich einiger notwendiger Korrekturen) griff Engels Bachofens Analyse des Orest-Mythos (insbesondere die Version des griechischen Tragikers Aescyklus) auf und schloss mit dem Kommentar: „Diese neue, aber entschieden richtige Deutung der ‚Oresteia‘ ist eine der schönsten und besten Stellen im ganzen Buch (…) er, zuerst, hat die Phrase von einem unbekannten Urzustand mit regellosem Geschlechtsverkehr ersetzt durch den Nachweis, daß die altklassische Literatur uns Spuren in Menge aufzeigt, wonach vor der Einzelehe in der Tat bei Griechen und Asiaten ein Zustand existiert hat, worin nicht nur ein Mann mit mehreren Frauen, sondern eine Frau mit mehreren Männern geschlechtlich verkehrte, ohne gegen die Sitte zu verstoßen (…) Diese Sätze hat Bachofen zwar nicht in dieser Klarheit ausgesprochen – das verhinderte seine mystische Anschauung. Aber er hat sie bewiesen, und das bedeutete 1861 eine vollständige Revolution.“

Dies bringt uns zur zweiten Frage: Wie sollten Mythen erklärt werden? Mythen sind Bestandteil der materiellen Realität wie andere Phänomene auch; sie sind daher von dieser Realität auch bestimmt. Darmangeat schlägt zwei mögliche Determinanten vor: Entweder handelt es sich bei ihnen schlicht und einfach um „Geschichten“, die von Männern erfunden wurden, um ihre Herrschaft über die Frauen zu rechtfertigen, oder sie sind irrational. „In der Vorgeschichte und auch lange Zeit danach waren natürliche oder gesellschaftliche Phänomene universell und unvermeidlich durch ein magisch-religiöses Prisma interpretiert. Dies bedeutet nicht, dass das rationale Denken nicht existierte; es bedeutet, dass es selbst, als es präsent war, in einem bestimmten Umfang stets mit einem irrationalen Diskurs kombiniert war: Die beiden wurden nicht als unterschiedlich, noch weniger als miteinander unvereinbar wahrgenommen“ (S. 319). Was kann dem noch hinzugefügt werden? All diese Mythen, die sich rund um die geheimnisvollen Mächte ranken, welche vom Menstruationsblut und dem Mond übertragen werden, gar nicht zu reden von der ursprünglichen Macht der Frauen, sind bloß „irrational“ und somit außerhalb des Bereichs der wissenschaftlichen Erklärung. Darmangeat ist bestenfalls bereit zu akzeptieren, dass Mythen das Bedürfnis des menschlichen Geistes nach Kohärenz befriedigen müssen[7]; doch wenn dies der Fall ist, dann müssen wir - es sei denn, wir akzeptieren eine rein idealistische Erklärung im ursprünglichen Sinn des Wortes – eine andere Frage beantworten: Woher kommt dieses Bedürfnis? Für Lévi-Strauss konnte die Quelle des bemerkenswerten Gleichklangs der Mythen der primitiven Gesellschaften in beiden Amerikas nur in der angeborenen Struktur des menschlichen Geistes gefunden werden, weswegen seinem Werk und seiner Theorie der Name „Strukturalismus“ angehängt wurde.[8] Darmangeats „Bedürfnis nach Kohärenz“ sieht wie ein schwacher Abglanz des Strukturalismus von Lévi-Strauss aus.

Dies lässt uns in zwei bedeutenden Punkten ohne jegliche Erklärung dastehen: Warum nehmen Mythen die Form an, die sie haben, und wie können wir ihre Universalität erklären?

Wenn sie nichts anderes als „Geschichten“ sind, die erfunden wurden, um die männliche Vorherrschaft zu rechtfertigen, warum sind solch unwahrscheinlichen Geschichten erfunden worden? Wenn wir die Bibel nehmen, so gibt uns das Buch Mose‘ eine vollkommen logische Erklärung für die männliche Vorherrschaft: Gott schuf den Mann zuerst! Logisch, solange wir bereit sind, die unwahrscheinliche Vorstellung, die Jahr für Jahr widerlegt wird, zu akzeptieren, dass die Frau aus dem Leib des Mannes kam. Warum wird dann ein Mythos erfunden, der nicht nur behauptet, dass Frauen einst Macht ausgeübt hatten, sondern auch von der Forderung begleitet wird, dass die Männer mit diesen Riten fortfahren, die mit dieser Macht assoziiert sind, bis zu dem Punkt einer eingebildeten männlichen Menstruation? Diese Praxis, die in Jäger-Sammler-Gesellschaften in der ganzen Welt, wo die männliche Vorherrschaft mächtig ist, bezeugt ist, besteht darin, dass Männer in bestimmten wichtigen Ritualen ihren eigenen Blutfluss erzeugen, indem sie in einer bewussten Imitation der Monatsblutung ihre Mitglieder malträtieren und insbesondere den Penis beschneiden.

Wäre diese Art von Ritual auf ein Volk oder auf eine Gruppe von Völkern beschränkt, könnte man akzeptieren, dass dies nichts als eine zufällige und „irrationale“ Erfindung ist. Doch wenn wir es überall auf der Welt verbreitet finden, auf jedem Kontinent, dann müssen wir, wenn wir dem historischen Materialismus treu bleiben wollen, seine gesellschaftlichen Determinanten suchen.

Auf jeden Fall erscheint es uns vom materialistischen Standpunkt aus notwendig zu sein, die Mythen und Rituale, die die Gesellschaft strukturieren, als Wissensquellen ernstzunehmen, eine Sache, an der Darmangeat scheiterte.

Der Ursprung der Unterdrückung der Frauen

Wir können Darmangeats Ansichten wie folgt zusammenfassen: Im Ursprung der Unterdrückung der Frauen stand die geschlechtliche Arbeitsteilung, die den Männern systematisch die Großwildjagd und den Gebrauch von Waffen überließ. Wie interessant sein Werk auch sein mag, es lässt unserer Ansicht nach zwei Fragen unbeantwortet.

Es scheint eindeutig genug, dass mit der Entstehung der Klassengesellschaft, die notwendig auf Ausbeutung und damit auf Unterdrückung beruhte, das Waffenmonopol nahezu eine selbstgenügsame Erklärung für die männliche Vorherrschaft in ihr ist (zumindest langfristig; der Gesamtprozess ist zweifellos komplexer). Gleichermaßen erscheint es a priori plausibel, davon auszugehen, dass - zeitgleich mit dem Aufkommen der sozialen Ungleichheiten, aber noch vor dem Auftritt der Klassengesellschaft, die den Namen verdient - das Waffenmonopol eine Rolle bei der Herausbildung der männlichen Vorherrschaft spielte.

Im Gegensatz dazu, und dies ist unsere erste Frage, ist Darmangeat weitaus weniger eindeutig bei der Frage, warum die geschlechtliche Arbeitsteilung diese Rolle den Männern überlassen sollte, sagt er doch selbst, dass „physiologische Gründe (…) problematisch sind bei der Erklärung, warum Frauen von der Jagd ausgeschlossen wurden“ (S. 314f.) Auch ist nicht klar, warum die Jagd und die Nahrung als ihr Produkt angesehener sein sollte als das Produkt des Sammelns und des Gartenbaus, besonders wenn Letzterer die Hauptquelle der gesellschaftlichen Ressourcen ist.

Noch grundsätzlicher: woher kam die erste Arbeitsteilung, und warum sollte sie auf dem Geschlecht beruhen? Hier sehen wir, wie Darmangeat sich in seiner eigenen Vorstellungskraft verliert: „Wir können uns vorstellen, dass selbst eine keimhafte Spezialisierung der menschlichen Spezies gestattete, eine größere Effektivität zu erlangen, als wenn ihre Mitglieder weiterhin jede Handlung ohne Unterscheidung ausgeübt hätte (…) Wir können uns ebenfalls vorstellen, dass sich diese Spezialisierung durch die Stärkung der gesellschaftlichen Bande im Allgemeinen und der Bande innerhalb der Familiengruppen im Besonderen in der gleichen Richtung auswirkte.“[9] Gut, natürlich können wir uns viel „vorstellen“, doch ist dies nicht vielmehr das, was eigentlich demonstriert werden sollte?

Was die Frage angeht: „Wie kam die Arbeitsteilung auf der Grundlage der Geschlechter zustande?“, scheint dies für Darmangeat „nicht sehr sehr schwierig zu sein. Es erscheint offensichtlich, dass für die Mitglieder prähistorischer Gesellschaften dieser Unterschied der am unmittelbarsten ersichtliche ist.“[10] Wir können hier einwenden, dass auch wenn geschlechtliche Unterschiede sicherlich „unmittelbar ersichtlich“ für die ersten menschlichen Wesen gewesen waren, dies keine selbstgenügsame Erklärung für die Entstehung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung ist. Primitive Gesellschaften sind reich an Einordnungen, besonders jene, die auf Totems beruhen. Warum sollte die Arbeitsteilung nicht auf dem Totemismus basieren? Dies ist offensichtlich ein bloßes Hirngespinst – genauso wie Darmangeats Hypothese. Was noch schwerer wiegt, ist, dass Darmangeat einen anderen äußerst eindeutigen Unterschied nicht erwähnt, einen Unterschied, der überall in archaischen Gesellschaften wichtig ist: den Unterschied im Alter.

Wenn es darum geht, trägt Darmangeats Buch – trotz seines eher prahlerischen Titels – nicht viel Erhellendes bei. Die Unterdrückung der Frauen beruhte auf der geschlechtlichen Arbeitsteilung. So sei es. Doch wenn wir fragen, woher diese Teilung kommt, werden wir abgespeist „mit bloßen Hypothesen, demzufolge wir uns vorstellen können, dass gewisse biologische Einschränkungen, die wahrscheinlich mit der Schwangerschaft und dem Stillen zu tun haben, das physiologische Substrat für die geschlechtliche Arbeitsteilung und den Ausschluss der Frauen von der Jagd bilden“ (S. 322).[11]

Von den Genen zur Kultur

Am Ende seiner Argumentation lässt uns Darmangeat mit der folgenden Schlussfolgerung zurück: Im Ursprung der Frauen-Unterdrückung liegt die geschlechtliche Arbeitsteilung, und trotzdem war diese Teilung ein erheblicher Schritt vorwärts in der Arbeitsproduktivität, selbst wenn ihre Ursprünge in einer weit entfernten und unzugänglichen Vergangenheit versteckt liegen.

Darmangeat bemüht sich hier darum, dem marxistischen „Modell“ treu zu bleiben. Doch was ist, wenn das Problem verkehrt herum gestellt wurde? Wenn wir das Verhalten jener Primaten betrachten, die dem Menschen am nächsten sind, insbesondere die Schimpansen, dann sehen wir, dass nur die männlichen Tiere jagen gehen – die weiblichen sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Jungen zu füttern und auf sie aufzupassen (und sie vor den männlichen Artgenossen zu schützen: Wir sollten nicht vergessen, dass männliche Primaten oftmals Kindsmord am Nachwuchs anderer männlicher Artgenossen praktizieren, um sich für ihre eigenen reproduktiven Bedürfnisse Zugang zu den Muttertieren zu verschaffen). „Arbeitsteilung“ zwischen männlichen Tieren, die jagen, und weiblichen Tieren, die es nicht tun, ist also nichts menschlich Spezifisches.  Das Problem – das nach einer Erklärung ruft – ist nicht, warum die Jagd dem männlichen Geschlecht des Homo sapiens vorbehalten war, sondern warum es der männlicheHomo sapiens, und nur der männliche, ist, der das Produkt seiner Jagd verteilt. Was bemerkenswert ist, wenn wir den Homo sapiens mit seinen Cousins unter den Primaten vergleicht, ist der Wirkungsbereich der oft sehr strengen Regeln und Tabus, die genauso unter den Aborigines in den glühenden Wüsten Australiens wie unter den Eskimos im arktischen Eis angetroffen werden und die den kollektiven Verzehr der Jagdbeute voraussetzen. Der Jäger hat nicht das Recht, sein eigenes Produkt zu konsumieren; er muss es zurück ins Lager bringen, um es an die anderen zu verteilen. Die Regeln, die die Verteilung regulieren, variieren beträchtlich von einem Volk zum nächsten, aber ihre Existenz ist universell.

Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass die Geschlechtsunterschiede des Homo sapiens ein gutes Stück geringer sind als beim Homo erectus, was in der Tierwelt allgemein ein Indikator für ausgewogenere Verhältnisse zwischen den Geschlechtern ist.

Überall sind das Teilen von Nahrung und das kollektive Einnehmen von Mahlzeiten das Fundament der ersten Gesellschaften. In der Tat hat das gemeinsame Mahl bis heute überlebt: Selbst heute ist es unmöglich, sich irgendeinen großen Moment im Leben (Geburt, Hochzeit oder Begräbnis) ohne das gemeinsame Mahl vorzustellen. Wenn Menschen in schlichter Freundschaft zusammenkommen, findet dies fast immer rund um ein gemeinsames Essen statt, ob am Barbecue in Australien oder um einen Restauranttisch in Frankreich.

Dieses Teilen von Nahrung, das anscheinend aus uralten Zeiten stammt, ist ein Aspekt des menschlichen kollektiven und gesellschaftlichen Lebens, der sich stark von dem unserer weit entfernten Verfahren unterscheidet. Wir werden hier mit dem konfrontiert, was der Darwinologe Patrick Tort als einen „unbezahlbaren Ausdruck des ‚Egoismus‘ unserer Gene“ beschrieben hat: Die Mechanismen, die von Darwin und Mendel beschrieben worden waren und von den modernen Genetikern bestätigt wurden, haben ein soziales Leben generiert, in dem die Solidarität eine zentrale Rolle spielt, wobei dieselben Mechanismen durch den Wettbewerb funktionieren.[12]

Diese Frage des Teilens ist unserer Ansicht nach fundamental, aber nur Teil eines viel weiter gefassten wissenschaftlichen Problems: Wie können wir den Prozess erklären, der eine Spezies, deren Verhaltensänderungen vom langsamen Rhythmus der genetischen Evolution bestimmt wurden, in unsere eigene Spezies umwandelt, deren Verhalten – auch wenn es sich natürlich noch immer auf unserem genetischen Erbe gründet – sich dank einer viel schnelleren Evolution der Kultur verändert? Und wie können wir erklären, dass ein auf Konkurrenz basierender Mechanismus eine Spezies geschaffen hat, die nur durch Solidarität überleben kann: die wechselseitige Solidarität der Frauen bei der Kindsgeburt und -aufzucht, die Solidarität von Männern auf der Jagd, die Solidarität der Jäger gegenüber der Gesellschaft als Ganzes, wenn sie die Jagdbeute beisteuern, die Solidarität der Gesunden mit den Alten oder Verletzten, die nicht mehr in der Lage sind, zu jagen oder ihre eigene Nahrung zu finden, die Solidarität der Alten gegenüber den Jungen, denen sie nicht nur die lebenswichtigen Kenntnisse über die Natur und Welt beibringen, sondern auch die gesellschaftlichen, historischen, rituellen und mystischen Kenntnisse, die das Überleben einer strukturierten Gesellschaft ermöglichen? Dies scheint uns das fundamentale Problem zu sein, dass sich durch die Frage der „menschlichen Natur“ stellt.

Dieser Übergang von einer Welt zu einer anderen fand in einem Zeitraum von mehreren hunderttausend Jahren statt, eine wichtige Periode, die wir in der Tat als eine „revolutionäre“ beschreiben können.[13] Sie ist eng verknüpft mit der Evolution des menschlichen Gehirns, seiner Größe (und mutmaßlich auch seiner Struktur, auch wenn dies natürlich weitaus schwieriger in den archäologischen Funden nachzuweisen ist). Das Wachstum der Hirngröße stellt unsere sich entfaltende Spezies vor einer ganzen Reihe von Problemen, von denen der schiere Energiebedarf des Hirns nicht das geringste ist: ungefähr 20 Prozent der gesamten Energieaufnahme eines Individuums – enorme Proportionen.

Obwohl die Spezies zweifellos vom Prozess der Enzephalisation (der evolutionären Entwicklung der Großhirnrinde) profitiert hat, stellte dies ein ganz reales Problem für die Frau dar. Die Größe des Kopfes bedeutet, dass die Geburt früher eintreten muss, andernfalls passt das Embryo nicht mehr durch das mütterliche Becken. Dies wiederum setzt einen weitaus längeren Zeitraum der Abhängigkeit des Kleinkindes voraus, das, verglichen mit anderen Primaten, „vorzeitig“ zur Welt kommt; das Wachstum des Gehirns erfordert mehr Pflege, sowohl strukturell als auch energetisch (Proteine, Lipide, Kohlehydrate). Wir scheinen es mit einem unlösbaren Rätsel oder vielmehr mit einem Rätsel zu tun zu haben, das die Natur erst nach dem langen Zeitraum löste, in dem Homo erectus lebte und sich über Afrika verbreitete, in dem sich jedoch allem Anschein nach weder im Verhalten noch in der Morphologie viel änderte. Dannn aber folgte eine Periode der rasanten Weiterentwicklung, die ein Wachstum des Gehirnumfangs und das Auftreten all der spezifisch menschlichen Verhaltensformen erlebte: Sprache, symbolische Kultur, Kunst, der intensive Gebrauch von Werkzeugen und deren große Vielfalt, etc.

Es gibt ein weiteres Rätsel. Wir haben die radikalen Änderungen im männlichen Homo sapienszur Kenntnis genommen, doch die physiologischen und Verhaltensänderungen im weiblichenHomo sapiens sind nicht weniger bemerkenswert, besonders vom Standpunkt der Reproduktion.

Es gibt in diesem Zusammenhang einen auffälligen Unterschied zwischen dem weiblichen Homo sapiens und anderen Primaten. Unter Letzteren (und besonders jenen, die uns am nächsten stehen) signalisiert das Weibchen im Allgemeinen den Männchen ihre Eisprungphase (und damit die Phase ihrer größten Fruchtbarkeit) auf die deutlichste Weise: mit unübersehbaren Genitalorganen, einem „geilen“ Verhalten besonders gegenüber dem dominanten Männchen, charakteristischen Ausdünstungen. Unter den Menschen verhält es sich genau umgekehrt: Die Sexualorgane sind verborgen und ändern sich nicht während des Eisprungs, und die weiblichen Menschen sind sich nicht einmal bewusst, wenn sie „brünstig“ sind.

Am anderen Ende des Eizyklus‘ ist der Unterschied zwischen dem Homo sapiens und anderen Primaten gleichermaßen frappierend: ergiebige und sichtbare Monatsblutungen, das Gegenteil zum Schimpansen zum Beispiel. Da Blutverlust Energieverlust bedeutet, müsste die natürliche Selektion eigentlich gegen überflüssigen Blutfluss arbeiten; also kann Letzterer nur mit einem ausgesuchten Vorteil erklärt werden – aber welchem?

Ein weiteres bemerkenswertes Kennzeichen der menschlichen Menstruation ist ihre Periodizität und Sychronität. Viele Untersuchungen haben bereits die Leichtigkeit aufgezeigt, mit der viele Gruppen von Frauen ihre Perioden synchronisieren, und Knight zeigt mit einer Tabelle der Monatszyklen unter Primaten auf, dass die menschliche Frau eine Periode hat, die vollkommen mit dem Mondzyklus übereinstimmt. Warum? Oder ist dies nur Zufall?

Man könnte versucht sein, dies alles einerseits als irrelevant für die Erklärung der Sprache und der menschlichen Besonderheiten im Allgemeinen zu betrachten. Solch eine Reaktion wäre darüber hinaus in völliger Eintracht mit der aktuellen Ideologie, die die Periode der Frauen wenn nicht als Tabu, so doch als etwas Negatives betrachtet: Man denke nur an all die Reklamefeldzüge für „weibliche Hygieneprodukte“, deren Fähigkeiten, die Periode unsichtbar zu machen, angepriesen werden. Die Entdeckung der immensen Bedeutung des Menstruationsblutes und all dessen in der primitiven menschlichen Gesellschaft, was mit ihm assoziiert wird, die sich beim Studium des Buchs von Knight erschließt, ist somit umso erschreckender für uns als Mitglieder der modernen Gesellschaft. Und der Glaube an die enorme Macht – auf Gut und Böse – der Perioden der Frauen ist, so meinen wir, ein universelles Phänomen. Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, dass die Monatsblutungen alles „regulieren“, einschließlich der Harmonie im Universum.[14] Selbst in Völkern, wo es eine starke männliche Vorherrschaft gibt und wo alles getan wird, um Frauen zu entwerten, regen ihre Perioden die Furcht in den Männern an. Menstruationsblut wird als etwas „Giftiges“ betrachtet, eine kaum noch zurechnungsfähige Ansicht, die für sich genommen ein Hinweis auf seine Macht ist. Man ist gar versucht, den Schluss zu ziehen, dass die Gewalt der Männer gegen Frauen in direkter Proportion zur Furcht steht, die die Frauen in Männern auslösen.[15]

Die Universalität dieses Glaubens ist bedeutend und verlangt nach einer Erklärung. Wir können uns drei mögliche Deutungen vorstellen:

· Er könnte das Resultat von Strukturen sein, die im menschlichen Geist angelegt sind, wie Lévi-Strauss‘ Strukturalismus suggeriert. Heute würden wir eher sagen, dass sie im human-genetischen Erbe angelegt sind – doch dies scheint allem zu widersprechen, was über die Genetik bekannt ist.

· Es könnte auf das Prinzip „dieselbe Ursache - dieselben Auswirkungen“ zurückgeführt werden. Gesellschaften, die sich in Hinsicht ihrer Produktionsverhältnisse und ihrer Techniken gleichen, produzieren die gleichen Mythen.

· Die Ähnlichkeit der Mythen könnte schließlich auf einen gemeinsamen historischen Ursprung zurückgeführt werden. Wenn dies der Fall wäre, dann müsste angesichts der Tatsache, dass die verschiedenen Gesellschaften, wo Menstruationsmythen vorkommen, geographisch weit auseinanderliegen, der gemeinsame Ursprung sehr weit zurückliegen.

Knight favorisiert die dritte Erklärung: Er betrachtet in der Tat die universelle Mythologie rund um die Menstruation als etwas sehr Altes, das auf die eigentlichen Ursprünge der Menschheit zurückgeht.

Die Entstehung der Kultur

Wie sind diese verschiedenen Fragen miteinander verknüpft? Wie könnte der Link zwischen der Menstruation der Frauen und der kollektiven Jagd aussehen? Und wie zwischen den beiden und anderen auftretenden Phänomenen wie Sprache, symbolische Kultur, eine Gesellschaft, die auf gemeinsamen Regeln beruht? Diese Fragen scheinen uns fundamental zu sein, weil all diese „Evolutionen“ keine isolierten Phänomene sind, sondern Elemente in einem einzigen Prozess, der vom Homo erectus zu uns führt. Die Hyper-Spezialisierung der modernen Wissenschaften erschwert, was größtenteils auch von den Wissenschaftlern gesehen wird, das Verständnis dieses umfassenden Prozesses, der von einer einzelnen spezialisierten wissenschaftlichen Disziplin nicht erfasst werden kann.

Was wir an Knights Werk am bemerkenswertesten finden, ist eben dieses Bemühen, genetische, archäologische, paläontologische und anthropologische Daten in einer „allumfassenden Theorie“ der menschlichen Evolution zusammenzubringen, analog zu den Anstrengungen der theoretischen Physik, die uns die Super-String- oder die Schleifenquantengravitationstheorie beschert hat.[16]

Versuchen wir also diese Theorie zusammenzufassen, die heute als „Sexstreiktheorie“ bekannt ist. Um es einfach und schematisch zu sagen, stellt Knight die Hypothese auf, dass es zunächst bei den weiblichen Homo, die mit den Schwierigkeiten der Kindsgeburt und der Säuglingspflege konfrontiert waren, zu einer Verhaltensänderung gekommen ist: Die Frauen wandten sich vom dominanten Männchen ab, um in einer Art von gegenseitigem Unterstützungspakt ihre Aufmerksamkeit den zweitrangigen Männchen zu schenken. Die Männchen akzeptierten, die Weibchen zurückzulassen, wenn sie jagen gingen, und ihnen die Jagdbeute zurückzubringen; im Gegenzug erlangten sie Zugang zu den Weibchen und somit eine Chance zur Reproduktion, was ihnen bis dahin vom Alphamännchen verweigert worden war.

Diese Verhaltensänderung bei den Männchen – die anfangs, wir erinnern uns, den Evolutionsgesetzen unterworfen war – ist nur unter bestimmten Bedingungen möglich, insbesondere unter zwei: Einerseits  darf es für die Männchen nicht möglich sein, anderswo Zugang zu Weibchen zu finden; andererseits müssen die Männchen darauf vertrauen können, dass sie in ihrer Abwesenheit nicht verdrängt werden. Dies sind also kollektive Verhaltensweisen. Die Weibchen - die die treibende Kraft in diesem evolutionären Prozess sind – müssen gegenüber den Männchen eine kollektive Sexverweigerung aufrechterhalten. Diese kollektive Verweigerung wird den Männchen wie auch anderen Weibchen deutlich durch die Monatsblutung signalisiert, die mit einem „universellen“ und sichtbaren Ereignis synchronisiert ist: dem Mondzyklus und den Gezeiten, die ihn in der semiaquatischen Umgebung des afrikanischen Grabenbruchs, wo die Menschheit zuerst auftauchte, begleiten.

Die Anfänge der Solidarität sind gemacht: zunächst unter den Weibchen, dann auch unter den Männchen. Kollektiv ausgeschlossen vom Zugang zu den Weibchen, können sie eine in wachsendem Maße organisierte kollektive Großwildjagd in die Tat umsetzen, die die Fähigkeit zur Planung und zur Solidarität im Angesicht von Gefahren erfordert.

Gegenseitiges Vertrauen entsteht in der kollektiven Solidarität innerhalb jedes Geschlechts, aber auch zwischen den Geschlechtern: das weibliche Vertrauen in der männlichen Beteiligung an der Kinderaufzucht, das männliche Vertrauen darin, dass ihnen nicht die Chance zur Reproduktion vorenthalten wird.

Dieses theoretische Modell gestattet uns, das Rätsel zu lösen, das Darmangeat unbeantwortet ließ: Warum sind Frauen so strikt von der Jagd ausgeschlossen? Gemäß des Modells Knights kann dieser Ausschluss nur ein absoluter gewesen sein, denn wenn sich einige Weibchen – und insbesondere jene, die noch unbelastet waren von eigenem Nachwuchs – der gemeinsamen Jagd mit den Männchen anschließen konnten, dann hätten Letztere Zugang zu empfängnisbereiten Weibchen gehabt und wären nicht mehr gezwungen gewesen, die Jagdbeute mit aufziehenden Weibchen und ihren Jungen zu teilen. Damit das Modell funktioniert, sind die Weibchen gezwungen, eine totale Solidarität unter ihresgleichen aufrechtzuerhalten. Von diesem Standpunkt aus ist es möglich, das Tabu zu verstehen, das eine absolute Trennung zwischen Frauen und Jagd aufrechterhält und das das Fundament für allen anderen Tabus ist, die sich um die Menstruation und dem Blut der Jagd drehen und die den Frauen verbieten, mit irgendwelchen Schneidewerkzeugen umzugehen. Die Tatsache, dass dieses Tabu, einst eine Quelle der weiblichen Stärke und Solidarität, unter anderen Umständen zu einer Quelle der gesellschaftlichen Schwäche und Unterdrückung werden sollte, mag auf dem ersten Blick paradox erscheinen: In der Realität ist dies nur ein besonders auffälliges Beispiel für eine dialektische Umkehrung, eine weitere Veranschaulichung der tiefen dialektischen Logik allen evolutionären und historischen Wandels.[17]

Die Weibchen, die am erfolgreichsten dieses neue Verhalten unter ihresgleichen und unter den Männchen durchsetzten, hinterließen mehr Nachkommen. Der Prozess der Großhirnbildung konnte fortgesetzt werden. Das Tor zu einer Weiterentwicklung des Menschen war offen.

Gegenseitige Solidarität und gegenseitiges Vertrauen wurden also nicht durch eine Art glückseligen Mystizismus in die Welt gesetzt, sondern im Gegenteil durch die mitleidlosen Gesetze der Evolution.

Dieses gegenseitige Vertrauen ist eine Vorbedingung für die Entstehung einer echten Fähigkeit zur Sprache, die von der gegenseitigen Akzeptanz gemeinsamer Regeln (Regeln, die so elementar sind wie die Idee, dass ein einziges Wort dieselbe Bedeutung für mich wie für dich hat) und von einer Gesellschaft abhängt, die auf Kultur und Gesetz basiert, die nicht mehr dem langsamen Rhythmus der genetischen Evolution unterworfen, sondern in der Lage ist, sich weitaus schneller neuen Umgebungen anzupassen. Eines der ersten Elemente der neuen Kultur ist logischerweise der Transfer all dessen vom genetischen in den kulturellen Bereich (wenn wir es so sagen können), das die Entstehung dieser neuen Gesellschaftsform ermöglicht hat: Die ältesten Mythen und Rituale drehen sich rund um die Menstruation der Frauen (und den Mond, der ihre Sychronität garantiert) und ihre Rolle in der Regulierung nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der natürlichen Ordnung.

Einige Schwierigkeiten und eine mögliche Fortsetzung

Wie Knight selbst sagt, ist seine Theorie eine Art von „Ursprungsmythos“ und bleibt eine Hypothese. Dies an sich ist selbstverständlich kein Problem; ohne Hypothesen und Spekulationen gäbe es keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Die Religion, nicht die Wissenschaft, versucht bestimmte Wahrheiten zu etablieren.

Was uns angeht, so würden wir gern zwei Einwände gegen das Narrativ erheben, das Knight vorschlägt.

Der erste betrifft die verstrichene Zeit. Als Blood Relations 1991 veröffentlicht wurde, datierten die ersten Anzeichen künstlerischen Ausdrucks und daher der Existenz einer symbolischen Kultur, die in der Lage ist, Mythen und Rituale, die sich im Zentrum seiner Hypothese befinden, zu transportieren, vor nur 60.000 Jahren. Doch die ersten Gebeine moderner Menschen sind etwa 200.000 Jahre alt: Was passierte also in den 140.000 „fehlenden“ Jahren? Und wie könnte der Vorläufer einer völlig ausgebildeten Kultur zum Beispiel unter unseren unmittelbaren Ahnen ausgesehen haben?

Dies stellt nicht so sehr die Theorie an sich in Frage, sondern ist ein Problem, das nach weiterer Untersuchung verlangt. Seit den 1990er Jahren haben Ausgrabungen in Südafrika (Blombos Caves, Klasies River, Kelders) allem Anschein nach den Zeitraum des erstmaligen Gebrauchs von Kunst und abstrakten Symbolismus auf 80.000 oder gar 140.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurückversetzt.[18] Was den Homo erectus anbetrifft, scheinen die Überreste, die bei Dmanisis in Georgien Anfang der nuller Jahre entdeckt und auf ein Alter von 1,8 Millionen Jahren datiert wurden, bereits auf einen gewissen Grad an Solidarität hinzuweisen: Ein Individuum lebte etliche Jahre ohne Zähne, was nahelegt, dass andere ihm beim Essen halfen.[19] Gleichzeitig waren ihre Werkzeuge immer noch primitiv, und laut den Experten praktizierten sie noch keine Großwildjagd. Dies alles sollte uns nicht überraschen: Darwin hat seinerzeit bereits festgestellt, dass menschliche Merkmale wie Empathie, die Wertschätzung des Schönen und der Freundschaft bereits im Tierreich existierten, wenn auch auf einem rudimentären Niveau, verglichen mit der Menschheit.

Unser zweiter Einwand ist gewichtiger und betrifft die „Antriebskraft“, die das Wachstum des menschlichen Gehirns vorantrieb. Knight ist mehr darauf bedacht, festzulegen, wie dieses Wachstum ermöglicht wurde, und so steht diese Frage nicht im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit: Laut seinem Interview auf unserem Kongress hat er im Grunde die Theorie der „wachsenden sozialen Komplexität“ sich zu eigen gemacht, eine Theorie, wonach die menschlichen Wesen sich dem Leben in immer größeren Gruppen anpassen mussten (diese Theorie wird von Robert Dunbar verfochten[20] und ist auch von J.-L. Dessalles in seinem BuchWarum wir sprechen aufgegriffen worden, dessen Argumente er auf unserem letzten Kongress vorstellte). Wir können hier nicht in die Details gehen, doch scheint uns diese Theorie nicht ohne Probleme zu sein. Immerhin variiert die Größe der Primatengruppen von einem Dutzend im Falle der Gorillas bis zu etlichen Hundert für die Hamadryas-Paviane: Es wäre daher notwendig, sowohl aufzuzeigen, warum Hominini gesellschaftliche Bedürfnisse entwickelten, die über die der Paviane hinausgingen (dies steht noch aus), als auch zu demonstrieren, dass Hominini in immer größeren Gruppen lebten, bis hin zur „Dunbar-Zahl“ zum Beispiel.[21]

Alles in allem ziehen wir es vor, den Prozess der Großhirnbildung  und der Sprachentwicklung mit der wachsenden Bedeutung der „Kultur“ (im breitesten Sinn des Wortes) in der menschlichen Fähigkeit zu verbinden, sich der Umwelt anzupassen. Es gibt häufig die Neigung, sich die Kultur allein in materiellen Begriffen (Steinwerkzeuge, etc.) vorzustellen. Doch wenn wir das Leben von Jäger-Sammler-Völkern in unserer eigenen Epoche untersuchen, sind wir über nichts so beeindruckt wie über ihre profunde Kenntnis ihre natürliche Umgebung: das Verhalten der Tiere, die Merkmale von Pflanzen, etc. Jedes jagende Tier „kennt“ das Verhalten seiner Beutetiere und kann sich dem bis zu einem gewissen Punkt anpassen. Bei menschlichen Wesen ist diese Kenntnis jedoch nicht genetisch, sondern kulturell bedingt und muss von Generation zu Generation übermittelt werden. Während die Nachahmung die Übermittlung eines beschränkten Grades von „Kultur“ erlaubt (Affen, die einen Stock benutzen, um zum Beispiel Termiten zu angeln), liegt es auf der Hand, dass die Übermittlung menschlicher (oder eigentlich proto-menschlicher) Kenntnisse etwas mehr als Nachahmung erfordert.

Man könnte auch behaupten, je mehr die Kultur die Genetik bei der Bestimmung unseres Verhaltens ersetzt, desto wichtiger wird die Übermittlung dessen, was wir die „spirituelle“ Kultur (Mythen, Rituale, die Kenntnis heiliger Plätze, etc.) nennen, bei der Aufrechterhaltung des Gruppenzusammenhalts. Dies wiederum führt uns zur Verknüpfung der Sprachentwicklung mit einem anderen äußeren Merkmal, das in unserer Biologie verankert ist: die „frühe“ Menopause der Frauen, gefolgt von einer langen Periode der Unfruchtbarkeit, was ein weiteres Merkmal ist, das die menschlichen Frauen nicht mit ihren Primaten-Cousinen teilen.[22] Wie konnte eine „frühe“ Menopause von der natürlichen Selektion favorisiert werden, obwohl sie offensichtlich das weibliche Reproduktionspotenzial einschränkt? Die wahrscheinlichste Hypothese ist wohl die, dass Frauen in der Menopause ihren Töchtern besser helfen können, das Überleben ihrer eigenen Enkelkinder und damit ihres eigenen genetischen Erbes sicherzustellen.[23]

Die Probleme, die wir gerade angeschnitten haben, betreffen den Zeitraum, der von Blood Relations abgedeckt wird. Doch es gibt eine weitere Schwierigkeit, die den Zeitraum der bekannten Geschichte angeht. Es ist naheliegend, dass die primitiven Gesellschaften, von denen wir Kenntnis haben (und welche Darmangeat beschreibt), sich stark von den hypothetischen ersten menschlichen Gesellschaften Knights unterscheiden. Um nur das Beispiel von Australien zu nehmen, dessen Aboriginal-Gesellschaft eine der technisch primitivsten ist, die wir kennen: die Hartnäckigkeit von Mythen und rituellen Praktiken, die der Menstruation große Bedeutung zumessen, geht Hand in Hand mit einer völligen Vorherrschaft der Männer über die Frauen. Wenn wir davon ausgehen, dass Knights Hypothese weitgehend korrekt ist – wie können wir dann erklären, was sich zu einer veritablen „männlichen Konterrevolution“ auswuchs? In seinem Kapitel 13 (S. 449) unterbreitet Knight eine Hypothese, um das zu erklären. Er behauptet, dass das Verschwinden der Megafauna – Arten wie der gigantische Wombat – und eine Zeit des trockenen Wetters am Ende des Pleistozän die Jagdmethoden durcheinanderbrachte und dem Überfluss ein Ende bereitete, den er als materielle Vorbedingung für das Überleben des primitiven Kommunismus betrachtete. 1991 schrieb Knight, dass ein archäologischer Beweis seiner Hypothese noch aussteht. Seine eigenen Forschungen beschränken sich auf Australien. Auf jeden Fall hat es für uns den Anschein, dass dieses Problem ein weites Untersuchungsgebiet eröffnet, das es gestatten würde, die wahre Geschichte des längsten Zeitraums in der Existenz der Menschheit ins Auge zu fassen: von unseren Ursprüngen bis zur Erfindung der Landwirtschaft.[24]

Die kommunistische Zukunft

Wie kann das Studium der menschlichen Ursprünge unsere Auffassung über eine künftige kommunistische Gesellschaft verdeutlichen? Darmangeat sagt uns, dass der Kapitalismus die erste menschliche Gesellschaft sei, die es gestatte, sich ein Ende der geschlechtlichen Arbeitsteilung und die Gleichheit der Frauen vorzustellen – eine Gleichheit, die heute in einigen wenigen Ländern Gesetz geworden sei, die aber nirgendwo eine faktische Gleichheit sei: „… auch wenn der Kapitalismus das Los der Frauen an sich weder verbessert noch verschlimmert hat, ist er dennoch das erste System, das es ermöglicht hat, die Frage ihrer Gleichheit mit Männern zu stellen; und obwohl er sich als unfähig erwiesen hat, diese Gleichheit Wirklichkeit werden zu lassen, hat er dennoch die Elemente zusammengeführt, die sie realisieren werden.“[25]

Zwei Kritiken erscheinen uns angebracht zu sein: Die erste ist, dass die immense Bedeutung der Integration der Frauen in die Welt der Lohnarbeit ignoriert wird. Trotz allem hat der Kapitalismus den Arbeiterfrauen zum ersten Mal in der Geschichte der Klassengesellschaften eine ganz reale materielle Unabhängigkeit von den Männer geschenkt und somit die Möglichkeit, auf Augenhöhe mit den Männern am Kampf für die Befreiung des Proletariats und somit der Menschheit in ihrer Gesamtheit teilzunehmen.

Die zweite Kritik betrifft den eigentlichen Gleichheitsbegriff. Dieser Begriff ist mit dem Brandzeichen der bürgerlichen Ideologie versehen, eine Hinterlassenschaft des Kapitalismus, und nicht das Ziel einer kommunistischen Gesellschaft, die im Gegenteil die Unterschiede zwischen den Individuen anerkennt und – um Marx‘ Ausdruck zu benutzen – und auf ihre Fahnen schreibt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“[26] Nun, außerhalb des Gebiets der Science fiction haben Frauen sowohl eine Fähigkeit als auch ein Bedürfnis, die Männer niemals haben werden: zu gebären.[27] Ohne diese Fähigkeit hätte die Menschheit keine Zukunft, doch sie ist auch eine körperliche Funktion und daher ein Bedürfnis für Frauen.[28] Eine kommunistische Gesellschaft muss daher jeder Frau, die es wünscht, die Möglichkeit zu geben, mit Freude zu gebären, im Vertrauen darauf, dass ihr Kind in der menschlichen Gemeinschaft willkommen geheißen wird.

Hier können wir womöglich eine Parallele zu der evolutionistischen Vision ziehen, die Knight unterbreitet. Proto-Frauen stießen den Evolutionsprozess in Richtung Homo sapiens und symbolischer Kultur an, weil sie ihre Kinder nicht mehr allein aufziehen konnten: Sie mussten die Männer dazu bringen, der Kindesaufzucht und der Erziehung der Jungen materielle Unterstützung zukommen zu lassen. Auf diese Weise führten sie das Prinzip der Solidarität unter Frauen, die von ihren Kinder in Anspruch genommen werden, unter Männern, die von der Jagd in Beschlag genommen werden, und zwischen Frauen und Männern, die gemeinsam ihre gesellschaftliche Verantwortung teilen, in die menschliche Gesellschaft ein.

Heute sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der der Kapitalismus uns immer mehr auf den Status atomisierter Individuen reduziert, und Kinder aufziehende Frauen leiden am meisten darunter. Nicht nur, dass die „Herrschaft“ der kapitalistischen Gesellschaft die Familie auf ihren kleinsten Ausdruck (Mutter, Vater, Kinder) reduziert, die allgemeine Desintegration des sozialen Lebens bedeutet darüber hinaus, dass immer mehr Frauen sich in der misslichen Lage befinden, ihre sehr jungen Kinder allein aufzuziehen, und die Notwendigkeit, Arbeit zu finden, distanziert sie häufig von ihren eigenen Müttern, Schwestern oder Tanten, die einst das natürliche Unterstützungsnetzwerk für Frauen mit kleinen Kindern waren. Die „Welt der Arbeit“ ist mitleidlos gegenüber Frauen mit Kindern, die gezwungen sind, ihre Säuglinge nach bestenfalls ein paar Monaten abzustillen (abhängig vom verfügbaren Schwangerschaftsurlaub, wenn überhaupt) und sie einem Kindermädchen anzuvertrauen, oder die – wenn sie arbeitslos sind – vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten werden und gezwungen sind, sich mittels äußerst begrenzter Ressourcen um ihre Babys zu kümmern.

In einem gewissen Sinn befinden sich Arbeiterinnen in einer Lage, die vergleichbar ist mit der ihrer fernen Vorfahren – und nur eine Revolution kann ihre Situation verbessern. So wie die „Revolution“ es nach Knights Hypothese Frauen erlaubte, sich mit der sozialen Unterstützung erst durch andere Frauen, dann durch die Männer beim Gebären und bei der Erziehung ihrer Kinder zu umgeben, so muss auch die kommende kommunistische Revolution die Unterstützung die Unterstützung der Frauen bei ihrer Schwangerschaft und die kollektive Erziehung der Kinder in den Mittelpunkt stellen. Nur eine Gesellschaft, die ihren Kindern und ihrer Jugend einen privilegierten Platz einräumt, kann den Anspruch erheben, eine hoffnungsvolle Zukunft anzubieten: Von diesem Standpunkt aus kompromittiert sich der Kapitalismus allein durch die Tatsache, dass ein wachsender Teil seiner Jugend als „überzählig“ betrachtet wird.

Jens 

[1]Editions Smolny, Toulouse 2009 und 2012. Wenn nicht anders festgestellt, sind die Zitate und Seitenangaben der ersten Edition entnommen.

[2]Darmangeat stellt einige interessante Ideen über die gewachsene Bedeutung der physischen Kraft bei der Bestimmung der Geschlechterrollen nach der Erfindung der Landwirtschaft vor (das Pflügen zum Beispiel).

[3]Darmangeat besteht zweifellos zu Recht  darauf, dass die Beteiligung an gesellschaftlicher Produktion eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für die Sicherstellung einer günstigen Umgebung für Frauen ist.

[4]In dem Abschnitt „Die Familie“, MEW, Band 21, S. 68.

[5]Bruce Trigger, Understanding early civilizations.

[6]Knights Buch widmet ein Abschnitt der „männlichen Menstruation“ (S. 428). Ebenfalls verfügbar in PDF on Knight’s website.

[7]„Der menschliche Geist hat seine Erfordernisse, von denen eines die Kohärenz ist“ (S. 319). Wir möchten hier nicht auf die Frage eingehen, woher diese Erfordernisse kommen und warum sie ihre besonderen Formen annehmen – Fragen, die Darmangeat unbeantwortet lässt.

[8]Um eine leidenschaftliche, aber kritische Schilderung des Denkens von Lévi-Strauss zu erhalten, verweisen wir den Leser/die Leserin auf Knights Kapitel „Lévi-Strauss and ‚The Mind‘“.

[9]C. Darmangeat, 2. Ausgabe, S. 214f.

[10]Ebenda.

[11]Merkwürdigerweise hebt Darmangeat selbst nur einige Seiten zuvor hervor, dass in bestimmten nordamerikanischen Indianergesellschaften unter bestimmten Bedingungen „Frauen alles tun konnten; sie meisterten die gesamte Bandbereite weiblicher und männlicher Aktivitäten“ (S. 314).

[12]Siehe den Artikel über Patrick Torts L’Effet Darwin und Chris Knights Artikel über Solidarität und das egoistische Gen.

[13]Vgl. „The great leap forward“ von Anthony Stigliani.

[14]Bemerkenswerterweise ist das Wort für die Periode der Frauen in der deutschen, französischen, spanischen und englischen Sprache „die Regel“.

[15]Dies ist ein Thema, das sich durch das gesamte Buch Darmangeats zieht. Siehe unter anderem das Beispiel der Huli in Neuguinea (S. 222, 2. Ausgabe).

[16]Und besser noch: hat sich dabei verdient gemacht, die Theorie lesbar und zugänglich für den Laien zu machen.

[17]Daher kommen wir, wenn Darmangeat uns erzählen will, dass Knights These „kein Wort über die Gründe verliert, warum Frauen systematisch und vollkommen verboten wurde, zu jagen und Waffen zu bedienen“, nicht umhin, uns zu fragen, ob er das Buch bis zu seinem Schluss gelesen hat.

[18]Siehe die Wikipedia-Artikel über Blombos Cave.

[19]Siehe den Artikel in La Recherche: „Etonnants primitifs de Dmanisi“.

[20]Siehe zum Beispiel Dunbars The Human Story. Robin Dunbar erklärt die Evolution der Sprache mit dem Wachstum menschlicher Gruppen; Sprache erschien als eine weniger aufwändige Form der gegenseitigen Körperpflege, durch die unsere Primaten-Cousins ihre Freundschaften und Bündnisse aufrechterhalten. „Dunbars Zahl“ hat als die größte Zahl enger Beziehungen, die das menschliche Gehirn zu behalten in der Lage ist (ungefähr 150), Eingang in die anthropologische Theorie gefunden; Dunbar meint, dass dies die maximale Größe der ersten menschlichen Gruppen gewesen sei.

[21]Die Hominini (der Zweig des evolutionären Stammbaums, zu dem die modernen Menschen gehören) trennte sich von den Panini (der Zweig, der Schimpansen und Bonobos beherbergt) vor etwa sechs bis neun Millionen Jahren.

[22]Vgl. „Menopause in non-human primates“, US-National Library of Medicine).

[23]Siehe die Zusammenfassung der „Großmutter-Hypothese“.

[24]Einiges ist bereits in dieser Richtung getan worden, in einem Land auf der anderen Seite der Erde, vom Anthropologen Lionel Sims in einem Artikel mit dem Titel „The ‚Solarization‘ of the moon: manipulated knowledge at Stonehenge“, veröffentlicht in Cambridge Archaeological Journal, 16:2.

[25]Darmangeat, ob.zit., S. 426.

[26]Nicht umsonst schrieb Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm: „Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedene Individuen, wenn sie nicht ungleich wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkjt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht.“

[27]Einer der wenigen originellen Science fiction-Autoren heute, Iain M. Banks, hat eine pan-galaktische Gesellschaft („The Culture“) geschaffen, die praktisch kommunistisch ist, wo Menschen eine solche Kontrolle über ihre hormonellen Funktionen erlangt haben, dass sie fähig sind, beliebig das Geschlecht zu wechseln und somit auch zu gebären.

[28]Was natürlich nicht bedeutet, dass alle Frauen Kinder in die Welt setzen wollen, und noch weniger, dass sie dazu gezwungen werden sollten.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Frauenfrage [3]
  • Gender [4]
  • Menschwerdung [5]
  • Kultur [6]

Theoretische Fragen: 

  • Vorkapitalistische Gesellschaften [7]

Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/2493

Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/2/28/stalinismus-der-ostblock [2] https://de.internationalism.org/Welt176_Rolle_der_Frau [3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/frauenfrage [4] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/gender [5] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/menschwerdung [6] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kultur [7] https://de.internationalism.org/en/tag/3/53/vorkapitalistische-gesellschaften