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August 2005

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Antwort auf eine „rätistische Bilanz“ der russischen Revolution

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Wir veröffentlichen im Folgenden eine Antwort auf den Brief eines unserer Kontakte, der uns schrieb, um die, wie der Genosse sie nannte, „rätistische Bilanz der russischen Revolution“ zu verteidigen. Seit dem Verschwinden der holländischen Gruppe um „Daad en Gedachte“ gibt es innerhalb der proletarischen Bewegung keinerlei organisierten Ausdruck des Rätismus mehr. Nichtsdestotrotz erfreut sich die rätistische Position innerhalb der gegenwärtigen revolutionären Bewegung großer Beliebtheit.

Wie soll man mit dem „Russischen Rätsel“ umgehen?

Wir veröffentlichen im Folgenden eine Antwort auf den Brief eines unserer Kontakte, der uns schrieb, um die, wie der Genosse sie nannte, „rätistische Bilanz der russischen Revolution“ zu verteidigen. Seit dem Verschwinden der holländischen Gruppe um „Daad en Gedachte“ gibt es innerhalb der proletarischen Bewegung keinerlei organisierten Ausdruck des Rätismus mehr. Nichtsdestotrotz erfreut sich die rätistische Position innerhalb der gegenwärtigen revolutionären Bewegung großer Beliebtheit.

Der Rätismus verwirft einerseits liberale, anarchistische und sozialdemokratische Positionen, andererseits aber auch die Positionen der „Leninisten“, Stalinisten und Trotzkisten. Dies sieht auf den ersten Blick sehr attraktiv aus.

Den Kern der rätistischen Position bildet das so genannte „russische Rätsel“, eine Fragestellung von großer Bedeutung für die gegenwärtige und zukünftige Arbeiterbewegung. In ihr wird die Frage aufgeworfen, ob die russische Revolution einen Versuch darstellt, der – kritisch betrachtet, wie es die Art des Marxismus ist - als Grundlage für die nächste revolutionäre Welle dienen kann, oder ob sie - wie die Bourgeoisie, durch den Anarchismus und indirekt durch den Rätismus bestärkt, sagt - völlig  abgelehnt werden müsse, da das Monster des Stalinismus seinen Ursprung im „Leninismus“ habe. [1]

Aus unserer Sicht ist es wichtig und notwendig, den Brief des Genossen zu beantworten, denn diese Debatte erlaubt uns, einerseits die rätistische Position zu widerlegen und andererseits zur Klärung innerhalb der revolutionären Bewegung beizutragen.

 

Werter Genosse,

zu Beginn deines Textes wirfst Du eine Frage auf, die wir vollständig teilen: „Das Verständnis von der Verteidigung der Russischen Revolution ist eine fundamentale Frage für die Arbeiterklasse, denn wir leben noch immer unter der Last des Scheiterns der revolutionären Welle, die mit der Russischen Revolution begonnen hatte: Dies vor allem, weil die Konterrevolution nicht die klassische Form der militärischen Wiederherstellung der alten Herrschaft annahm, sondern die des Stalinismus, der sich selbst ‚kommunistisch’ nannte. Dies bedeutete  einen fürchterlichen Schlag für das internationale Proletariat. Die Bourgeoisie hat diesen Vorteil vollständig ausgeschlachtet, um unter den Arbeitern Verwirrung und Demoralisierung zu säen und den Kommunismus als historische Perspektive der Menschheit zu leugnen. Deshalb müssen wir eine historische Bilanz ziehen, die auf dem historischen Versuch der Arbeiterklasse und der wissenschaftlichen Methode des Marxismus beruht, so wie es die Fraktionen der Kommunistischen Linken während der 50 Jahre der Konterrevolution taten. Eine Bilanz, die wir an eine neue Generation von Arbeitern weitergeben können“.

Völlig richtig! Die Konterrevolution wurde nicht im Namen der „Wiederherstellung des Kapitalismus“ durchgeführt, sondern unter dem Banner des „Kommunismus“. Es war nicht die Weiße Armee, die die kapitalistische  Herrschaft in Russland errichtete, sondern dieselbe Partei, die einst die Vorhut der Revolution gewesen war.

Dieses Ergebnis hat die gegenwärtigen Generationen von Arbeitern und Revolutionären traumatisiert und dazu verleitet, an der Fähigkeit ihrer Klasse und der Gültigkeit ihrer revolutionären Traditionen zu zweifeln. Trugen Lenin und Marx nicht, wenn auch unbeabsichtigt, zur stalinistischen Barbarei bei? Gab es wirklich eine authentische Revolution in Russland? Besteht nicht die Gefahr, dass „politisches Denken“ das, was die Arbeiter errichtet haben, zerstört?

Die Bourgeoisie hat diese Ängste mit ihren permanenten Verleumdungskampagnen gegen die Russische Revolution, den Bolschewismus und gegen Lenin, die alle von den stalinistischen Lügen genährt wurden, geschürt. Die demokratische Ideologie, die die Bourgeoisie auf hohem Niveau das 20. Jahrhundert hindurch propagiert hat, verstärkt diese Ressentiments durch das Beharren auf der „Unabhängigkeit des Individuums“ sowie dem „Respekt vor jedermanns Meinung“ und die Zurückweisung von „Dogmatismus“ und „Bürokratie“. 

Der Begriff der Zentralisierung, die Klassenpartei und die Diktatur des Proletariats, die die Früchte des blutigen Kampfes, das Resultat enormer Bemühungen um politische und theoretische Klärung sind, sind vom schändlichen Stigma des Argwohns besudelt worden. Nicht zu vergessen Lenin, der total abgelehnt wird und dessen Beitrag einem hartnäckigen Scherbengericht ausgesetzt ist, in welchem Phrasen aus ihrem Zusammenhang gerissen werden, wie jene wohl bekannteste, wonach das Bewusstsein von außen komme! [2]

Diese Kombination von Befürchtungen und Zweifeln auf der einen sowie dem Druck der bürgerlichen Ideologie auf der anderen Seite beinhaltet die Gefahr, die Verbindung mit der historischen Kontinuität unserer Klasse, mit ihrem Programm und ihrer wissenschaftlichen Methode, ohne die keine neue Revolution möglich ist, zu verlieren.

Der Rätismus ist Ausdruck dieses Gewichts und zeigt sich durch seine Fixierung auf das Unmittelbare, Lokale und Ökonomische – auf Dinge, die als nahe liegend und am besten kontrollierbar betrachtet werden. Gleichzeitig weist er ostentativ all das zurück, was nach Politik und Zentralisierung riecht, gilt dies doch seit jeher als abstrakt, weit weg und feindlich.

Richtigerweise sprachst Du von „den Beträgen der Fraktionen der Kommunistischen Linken, die gegen den Strom während der 50 Jahre Konterrevolution gerichtet waren“. Wir stimmen damit völlig überein. Doch der Rätismus gehört nicht zu diesen Bemühungen, er steht außerhalb von ihnen.

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, zwischen dem Rätekommunismus und dem Rätismus zu unterscheiden. [3] Der Rätismus ist ein extremer Ausdruck der Entartung jener theoretischen Fehler, die in den 1930ern inmitten der originären Bewegung des Rätekommunismus begangen wurden. Er ist ein unverhohlen opportunistischer Versuch, Positionen zur Frage der Russischen Revolution, der Diktatur des Proletariats, der Partei, der Zentralisierung etc., die die Bourgeoisie schon Tausende Male aggressiv vertreten hat und die vom Anarchismus wiedergekäut wurden, in ein marxistisches Gewand zu kleiden.

Indem wir uns fest auf die russische Erfahrung stützen, sehen wir, dass der Rätismus hauptsächlich zwei Pfeiler des Marxismus angreift: den internationalen und den grundsätzlich politischen Charakter der proletarischen Revolution.

Im Folgenden konzentrieren wir uns auf zwei Fragen: Wie bildet sich das Klassenbewusstsein?

Und: Worin besteht die Rolle der Partei und wie sehen ihre Verbindungen zur Klasse aus?

Selbstverständlich gibt es noch viele andere Fragen, die es zu beantworten lohnt. Jedoch können wir aus Platzgründen nicht auf alle eingehen. Vor allem diese beiden, die Du hervorgehoben hast, scheinen uns allerdings für die Lösung des ‚russischen Rätsels‘ besonders entscheidend zu sein.  

Weltrevolution oder „Sozialismus in einem Land“? 

An verschiedenen Stellen Deines Textes warnst Du davor, die Weltrevolution als Entschuldigung für die Vertagung des Kampfes für den Kommunismus auf unbestimmte Zeit und als Rechtfertigung für die Diktatur der Partei zu nehmen. „Es gibt diejenigen, die alle bürokratischen Entartungen der Revolution mit dem Bürgerkrieg und seinen Verwüstungen, mit der Isolation der Revolution .wegen des Ausbleibens einer Weltrevolution und dem rückständigen Charakter der russischen Ökonomie entschuldigen wollen. All dies erklärt aber nicht die innere Degeneration der Revolution. Warum wurde sie nicht von außen, auf dem Schlachtfeld, sondern vielmehr von innen heraus zerstört? Die einzige Erklärung, die uns solche Entschuldigungen geben, ist, dass wir unsere Wünsche dahingehend formulieren, dass die nächste Revolution doch in den hochentwickelten Ländern stattfinden und  nicht isoliert bleiben soll“ Ein wenig später äußerst Du: „Die Revolution kann sich nicht bis zum Sieg der Weltrevolution  mit der Verwaltung des Kapitalismus begnügen. Sie muss die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (Lohnarbeit und  Warenwirtschaft) abschaffen“.

Die bürgerlichen Revolutionen waren nationale Revolutionen. Der Kapitalismus entstand zunächst in den Städten und existierte lange Zeit inmitten einer bäuerlichen Welt, die durch den Feudalismus beherrscht wurde; seine  sozialen Beziehungen konnten sich isoliert von anderen Ländern in einem Land entwickeln. So konnte die Bourgeoisie in England 1640 triumphieren, während auf dem übrigen Kontinent noch das Feudalregime herrschte.

Kann das Proletariat denselben Weg gehen? Kann das Proletariat damit anfangen, „kapitalistische Produktionsverhältnisse in einem Land  abzuschaffen“, ohne auf die „weit entfernte“ Weltrevolution zu warten?

Wir sind uns sicher, dass Du Stalins Position des „Sozialismus in einem Land“ nicht teilst. Doch wenn Du forderst, dass das Proletariat beginnen soll, Lohnarbeit und Warenwirtschaft abzuschaffen, ohne auf den Sieg der Weltrevolution zu warten, dann lässt Du diese Auffassung durch die Hintertür wieder hinein. Es gibt keinen Mittelweg zwischen der weltweiten Errichtung des Kommunismus und dem Aufbau des „Sozialismus in einem Land“.

Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den bürgerlichen und den proletarischen Revolutionen. Erstere sind in ihren Wegen, Mitteln und Zielen national. Auf der anderen Seite steht die proletarische Revolution. Sie ist die erste weltweite Revolution der Geschichte und dies sowohl bezogen auf ihr Ziel, den Kommunismus, wie auch in Bezug auf ihre Mittel (den internationalen Charakter sowohl der Revolution selbst wie auch der Errichtung der neuen Gesellschaft).

Die Arbeiter haben kein Vaterland, da mit ihnen„die Großindustrie eine Klasse schuf, die in allen Ländern dasselbe Interesse hat, womit jede Nationalität schon tot ist“ (Deutsche Ideologie, Seite 78, englische Studienausgabe). „Die große Industrie hat schon dadurch, dass sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde, und namentlich die zivilisierten, in eine solche Verbindung miteinander gebracht, dass jedes einzelne Volk davon abhängig ist, was bei einem andern geschieht. Sie hat ferner in allen zivilisierten Ländern die gesellschaftliche Entwicklung so weit gleichgemacht, dass in allen diesen Ländern Bourgeoisie und Proletariat die beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft, der Kampf zwischen beiden der Hauptkampf des Tages geworden ist. Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d.h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein“ (Grundsätze des Kommunismus, 1847, MEW, Bd. 4, S. 374). 

Gegen diese internationalistische Denkweise propagierte Stalin 1926-1927 die These vom „Sozialismus in einem Land“ – eine These, die Trotzki und alle Tendenzen der Kommunistischen  Linken (einschließlich der Deutsch-Holländischen Kommunisten) als Verrat betrachteten und die die italienische Linksgruppierung Bilan als Todesurteil der Kommunistischen Internationalen charakterisierte.

Der Anarchismus für seinen Teil argumentiert im Wesentlichen ähnlich wie der Stalinismus. Mit seiner Gegnerschaft zum Prinzip der Zentralisierung grenzt er sich zwar einerseits von der Position des „Sozialismus in einem Land“ ab, aber andererseits propagiert er durch Begrifflichkeiten wie „Autonomie“ und „Selbstverwaltung“ den Sozialismus in einem Dorf oder in einer Fabrik Sicherlich erwecken solche Formulierungen einen „demokratischeren“ Anschein, setzen sie doch auf die Initiative der Massen. Doch letztendlich führen sie genauso wie der Stalinismus zur Verteidigung der kapitalistischen Ausbeutung und des bürgerlichen Staates. [4] Natürlich ist der Weg verschieden: Während der Stalinismus zum Mittel der brutalen bürokratischen Hierarchie griff, zieht es der Anarchismus vor, demokratische Vorstellungen wie die „Souveränität“ und „Autonomie“ des „freien“ Individuums auszubeuten und zu fördern sowie die Arbeiter dazu zu verleiten, ihr eigenes Elend durch lokale und sektorale Organe selbst zu verwalten.

Was ist die Position des Rätismus? Wie wir schon eingangs sagten, hat es eine Entwicklung der verschiedenen Komponenten dieser Strömung gegeben. So führten die von der GIK vertretenen „Thesen des Bolschewismus“ [5] zwar zu großen Verwirrungen. Jedoch stellte die GIK nie die Natur der weltweiten proletarischen Revolution offen in Frage, auch wenn ihre Betonung des angeblich ökonomischen Charakters der Revolution der Abwendung von diesem Prinzip Tür und Tor öffnet. Die nachfolgenden rätistischen Gruppen, besonders jene aus den 1970er Jahren, erörterten hingegen offen die These von der Errichtung eines „lokalen und nationalen“ Sozialismus. Wir haben dies in verschiedenen Polemiken unserer Internationalen Revue bekämpft und uns in etlichen Artikeln gegen die Auffassungen verschiedener rätistischer Gruppen über Fragen wie die der Drittwelttheorien und der Selbstverwaltung gewandt. [6]

Im Gegensatz zu dem, was Du uns zu verstehen gibst, ist der proletarische Internationalismus kein frommer Wunsch oder eine Möglichkeit unter anderen, sondern vielmehr die konkrete Antwort auf die historische Entwicklung des Kapitalismus.

Seit 1914 haben alle Revolutionäre verstanden, dass die einzige Revolution, die auf der Tagesordnung stand, nur die sozialistische, internationale und proletarische sein konnte. „Aber nicht unsere Ungeduld, nicht unsere Wünsche, sondern die vom imperialistischen Krieg erzeugten objektiven Bedingungen haben die Menschheit in eine Sackgasse geführt und sie vor das Dilemma gestellt: entweder zulassen, dass weitere Millionen Menschen zugrunde gehen und die ganze europäische Kultur endgültig vernichtet wird, oder in allen zivilisierten Ländern die Macht dem revolutionären Proletariat übergeben, die sozialistische Umwälzung verwirklichen“ (Lenin, Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter, April 1917, Gesammelte Werke, Bd. 23, S. 384).

Es ist nicht nur die Reife der historischen Situation, die die Weltrevolution auf die Tagesordnung setzt. Auch die Analyse des Kräfteverhältnisses der Klassen im Weltmaßstab erlaubt diese Schlussfolgerung. Die frühest mögliche Gründung der Internationalen Partei des Proletariats ist auch ein  grundlegendes Element, die Balance des Kräfteverhältnisses mit dem Feind zugunsten des Proletariats zu verändern. Denn die rasche Gründung einer internationalen Partei erschwert es der Bourgeoisie, die revolutionären Brennpunkte zu isolieren. Schon vor der Machtübernahme 1917 kämpfte Lenin in den Reihen  der Zimmerwalder Linken daher um die unverzügliche Konstituierung  einer neuen Internationalen: „Gerade wir müssen, gerade jetzt, ohne Zeit zu verlieren, eine neue revolutionäre, proletarische Internationale gründen, oder richtiger  gesagt, wir dürfen uns nicht fürchten, vor aller Welt zu erklären, dass sie  schon gegründet ist  und wirkt“.

(„Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, 1917. Gesammelte Werke, Bd. 24, S. 68)

Im September 1917 stellte Lenin in einem Brief an den bolschewistischen Kongress der nördlichen Region (8. Oktober 1917) die Notwendigkeit der Machtübernahme fest, wobei er sich auf eine Analyse  des internationalen Kräfteverhältnisses zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie stützte: „Unsere Revolution macht eine im höchsten Maße kritische Zeit durch. Diese Krise fällt zusammen mit der großen Krise des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution und ihrer Bekämpfung Durch den Weltimperialismus (...) Die Sowjets der beiden Hauptstädte [müssen] die Macht ergreifen“ (Brief an die Genossen Bolschewiki, 8. Okt. 1917, Lenin, Werke, Bd. 26,  S. 169) „Dadurch retten sie sowohl die Weltrevolution (...) wie auch die russische Revolution“ (ebenda, 1. Okt. 1917, S. 125) Die Revolution in Russland befand sich nach dem Fehlschlag des Kornilow-Putsches in einer delikaten Lage: Wenn die Sowjets nicht in die Offensive gegangen wären (die Machtübernahme), hätten Kerenski und seine Freunde neue Anstrengungen unternommen, sie zu lähmen und später zu liquidieren, um auf diese Weise die Revolution zu zerstören.

Dies hatte eine noch größere Bedeutung für Deutschland, Österreich, Frankreich, England etc., wo die Unzufriedenheit der Arbeiter entweder einen mächtigen Impuls durch die russische Revolution erhielt oder im Gegenteil Gefahr lief, sich in einer Reihe von Einzelgefechten aufzureiben.

Die Machtübernahme in Russland wurde überall als ein Beitrag zur Weltrevolution betrachtet und nicht als eine Aufgabe nationalen Wirtschaftsmanagements. Einige Monate nach jenem Oktober sprach Lenin auf der Konferenz der Fabrikkomitees in der Moskauer Region in diesem Sinne „Die russische Revolution ist nur ein Kontingent der internationalen sozialistischen Armee, von deren Aktion der Erfolg und der Triumph unserer Revolution abhängt. Dies ist ein Fakt, den niemand von uns aus den Augen verlieren darf (…) Angesichts der Isolation ihrer Revolution ist sich das russische Proletariat sehr wohl bewusst, dass eine wesentliche Bedingung und eine zentrale Erfordernis für ihren Sieg die gemeinsame Aktion der Arbeiter der ganzen Welt ist“. 

Ökonomische oder politische Revolution?

Indem Du Dir die rätistische Position zu Eigen machst, betrachtest Du als die treibende Kraft die Durchführung der kommunistischen ökonomischen Maßnahmen vom ersten Tag der Revolution an. Du bringst das in zahlreichen Passagen deines Textes zum Ausdruck, so wenn Du schreibst „… im April 1918 veröffentlichte Lenin ‚Die unmittelbaren Aufgaben der Sowjetmacht’, worin er  die Idee der Errichtung eines Staatskapitalismus unter der Kontrolle der Partei mit dem Ziel untersucht, die Produktivität, Rentabilität und Arbeitsdisziplin zu erhöhen sowie um der kleinbürgerlichen Mentalität  und  dem anarchistischen Einfluss ein Ende zu bereiten, und wo er ohne Zweifel bürgerliche Methoden propagierte  wie zum Beispiel: den Einsatz bürgerlicher Spezialisten, Akkordarbeit, die Anwendung des Taylorismus, Ein-Mann- Management [7]… Als ob die Methoden der kapitalistischen Produktion neutral seien und ihre Anwendung durch die Arbeiterpartei ihren sozialistischen Charakter garantieren würde. Der Zweck des sozialistischen Aufbaus rechtfertigt die Mittel.“ Als eine Alternative schlägst Du vor, dass sich „die Revolution nicht selbst auf die Verwaltung des Kapitalismus beschränken darf bis zum weit entfernt liegenden Triumph der Revolution, sie muss die kapitalistischen Produktionsverhältnisse  (wie Lohnarbeit und Warenwirtschaft)  abschaffen“, indem „sie die Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse mit der Berechnung der notwendigen, gesellschaftlichen Arbeit für die Herstellung der Güter“ entwickelt.

Der Kapitalismus hat die Bildung  des Weltmarktes mit dem  Beginn des 20.  Jahrhunderts abgeschlossen.  Dies bedeutet, dass das Wertgesetz in der ganzen Weltwirtschaft wirksam ist und sich kein Land oder keine Ländergruppe diesem Gesetz entziehen kann. Die proletarische Bastion (das Land oder die Länder, in denen die Revolution gesiegt hat) bildet darin keine Ausnahme. Die Machtergreifung in der proletarischen Bastion bedeutet nicht die Bildung eines „befreiten Gebietes“. Im Gegenteil, dieses Gebiet wird solange dem Feind gehören, wie es weiterhin dem Wertgesetz der kapitalistischen Welt unterworfen ist.[8] Die Macht des Proletariats ist hauptsächlich politisch und die wesentliche Rolle des Gebietes, das gewonnen wurde,  besteht darin,  als Brückenkopf der Weltrevolution zu agieren.

Der Kapitalismus hat der Menschheitsgeschichte zwei Vermächtnisse hinterlassen: die Bildung des Proletariats und den objektiv internationalen Charakter der Produktivkräfte. Diese zwei Vermächtnisse werden von der Theorie der „unmittelbaren Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse“ grundsätzlich angegriffen: so durch die vermeintliche „Abschaffung“ der Lohnarbeit  und die Errichtung eines Marktes auf der Ebene der Fabrik, der Stadt oder des jeweiligen Landes. Einerseits kehrt dies die Produktion um in eine Mischung kleiner, autonomer Einheiten, wodurch sie zum Gefangenen der Tendenz zur Explosion und Fragmentierung wird, die den Kapitalismus in dieser Phase der Dekadenz prägt und in dramatischer Art und Weise in ihrer Endphase des Zerfalls konkretisiert wird. [9] Andererseits führt es zur Spaltung des Proletariats, wenn es an die Interessen und Bedürfnisse einzelner lokaler, sektoraler oder nationaler Einheiten gebunden wird, die von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen „befreit“ sind.

Du sagst weiter, dass „in Russland sich seit 1917 ein revolutionärer Zyklus geöffnet hat, der sich 1937 schloss. Die russischen Arbeiter waren zwar fähig, die Macht zu übernehmen, aber nicht dazu fähig, sie für eine kommunistische Umwandlung zu nutzen. Rückständigkeit, Krieg, ökonomischer Zusammenbruch und internationale Isolation als solche erklären aber nicht den Rückfluss. Diese Erklärung wäre eine politische, die die Macht fetischisiert und von der ökonomischen Umwandlung abgekoppelt ist, welche von den Klassenorganen  durchgeführt wird: Versammlungen und Räte, in denen die Spaltung zwischen politischen und gewerkschaftlichen Aufgaben überwunden ist. Die leninistische Konzeption überschätzt die Frage der politischen Macht, die in ihren Augen die Vergesellschaftung der Wirtschaft und die Umwandlung der Produktionsverhältnisse bestimmt: Der Leninismus ist die bürokratische Krankheit des Kommunismus. Wenn die Revolution in erster Linie eine politische ist, dann beschränkt sie sich selbst darauf, den Kapitalismus in der Hoffnung auf die Weltrevolution zu verwalten. Damit stärkt sie eine Macht, die keine andere Aufgabe hat als die Unterdrückung und den Kampf gegen die Bourgeoisie. Ein Kampf, der dazu führt, dass diese Macht sich verewigt, zunächst mit dem Anspruch, die Perspektive der Weltrevolution zu verfolgen, dann um sich selbst zu erhalten“.

Der wahre Grund, warum Du so verzweifelt „kommunistische, wirtschaftliche Maßnahmen“ in den Mittelpunkt stellst, ist Deine Furcht davor, dass die proletarische Revolution „auf der politischen Ebene steckenbleiben könnte“ und sie in eine hohle Phrase verwandelt, die keinerlei bedeutsame Veränderung in den Bedingungen der Arbeiterklasse erbringt.

Die bürgerliche Revolution war in erster Linie ökonomischer Natur und schloss die Aufgabe der Ausmerzung der politischen Macht der alten Feudalklasse ab oder erreichte zumindest eine Verständigung mit ihr. „ Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der  Kommune; hier unabhängige städtische Republik (…) dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie (…), dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft“. („Kommunistisches Manifest“, 1848, MEW, Bd. 4, S. 464) Die Bourgeoisie erlangte im Verlauf von drei Jahrhunderten eine unumstrittene  Position auf ökonomischem Gebiet (Handel, Kreditwesen, Manufaktur, Großindustrie), was sie schließlich in die Lage versetzte, die politische Macht durch die Revolution zu erobern, wofür Frankreich 1789 beispielhaft stand.

Diese historische Entwicklung entspricht ihrem Wesen als eine ausbeutende Klasse (wobei sie eine neue Form der Ausbeutung anstrebt, nämlich die „freie“ Lohnarbeit als Gegenstück zur feudalen Leibeigenschaft) und den Charakteristiken ihrer Produktionsweise: private und nationale Aneignung des Mehrwertes.

Soll das Proletariat in seinem Kampf für den Kommunismus etwa denselben Weg folgen? Sein Ziel ist nicht die Schaffung einer neuen Form der Ausbeutung, sondern die Abschaffung jedweder Ausbeutung. Das bedeutet, es darf  nicht danach streben, innerhalb der alten Gesellschaft eine ökonomische Machtposition zu errichten, von der aus es zur Eroberung der politischen Macht startet. Vielmehr muss es den entgegengesetzten Weg verfolgen: die Ergreifung der politischen Macht auf Weltebene und von hier aus den Aufbau einer neuen Gesellschaft.

Die Ökonomie bedeutet die Unterwerfung des menschlichen Lebens unter die objektiven Gesetze, unabhängig von ihrem Willen. Die Ökonomie bedeutet Ausbeutung und Entfremdung. Marx sprach nicht von einer „kommunistischen Wirtschaft“, sondern von der Kritik der politischen Ökonomie. Kommunismus bedeutet die Herrschaft der Freiheit anstatt  der Herrschaft der Notwendigkeit, die die Geschichte der Menschheit unter der Ausbeutung und Unterdrückung bestimmt hat. Der grundsätzliche Irrtum der „Prinzipien der Kommunistischen Produktion und Verteilung“ [10], ein zentraler Text für die Rätebewegung, besteht in dem Versuch, die Arbeitszeit als neutralen und unpersönlichen Automatismus darzustellen, der die Produktion reguliert. Marx kritisierte diese Idee in der „Kritik des Gothaer Programms“, indem er aufzeigte, dass sich die Vorstellung „gleiche Arbeit für gleiches Geld“ durchaus noch im Rahmen des bürgerlichen Rechtsraumes bewegt. Lange zuvor hatte er bereits im „Elend der Philosophie“ betont: „In einer zukünftigen Gesellschaft, wo der Klassengegensatz verschwunden ist, wo es keine Klassen mehr gibt, würde der Gebrauch nicht mehr von dem Minimum der Produktionszeit abhängen, sondern die Produktionszeit, die man den verschiedenen Gegenständen widmet, würde bestimmt durch die gesellschaftliche Nützlichkeit“. (MEW, Bd. 4, S. 93) „Die Konkurrenz führt das Gesetz durch, nach welchem der Wert eines Produktes durch die zu seiner Herstellung notwendige Arbeitszeit bestimmt wird. Die Tatsache, dass die Arbeitszeit als Maß des Tauschwertes dient, wird auf diese Art zum Gesetz einer beständigen Entwertung der Arbeit “. (idem, Seite 94 f) [11]

In Deinem Text stellst Du den „Leninismus“ als „Fetischisierung“ des Politischen dar. Demnach hätte sich die gesamte Arbeiterbewegung, bei Marx angefangen, dieses „Fehlers“ schuldig gemacht. Aber es war gerade Marx in seiner Polemik gegen Proudhon (siehe den oben angeführten Band 4) der aufzeigte, dass „der Gegensatz zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie ein Kampf Klasse gegen Klasse (ist), ein Kampf, der, auf  seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet. Braucht man sich übrigens zu wundern, dass eine auf dem Klassengegensatz gegründete Gesellschaft, auf den brutalen Widerspruch hinausläuft auf den Zusammenstoß Mann gegen Mann als seine letzte Lösung?“.

Man sage nicht, dass die gesellschaftliche Bewegung die politische ausschließt. Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftliche wäre.

Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Entwicklungen aufhören, politische Revolutionen zu sein. Bis dahin wird am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der Gesellschaftswissenschaft stets lauten:

„Kampf oder Tod, blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt.“ (aus der Einleitung zu Georg Sands historischem Roman: „Jean Ziska“) (MEW, Bd. 4, S. 182)

Die Rätebewegung begründet die Verteidigung des ökonomischen Charakters der proletarischen Revolution mit folgendem Syllogismus: Da die Grundlage der Ausbeutung des Proletariats die Ökonomie ist, ist es erforderlich, kommunistisch-ökonomische Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu beseitigen.

Um auf diesen Sophismus zu antworten, ist es nötig, den schlüpfrigen Boden der formalen Logik zu verlassen und sich stattdessen auf den festen Boden der historischen Entwicklung zu begeben. In der Geschichte der menschlichen Entwicklung haben zwei, sich eng aufeinander beziehende, aber auch voneinander unabhängige Faktoren eine wesentliche Rolle gespielt: einerseits die Entwicklung der Produktivkräfte sowie die Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse (der ökonomische Faktor) und andererseits der Klassenkampf (der politische Faktor). Die Aktionen der Klasse basieren sicherlich auf der Entwicklung des ökonomischen Faktors, aber sie sind beileibe keine bloße Widerspiegelung dessen; sie sind nicht bloße Antworten auf ökonomische Impulse in der Art der Pawlowschen Hunde. Wir haben in der Geschichte der menschlichen Entwicklung eine klare Tendenz zu einem wachsenden Gewicht des politischen Faktors (dem Klassenkampf) gesehen: Die Auflösung des alten primitiven Kommunismus und sein Ersatz durch die Skavenhaltergesellschaft war ein von Grund auf gewaltsamer, objektiver Prozess, das Produkt Jahrhunderte langer Entwicklungsgeschichte. Der Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus entstand aus dem allmählichen Prozess des Niederganges der alten Ordnung und der Herausbildung einer neuen, wobei der bewusste Faktor nur ein begrenztes Gewicht hatte. Dagegen hatten in der bürgerlichen Revolution die Aktionen  der Klassen ein größeres Gewicht,  obgleich „die Bewegung der übergroßen Mehrheit im Interesse einer Minderheit stattfand“. Nichtsdestoweniger wurde, wie wir oben gezeigt haben, die Bourgeoisie von der überwältigenden Stärke der enormen ökonomischen Umwälzung getragen, die in großen Teilen das Produkt eines objektiven und unvermeidlichen Prozesses war. Das Gewicht des ökonomischen Faktors war immer noch erdrückend.

Andererseits ist die proletarische Revolution das Endergebnis des Klassenkampfes zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, was von Anfang an ein hohes Maß an Bewusstsein und eine aktive Teilnahme erfordert. Diese fundamentale und grundlegende Dimension des subjektiven Faktors (das Bewusstsein, die Einheit, die Solidarität, das Vertrauen der Arbeiterklasse) kennzeichnet den Vorrang des politischen Charakters der proletarischen Revolution, die die erste wirklich massenhafte und bewusste Revolution in der Geschichte ist.

Du bevorzugst eine proletarische Revolution, die durch die aktive und bewusste Teilnahme der großen Mehrheit der Arbeiter getragen wird, was sich durch ein Maximum an Einheit, Solidarität, Bewusstsein, Hingabe und kreativen Willen ausdrückt. Gut, genau darin liegt der politische Charakter der proletarischen Revolution.  

„Die ökonomische Revolution“ des Rätismus in der Praxis. 

Deine Bilanz der russischen Revolution kann wie folgt zusammengefasst werden: Wenn sie statt der Fetischisierung des Politischen und der doch „so weit entfernten Weltrevolution“ die Abschaffung der Lohnarbeit und des Warentausches in Angriff genommen hätte, dann hätte sie keinen „Bürokratismus“ hervorgebracht und die Revolution wäre vorangeschritten. Diese Lehre übte einen großen Reiz auf den Rätekommunismus aus und wird vom heutigen Rätismus vulgarisiert.

Indem der Rätismus diese Position bezieht, bricht er mit der Tradition des Marxismus und verbindet sich mit dem Anarchismus und dem Ökonomismus. Diese Position des Rätismus ist nicht neu: Proudhon vertrat sie – und wurde von Marx in seiner Kritik auseinandergenommen. Später wurde sie von der Theorie der Genossenschaften einverleibt und anschließend vom Anarchosyndikalismus und revolutionären Syndikalismus, sowie in Russland vom Ökonomismus vertreten. 1917-1923 wurde sie durch den Austromarxismus [12] sowie von Gramsci und seiner „Theorie“ der Fabrikräte wiederbelebt; [13] Otto Rühle und einige Theoretiker der AUUD schlugen denselben Weg ein. Trotz richtiger Argumente, wie jene von der Gruppe Demokratischer Zentralismus, verfiel Kollontais Arbeiteropposition in Russland denselben Ideen. 1936 kürte der Anarchismus die spanischen „Kollektive“ zur großen Alternative zur bolschewistischen [14] „Bürokratie und zum Staatskommunismus“.

Das Gemeinsame all dieser Anschauungen – und damit auch die Wurzel des Rätismus- ist eine Konzeption von der Arbeiterklasse als eine rein ökonomische und soziologische Kategorie. Sie betrachtet die Arbeiterklasse nicht als geschichtliche Klasse, geprägt durch die Kontinuität ihres Kampfes und ihres Bewusstseins, sondern als Summe von Individuen, die durch die beschränktesten ökonomischen Interessen motiviert werden [15].

Die Rechnung des Rätismus ist die folgende: Um die Revolution zu verteidigen, müssen die Arbeiter „sicherstellen“, dass es unmittelbare Erfolge gibt, dass sie sich der Früchte der Revolution bemächtigen. Darunter wird ihre „Kontrolle“ der Fabriken verstanden, die ihnen erlaubt, sich selbst zu verwalten. [16]

„Fabrikkontrolle“? Welche Kontrolle soll es geben, wo doch die Produktion den Kosten und der Profitrate unterworfen ist, die Ausdruck der Konkurrenz auf dem Weltmarkt ist?

Entweder - oder: Entweder  verkündet man die Autarkie und bewirkt damit einen Rückschritt unkalkulierbaren Ausmaßes, was die ganze Revolution vernichten würde, oder man arbeitet inmitten eines kapitalistischen Weltmarktes, wobei man sich seinen Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen hat.

Der Rätismus proklamiert die “Aufhebung der Lohnarbeit“ durch Beseitigung der Löhne und ihren Ersatz durch „Arbeitszeitgutscheine“. Dies umgeht das Problem mit schön klingenden Worten: Es ist notwendig, eine bestimmte Anzahl von Stunden zu arbeiten und wie korrekt auch immer die Arbeitszeitgutscheine sind, es fallen immer Stunden an, die bezahlt werden, und Stunden, die unbezahlt bleiben - der so genannte Mehrwert. Die Losung: „ein gerechtes Tagewerk für einen gerechten Lohn“ ist Teil des bürgerlichen Gesetzes und beinhaltet die schlimmsten Ungerechtigkeiten, wie Marx schon aufzeigte.

Der Rätismus proklamiert die „Abschaffung der Warenwirtschaft“ und ihren Ersatz durch die „Buchhaltung zwischen den Fabriken“. Aber auch hier befinden wir uns in demselben Dilemma: Was produziert wird, muss sich nach dem Tauschwert richten, den die Konkurrenz auf dem Weltmarkt vorgibt.

Der Rätismus versucht das Problem der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft durch „Formen und Namen“ zu lösen, vermeidet es aber, das Problem an der Wurzel zu packen.

„Herr Bray ahnte  nicht, dass dieses egalitäre Verhältnis, dieses Verbesserungsideal, welches er in die Welt einführen will, selbst nichts anderes ist als der Reflex der gegenwärtigen Welt und dass es infolgedessen total unmöglich ist, die Gesellschaft auf einer Basis rekonstruieren zu wollen, die selbst nur der verschönerte Schatten dieser Gesellschaft ist. In dem Maße, wie der Schatten Gestalt annimmt, bemerkt man, dass diese Gestalt, weit entfernt, ihre erträumte Verklärung zu sein, just die gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft ist.“ („Das Elend der Philosophie“, MEW, Bd. 4, S. 105).

Die Vorstellungen des Anarchismus und Rätismus zur „ökonomischen Revolution“ gehen in dieselbe Richtung wie die des Herrn Bray: Wenn dieser Schatten Gestalt annimmt, wird deutlich, dass er nichts anderes als die aktuelle Gestalt der bestehenden Gesellschaft ist. 1936 tat der Anarchismus mit seinen Kollektiven nichts anderes, als ein Regime von extremer Ausbeutung im Dienst der Kriegswirtschaft zu errichten. Das Ganze versuchte er mit den Ideen von der „Selbstverwaltung“, der „Abschaffung des Geldes“ und anderem Unsinn zu verschönern.

Wie dem auch sei, es gibt einige sehr ernste Konsequenzen aus diesen rätistischen Vorstellungen: Sie verleiten die Arbeiterklasse dazu, ihre historische Mission für einen Apfel und ein Ei, für die „sofortige Beschlagnahme der Fabriken“ zu  verraten.

In Deinem Text hast Du betont, dass „Klasse und Partei nicht die gleichen Absichten haben. Die Bestrebungen der Arbeiter gehen in Richtung der Übernahme der Führung der Fabriken und ihrer Produktionsleitung“. „Übernahme der Führung der Fabriken“ bedeutet, dass jeder Teil der Arbeiterklasse seinen Teil der Beute an sich nimmt, die dem Kapitalismus zuvor entrissen worden war, und ihn nun, natürlich in Koordination mit den Arbeitern anderer Fabriken, zu seinem Nutzen verwendet. Das heißt, wir kommen vom  Eigentum des Kapitalisten zum Eigentum des einzelnen Arbeiters. Nur den Kapitalismus, den haben wir  nicht überwunden!

Schlimmer noch, es bedeutet, dass jene Arbeitergeneration, die die Revolution macht, die Reichtümer, die sie zuvor dem Kapitalismus genommen hat, konsumieren wird, ohne auch nur einen Gedanken an die Zukunft zu „verschwenden“. Dies führt die Arbeiterklasse dazu, ihre historische Aufgabe, den Kommunismus im Weltmaßstab zu errichten, zu verleugnen und stattdessen der Illusion zu verfallen, „alles sofort zu haben“.

Die Versuchung, die Fabriken „unter sich aufzuteilen“, stellt eine reale Gefahr für den nächsten revolutionären Versuch dar, weil der heutige Kapitalismus in seine letzte Phase, die des Zerfalls, getreten ist.[17] Zerfall bedeutet Chaos, Auflösung, Zusammenbruch der Wirtschaft und Zersplitterung der gesellschaftlichen Strukturen in ein aus den Fugen geratenes Mosaik von Fragmenten, und auf der ideologischen Ebene den Verlust einer historischen, weltweiten und einheitlichen Sichtweise, die die bürgerliche Ideologie als „Totalitarismus“ und „Bürokratie“ zu verunglimpfen sucht. Die Kräfte der Bourgeoisie tun dies im Namen der „demokratischen Kontrolle“, der „Selbstverwaltung“ und anderer ähnlicher Phrasen. Es besteht die Gefahr, dass die Klasse aufgrund des völligen Verlustes der historischen Perspektive geschlagen und in die einzelne Fabrik oder Lokalität eingesperrt wird.

Dies wird nicht nur eine fast endgültige Niederlage sein, sondern bedeutet auch, dass die Arbeiterklasse durch den Mangel an einer historischen Perspektive, durch den Egoismus, den Drang zur Unmittelbarkeit und die völlige Abwesenheit von Zielen zermürbt wird. Genau das ist es, was von der gesamten bürgerlichen Ideologie in der gegenwärtigen Phase des Zerfalls propagiert wird.

Die wirklichen Lehren der Russischen Revolution 

Die proletarische Bastion wird inmitten eines brutalen und quälenden Widerspruchs geboren: Einerseits führt der Kapitalismus einen Kampf auf Leben und Tod gegen diese Bastion mit wirtschaftlichen, militärischen und imperialistischen Mitteln (militärische Invasion, Blockade, den Zwang, Warenhandel selbst zu den ungünstigsten Bedingungen zu betreiben, um zu überleben). Andererseits muss die Arbeiterklasse das Eisen um ihren Hals mit den einzigen Waffen, die sie hat, brechen: die Einheit und das Bewusstsein der gesamten Klasse sowie die weltweite Ausdehnung der Revolution.

Dies zwingt sie dazu, eine komplexe, zeitweilig widersprüchliche Politik zu betreiben, um eine Gesellschaft, die vom Zerfall bedroht ist, über Wasser zu halten (Versorgung, minimales Funktionieren des Produktionsapparates, militärische Verteidigung) und gleichzeitig den Hauptteil ihrer Kräfte auf die Ausdehnung der Revolution und die Auslösung weiterer proletarischer Aufstände zu richten.

In den ersten Jahren der Räteherrschaft verfolgten die Bolschewiki diese Politik standhaft. In ihrer kritischen Studie  der russischen Revolution verdeutlichte Rosa Luxemburg dies: „Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen (Ereignissen) abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellte, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik“ (Rosa Luxemburg, „Zur russischen Revolution“, Werke Bd. 4, S. 334).

So stellte die Resolution des territorialen Moskauer Büros der Bolschewistischen Partei vom Februar 1918 bezüglich der Brest-Litowsk-Debatte fest „Im Interesse der internationalen Revolution gehen wir das Risiko des Verlustes der Macht der Räte ein, die zu etwas rein Formalen gemacht werden; heute wie gestern gilt das Ziel der Ausdehnung der Revolution auf alle Länder.[18]

Innerhalb dieser Politik begingen die Bolschewiki eine Reihe von Fehlern. Und dennoch konnten diese Fehler korrigiert werden, solange die Kräfte der Revolution weiterlebten. Erst von 1923 an, als der Revolution in Deutschland ein tödlicher Schlag versetzt worden war, setzte sich die Tendenz der Bolschewiki, sich zum Gefangenen des russischen Staatsapparates zu machen und sich damit endgültig in einen nicht lösbaren Widerspruch zum internationalen Proletariat zu begeben, endgültig durch. Die bolschewistische Politik fing, an, zu einem bloßen Sachwalter des Kapitals zu werden.

Eine marxistische Kritik dieser Fehler hat nichts  gemein mit der Kritik, wie sie vom Rätismus vorgetragen wird. Die rätistische Kritik führt zum Anarchismus und zur Bourgeoisie, während die marxistische Kritik die Stärkung der proletarischen Positionen ermöglicht. Viele Fehler wurden vom Rest der internationalen Arbeiterbewegung (Luxemburg, Bordiga, Pannekoek) geteilt. Unser Ziel hier ist es nicht, die Bolschewiki von „ihren Sünden rein zu waschen“, sondern einfach aufzuzeigen, dass dies ein Problem der gesamten internationalen Arbeiterklasse war und nicht das Produkt des „Bösen“, des „Machiavellismus“ und des „versteckten bourgeoisen Charakters der Bolschewiki“, wie die Rätisten annehmen.

Wir  können hier nicht die marxistische Kritik der bolschewistischen Fehler darlegen, aber wir haben ausführlich dazu in der Presse unserer Strömung geschrieben.  Wir möchten besonders die folgenden Texte hervorheben:

- die Artikelserien zum Kommunismus in der englischen Ausgabe der Internationalen Revue

- die Broschüre „Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus,

- die Broschüre „Die Russische Revolution“.

Diese Dokumente könnten als Grundlage für die Fortsetzung der Diskussion dienen.

Wir hoffen, einen Beitrag zu einer klaren und brüderlichen Debatte geleistet zu haben.

 

Mit kommunistischen Grüßen

Accion Proletaria/Internationale Kommunistische Strömung 

Fußnoten:

[1] Die extremsten Vertreter des Rätismus lassen es nicht dabei bewenden, Lenin in Frage zu stellen. Sie machen auch vor Marx nicht Halt und umarmen dabei Proudhon und Bakunin. Tatsächlich folgen sie der unerbittlichen Logik einer Position, die behauptet, es gäbe eine Kontinuität zwischen Lenin und Stalin. Siehe hierzu unseren Artikel „Zur Verteidigung des proletarischen Charakters des Oktobers 1917“ in der Internationalen Revue, Nr. 5 und 6, der ein grundsätzlicher Artikel für die Diskussion über die russische Frage ist.

[2] Natürlich weisen wir die Kampagne der Bourgeoisie gegen Lenin auf das Schärfste zurück. Dies bedeutet aber nicht, dass wir alle seine Positionen blind akzeptieren. Im Gegenteil, in verschiedenen Texten haben wir seinen Irrtümern und Verwirrungen bezüglich des Imperialismus sowie bezüglich des Verhältnisses von Partei und Klasse Rechnung getragen. Solche Kritik stellt einen Teil der revolutionären Tradition dar. (Sie ist für uns, wie Rosa Luxemburg sagt, die notwendige Luft zum Atmen). Aber die revolutionäre Kritik hat eine Methode und eine Zielrichtung, die den Lügen und Verdrehungen der Bourgeoisie und der Parasiten diametral entgegengesetzt ist.

[3] Wir wollen hier die Frage nicht vertiefen. Wir haben Dir das Buch über die deutsch-holländische Linke, das wir auf Französisch und Englisch herausgegeben haben, zugeschickt.

[4] Siehe hierzu unseren Artikel „Der Mythos der anarchistischen Kollektive“, veröffentlicht in der Internationalen Revue, Nr.4, und in unserem Buch „1936: Franco y la Republica aplastan al proletariado“. Leider können wir hier die Frage nicht vertiefen: Verglichen mit dem vermeintlich bürokratischen und autoritären russischen „Modell“, galt das spanische Modell von 1936 demgegenüber als „demokratisch“, „selbst bestimmt“ und „auf der autonomen Initiative der Massen basierend“.

[5] Im Rahmen dieser Antwort können wir die Schlüsselbehauptung der „Thesen zum Bolschewismus“ – in denen  von der bürgerlichen Natur der Russischen Revolution die Rede ist -  nicht widerlegen. Wir haben jedoch in der International Review, Nr. 12, 13 (s. Fußnote 1) und in der„Antwort von Pannekoek auf Lenin als Philosoph“ in: International Review Nr.25, 27 und 30 auf diesen Punkt ausreichend geantwortet. Dieser Artikel Pannekoeks stellt einen Bruch mit der früheren Position dar, die von vielen Mitgliedern der Rätebewegung einst vertreten worden war: 1921 stellte  Pannekoek fest, dass „die Taten der Bolschewiki von unermesslichem Nutzen für die Revolution in Westeuropa sind. Sie haben dem Weltproletariat erstmalig mit der Machtergreifung ein Beispiel gegeben. Durch ihre Praxis haben sie das große Prinzip des Kommunismus aufgezeigt: Diktatur des Proletariats und das System der Räte oder die Räteversammlungen (zitiert aus unserem Buch „Die deutsche und holländische kommunistische Linke“, Fußnote 69, S. 194 in der englischen Ausgabe).

[6] siehe hierzu „Die Epigonen des Rätismus in der Praxis“ in der International Review, Nr.2, „Brief an Arbetamarket“ in der International Review, Nr.15, „Die rätistische Gefahr“ in der International Review, Nr.40, sowie den Artikel  „Die Armut des modernen Rätismus“ in der International Review, Nr. 42.

 [7] Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir gewisse Produktionsmethoden, die von  Lenin befürwortet wurden, kritisieren und dass sie auch innerhalb der Partei von Gruppen wie die Gruppe Demokratischer Zentralismus kritisiert wurden. Siehe hierzu den Artikel aus der Serie zum Kommunismus veröffentlicht in der International Review, Nr.99.

 [8] Das proletarische Bollwerk muss Nahrungsmittel, Medizin, Rohstoffe, Industriegüter etc. zu hohen Preisen kaufen. Zudem wird es mit Blockaden und, was ebenso wahrscheinlich ist, mit einem äußerst schlecht organisierten Transportwesen zu tun haben. Dies war nicht allein ein Problem des rückständigen Russlands. Wie wir in unserer Broschüre „Russland 1917:Der Beginn der Weltrevolution“  aufgezeigt haben, wird uns dieses sehr schwerwiegende Problem gerade auch in zentralen Ländern wie Deutschland oder England begegnen. Hinzu kommt der Kampf, den die Bourgeoisie gegen die proletarische Bastion führen wird, die Handelsblockaden, militärische Kriege, Sabotage etc. Und schlussendlich werden die zukünftigen revolutionären Versuche des Proletariats mit der schweren Last der Konsequenzen des dahinsiechenden, verfaulenden Kapitalismus  konfrontiert sein: mit dem Zusammenbruch der Infrastruktur, der chaotischen Kommunikation und Versorgung, den verheerenden Folgen einer endlosen Reihe regionaler Kriege, mit der Umweltzerstörung.

[9] All das gegenwärtige Gerede über die „Globalisierung“ des Kapitalismus, das sowohl von den Anhängern des  „Neoliberalismus“ als auch von seinen Gegnern, der „Antiglobalisierungsbewegung“, geteilt wird, leugnet die Tatsache, dass sich der Weltmarkt vor einem Jahrhundert gebildet hat und dass das Problem, vor dem das System heute steht, seine unheilbare Tendenz zur Explosion und brutaler Selbstzerstörung vor allem durch imperialistische Kriege ist.

[10] Wir können an dieser Stelle keine Kritik der ‚Grundprinzipien‘ entwickeln. Wir möchten, wie bereits geschehen, nochmals auf unser Buch zur Geschichte der Deutsch-Holländischen Linken verweisen: hier die Seiten 248 bis 269 in der englischen Ausgabe.

[11] Pannekoek formulierte aus gutem Grund ernsthafte Bedenken gegen die ‚Grundprinzipien‘, siehe unser o.g. Buch.

[12]  siehe den Artikel „Vom Austromarxismus zum Austrofaschismus“ in der International Review, Nr.2.

[13] siehe hierzu die deutliche Kritik, die Bordiga an Gramscis Spekulationen übt, in dem Buch „Debatte um die Betriebsversammlungen“.

[14]  siehe Fußnote [4].

[15] Es ist keineswegs paradox, dass der Rätismus denselben Fehler begeht, den Lenin in „Was tun?“ macht. Nämlich zu sagen, dass die Arbeiter nur zu einem gewerkschaftlichen Bewusstsein in der Lage wären. Und doch gibt es eine ganze Welt von Unterschieden zwischen Lenin und den Rätisten: Obwohl Lenin seinen Fehler korrigieren konnte, und zwar nicht, wie Du ihm unterstellst, aus taktischen Gründen, sind die Rätisten nicht in der Lage, dies anzuerkennen.

[16] Bei allen Differenzen und ohne den Vergleich zu übertreiben, sehen die Rätisten die Arbeiter in derselben Rolle wie die Bauern in der Französischen Revolution. Letztere wurden vom Joch des Feudalismus sowie von der bäuerlichen Armut befreit und wurden zu enthusiastischen Soldaten in der revolutionären Armee, besonders in der napoleonischen. Abgesehen von dieser Einschätzung wird hier eine Sichtweise deutlich, die das Proletariat gering schätzt und als ‚bewusstlos‘ betrachtet. Sie widerspricht  allen Plädoyers für die „Teilnahme“ und die „Initiative“ der Massen, die der  Rätismus hält. Was aber noch ernster zu nehmen ist, ist, dass vergessen wird, dass, während die Bauern durch eine Umverteilung des Landbesitzes befreit werden können, sich die Arbeiter niemals durch einen Besitzerwechsel der Fabriken befreien können. Die proletarische Revolution besteht nicht lediglich aus der lokalen und juristischen Befreiung vom kapitalistischen Herrn, sondern vielmehr aus der Befreiung des Proletariats und der ganzen Menschheit vom Joch der globalen und objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, die über die persönlichen und die Eigentumsverhältnisse hinaus wirken: die Verhältnisse der kapitalistischen Produktion, basierend auf der Warenwirtschaft und der Lohnarbeit.

[17] siehe Internationale Revue, Nr. 12, „Thesen zum Zerfall des Kapitalismus“.

[18] Unter Bezug auf den Vertrag von Brest-Litowsk sagst Du, „die Zurückweisung des revolutionären Krieges, obwohl dieser in der kurzen Zeit den vorläufigen Verlust der Städte bedeutete, habe die Entwicklung eines Volkskrieges mit der Herausbildung von Milizen auf dem Lande und des Zusammenschlusses der revolutionären Arbeiter mit den Bauern unmöglich gemacht. Dabei hätte genau das, wie die Bolschewistische Linke behauptete, die Chancen der Herausbildung einer kommunistischen Produktionsform begünstigt“. Wir können diese Frage hier nicht vertiefen, verweisen aber auf unsere französische Broschüre, siehe Fußnote [8]. Wie dem auch sei, Deine Überlegungen werfen einige Fragen auf. An erster Stelle: Was ist die „bäuerliche Revolution?“. Welche „Revolution“, die mit dem „revolutionären Arbeiter“ verschmelzen muss, können die Bauern machen? Die Bauern sind keine Klasse, sondern eine soziale Schicht, in der verschiedene  Gesellschaftsklassen mit völlig entgegengesetzten Interessen vorkommen: Gutsbesitzer, mittlere und kleine Landbesitzer, Tagelöhner…

Andererseits: wie soll auf  Basis des Guerillakrieges auf dem Lande und mit Städten,  in denen der Feind herrscht, eine „kommunistische Produktionsform“ aufgebaut werden?

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Rätismus [1]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarische Revolution [3]

Einleitung der IKS zur Erklärung des NCI vom 27. Oktober 2004

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Wir veröffentlichen nachfolgend eine Erklärung des ‚Nucleo Comunista Internacional‘ (NCI – Kern internationaler Kommunisten) aus Argentinien, in der dieser gegenüber den drei Erklärungen des ‚Circulo de Comunistas Internacionalistas‘ (Zirkel internationalistischer Kommunisten) Stellung bezieht, die einen Frontalangriff auf die IKS sind (). Wie der Text zeigt, „Der NCI erklärt förmlich, dass der Inhalt dieser Erklärungen (des ‚Zirkels‘) eine Reihe von Lügen und schändlichen Verleumdungen gegen die IKS ist“.

Wir veröffentlichen nachfolgend eine Erklärung des ‚Nucleo Comunista Internacional‘ (NCI – Kern internationaler Kommunisten) aus Argentinien, in der dieser gegenüber den drei Erklärungen des ‚Circulo de Comunistas Internacionalistas‘ (Zirkel internationalistischer Kommunisten) Stellung bezieht, die einen Frontalangriff auf die IKS sind[1]. Wie der Text zeigt, „Der NCI erklärt förmlich, dass der Inhalt dieser Erklärungen (des ‚Zirkels‘) eine Reihe von Lügen und schändlichen Verleumdungen gegen die IKS ist“.

Da der ‚Zirkel‘ sich auf seiner Webseite als der ‚Nachfolger der NCI‘ vorstellt, wollen wir kurz untersuchen, welche Verbindung tatsächlich zwischen den beiden besteht.

Welche Verbindung gibt es zwischen dem ‚Zirkel‘ und dem NCI?

Der NCI ist eine Gruppe von suchenden Leuten, die mit dem Trotzkismus gebrochen hatten und im Internet 2002 Organisationen der Kommunistischen Linken entdeckt haben. Im Oktober 2003 hat er Kontakt mit der IKS aufgenommen. In dieser Zeit haben sie Diskussionen über die Positionen der IKS geführt und schliesslich eine Plattform ausgearbeitet (die sich in groben Zügen auf die der IKS stützt) und den NCI gebildet.

Im April 2004 hat eine erste Delegation der IKS den NCI in Buenos Aires getroffen. Gemeinsam entscheiden der NCI und die IKS, dass die Presse der IKS (auf spanisch und in anderen Sprachen) von dem NCI verfasste Artikel zu verschiedenen Aspekten der Lage in Argentinien oder zu internationalen Fragen (insbesondere zur Bewegung der ‚piqueteros‘) veröffentlichen wird.

Im Mai 2004 hat der NCI von den Bulletins der selbsternannten ‚Internen Fraktion der IKS’ (IFIKS) erfahren. Er beschließt einstimmig, der IKS eine ‚Stellungnahme‘ zu schicken (Datum 22. Mai), in der er unterstreicht, dass er „die IFIKS als außerhalb der Arbeiterklasse stehende Organisation bezeichnet, deren Ausschluss und Herausschmiss aus den Reihen des Proletariats wir aufgrund ihres bürgerlichen Verhaltens befürworten.“ Auf unserer Website und in unserer französischen und spanischen Presse haben wir auszugsweise diese ‚Stellungnahme‘ veröffentlicht.

Im August 2004 fand ein zweites Treffen zwischen der IKS und dem NCI in Argentinien statt. Am 27. August wurde die erste öffentliche Diskussionsveranstaltung der IKS in Buenos Aires durchgeführt (über die wir in unserer territorialen Presse auf französisch und spanisch berichteten).

Unmittelbar nach der Ankunft der Delegation der IKS drängt ein Mitglied der NCI, B., auf Biegen und Brechen, dass die IKS sofort in einem Kommuniqué mitteilt, dass der NCI in die IKS eintreten werde.

Die anderen Genossen der NCI waren jedoch der Auffassung (und wir haben uns dieser Auffassung angeschlossen), dass solch ein Integrationsprozess nicht überstürzt stattfinden sollte.

In der ganzen Zeit, als sich unsere Delegation vor Ort aufhielt, hat B. zu keinem Zeitpunkt die geringste Divergenz gegenüber den Positionen der IKS geäußert.

Im Laufe des Monats September schickt B. der IKS mehrere provozierende E-mails mit dem Ziel, dass die IKS dazu verleitet wird, mit ihm und dem NCI zu brechen (in dessen Namen er spricht, während die anderen Genossen der NCI nicht einmal über die Korrespondenz zwischen B. und der IKS informiert sind).

Erst am Vorabend der Diskussionsveranstaltung des IBRP in Paris am 2. Oktober hat die IKS zufällig anhand eines Links auf der Webseite des IBRP von der Existenz eines ‚Kollektiv Internationalistischer Kommunisten‘ erfahren, bei dem es sich um unseren berühmten ‚Zirkel‘ handelt.

Ein Schwindler – unter dringendem Verdacht

Während unsere Delegation sich Ende August noch in Buenos Aires aufhielt, war der Bürger B. schon umgeschwenkt, aber er hatte weder den Mut noch die Ehrlichkeit, uns über die ‚Änderung‘ seiner Meinung zu informieren. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass er bereits seit einiger Zeit heimlich mit der IFIKS Kontakt aufgenommen hatte, während er uns gleichzeitig hinters Licht führte und gar überstürzt die Integration des ganzen Kerns der NCI in die IKS anstrebte. Das Doppel- (oder dreifache?) Spiel dieses Individuums (und seine unglaubliche Dreistigkeit) wurden von der IKS erst Anfang Oktober entdeckt. Nachdem die IFIKS die erste Erklärung des Zirkels veröffentlicht hat, die im Namen des NCI abgegeben worden war, hat die IKS angefangen, das undurchsichtige Verhalten des Treibens dieses angeblichen ‚Zirkels‘ öffentlich zu machen[2].

Es hat sich herausgestellt, dass:

– dieser ‚Zirkel‘ nur aus einer einzigen Person besteht, dem Element B, der Mitglied des NCI war und mit der IKS gebrochen (ohne jedoch irgendeine Divergenz zum Ausdruck gebracht zu haben), sich der IFIKS und dem IBRP genähert hat;

– die anderen Mitglieder der NCI haben nicht mit der IKS gebrochen, wie das die IFIKS und das IBRP auf ihren Websites behaupten.

Deshalb haben wir diesen Schwindler entlarven können. Durch unsere Telefonanrufe (die Herrn B. zufolge „die ekelerregenden Methoden der IKS“ offenbaren) haben wir erfahren, dass die anderen Genossen der NCI überhaupt nicht informiert waren über die Existenz dieses „Zirkels“, der sie angeblich repräsentieren sollte! Sie wussten nicht einmal etwas von dessen ekelerregenden „Erklärungen“ gegen die IKS, welche – so wird in den ‚Erklärungen‘ immer mit Nachdruck wiederholt – „kollektiv“, „einstimmig“ und nach „Befragung“ aller Mitglieder der NCI gefällt wurden. Es handelt sich um eine reine Lüge.

Das Element B. hatte ganz allein (mit einstimmigen Votum der Abwesenden!) diese verleumderischen ‚Erklärungen‘ gegen die IKS verfasst.

Wie konnte er so hinter dem Rücken der NCI handeln?

Dieses Element besaß als einziger das Passwort für die Informatikwerkzeuge des NCI (E-Mail Adresse, Website), was ihm ermöglichte, hinter dem Rücken der Genossen des NCI eine „fiktive Gruppe“ (den berühmten ‚Zirkel‘) zu proklamieren, der im Namen und an Stelle des NCI sprach (siehe unseren Artikel im Internet auf französisch und spanisch „Schwindel oder Wirklichkeit“?). Die Militanten des NCI, die über keine Möglichkeiten des Zugangs zum Internet verfügten, konnten diese Manöver nicht aufdecken.

Sie haben von den in ihrem Namen veröffentlichten Texten sowie von der Korrespondenz zwischen der IKS und dem NCI (in Wirklichkeit nur B., da er die E-Mails für sich behielt) erst erfahren, nachdem die IKS ihnen diese Dokumente per Briefpost geschickt hat.

Welche Bedeutung haben diese ‚ekelerregenden Methoden‘ dieses Schwindlers?

Offensichtlich handelt es sich bei dessen undurchsichtigen Handeln um die Aktvitäten eines Manipulators, der keine wirkliche politische Überzeugung besitzt und der genauso wenig wie die IFIKS etwas im proletarischen Lager zu suchen hat. Seine plumpen Lügen sowie sein fieberhaftes Treiben im Internet hatten uns dazu bewogen ,noch bevor der NCI seine ‚Erklärung‘ abgab, zu sagen, dass „nur diejenigen, die keinen Verstand im Kopf haben“ diesen Unfug glauben könnten (siehe unsere französische oder spanische Website – „Circulo de Comunistas Internacionlistas – eine neue, seltsame Erscheinung“).

Genau das ist mit der IFIKS und dem IBRP geschehen, die den Lügen des ‚Zirkels‘ Glauben geschenkt haben, indem sie öffentlich ankündigten, dass der NCI mit der IKS gebrochen habe, und vor allem indem sie auf ihren Websites (in mehreren Sprachen) dessen ‚Erklärung‘ vom 12. Oktober veröffentlichten, die angeblich die „ekelerregenden Methoden“ der IKS „aufdeckt“.

Mit Hilfe seiner Computertricks hat dieser Webmaster (und große Lügner!) es geschafft, einen Preis als internationaler Superstar einzuheimsen, indem er nicht nur von der IFIKS sondern auch vom IBRP groß ins Rampenlicht gestellt wurde.

Dass die IFIKS solch eine enthusiastische Allianz mit dem Bürger B. eingegangen ist, überrascht nicht. Wer sich ähnelt, schließt sich zusammen. Aber viel schwererwiegend ist die Tatsache, dass eine Organisation der Kommunistischen Linken, das IBRP, dem Element B. einen nützlichen Dienst erwiesen hat und seine ‚ekelerregenden Methoden‘ unterstützt[3].

Dieser ‚Zirkel kommunistischer Internationalisten‘ (Mehrzahl!) ist nichts anderes als ein gewaltiger Schwindel.

Es ist unsere Verantwortung, ihn als solchen zu entblößen und das gesamte proletarische politische Milieu vor dem Treiben dieses besonders heimtückischen ‚Zirkels‘ zu warnen!

IKS, 3. November 2004

[1]Die Erklärungen vom

– 2. Okt., in der der ‚Zirkel‘ sich mit der IFIKS solidarisiert (die auf der Website der IFIKS veröffentlicht wurde)

– 12. Oktober „gegen die ekelerregende Methode der IKS“ (die auf der Websites der IFIKS und des IBRP veröffentlicht wurde)

– 21. Oktober „Antwort auf die Beilage von Révolution Internationale aus Frankreich“, die bis dato nur auf Spanisch auf der Website des ‚Zirkels‘ existiert.

[2]Siehe unsere drei Artikel im Internet auf Französisch und spanisch über den „Zirkel Internationalistischer Kommunisten“ (Circulo de Comunistas Internacionalistas)

– „Eine seltsame Erscheinung“

– „Eine neue, seltsame Erscheinung“

– „Schwindel oder Wirklichkeit?“

 

[3]Andere Leute und Gruppen in Lateinamerika (insbesondere in Mexiko und Brasilien) wurden ebenfalls durch den „Circulo“ kontaktiert, der vorgab, Nachfolger des NCI zu sein, und Verleumdungen über die IKS verbreitete. Doch die Haltung dieser kontaktierten Leute und Gruppen war eine ganz andere: Sie informierten umgehend die IKS, einige brachten auch ihre Zweifel an der Zugehörigkeit dieses „Zirkels“ zum Lager der Kommunistischen Linken zum Ausdruck.

 

Erklärung des Nucleo Comunista Internacional

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Erklärung des Nucleo Comunista Internacional (Kern internationaler Kommunisten) zu den Erklärungen des “Circulo de Comunistas Internacionalistas” (Zirkel internationalistischer Kommunisten)

1) Der NCI hat die drei ‘Erklärungen’ des ‘Circulo de Comunistas Internacionalistas’ vom 2., 12. und 21. Oktober gelesen. Der NCI erklärt förmlich, dass der Inhalt dieser Erklärungen eine Reihe von Lügen und schändlichen Verleumdungen gegen die IKS ist.

2) Der NCI erklärt sich mit diesen Erklärungen des sog. ‘Zirkels’ nicht einverstanden, welche hinter dem Rücken und ohne Absprache mit dem NCI von einer Einzelperson gemacht wurden, die der NCI angehörte, aber die der Kern heute nicht mehr als Mitglied akzeptiert.

3) Der NCI hält seine Erklärung vom Mai 2004 aufrecht, in der er die IFIKS und ihr Verhalten verurteilt. Er steht weiterhin zu seinen Analysen, insbesondere zu den Ereignissen in Argentinien 2001 und hinsichtlich der Frage der Dekadenz des Kapitalismus.

4) Der NCI setzt die Diskussionen mit dem Ziel der politischen Klärung mit Unterstützung der IKS fort.

5) Lügen, Verleumdungen sind unwürdige Verhaltensweisen, die die Arbeiterklasse verwerfen muss.

6) Der NCI verpflichtet sich, eine Zusammenfassung seines Werdegangs von seiner Entstehung bis heute zu verfassen.

Beschlossen von dem NCI auf seinem Treffen am 27. Okt. 2004.

Achtung: Die alte E-Mail-Adresse des NCI ist für diesen nicht mehr zugänglich. Er wird so bald wie möglich eine neue Kontaktadresse mitteilen.

 

Volksaufstände in Lateinamerika:

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Der Ausbruch von massiven Klassenkämpfen im Mai 1968 in Frankreich und in der Folge auch in Italien, Grossbritannien, Spanien, Polen und anderswo setzte der konterrevolutionären Periode ein Ende, die seit der Niederschlagung der revolutionären Welle 1917–23 so schwer auf der internationalen Arbeiterklasse gelastet hatte. Der proletarische Riese ist auf der historischen Szene wieder aufgestanden. Diese Kämpfe hatten auch in Lateinamerika ein grosses Echo, zuerst 1969 im „Cordobaza“ in Argentinien. Zwischen 1969 und 1975 führten die Arbeiter in der ganzen Region, vom Süden Chiles bis nach Mexiko an der Grenze zu den USA, einen erbitterten Kampf gegen die Versuche der Bourgeoisie, die Kosten der Wirtschaftskrise auf sie abzuwälzen. Und in den folgenden Kampfwellen, von denen jene von 1977–80 im polnischen Massenstreik kulminierte und jene von 1983–89 von umfangreichen Bewegungen in Belgien, Dänemark und bedeutenden Kämpfen in zahlreichen anderen Ländern gekennzeichnet war, setzte auch das Proletariat Lateinamerikas den Kampf fort, wenn auch nicht auf dieselbe spektakuläre Weise. Es zeigte, dass die Arbeiterklasse einen einzigen und gleichen Kampf gegen den Kapitalismus führt, dass sie eine einzige und gleiche internationale Klasse ist, was auch immer die Unterschiede in den Bedingungen seien.

Heute erscheinen diese Kämpfe in Lateinamerika wie ein ferner Traum. Die aktuelle gesellschaftliche Situation in der Region kennt keine massiven Kämpfe und ähnliche Manifestationen oder gar bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem Proletariat und den Repressionskräften. Sie ist von einer allgemeinen gesellschaftlichen Instabilität gekennzeichnet. Der „Aufstand“ in Bolivien im Oktober 2003, die massiven Strassendemonstrationen, die im Dezember innert weniger Tage fünf argentinische Präsidenten aus dem Amt spülten, die venezolanische „Volksrevolution“ von Chavez, der in den Medien breitgetretene Kampf der Zapatistas in Mexiko, all diese und ähnliche Ereignisse haben die gesellschaftliche Bühne dominiert. In diesem Mahlstrom allgemeiner Unzufriedenheit, der sozialen Revolte gegen die sich ausbreitende Verarmung und Verelendung erscheint die Arbeiterklasse als eine unzufriedene Schicht unter anderen, die zu ihrer Verteidigung gegen die Verschlechterung ihrer Lage an der Revolte der anderen unterdrückten und verarmten Schichten der Gesellschaft teilnimmt und in ihnen aufgeht. Angesichts dieser Schwierigkeiten der Arbeiterklasse dürfen die Revolutionäre nicht einfach die Arme verschränken, sondern sie müssen unbeugsam die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse verteidigen.

„Die Autonomie des Proletariats gegenüber allen Klassen der Gesellschaft ist die erste Vorbedingung für die Entwicklung des Klassenkampfs hin zur Revolution. Alle Bündnisse mit anderen Klassen oder Schichten und insbesondere jene Bündnisse mit Fraktionen der Bourgeoisie können nur zur Entwaffnung des Proletariats gegenüber seinen Feinden führen, da diese Bündnisse die Arbeiterklasse zur Aufgabe der einzigen Grundlage führen, wo das Proletariat seine Kräfte stärken kann: auf der Grundlage seines Kampfes als Klasse.“(1)

Da einzig die Arbeiterklasse eine revolutionäre Klasse ist, trägt auch nur sie eine Perspektive für die gesamte Menschheit in sich. Doch heute ist sie von Manifestationen des anwachsenden gesellschaftlichen Zerfalls des dahinsiechenden Kapitalismus umzingelt und hat grosse Schwierigkeiten, den Kampf als autonome Klasse mit eigenständigen Interessen aufzunehmen. Mehr denn je muss man in dieser Zeit an Marx erinnern, der schrieb: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäss geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (2)

Der Klassenkampf in Lateinamerika von 1969 bis 1989

Die Geschichte des Klassenkampfes in Lateinamerika in den letzten 35 Jahren ist Teil des internationalen Klassenkampfes. Sie ist eine Geschichte harter Kämpfe, gewaltsamer Zusammenstösse mit dem Staatsapparat, zeitweiliger Siege und bitterer Niederlagen. Die spektakulären Bewegungen vom Ende der 60er und dem Beginn der 70er-Jahre haben eine Phase von schwierigeren und schmerzhafteren Kämpfen eröffnet. In dieser Phase stellte sich die fundamentale Frage, wie die Klassenautonomie zu verteidigen und zu entwickeln sei, mit noch grösserer Schärfe.

Der Kampf der Arbeiter 1969 in der Industriestadt Cordoba war besonders wichtig. Er manifestierte sich in einer einwöchigen bewaffneten Auseinandersetzung zwischen dem Proletariat und der argentinischen Armee. Die Kämpfe in ganz Argentinien, in Lateinamerika, ja der ganzen Welt sind dadurch stimuliert worden. Es handelte sich um den Beginn einer Kampfwelle, die in Argentinien 1975 mit dem Kampf der Metallarbeiter von Villa Constitución, dem bedeutendsten Zentrum der Stahlproduktion des ganzen Landes, den Höhepunkt erreichte. Die Arbeiter von Villa Constitución waren mit der gesamten Macht des Staatsapparates konfrontiert; denn die herrschende Klasse wollte mit der Niederschlagung dieses Kampfes ein Exempel statuieren. Daraus ergab sich ein sehr hohes Niveau der Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat: „Die Stadt wurde unter militärische Besetzung durch 4.000 Mann gestellt (...) Jedes Viertel wurde systematisch durchkämmt und es wurden Verhaftungen vorgenommen, was aber nur die Wut der Arbeiter provozierte: 20.000 Arbeiter sind in den Streik getreten und haben Fabriken besetzt. Trotz Mordanschlägen und Bombardierungen von Arbeiterhäusern hat sich sofort ein aussergewerkschaftliches Kampfkomitee gebildet. Viermal wurde die Streikführung eingekerkert, aber jedes Mal entstand sofort ein neues Komitee. Wie in Cordoba 1969 haben bewaffnete Arbeitergruppen die Verteidigung der Arbeiterquartiere übernommen und haben den Aktivitäten der paramilitärischen Banden ein Ende bereitet.

Die Aktion der Stahl- und Metallarbeiter, die eine Lohnsteigerung um 70 Prozent forderten, hat sehr schnell von der Solidarität der Arbeiter in anderen Betrieben des Landes – in Rosario, in Cordoba und Buenos Aires – profitiert. In Buenos Aires haben beispielsweise die Arbeiter von Propulsora, die aus Solidarität in einen Streik getreten waren und die ihre ganzen Lohnforderungen (130.000 Pesos monatlich) durchsetzen konnten, entschieden, die Hälfte ihres Lohnes den Arbeitern von Villa Constitución zu spenden.“ (3)

Aus dem gleichen Grund haben die Arbeiter in Chile zu Beginn der 70er-Jahre ihre Klasseninteressen verteidigt und es abgelehnt, sie zugunsten der Volksfront-Regierung Allendes zu opfern: „Der Widerstand der Arbeiter gegen Allende begann 1970. Im Dezember 1970 traten 4.000 Minenarbeiter in Chuquicamata in den Streik und forderten höhere Löhne. Im Juli 1971 legten 10.000 Minenarbeiter in Lota Schwager ihre Arbeit nieder. Beinahe zur gleichen Zeit breitete sich eine Streikwelle in den Minen von El Salvador, El Teniente, Chuquicamata, La Exotica und Rio Blanco aus. Überall wurden höhere Löhne gefordert (...) Im Mai/Juni 1973 setzten sich die Minenarbeiter erneut in Bewegung. In den Minen von El Teniente und Chuquicamata traten 10.000 Arbeiter in den Streik. Die Minenarbeiter von El Teniente forderten eine Lohnerhöhung um 40 Prozent. Allende setzte die Provinzen O’Higgins und Santiago unter Militärkontrolle, weil die von El Teniente ausgehende Lähmung eine ernsthafte Bedrohung für die Wirtschaft darstellte.“ (4)

Wichtige Arbeiterkämpfe haben sich auch in anderen bedeutenden Arbeiterkonzentrationen Lateinamerikas zugetragen. In Lima, Peru, brachen 1976 aufstandsartige Streiks aus. Sie wurden blutig unterdrückt. Einige Monate später traten die Minenarbeiter von Centramin in den Streik. In Riobamba, Ecuador, fand ein Generalstreik statt. Im Januar des gleichen Jahres brach in Mexiko eine Streikwelle aus. 1978 gab es erneut Generalstreiks in Peru. Nach zehn ruhigen Jahren setzten sich 200.000 Metallarbeiter in Brasilien an die Spitze einer Streikbewegung, die von Mai bis Oktober dauerte. In Chile kam es 1976 zu Streiks der Metro-Angestellten von Santiago und der Minenarbeiter. In Argentinien brachen trotz des Terrors der Militärjunta 1976 Streiks in den Elektrizitätswerken und in der Automobilindustrie aus, die in gewaltsame Zusammenstösse zwischen Arbeitern und der Armee mündeten. Die 70er-Jahre waren auch von wichtigen Kampfepisoden in Bolivien, Guatemala und Uruguay gekennzeichnet.

Auch in den 80er-Jahren hat das Proletariat Lateinamerikas an der internationalen Kampfwelle teilgenommen, die 1983 in Belgien begonnen hatte. Die entwickeltsten dieser Kämpfe waren von den entschiedenen Anstrengungen seitens der Arbeiter gekennzeichnet, die Bewegung auszuweiten. So kämpften beispielsweise die Angestellten des Bildungssektors in Mexiko für eine Erhöhung der Gehälter: „Die Forderung der Arbeiter des Erziehungswesens stellte bereits von Beginn an die Frage nach der Ausweitung der Kämpfe, denn es herrschte eine allgemeine Unzufriedenheit gegenüber den Austeritätsplänen. Auch wenn die Bewegung gerade schwächer wurde, als jene im Erziehungswesen begann, streikten und demonstrierten doch 30.000 Angestellte des öffentlichen Sektors ausserhalb der gewerkschaftlichen Kontrolle. Sie erkannten, dass die Ausdehnung und Einheit des Kampfes notwendig waren: Zu Beginn haben die Arbeiter aus dem Süden von Mexiko City Delegierte zu anderen Beschäftigten des Bildungssektors entsandt und sie dazu aufgerufen, sich dem Kampf anzuschliessen. Sie sind auch auf die Strassen gegangen und haben Kundgebungen durchgeführt. Sie haben sich dagegen gewehrt, den Kampf einzig auf die Lehrer einzugrenzen, und haben alle Arbeiter des Erziehungswesens (Lehrer, Verwaltungsangestellte, Handarbeiter) in den Massenversammlungen zusammengerufen, um den Kampf zu kontrollieren.“ (5)

Die gleichen Tendenzen haben sich auch in anderen Teilen Lateinamerikas gezeigt: „Selbst die bürgerlichen Medien haben von einer ‚Streikwelle’ in Lateinamerika gesprochen, mit Kämpfen in Chile, Peru, Mexiko (...) und auch in Brasilien, wo Arbeiter aus Banken, von den Docks, aus dem Gesundheits- und Bildungssektor gleichzeitig gegen das Einfrieren der Löhne protestierten.“ (6)

Die Arbeiterklasse Lateinamerikas hat von 1969 bis 1989 trotz aller Rückschläge, Schwierigkeiten und Schwächen gezeigt, dass sie vollumfänglich am historischen Wiederaufschwung der internationalen Arbeiterklasse teilnahm.

Der Fall der Berliner Mauer und die darauf folgende Propagandaflut der Bourgeoisie über den „Tod des Kommunismus“ haben einen tiefgreifenden Einbruch in den Klassenkämpfen auf internationaler Ebene herbeigeführt. Das hat sich vor allem im Verlust der Klassenidentität des Proletariats gezeigt. Dieser Rückschlag zeitigte bei den Arbeitern Südamerikas weit schädlichere Auswirkungen, da die Entwicklung der Krise und des gesellschaftlichen Zerfalls die verarmten, unterdrückten und verelendeten Massen in den Strudel der interklassistischen Revolten zogen. Das erschwert die schwierige Aufgabe, sich als autonome Klasse zu behaupten und die Distanz gegenüber der „Volksmacht“ und den Volksaufständen zu wahren.

Die schädlichen Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls und der interklassistischen Revolten

Der Zusammenbruch des Ostblocks war sowohl Produkt als auch Beschleunigungsfaktor des Zerfalls des Kapitalismus vor dem Hintergrund einer sich vertiefenden Wirtschaftskrise. Lateinamerika wurde davon mit voller Wucht getroffen. Millionen von Menschen wurden dazu gezwungen, ihr Dorf zu verlassen und sich auf der verzweifelten Suche nach inexistenten Arbeitsplätzen in die Slumsiedlungen der grossen Städte zu begeben, während gleichzeitig Millionen von jungen Arbeitern aus dem Lohnarbeitsprozess ausgeschlossen wurden. Dieses Phänomen ist seit 35 Jahren wirksam und erfuhr in den letzten zehn Jahren eine brutale Verschärfung. Es hat zu einem massiven Wachstum jener Gesellschaftsschichten geführt, die zur nichtausbeutenden und keinen Lohn empfangenden Schichten der Bevölkerung gehören. Diese dem Verhungern nah überlassenen Teile der Gesellschaft, die um ihr tagtägliches Brot kämpfen müssen, nehmen ständig zu.

In Lateinamerika leben 221 Millionen Menschen (41 Prozent der Bevölkerung) in Armut. Diese Zahl ist allein im letzten Jahr um sieben Millionen (von denen sechs Millionen in eine extreme Armut absanken) und in den letzten zehn Jahren um 21 Millionen angestiegen. Gegenwärtig leben 20 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in äusserster Armut. (7)

Die Verschärfung des gesellschaftlichen Zerfalls zeigt sich im Wachstum der informellen, scheinselbstständigen Wirtschaft des Strassenverkaufs. Das Ausmass dieses Sektors variiert entsprechend der Wirtschaftskraft eines Landes. In Bolivien übertraf im Jahr 2000 die Zahl der Scheinselbstständigen die der Lohnempfänger (47,8 zu 44,5 Prozent der aktiven Bevölkerung), während in Mexiko das Verhältnis noch 21:74,4 beträgt.

Auf dem ganzen Kontinent leben 128 Millionen Menschen oder 33 Prozent der städtischen Bevölkerung in Elendsquartieren. Diese Millionenmassen leben beinahe ohne jegliche sanitäre Installationen und elektrischen Strom. Ihr Leben ist geprägt von Kriminalität, von Drogen und vom Bandenwesen. In den Elendsvierteln von Rio finden seit Jahren Kämpfe zwischen rivalisierenden Gangs statt, eine Situation, die im Film La Ciudade de Deus anschaulich porträtiert wurde. Die Arbeiter Lateinamerikas und insbesondere jene in den Elendsquartieren sind mit den weltweit höchsten Kriminalitätsraten konfrontiert. Die Zerstörung der familiären Bindungen hat zu einer massiven Zunahme von ihrem Schicksal überlassenen Strassenkindern geführt.

Millionen von Bauern haben immer grössere Schwierigkeiten, dem Boden auch nur die miserabelsten Subsistenzmittel zu entreissen. In einigen tropischen Gebieten hat, neben der Holzindustrie, dies zu einer Beschleunigung der Umweltzerstörung geführt, da die landhungrigen Bauern dazu gezwungen sind, auf den Boden des Regenwaldes vorzudringen. Diese Lösung bringt jedoch nur eine kurze Atempause, da die dünne Humusschicht des Regenwaldes schnell ausgelaugt ist, und endet in einer Spirale der Entwaldung.

Die Zunahme der Schicht der Verelendeten hatte eine bedeutende Auswirkung auf die Fähigkeit des Proletariats, die eigene Klassenautonomie zu verteidigen. Das hat sich ganz klar Ende der 80er-Jahre gezeigt, als in Venezuela, Argentinien und Brasilien Hungerrevolten ausbrachen. Mit Hinweis auf den Aufstand in Venezuela, in dem mehr als Tausend Menschen umkamen und ebenso viele verletzt wurden, warnten wir damals vor den Gefahren solcher Aufstände für das Proletariat: „Die treibende Kraft dieser gesellschaftlichen Tumulte war eine blinde, perspektivlose Wut, die sich über lange Jahre systematischer Angriffe gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen jener, die noch eine Arbeit hatten, aufgestaut hatte. In ihnen entluden sich die Frustrationen von Millionen von Arbeitslosen, von Jungen, die nie gearbeitet haben und die von der Gesellschaft gnadenlos in den Sumpf der Verelendung getrieben wurden. Die Länder der Peripherie des Kapitalismus sind unfähig, diesen Menschen auch nur die geringste Lebensperspektive aufzuzeigen (...)Aufgrund des Mangels einer politischen Orientierung auf eine proletarische Perspektive sind diese Strassenunruhen mit den Brandschatzungen von Autos, den ohnmächtigen Konfrontationen mit der Polizei und später mit den Plünderungen von Lebensmittel- und Elektrowarengeschäften einzig von der Wut und der Frustration angetrieben worden. Die Bewegung, die als Protest gegen die wirtschaftlichen Massnahmen entstanden war, hat sich also sehr rasch in Plünderungen und perspektivlosen Zerstörungen aufgelöst.“ (8)

In den 90er-Jahren wurde die Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten in zunehmendem Masse von Teilen des Bürgertums und des Kleinbürgertums ausgenutzt. In Mexiko haben sich die Zapatistas mit ihren Ideen über die „Volksmacht“ und ihrer Eigendarstellung als Repräsentant eben dieser Macht anfangs als Meister darin ausgewiesen. In Venezuela hat Chavez die nicht-ausbeutenden Schichten, vor allem die Bewohner der Elendsviertel, hinter der Idee einer „Volksrevolution“ gegen das alte, korrumpierte System mobilisiert.

Diese Volksbewegungen hatten reale Auswirkungen auf das Proletariat, insbesondere in Venezuela, wo nach wie vor die Gefahr einer teilweisen Verstrickung in einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den rivalisierenden Fraktionen der Bourgeoisie besteht.

Die Morgendämmerung des 21. Jahrhunderts hat keine Verminderung der zerstörerischen Auswirkungen der Verzweiflung der nicht-ausbeutenden Schichten mit sich gebracht. Im Dezember 2001 ist das argentinische Proletariat – es ist eines der ältesten und erfahrensten der lateinamerikanischen Arbeiterklasse – in einen Volksaufstand gerissen worden, der in einem Zeitraum von 15 Tagen fünf Präsidenten hintereinander von der Macht weggeputzt hatte. Im Oktober 2003 ist der Hauptsektor der bolivianischen Arbeiterklasse, die Minenarbeiter, ebenfalls in einen blutigen, vom Kleinbürgertum und den Bauern angeführten Volksaufstand verstrickt worden, in dem es zahlreiche Tote und Verletzte gab – und dies alles im Namen der Verteidigung der bolivianischen Gasreserven und der Legalisierung der Koka-Produktion!

Die Tatsache, dass bedeutende Teile des Proletariats von diesen Revolten erfasst worden sind, ist von grosser Bedeutung, weil dies offenbart, dass die Arbeiterklasse die Klassenautonomie weitgehend verloren hat. Anstatt sich als Proletarier mit eigenen Interessen zu verstehen, haben sich die Arbeiter Boliviens und Argentiniens als Bürger verstanden, die gemeinsame Interessen mit den kleinbürgerlichen und nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft teilen.

Die absolute Notwendigkeit einer revolutionären Klarheit

Mit der Verschärfung der Lage wird es weitere Aufstände dieses Typs geben, in denen es, wie das bereits in Venezuela der Fall war, auch blutige Bürgerkriege und Massaker geben kann, die bedeutende Teile der internationalen Arbeiterklasse physisch und ideologisch vernichten können. Angesichts dieser düsteren Perspektive ist es die Pflicht der Revolutionäre, ihre Intervention auf die Notwendigkeit auszurichten, dass das Proletariat einen Kampf zur Verteidigung der eigenen, spezifischen Klasseninteressen führen muss. Unglücklicherweise befinden sich nicht alle revolutionären Organisationen diesbezüglich auf der Höhe der eigenen Verantwortung. Das Internationale Büro der revolutionären Partei (IBRP) verlor gegenüber dem Gewaltausbruch der argentinischen Bevölkerung jeglichen politischen Kompass und schätzte die Lage völlig falsch ein: „Spontan sind die Arbeiter auf die Strassen gegangen und haben die Jungen, Studenten und bedeutende Teile des proletarisierten und wie sie selber verarmten Kleinbürgertums mit sich gezogen. Gemeinsam haben sie ihre Wut gegen die heiligen Stätten des Kapitalismus gerichtet: gegen Banken, Büros, aber hauptsächlich gegen Kaufhäuser und allgemein gegen Geschäfte, die ebenso angegriffen wurden wie die Bäckereien in den mittelalterlichen Brotaufständen. Die Regierung entfesselte eine blutige Repression mit Dutzenden von Toten und Tausenden Verletzten und hoffte so, die Rebellen einzuschüchtern. Das hat aber kein Ende der Revolte herbeigeführt, sondern sie ist im Gegenteil auf den Rest des Landes ausgedehnt worden und nahm immer mehr einen Klassencharakter an. Selbst die Regierungsgebäude, Symbole der Ausbeutung und der finanziellen Plünderung, sind angegriffen worden.“ (9)

Erst kürzlich hat Battaglia Comunista angesichts des sozialen Aufruhrs in Bolivien, der in den blutigen Ereignissen vom Oktober 2003 kulminierte, einen Artikel veröffentlicht, der die indianischen Ayllu (Gemeinderäte) pries: „Die Ayllu hätten nur eine Rolle in der revolutionären Strategie spielen können, wenn sie den gegenwärtigen Institutionen den proletarischen Inhalt der Bewegung entgegengestellt und die archaischen und lokalistischen Aspekte überwunden hätten, d.h. also nur, wenn sie als wirksamer Mechanismus für eine Einheit zwischen Indianern, weissen und farbigen Proletariern zur Errichtung einer Front gegen die Bourgeoisie und jenseits jeglicher rassischer Rivalitäten gewirkt hätten (...) Die Ayllu hätten ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und Mobilisierung des indianischen Proletariats sein können, aber das ist noch unzureichend als Grundlage für die Errichtung einer vom Kapitalismus emanzipierten Gesellschaft.“ Dieser Artikel von Battaglia Comunista wurde im November 2003 veröffentlicht, also nachdem sich die blutigen Ereignisse vom Oktober zugetragen hatten, in denen just das indianische Kleinbürgertum das Proletariat und insbesondere die Minenarbeiter zu einer hoffnungslosen Auseinandersetzung mit den Armeekräften verleitete. Ein Massaker, in dem Proletarier geopfert wurden, damit die indianische Bourgeoisie und das indianische Kleinbürgertum ein grösseres „Stück vom Kuchen“ ergattern konnten bei der Neuverteilung von Macht und Profiten, die aus der Ausbeutung der Bergarbeiter und Landarbeiter stammen. Wie einer ihrer Führer, Alvero Garcia, freimütig zugab, haben die Indianer keine verschwommenen Träume über die Ayllu als Ausgangspunkt für eine bessere Gesellschaft.

Der Enthusiasmus des IBRP bezüglich der Ereignisse in Argentinien ist die logische Folge seiner Analyse über die „Radikalisierung des Bewusstseins“ der nicht-ausbeutenden Schichten in den peripheren Ländern: „Die Diversität der sozialen Strukturen, die Tatsache, dass das Aufzwingen der kapitalistischen Produktionsweise das alte Gleichgewicht umkippt und dass die Aufrechterhaltung ihrer Existenz auf die Grundlage und Ausweitung der Verelendung von immer grösseren Massen von Proletarisierten und Enterbten fusst, die politische Unterdrückung und Repression, die notwendig zur Unterjochung der Massen sind, all das führt zu einem grösseren Potenzial für die Radikalisierung des Bewusstseins in den peripheren Ländern als in den Metropolen (...) In vielen dieser (peripheren) Länder ist die ideologische und politische Integration des Individuums in die kapitalistische Gesellschaft noch kein Massenphänomen wie in den Ländern der Metropolen.“ (10)

Gemäss diesem Standpunkt sind diese massiven und gewaltsamen Volksaufstände positiv. In der Vorstellung des IBRP ist das Untertauchen des Proletariats in der Welle des Interklassismus nicht der Ausdruck einer sterilen und zukunftslosen Revolte, sondern die Konkretisierung „einer Radikalisierung des Bewusstseins“. Infolgedessen hat sich das IBRP als völlig unfähig erwiesen, die wirklichen Lehren aus Ereignissen wie die des Dezembers 2001 in Argentinien zu ziehen.

Sowohl in den „Thesen“ als auch in den Analysen der konkreten Situationen begeht das IBRP zwei Fehler, die gewisse Allgemeinplätze der Linken und der Antiglobalisierungsbewegung widerspiegeln. Der erste Fehler ist die theoretische Ansicht, dass die Bewegungen zur Verteidigung nationaler, bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Interessen, die mit denen des Proletariats unvereinbar sind (wie die Ereignisse in Bolivien oder der Aufstand vom Dezember 2001 in Argentinien), in Arbeiterkämpfe umgewandelt werden könnten. Der zweite, eher empirische Fehler besteht in der Einbildung, dass diese wundersame Umwandlung auch tatsächlich stattgefunden hat und dass Bewegungen, die vom Kleinbürgertum und von nationalistischen Sprüchen dominiert werden, wirkliche Arbeiterkämpfe sind.

Wir sind bereits in einem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 30 („Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden“) mit dem IBRP bezüglich seiner politischen Desorientierung angesichts der Ereignisse in Argentinien ins Gericht gegangen. Am Ende dieses Artikels fassen wir unseren Standpunkt zusammen: „Unsere Analyse bedeutet absolut nicht, dass wir die Kämpfe des Proletariats in Argentinien und in anderen Zonen, wo der Kapitalismus schwächer ist, mit Verachtung strafen oder unterschätzen. Sie bedeutet einfach, dass Revolutionäre, als die Vorposten des Proletariats und mit einer klaren Vision von der Marschrichtung der proletarischen Bewegung als Ganzes ausgestattet, die Verantwortung haben, deutlich und exakt auf die Stärken und Grenzen des Arbeiterkampfes hinzuweisen, darauf, wer die Verbündeten sind und welche Richtung sein Kampf einschlagen sollte. Um dem gerecht zu werden, müssen sich Revolutionäre mit all ihrer Kraft der opportunistischen Versuchung – durch Ungeduld, Immediatismus oder einen historischen Mangel an Vertrauen in das Proletariat – entgegenstemmen und dürfen nicht eine Klassen übergreifende Revolte (wie wir sie in Argentinien gesehen haben) mit einer Klassenbewegung verwechseln.“ (11)

Das IBRP hat auf unsere Kritik geantwortet (12) und die Position, wonach das Proletariat diese Bewegung angeführt hatte, verteidigt und gleichzeitig die Auffassung der IKS verurteilt: „Die IKS unterstreicht die Schwächen des Kampfes und weist auf die interklassistische und heterogene Natur und die linksbürgerliche Führung hin. Sie beklagt sich über die Gewalt innerhalb der Klasse und über die vorherrschenden bürgerlichen Ideologien wie den Nationalismus. Für die IKS macht der Mangel an kommunistischem Bewusstsein aus dieser Bewegung eine ‚sterile Revolte ohne Zukunft’.“Es ist klar, dass das IBRP unsere Analyse nicht verstanden hat, oder besser: sie ziehen es vor, sie als das zu betrachten, als was sie sie betrachten wollen. Wir können die Leser nur dazu ermutigen, unseren Artikel zu lesen.

Im Gegensatz zu diesem Standpunkt analysiert der Nucleo Comunista Internationalista (NCI) – eine Gruppe, die sich in Argentinien Ende des Jahres 2003 gebildet hat – diese Ereignisse ganz anders und zieht entsprechend auch andere Schlussfolgerungen. In der zweiten Nummer seines Bulletins führte der NCI eine Polemik mit dem IBRP über die Natur der Ereignisse in Argentinien: „Das IBRP sagt fälschlicherweise, dass das Proletariat Studenten und andere soziale Schichten hinter sich gerissen habe. Das ist ein grosser Irrtum, den es mit den Genossen der GCI12 teilt. Tatsache ist, dass die Arbeiterkämpfe, die während des Jahres 2001 stattgefunden haben, die Unfähigkeit des argentinischen Proletariats aufgezeigt haben, nicht nur die Führung der Gesamtheit der Arbeiterklasse, sondern auch der auf den Strassen protestierenden sozialen Bewegung zu übernehmen und alle nicht ausbeutenden Schichten hinter sich zu scharen. Im Gegenteil waren es nicht-proletarische Schichten, die sich in den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember an die Spitze stellten. Also können wir sagen, dass die Entwicklung dieser Bewegungen keine historische Zukunft aufwiesen, was sich auch im darauf folgenden Jahr bestätigt hat.“ (13)

Die GCI sagt bezüglich der Verstrickung von Proletariern in Plünderungen Folgendes: „Es gab mehr als nur den Willen, den Unternehmen und Banken soviel Geld wie möglich zu klauen. Es handelte sich um einen allgemeinen Angriff auf die Welt des Geldes, des Privateigentums, der Banken und des Staates, gegen diese Welt, die eine Beleidigung für das menschliche Leben ist. Das ist nicht nur eine Frage der Enteignung, sondern auch eine Behauptung des revolutionären Potenzials, des Potenzials zur Zerstörung einer Gesellschaft, die die Menschen zerstört.“ (14)

Der NCI stellt sich gegen eine solche Sichtweise und präsentiert eine ganz andere Analyse über die Beziehung zwischen diesen Ereignissen und der Entwicklung des Klassenkampfes:

„Die Kämpfe in Argentinien in der Periode 2001–2002 sind kein isoliertes Ereignis, sie waren das Produkt einer längeren Entwicklung, die wir in drei Teile aufteilen können:

a) Erstes Element 2001: Wie wir bereits weiter oben gesagt haben, war 2001 von einer Serie von Kämpfen für typische Arbeiterforderungen geprägt. Ihr gemeinsamer Nenner war die Isolierung gegenüber anderen Abteilungen des Proletariats und die Prägung der Konterrevolution: die Vermittlung, die von der Hegemonie der politischen Führung der Gewerkschaftsbürokratie gesichert war.

Trotz dieser Begrenztheit konnte man bedeutende Manifestationen von Arbeiterselbstorganisation erkennen wie beispielsweise der Minenarbeiter von Rio Turbio im Süden des Landes, in Zanon und in Norte de Salta (zusammen mit den Bauarbeitern und arbeitslosen, ehemaligen Erdölarbeitern). Diese kleinen Arbeiterabteilungen bildeten die Avantgarde, die die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse und der streikenden Proletarier zur Debatte stellten.

b) Zweitens die zwei Tage vom 19. und 20. Dezember: Wir wiederholen, dass dies weder eine von Teilen der Arbeiterklasse noch eine von Arbeitslosen angeführte Revolte war, sondern ein interklassistischer Aufstand. Das Kleinbürgertum war darin das zentrale Element, denn die ökonomischen Angriffe der Regierung De La Rua waren direkt gegen seine Interessen und auch, mit dem Dekret vom Dezember 2001 zur Einfrierung der Bankguthaben, gegen ihre Wählerbasis und politische Unterstützung gerichtet ( ...)

c) Drittens muss man vorsichtig sein und sich davor hüten, die so genannten Volksversammlungen zu verherrlichen, die sich in den kleinbürgerlichen Vierteln von Buenos Aires, weit ab von den Arbeitervierteln, an die Spitze der Bewegung stellten. Dennoch gab es in dieser Zeit eine Entwicklung von sehr bescheidenen Kämpfen auf dem Terrain der Arbeiterklasse, die im Begriff waren zu wachsen: Gemeindearbeiter und Lehrer demonstrierten, forderten die Auszahlung ihrer Löhne; Industriearbeiter kämpften gegen die Entlassungen durch die Unternehmerorganisationen (z.B. die Lastwagenfahrer).

Damals besassen die beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter die Möglichkeit nicht nur einer wahren Einheit, sondern auch der Aussaat einer späteren autonomen Klassenorganisation. Dagegen hat die Bourgeoisie versucht, die Arbeiterklasse mit Hilfe der neuen Bürokratie der Piqueteros zu spalten und irrezuführen. Damit ist die Erfahrung, die eine bedeutende Waffe in den Händen der Arbeiter war, verschmäht worden, wie im Fall der so genannten Nationalversammlung der beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter.

Aus diesen Gründen denken wir, dass es ein Fehler ist, die Kämpfe, die sich 2001 und 2002 hindurch ereigneten, mit den Ereignissen vom 19. und 20. Dezember 2001 zu identifizieren, denn sie unterscheiden sich und das eine ist nicht die Konsequenz des anderen.

Die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember hatten absolut keinen proletarischen Charakter, da sie weder von Arbeitenden noch von Arbeitslosen angeführt worden waren. Letztere lieferten die Munition für die Slogans und Interessen des Kleinbürgertums von Buenos Aires, die vollständig verschieden sind von den Zielen des Proletariats ( ...)

Dies zu erwähnen ist sehr wichtig, weil in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus das Proletariat Gefahr läuft, die Klassenidentität und das Vertrauen in die eigene Rolle als Subjekt der Geschichte und entscheidende Kraft der gesellschaftlichen Umwandlung zu verlieren. Das ist ein Ergebnis des Rückflusses des Klassenbewusstseins, der wiederum das Resultat des Zusammenbruchs des stalinistischen Blocks und des Gewichts der kapitalistischen Propaganda über die Niederlage des Klassenkampfs auf das Denken der Arbeiter ist. Darüber hinaus hat die Bourgeoisie den Arbeitern eingeredet, dass es keinen Klassengegensatz gebe, dass die Leute vielmehr durch die Beteiligung am bzw. den Ausschluss vom Markt vereint oder getrennt würden. Sie versucht also, den blutigen Graben zwischen Proletariat und Bourgeoisie einzuebnen.

Diese Gefahr hat man in Argentinien während der Ereignisse vom 19. und 20. Dezember 2001 gesehen, in denen die Arbeiterklasse nicht fähig war, sich in eine autonome Kraft im Kampf für die eigenen Interessen zu verwandeln. Sie ist vielmehr in den Strudel der interklassistischen Revolte unter der Führung von nicht-proletarischen Schichten gerissen worden ...“ (s.o.)

Der NCI stellt die Ereignisse in Bolivien in denselben Rahmen: „Natürlich muss man den kämpfenden bolivianischen Arbeitern Respekt zollen und sie voll und ganz unterstützen, dennoch ist es notwendig, die Tatsache klarzustellen, dass die Kampfbereitschaft der Klasse nicht das einzige Kriterium zur Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist, da die Arbeiterklasse in Bolivien nicht fähig war, eine massive und vereinte Bewegung zu entwickeln, die hinter sich den Rest der nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hätte vereinigen können. Das Gegenteil hat sich zugetragen: Die Bauern und die Kleinbürger haben diese Revolte angeführt.

Das bedeutet, dass die bolivianische Arbeiterklasse sich in einer interklassistischen ‚Volksbewegung’ aufgelöst hat. Wir behaupten dies aus verschiedenen Gründen:

a) Die Bauernschaft hat diese Revolte mit zwei Zielsetzungen angeführt: die Legalisierung des Kokaanbaus und die Verweigerung des Verkaufs von Erdgas an die USA.

b) Es wurde die Forderung nach einer konstituierenden Versammlung als Mittel erhoben, um aus der Krise herauszukommen und ‚die Nation wieder aufzubauen’.

c) Nirgendwo hat diese Bewegung den Kampf gegen den Kapitalismus zuvorderst gestellt.

Die Ereignisse in Bolivien weisen eine grosse Ähnlichkeit mit denen in Argentinien 2001 auf, wo das Proletariat ebenfalls durch die Slogans des Kleinbürgertums aufgerieben worden ist. Diese ‚Volksbewegungen’ enthielten tatsächlich einen ziemlich reaktionären Aspekt, indem sie den Wiederaufbau der Nation oder den Rauswurf der ‚Gringos’ und die Rückgabe der Rohstoffe an den bolivianischen Staat propagierten (...) Die Revolutionäre müssen Klartext sprechen und sich illusionslos und ohne Selbsttäuschung auf die Tatsachen des Klassenkampfs stützen. Es ist notwendig, eine proletarische, revolutionäre Position einzunehmen, denn es wäre ein ernster Fehler, eine soziale Revolte mit einem engen politischen Horizont mit einem proletarischen antikapitalistischen Kampf zu verwechseln.“ (15)

Diese Analyse des NCI stützt sich auf die wirklichen Tatsachen und zeigt ganz klar auf, dass das IBRP die eigenen Wünsche zur Realität erhebt, wenn es die Idee der „Radikalisierung des Bewusstseins“ unter den nicht-ausbeutenden Schichten propagiert. Die konkrete Situation in der Peripherie ist die wachsende Zerstörung der gesellschaftlichen Beziehungen, die Propagierung des Nationalismus, des Populismus und anderer ähnlich reaktionärer Ideologien, die alle sehr ernste Folgen für die Fähigkeit des Proletariats haben, die eigenen Klasseninteressen zu verteidigen.

Glücklicherweise scheint diese Tatsache doch nicht vollständig unbemerkt von gewissen Publikationen des IBRP zu bleiben. Die Nummer 30 der Revolutionary Perspectives (Organ der Communist Workers Organisation, der Gruppe des IBRP in Grossbritannien) präsentiert im Editorial „Die imperialistischen Rivalitäten spitzen sich zu, der Klassenkampf muss sich zuspitzen“ ein der Realität viel näheres Bild der Ereignisse in Argentinien und in Bolivien: „Wie in Argentinien waren diese Proteste interklassistisch und ohne klare soziale Zielsetzung. Wir haben dies im Fall Argentiniens gesehen, wo die gewaltsame Agitation vor zwei Jahren den Weg für die Austerität und Verarmung geebnet hatte (...) Während der Ausbruch der Revolte die Wut und die Verzweiflung der Bevölkerung in vielen peripheren Ländern aufzeigt, können solche Ausbrüche gleichwohl keinen Ausweg aus der dort existierenden katastrophalen gesellschaftlichen Lage finden. Der einzige Weg nach vorn ist der Klassenkampf und seine Verbindung mit den Arbeiterkämpfen der Metropolen.“

Der Artikel denunziert indessen unglücklicherweise nicht die Rolle des Nationalismus oder der indianischen Kleinbourgeoisie in Bolivien. So bleibt die offizielle Position des IBRP bezüglich dieser Frage notwendigerweise jene, die von Battaglia Comunista vertreten wird, wonach „die Ayllu ein Ausgangspunkt für die Vereinigung und die Mobilisierung des indianischen Proletariats sein könnten“. Die Realität ist, dass die Ayllu der Ausgangspunkt für die Mobilisierung des indianischen Proletariats hinter dem indianischen Kleinbürgertum, den Bauern und Kokapflanzern in ihrem Kampf gegen die regierende Fraktion der Bourgeoisie waren.

Diese Verirrung von Battaglia Comunista, den „indianischen Gemeinderäten“ ein Potenzial bei der Entwicklung des Klassenkampfes zuzuschreiben, ist vom NCI nicht unbemerkt geblieben. Er sah es als notwendig an, Battaglia zu dieser Frage zu schreiben. Nachdem er betont hatte, was die Ayllu tatsächlich sind, nämlich „ein Kastensystem zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Unterschiede zwischen der Bourgeoisie, gleich, ob weiss, mestizisch oder eingeboren, und dem Proletariat“, richtet der NCI in seinem Brief (datiert vom 14. November 2003) folgende Kritik an Battaglia: „Unserer Ansicht nach handelt es sich bei dieser Position um einen schwerwiegenden Irrtum, da sie dieser traditionellen eingeborenen Institution die Fähigkeit zuspricht, Ausgangspunkt für die Arbeiterkämpfe in Bolivien zu sein, auch wenn sie in der Folge ihre Grenzen aufzeigt. Wir betrachten die Aufrufe der Anführer der Volksrevolte zur Wiederherstellung der mythischen Ayllu als Spaltung zwischen den weissen und den indianischstämmigen Arbeitern. Dies ist auch der Fall bei der Forderung an die herrschende Klasse nach einem grösseren Anteil am Kuchen, der vom Mehrwert, das aus dem bolivianischen Proletariat, gleich, welcher Herkunft, herausgepresst wurde, produziert wird.

Jedoch glauben wir fest daran, dass im Gegensatz zu eurer Erklärung der ‚Ayllu’ niemals als ‚ein Beschleuniger und Integrator in einem einzigen und gemeinsamen Kampf’ wird wirken können, da er von reaktionärer Natur ist und die ‚eingeborene’ Annäherung eine Idealisierung (eine Verfälschung) der Geschichte dieser Gemeinden darstellt, da ‚im Inkasystem die Gemeindeelemente des Ayllu in ein unterdrückerisches Kastensystem im Dienste der Oberschicht, der Inkas, eingebunden waren’ (Osvaldo Coggiola, „L’indigénisme bolivarien“). Aus diesem Grund ist es ein schwerwiegender Fehler zu meinen, dass der Ayllu als Beschleuniger und Integrator der Kämpfe wirken könnte.

Es ist wahr, dass die bolivianische Rebellion von eingeborenen Gemeinschaften von Bauern und Kokapflanzern angeführt worden ist, aber gerade hier liegt auch der grosse Schwachpunkt und nicht etwa die Stärke, da es sich um eine einfache und simple Volksrebellion handelt, in der die Arbeiter nur eine zweitrangige Rolle spielen. Die bolivianische interklassistische Revolte leidet also an der Abwesenheit einer revolutionären Arbeiterperspektive. Im Gegensatz zu den Gedanken gewisser Strömungen des trotzkistischen und guevaristischen Lagers kann man diese Revolte keinesfalls als ‚Revolution’ bezeichnen. Die eingeborenen Bauernmassen setzten sich in keinem Augenblick den Umsturz des kapitalistischen Systems in Bolivien zum Ziel. Im Gegenteil: Wir haben bereits gesagt, dass die Ereignisse in Bolivien sehr stark vom Chauvinismus geprägt sind: Verteidigung der nationalen Würde, Verweigerung des Erdgasverkaufs an Chile, Widerstand gegen die Ausmerzung der Kokapflanze.“

Die Rolle der Ayllu in Bolivien findet in der mexikanischen AZLN (Zapatistische Armee der nationalen Befreiung) ein Ebenbild: Sie hat die eingeborenen Gemeindeorganisationen zur Mobilisierung der indianischen Kleinbourgeoisie, der Bauern und Proletarier von Chiapas und anderen Regionen Mexikos im Kampf gegen die Hauptfraktion der mexikanischen Bourgeoisie gebraucht. Dieser Kampf stand auch im interimperialistischen Spannungsfeld zwischen den USA und gewissen europäischen Mächten.

Diese Sektoren der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas sind weder ins Proletariat noch in die Bourgeoisie integriert worden und sind einer extremen Armut und Marginalisierung ausgeliefert. Diese Situation „hat Intellektuelle und gewisse Strömungen des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie dazu veranlasst, nach Argumenten zu suchen, weshalb die Indianer ein gesellschaftlicher Körper mit einer historischen Alternative seien und wie sie als Kanonenfutter für den so genannten Kampf für die ethnische Verteidigung zu gebrauchen seien. Tatsächlich befinden sich hinter diesen Kämpfen aber die Interessen der Bourgeoisie. Man hat das nicht nur in Chiapas, sondern auch in Ex-Jugoslawien gesehen, wo die ethnischen Fragen von der Bourgeoisie manipuliert wurden, um einen formellen Vorwand für den Kampf der imperialistischen Mächte zu liefern.“ (16)

Die vitale Rolle der Arbeiterklasse in den zentralen Ländern des Kapitalismus

Das Proletariat ist mit einer sehr ernsthaften Verschlechterung der gesellschaftlichen Umwelt konfrontiert, in der es leben und kämpfen muss. Seine Fähigkeit, ein Vertrauen in sich selbst zu entwickeln, ist vom zunehmenden Gewicht der Hoffnungslosigkeit der nicht-ausbeutenden Schichten bedroht. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte nutzen diese Situation für ihre eigenen Zwecke aus. Es wäre eine sehr schwerwiegende Vernachlässigung unserer Verantwortung, wenn wir diese Gefahr unterschätzen würden.

Nur durch die Entwicklung der Unabhängigkeit als Klasse und die Behauptung der Klassenidentität, durch die Stärkung des Vertrauens in die Fähigkeiten zur Verteidigung der eigenen Interessen wird das Proletariat zu einer Kraft werden, der es möglich ist, die anderen nicht-ausbeutenden Schichten der Gesellschaft hinter sich zu scharen.

Die Geschichte des Arbeiterkampfes in Lateinamerika zeigt, dass die Arbeiterklasse eine lange und reiche Erfahrung aufweist. Die Anstrengungen der argentinischen Arbeiter 2001 und 2002 zur Wiederaufnahme von unabhängigen Klassenkämpfen (beschrieben in den Zitaten vom NCI (17)) zeigen, dass die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse intakt ist. Sie trifft jedoch auf grosse Schwierigkeiten, die Ausdruck von bereits langanhaltenden Schwächen des Proletariats in der Peripherie des Kapitalismus und der enormen materiellen und ideologischen Kraft des Zerfallsprozesses in diesen Regionen sind. Es ist kein Zufall, wenn die bedeutendsten Ausdrücke der Klassenautonomie in Lateinamerika in den 60er- und 70er-Jahren liegen, mit anderen Worten: vor dem Prozess des Zerfalls und seiner negativen Auswirkungen auf die Klassenidentität des Proletariats. Eine solche Situation verstärkt nur die historische Verantwortung des Proletariats in den industriellen Konzentrationen im Herzen des Kapitalismus. Dort befinden sich die am weitesten vorangeschrittenen und die gegenüber den zersetzenden Auswirkungen des Zerfalls widerstandsfähigsten Teile der Arbeiterklasse. Das Signal zur Beendigung der fünfzigjährigen konterrevolutionären Phase Ende der 60er-Jahre war in Europa ertönt und das Echo hallte in Lateinamerika wider. Aus demselben Grunde wird die Rekonstituierung der Arbeiterklasse als historisches Gegengift zum kapitalistischen Verfall notwendigerweise von den konzentriertesten und politisch erfahrensten Bataillonen der Arbeiterklasse ausgehen, an erster Stelle von jenen in Westeuropa. Das bedeutet nicht, dass die Arbeiter Lateinamerikas keine vitale Rolle in der zukünftigen Generalisierung und Internationalisierung der Kämpfe spielen werden. Von allen Sektoren der Arbeiterklasse in der Peripherie des Systems sind sie gewiss die politisch am fortgeschrittensten. Das beweist die Existenz einer revolutionären Tradition in diesem Teil der Welt und auch das gegenwärtige Auftauchen von neuen Gruppen auf der Suche einer revolutionären Klarheit. Diese Minoritäten sind der Gipfel eines proletarischen Eisbergs, der die unsinkbare Titanic des Kapitals zum Sinken bringt.

Phil

Fußnoten:

1 s. Punkt 9 der Plattform der IKS.

2 Friedrich Engels/Karl Marx, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, S. 38.

3 s. Argentinien sechs Jahre nach Cordoba“, in: World Revolution, Nr. 1, 1975, S. 15f.

4 s. Der unaufhaltsame Fall von Allende, in: World Revolution Nr. 268.

5 s. Mexiko: Arbeiterkämpfe und revolutionäre Intervention, in: World Revolution, Nr. 124, Mai 1989.

6 Der schwierige Weg zur Vereinheitlichung des Klassenkampfes, in: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.

7 nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC).

8 s. Kommuniqué an die gesamte Arbeiterklasse, in: Internacionalismo, Organ der IKS in Venezuela, zit. nach: World Revolution Nr. 124, Mai 1989.

9 s. Lektionen aus Argentinien: Positionsbezug des IBRP: Entweder die revolutionäre Partei und der Sozialismus oder die verallgemeinerte Armut und der Krieg, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.

10 s. Thesen über die kommunistischen Taktiken für die Peripherie des Kapitalismus, siehe: www.ibrp.org [4]. Die IKS kritisiert diese Thesen in: Der Kampf der Arbeiterklasse in den peripheren Ländern des Kapitalismus, in: Revue Internationale Nr. 100.

11 s. Volksaufstand in Argentinien: Nur auf dem Klassenterrain des Proletariats kann die Bourgeoisie zurückgedrängt werden, in: Internationale Revue, Nr. 30, November 2002.

12 s. Arbeiterkämpfe in Argentinien: Polemik mit der IKS“, in: Internationalist Communist, Nr. 21, Herbst/Winter 2002.

13 s. Zwei Jahre nach dem 19. und 20. Dezember, in: Revolucion Comunista, Nr. 2.

14 s. A propos Klassenkampf in Argentinien, in: Communismo, Nr. 49.

15 Die bolivianische Revolte, in: Revolucion Comunista, Nr. 1.

16 s. Einzig die proletarische Revolution kann die Indianer befreien, in: Revolucion Mundial, Nr. 64, September/Oktober 2001. Organ der IKS in Mexiko.

17 s. Révolution Internationale, Nr. 315, September 2001.


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Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/ratismus [2] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1917-russische-revolution [3] https://de.internationalism.org/en/tag/2/26/proletarische-revolution [4] http://www.ibrp.org