Das Urteil des Chemnitzer Landesarbeitsgerichtes vom 2. November, das der Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GDL) in allen Belangen rechtgab und die Bahn freimachte für Streiks auch im Fern- und Güterverkehr, ist, sofern man die jüngsten Entwicklungen genau verfolgt hat, keineswegs überraschend. Schon vor diesem Urteil gab es einige Anzeichen, die auf eine Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen den Lokführern und der Bahn hindeuteten. Bereits vor der Berufung der GDL gegen das erstinstanzliche Verbot einer Ausweitung des Streiks auf den Fern- und Güterverkehr war absehbar, dass dieses Verbot nicht der letzten Weisheit Schluss war. Weit entfernt, ein Ausdruck des „demokratischen Pluralismus“ zu sein, ist die Tatsache, dass dieses Verbot vom Landesarbeitsgericht kassiert wurde, nichts weiter als das Eingeständnis der deutschen Bourgeoisie, dass der Streik der Lokführer nicht mehr mit juristischen Mitteln eingedämmt werden kann. In der Tat ließ sich die bis dahin von ihr vertretene Argumentationsweise, die nach dem Motto verfuhr: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass und die „Unverhältnismäßigkeit“ des Streiks im Güter- und Fernverkehr als Grund für sein Verbot anführte, zuletzt immer weniger in der Öffentlichkeit und besonders unter den betroffenen Arbeitern aufrechterhalten.
Es war sicherlich ein einmaliger Vorgang, als ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die Auseinandersetzung mit dem Bahnvorstand nach dem Scheitern des Vermittlungsversuchs durch Geißler und Biedenkopf zu eskalieren drohte, der GDL-Vorsitzende Schell den Vorsitz vorläufig an seinen designierten Nachfolger und jetzigen Vize Weselsky abgab, um... in die Kur zu gehen. Die Sache wird auch dadurch nicht weniger erstaunlich, dass, wie Weselsky der Öffentlichkeit auftischte, Schell wegen des Streiks bereits zweimal seine Kur verschoben habe. Dies um so weniger, als mit dem „vorläufigen“ Personalwechsel an der Spitze der GDL auch eine gewisse Kurskorrektur der GDL einherging. In der Zeit zwischen seinem Abgang und seinem Wiedererscheinen in der Öffentlichkeit (anlässlich der Urteilsverkündung des Chemnitzer Landesarbeitsgerichtes) fand eine leise, aber effektive Umorientierung der GDL statt: Die einseitige Ausrichtung der GDL-Führung unter Schell - einem altgedienten westdeutschen Gewerkschaftsfunktionär - auf die Durchsetzung der Forderung nach Anerkennung als Spartengewerkschaft der Lokführer wurde unter der Führung des Leipzigers Weselsky aufgegeben. Nun demonstrierte die GDL plötzlich auch Härte bei ihrer Lohnforderung von 30 Prozent. Forsch kündigte Weselsky eine härtere Gangart in der Konfrontation mit Mehdorns Bahnvorstand an und ließ seinen Worten auch Taten folgen – den 30-stündigen Streik im Nah- und Regionalverkehr vom 25./26. Oktober. Betroffen von diesem Streik war vor allem der Osten Deutschlands, wo der Schienennahverkehr in einigen Städten (wie Cottbus) praktisch zum Erliegen kam. Im Vergleich dazu kam der Rest Deutschlands glimpflich davon; in Süddeutschland lief der Schienenverkehr gar ohne Einschränkungen. Beides – die andere Akzentuierung der GDL-Politik unter dem Vorsitz von Weselsky und die Konzentration des Streiks auf Ostdeutschland – hat gemeinsame Ursachen. Die GDL hat ihre stärksten Bataillone in Ostdeutschland, wo die übergroße Mehrheit nicht, wie in den Gebieten der alten Bundesrepublik, verbeamtet ist. So liegt es auf der Hand, dass die GDL die meisten ihrer Mitglieder aus den ostdeutschen Bundesländern rekrutiert hat. Und genauso erklärlich ist es, dass es den angestellten Lokführern selbst weniger um die Anerkennung der GDL als eigenständiger Tarifpartner neben den beiden anderen Eisenbahner-Gewerkschaften Transnet und GDBA ging. Die GDL war in ihren Augen nur das Vehikel für die Durchsetzung ihrer allzu berechtigten Lohnforderungen. Wenn es nach den Funktionären der GDL gegangen wäre, wäre der Streik spätestens nach den von Geißler und Biedenkopf moderierten Vermittlungsgesprächen zwischen GDL und Bahngesellschaft beendet worden, war der GDL doch im Grundsatz zugesichert worden, künftig über Entgelte und Arbeitszeiten der Lokführer – allerdings in „enger Abstimmung“ mit den beiden anderen Gewerkschaften – zu verhandeln. Dass diese Rechnung nicht aufging, dass die GDL stattdessen eine schärfere Tonart gegenüber der Bahnzentrale anschlug, hat keineswegs mit einer Läuterung der GDL-Funktionäre zu tun. Sie haben genauso wenig wie die bürgerliche Justiz, die nun den Lokführern das „volle“ Streikrecht einräumt, plötzlich ihr Herz für die Sache der ArbeiterInnen entdeckt. Vielmehr kann man davon ausgehen, dass sich hinter ihrem Umdenken die Erkenntnis verbirgt, dass es besser ist, selbst in die Offensive zu gehen, ehe die Dinge aus der Kontrolle geraten.In der Tat scheint die Wut der Lokführer über die Hinhaltetaktik durch die GDL, die es sich bis dahin hinter dem gerichtlichen Verbot einer Ausweitung der Streiks auf den Güter- und Fernverkehr bequem gemacht hatte, mit jedem Streiktag gewachsen zu sein. Wie groß der Unwille der Lokführer zuletzt war, die gerichtlichen Auflagen zu akzeptieren, zeigt der Fall jener beiden Lokführer, die in der vergangenen Woche fristlos gekündigt wurden. Sie hatten ihre Loks auf freier Strecke verschlossen abgestellt, um sich am Streik zu beteiligen, wobei es naheliegt, dass sie die Blockade des Zugverkehrs wissentlich in Kauf nahmen, wenn nicht sogar beabsichtigten. Für sie – und jene Dutzenden von Kollegen, die eine Abmahnung erhielten - muss es eigentlich wie Hohn vorkommen, dass die GDL nun ihretwegen vor das Arbeitsgericht ziehen will. Es gibt nur eine Macht, die in der Lage ist, Mehdorn zur Rücknahme dieser Kündigungen zu zwingen: die Solidarisierung ihrer Kollegen mit ihnen und ganz gewiss nicht die Winkeladvokaten der bürgerlichen Justiz.
Von Anbeginn war die GDL darum bemüht, sich peinlich genau an die „demokratischen Spielregeln“ zu halten. Klaglos akzeptierten ihre Funktionäre die abschlägigen Urteile der Arbeitsgerichte in Düsseldorf, Mainz, Nürnberg und Chemnitz, deren Begründung die wirtschaftlichen Schäden eines bundesweiten Streiks der Lokführer beanstandete. (Als ob der Sinn von Streiks nicht zuletzt darin besteht, Druck auf die Arbeitgeber auszuüben, indem ihnen durch die Arbeitsverweigerung der Ausgebeuteten eben ein solcher wirtschaftlicher Schaden zugefügt wird.) Nun, das Urteil des Chemnitzer Landesarbeitsgerichtes zeigt deutlich, dass die Justiz durchaus nicht bereit ist, die Gewerkschaften im Allgemeinen und die Spartengewerkschaft GDL im Besonderen im Regen stehenzulassen. Nachdem sich herausgestellt hat, dass die erstinstanzlichen Urteile dem Kampfgeist der Lokführer keinen Einhalt geboten haben, sondern im Gegenteil ihn noch angestachelt haben, soll nun das jüngste Urteil, das der GDL ab sofort und ohne Abstriche gestattet, den Streik auf den Fern- und Güterverkehr auszuweiten, die Reputation der GDL unter den Lokführern, die Schaden zu nehmen drohte, wieder aufpolieren. Um zu vermeiden, dass es zu einer Radikalisierung der Streikenden – womöglich außerhalb des gewerkschaftlichen Korsetts – kommt, nimmt das staatskapitalistische Regime in Gestalt der Gerichte sogar gewisse wirtschaftliche Schäden für die Privatwirtschaft in Kauf, wohl wissend, dass die Bonzen der GDL ihre neuen Freiheiten mit „Augenmaß“ nutzen werden. Wie wir bereits in unserem Artikel „Spartengewerkschaften oder Einheitsgewerkschaft – eine falsche Alternative“ in der Weltrevolution Nr. 144 berichteten, beteuerte auf einer Veranstaltung des Netzwerkes Linke Opposition der Chef der GDL Nordrhein-Westfalen in entlarvender Offenheit, dass die Forderung nach einer 30%-igen Lohnerhöhung für die Lokführer ursprünglich gar nicht beabsichtigt war, sondern der GDL vom Bahnvorstand sozusagen in den Mund gelegt worden war. Wie bereits deutlich gemacht, war es das Hauptziel der GDL lediglich, als eigenständiger Tarifpartner neben der Transnet und GDBA anerkannt zu werden. Den GDL-Bonzen ging es von Anfang nur darum, in den Genuss des Privilegs eines gleichrangigen Verhandlungspartners der Bahn neben den beiden anderen Hausgewerkschaften zu gelangen. Über alles Weitere könne man durchaus reden....
Das Chemnitzer Arbeitsgericht hat Recht gesprochen. Die bürgerliche Rechtssprechung – und gerade das Arbeitsrecht - wird nicht zuletzt deshalb so umständlich, zweideutig und widersprüchlich formuliert, um den Gerichten einen politischen Spielraum zu lassen, um nach eigenem Ermessen der realen Entwicklung eines „Sachverhalts“ Rechnung tragen zu lassen. Dabei werden die Meinungen und Argumente der Sachverständigen ebenso berücksichtigt wie die der „Streitparteien“ vor Gericht (also in diesen Fall die Deutsche Bahn und die GDL). So kann und soll ein Gericht Repressionsmaßnahmen gegen die arbeitende Bevölkerung beschließen, bestätigen, gegebenenfalls verschärfen usw. Aber in einer „funktionierenden Demokratie“ wird die Gerichtsbarkeit dazu angehalten, Urteile nach Möglichkeit zu vermeiden, die die Autorität von Justiz und Staat in den Augen der Bevölkerung untergraben könnten. Das Chemnitzer Gericht hatte also den Tatbestand zu berücksichtigen, dass es erste Anzeichen für eine Bereitschaft der kämpfenden Eisenbahner gab, angesichts von Streikverboten zu illegalen Aktionen überzugehen. Mit anderen Worten, es zeichnete sich ab, dass das bisherige Streikverbot nicht einschüchternd und dämpfend, sondern eskalierend auf die Kampfbereitschaft eingewirkt hat. Selbstverständlich gehört es zum Handwerk der Jurisprudenz, dass in der Urteilsverkündung solche Erwägungen nicht in den Vordergrund gestellt werden. Die Streikenden sollen auf keinen Fall zu der Einsicht gelangen, dass es ihre Militanz war - und nicht etwa die Winkelzüge der Anwälte der GDL –, die diesen taktischen Rückzug des Staates erzwungen hat!Aber die Chemnitzer Richter haben nicht nur auf die Empörung der Streikenden Rücksicht nehmen müssen. Eine Woche nach dem Urteil von Chemnitz förderte das „ZDF Politbarometer“ eine Entwicklung an den Tag, womit die Richter sich ebenfalls befasst haben werden: Aller Hetze der Medien zum Trotz steigt die Beliebtheit dieses Streiks innerhalb des breiten Publikums unaufhörlich weiter! Die angeblich unabhängige Justiz hinter den Arbeitgebern einerseits, die arbeitende Bevölkerung hinter den Streikenden andererseits – eine solche Gegenüberstellung wollte der bürgerliche Staat in dieser Deutlichkeit unbedingt vermeiden! Nun sollen nicht mehr Justiz und Polizei, sondern die „politischen Instanzen“ wieder in den Vordergrund rücken, um die Kampfbereitschaft der Arbeiterschaft zu entschärfen. Und dazu gehört die GDL selbst.
Wenn wir die Behauptung aufstellen, dass die GDL ein wichtiges Instrument der herrschenden Klasse gegen die langsam steigende Kampfbereitschaft der Lohnabhängigen ist, so übersehen wir nicht, dass diese Spartengewerkschaft keineswegs auf ungeteilte Sympathie innerhalb der Kapitalistenklasse stößt. Das Management der Deutschen Bahn gehört ebenso wenig zu den Freunden der GDL wie die Transnet, der DGB-Gewerkschaft unter den Eisenbahnern. Diese beiden mächtigen Organisationen haben in den letzten Jahren gemeinsam, unter der Leitung ihres Vorsitzenden Mehdorn und Hansen, erfolgreich mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze bei der Bahn abgebaut und die ohnehin unerfreuliche Arbeitswelt der verbleibenden Eisenbahner in eine Hölle verwandelt. Mit diesen gemeinsam erzielten Erfolgen im Rücken wollen Konzernspitze und Transnet – vom Staat unterstützt und vorangepeitscht – die DB in ein weltweit operierendes Logistikunternehmen verwandeln, in einen „Global Player“ nach dem Vorbild der aus der Deutschen Post hervorgegangenen DHL. Diese fette Beute wollen sie nicht mit einem Quereinsteiger wie die GDL teilen!Zu den von der GDL wenig Begeisterten gehört auch die SPD. So haben sich in diesen Tagen Parteichef Beck und der Fraktionsvorsitzende Struck öffentlich und resolut hinter Mehdorn und Hansen gestellt. Auch das nimmt nicht Wunder. Der DGB ist im Wesentlichen der Gewerkschaftsbund der Sozialdemokratie. Mittels dieser Organisation sind die Sozialdemokraten an der Leitung der Wirtschaft auf zweifache Weise direkt beteiligt: nicht nur durch ihre Parteifreunde und andere Freunde in den Konzernspitzen, wie die CDU auch, sondern darüber hinaus durch die Macht der Gewerkschaften in diesen Unternehmen. Das geht ganz offiziell vor sich, wie in der Metallindustrie mit seiner gewerkschaftliche Mitbestimmung. Oder es vollzieht sich mittels einer „ausgezeichneten“, zugleich beinahe monopolartigen Partnerschaft, wie im Falle von Transnet. Nun, Schell und seine Freunde wollen an dieser Goldgrube mit beteiligt sein. Dies behagt der Sozialdemokratie umso weniger, da sie im Kampf um die Futterplätze am Trog des Kapitals neuerdings von einer anderen Seite Konkurrenz zu spüren bekommt – von Lafontaine und der jetzt auch im Westen stärker werdenden Linkspartei. Wie dem auch sei: Das bürgerliche Establishment wird am Ende Platz machen, Platz machen müssen für eine der Ihren, für die GDL. Auch Mehdorn, Hansen und die SPD werden das zu akzeptieren haben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat das längst erkannt und findet dieser Entwicklung auch gar nicht so schlecht. Zwar könne das Aushandeln von Tarifverträgen bei der Bahn demnächst komplizierter werden – so die Zeitung. Aber Konkurrenz (unter den Gewerkschaften) belebt das Geschäft. Man darf jedoch nicht übersehen, um welche Art von Konkurrenz es sich hier handelt. Die Gewerkschaften konkurrieren untereinander um ihren Anteil am Profit, der aus der Ausbeutung der Arbeiterklasse herausgepresst wird. Aber die Konkurrenz, deren Förderung das Ur-Anliegen des Kapitals ist, ist die Konkurrenz unter den Arbeitern - einer Konkurrenz, die notwendig ist, um den Profit an sich erst zu sichern. Zusätzliche Gewerkschaften, die eigene Tarifverträge abschließen können, bedeuten, dass man nunmehr auch in Deutschland zunehmend das kämpfende Proletariat nicht nur nach Unternehmen, Beruf, nach Ost oder West usw. spalten kann, sondern auch in ein und denselben Beruf und Unternehmen voneinander absondern, gegeneinander ausspielen kann. Und das ist der Grund, warum selbst die SPD und der DGB sich mit der GDL anfreunden werden und sie schon jetzt nicht nur als lästigen Konkurrent, sondern vor allem auch als Schützenhilfe gegen die Arbeiterklasse sieht.Denn was steckt hinter dem kometenhaften Aufstieg dieser ältesten aller deutschen Gewerkschaften, die Jahrzehnte lang wie eine verstaubte Mumie überlebte? Was hat diesem Altherrenverein so plötzlich die Gelegenheit verschafft, Anspruch zu erheben, als Mitspieler bei der „neuen Bahn“ mitzumischen? Nichts anderes als die massive Unzufriedenheit der Eisenbahner mit den bestehenden Gewerkschaften. Scharenweise und verbittert verließen sie Hansens Transnet, verzweifelt auf der Suche nach Alternativen. Und hier wird ein Problem offenbar, das die Arbeitsgerichte vermutlich auch berücksichtigen müssen: die Unerfahrenheit der GDL. Die Arbeiterinnen und Arbeiter gingen zur GDL, nicht weil sie Spartengewerkschaften toll finden und als Lokführer unter sich sein wollen, sondern weil sie kämpfen wollen und es sich (noch) nicht zutrauen, dies auf eigene Faust zu tun. Dies beweist schon die Tatsache, dass nicht allein Lokomotivführer, sondern Tausende vom Bordpersonal (darunter auch Ausländer) zur Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer gegangen sind. Und da geht ein Manfred Schell hin und erzählt immer wieder vor laufender Kamera, dass es ihm nicht um das Anliegen der Lokführer, sondern um den eigenständigen Tarifvertrag der eigenen Gewerkschaft geht! Da geht sein Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen hin und erzählt, dass man die anderen Arbeiter, die keine Lokomotivführer sind, eigentlich gar nicht haben will! Und während die Medien versuchen, Schell als einen unbeugsamen, besessenen Arbeiterführer darzustellen - fast so einer wie Trotzki als Vorsitzender des Arbeiterrates von Petrograd während der Russischen Revolution –, tritt der Mann mitten im Streikgetümmel seine wohlverdiente Kur an!Die Bourgeoisie wird also die GDL nicht nur als gleichberechtigten Partner in die „Tarifgemeinschaft“ aufnehmen. Sie greift dieser Gewerkschaft heute schon massiv unter die Arme, damit sie helfen kann, den Bestrebungen des Proletariats entgegenzutreten. Denn heute gibt es wieder weltweit ein Bestreben der Arbeiterklasse, das man bereits in der Zeit nach 1968 auf breiter Front beobachten konnte. Es ist das Bestreben, die gewerkschaftliche Kontrolle über die Klasse und deren Kämpfe in Frage zu stellen. Damals, im Mai 1968 in Frankreich, im heißen Herbst 1969 in Italien, aber auch in den Septemberstreiks von 1969 in der Bundesrepublik, äußerte sich dieses Bestreben sehr direkt durch wilde, selbstorganisierte, durch Vollversammlungen und gewählte Streikkomitees geführte Streiks. Heute sind die Kampfesschritte ungleich zaghafter, denn die Kämpfenden haben momentan viel weniger Selbstvertrauen, während die Herrschenden auf diese Entwicklung viel besser vorbereitet sind als damals. Und dennoch: die Tendenz des proletarischen Klassenkampfes bewegt sich nicht in Richtung Spartengewerkschaften, sondern in Richtung Infragestellung der Gewerkschaften. Nur dass heute die materielle Lage der Arbeiterklasse viel schlechter, die Wirtschaftskrise viel tiefer, der Zustand der Welt viel dramatischer ist, so dass die Reifung innerhalb der Klasse am Ende viel tiefere Wurzeln schlagen muss und auch wird. IKS 9. November 2007
16. November: Der jetzige Streik der Lokomotivführer in Deutschland ist ein großartiges Beispiel für die wiedererstarkte Kampfkraft und Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse. Seit sieben Monaten schwelt nun der Konflikt um die Lohnforderungen der Zugführer und auch eines Teils des Bordpersonals. Seit sieben Monaten versucht die Deutsche Bahn mit Drohungen, mit Repressalien, mit Kraftmeierei die Beschäftigten einzuschüchtern. Seit sieben Monaten versuchen die Medien Stimmung gegen die Streikenden zu machen.
16. November: Der jetzige Streik der Lokomotivführer in Deutschland ist ein großartiges Beispiel für die wiedererstarkte Kampfkraft und Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse. Seit sieben Monaten schwelt nun der Konflikt um die Lohnforderungen der Zugführer und auch eines Teils des Bordpersonals. Seit sieben Monaten versucht die Deutsche Bahn mit Drohungen, mit Repressalien, mit Kraftmeierei die Beschäftigten einzuschüchtern. Seit sieben Monaten versuchen die Medien Stimmung gegen die Streikenden zu machen. Seit sieben Monaten versuchen Gerichte und Politiker, den sich Wehrenden das Streiken zu verbieten oder auszureden. Seit sieben Monaten hetzen die nicht am Streik beteiligten Gewerkschaften gegen die Kämpfenden, und zwar auf eine Art und Weise, die an Feindseligkeit und Niederträchtigkeit alles in den Schatten stellt, was die Arbeitgeber und die Politiker bisher von sich gegeben haben. Seit sieben Monaten versucht die GDL, die Kampfbereitschaft der Lokführer hinzuhalten, es bei symbolischen Aktionen bewenden zu lassen, wobei sie kaum eine Gelegenheit ausgelassen hat zu beteuern, es gehe der GDL nicht in erster Linie um Lohnforderungen oder um die Arbeitsbedingungen der Lokführer, sondern um das Recht der eigenen Gewerkschaft, eigenständige Tarifverträge abzuschließen.
Aber die Eisenbahner haben sich nicht zermürben lassen. Jetzt, nach sieben Monaten, haben sie den größten Eisenbahnerstreik in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands vom Zaun gebrochen. Drei Tage lang wird der Güterverkehr bestreikt, zwei Tage lang der Personenverkehr in ganz Deutschland. Die Folgen: ein Drittel aller Fernzüge, die Hälfte aller Regionalzüge fielen aus. Im Osten verkehrten nur 10% aller Züge. In den Seehäfen begannen sich die Container zu stauen, und bei Audi in Brüssel standen die Bänder still, weil Zulieferteile aus der Slowakei in Ostdeutschland liegen geblieben waren.
Zugegeben: das erwartete "große Chaos" blieb aus. Kein Wunder! Das Chaos, das angerichtet wurde, war das Werk von nur 6.000 Lokomotivführern und Zugbegleitern, während die Mitglieder der anderen Gewerkschaften durch ihre angeblichen Interessensvertretungen vom Streik ferngehalten wurden, während das noch verbeamtete Zugpersonal schwerste Repressalien durch "Vater Staat" zu befürchtet hat, sollten es sich am Streik beteiligen.
Das Wichtigste an diesem Streik - an jedem Streik letztendlich - ist nicht das Ausmaß des Chaos, das er verursacht. Das Kennzeichen der Arbeiterklasse ist nicht, dass sie Chaos bewirkt, sondern dass sie in der Lage ist, eine Perspektive aufzuzeigen gegenüber dem Chaos, in das der Kapitalismus die Menschheit gestürzt hat.
Der Klassenkampf rückt ins Zentrum der Gesellschaft
Der Streik bei der Deutschen Bahn hat nicht nur die Kampfbereitschaft der Lohnabhängigen unter Beweis gestellt, er hat die Kampfkraft unserer Klasse angedeutet. Er hat die ganze Gesellschaft wieder daran erinnert, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, in der alles von der Arbeit der entrechteten, eigentumslosen, arbeitenden Bevölkerung abhängt. Die verzweifelte Lage der Eisenbahner, die sie dazu zwingt, sich zu wehren, macht deutlich, dass diese Klasse der Gesellschaft nicht nur schlecht behandelt, sondern ausgebeutet wird. Zugleich deutet er die potenzielle Macht dieser Klasse an, die daher rührt, dass die Lohnabhängigen durch ihre Arbeit die ganze Gesellschaft auf ihren Schultern trägt. Außerdem sind diese Produzenten nicht voneinander isoliert, sondern durch Produktion, Verkehr, durch die Gesellschaft miteinander verbunden. Nach dem Fall der Berliner Mauer hieß es: Die Idee der Klassengesellschaft, des Klassenkampfes, des Sozialismus, einer Arbeiterbewegung aus dem 19 Jahrhundert - mit einem Wort: die Ideen des Marxismus - seien tot, es lebe die klassenlose Leistungsgesellschaft. Jetzt beginnt es vielen zu dämmern: Wir leben in einer Klassengesellschaft. Der Klassenkampf lebt.
Der lebendige Klassenkampf der Eisenbahner ist auch deshalb so wichtig, weil aufgrund der Abhängigkeit der modernen Gesellschaft von ihren Verkehrsmitteln dieser Streik nicht totgeschwiegen werden kann. Jeder ist davon betroffen. Jeder fühlt sich aufgefordert, sich dazu zu positionieren. So trägt dieser Kampf in nicht geringem Maße dazu bei, die soziale Atmosphäre in der Gesellschaft zu verändern. Dabei sind zwei Gegebenheiten von besonderer Bedeutung.
Der Arbeiterkampf ist international
Zum einem wurde zufällig zur gleichen Zeit in Deutschland und in Frankreich der Schienenverkehr bestreikt. Dass es links des Rheins um die Rentenbezüge, rechts des Rheins um Gehälter und Arbeitsbedingungen geht, zeigt nur auf, wie umfassend die Angriffe des Kapitals heute sind. Aber die Gleichzeitigkeit des Streiks zeigt vor allem auf, dass der Kampf der Arbeiterklasse wirklich international ist, wie das Kommunistische Manifest von Marx und Engels es einst formulierte ("Proletarier aller Länder, vereinigt euch"). In Deutschland versucht die GDL, die Lage der Eisenbahner in Deutschland als eine Ausnahme hinzustellen. Die Gehälter der Lokführer bei der DB seien im europäischen Vergleich erschreckend niedrig, von daher könne man diese Sparte besondere Zuwendungen zukommen lassen, ohne die allgemeine Notwendigkeit für die Lohnabhängigen in Abrede zu stellen, den Gürtel enger zu schnallen. In Frankreich wiederum behauptet die Regierung Sarkozy, die französische Eisenbahner seien eine privilegierte Minderheit, der man ruhig zumuten könne, bis zur Rente länger zu arbeiten. Gerade die internationale Dimension des Klassenkampfes macht aber deutlich, wie weltweit alle Arbeiter mit denselben Unzumutbarkeiten konfrontiert werden.
Das Geheimnis des Arbeiterkampfes ist die Solidarität
Zum anderen ist die große Popularität des Streiks bei der Deutschen Bahn innerhalb der Bevölkerung sehr bedeutsam. Die Medienmacher selbst sind verdutzt wegen dieser Tatsache. Wie kann es sein, dass eine kleine Gruppe, im Wesentlichen aus einer Berufssparte bestehend, Lohnforderungen von angeblich bis zu 31% für sich beansprucht und zu diesem Zweck einen Streik veranstaltet, der die arbeitende Bevölkerung, vor allem die Berufspendler trifft - und dennoch eine solche Beliebtheit erfährt? Am heutigen dritten Streiktag ergab eine Blitzumfrage der ARD eine Zustimmung zum Streik von 61% der Befragten - allen Unannehmlichkeiten und aller Hetze der herrschenden Klasse zum Trotz!
Auf dieses Rätsel angesprochen, gab einer der Chefredakteure des deutschen Staatsfernsehens, der ARD, Ressort Politik, folgende Antwort: Die Stimmung in der Bevölkerung sei in den letzten paar Jahren "gekippt". Bis dahin habe man die Notwendigkeit der "Lohnmäßigung" hingenommen, wenn auch mit Widerwillen. Inzwischen herrsche aber eine breite Verärgerung und ein "Ungerechtigkeitsgefühl" gegenüber der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Man begrüße den Streik der Eisenbahner vor allem deshalb, weil man sie sozusagen als Vorkämpfer betrachtet, den man am liebsten nachmachen möchte. Und während die "Politik" schon länger eine allgemeine und wachsende Empörung gegenüber den Angriffen auf die Sozialleistungen für Arbeitslose registriert habe (die sie nunmehr durch kleinere Korrekturmaßnahmen zu beschwichtigen versucht), habe man bislang unterschätzt, wie groß der Unmut vor allem angesichts der Lohnentwicklung in den letzten Jahren inzwischen geworden ist.
Der gute Mann hat recht. Genau hier liegt der springende Punkt dieses Streiks; das, was viele Kommentatoren das Paradoxon des Kampfes der Eisenbahner genannt haben. Die GDL als Organisator des Streiks propagiert offen die Aufkündigung der Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse. Jede Berufsgruppe soll allein für sich im Kampf dastehen. Es steht für einen Trend, der im Nachkriegsdeutschland relativ neu ist, international aber sattsam bekannt ist: der Trend zu Spartengewerkschaften. Nach der Vereinigung Cockpit für die Piloten und dem Marburger Bund für die Klinikärzte kommt nun die GDL mit ihrem Versprechen einer heilen Welt für Lokführer. Ihr Motto, ganz offen herausposaunt, lautet: Was mit den anderen Berufsgruppen geschieht, geht uns nichts an! Die Einheitsgewerkschaften des DGB wiederum übernehmen den Part, im Namen der "Einheit" und der "Solidarität" gegen die streikenden Piloten, Klinikärzte oder Lokführer zu hetzen und sie als Privilegierte, ja als Feinde der anderen Berufsgruppen zu verfemen. Was hinter diesem Trend zur Spartengewerkschaft steckt, ist Folgendes: Zum einem versucht man, die scharenweise sich von den bestehenden Gewerkschaften abwendenden Arbeiterinnen und Arbeiter in "alternativen" Gewerkschaften aufzufangen, damit die Arbeiterklasse nicht wieder damit anfängt, wie in den Jahren nach 1968 eigenständig und selbstorganisiert zu kämpfen. Zugleich will man die Lohnabhängigen vor die falsche Alternative zwischen Unterordnung unter die sozialdemokratischen Einheitsgewerkschaften einerseits und isolierten bis unsolidarischen Aktionen unter der Regie der Spartengewerkschaften andererseits stellen. Dass die SPD und der DGB unwirsch auf diese neue Macht der Spartengewerkschaften reagieren, weil sie eine Schwächung der eigenen Macht und Privilegien innerhalb des Staatsapparates fürchten, ändert nichts an der Tatsache, dass diese falsche Alternative zwischen zwei Gewerkschaftsformen der gesamten herrschenden Klasse im Kampf gegen die Arbeiterklasse zugute kommt. Im Gegenteil verleiht es dieser Alternative - und momentan vor allem der Spartengewerkschaft - eine zusätzliche Glaubwürdigkeit.
Dass die herrschende Klasse mit diesem Vorgehen Erfolge verbuchen kann, zeigt der derzeitige Auftrieb der GDL. Schaut man genauer hin, so erkennt man, dass das, was die arbeitende Bevölkerung heute umtreibt, nicht der Traum von voneinander isoliert kämpfenden Berufsgruppen ist - was für die Arbeiterinnen und Arbeiter ein Albtraum wäre. Hinter dem Streik der Eisenbahner zeigt sich ein wachsendes Gefühl der Arbeitersolidarität. Allein die Tatsache, dass nicht allein Lokführer sondern auch Zugbegleiter zur Lokführergewerkschaft gingen, zeigt, dass es den Betroffenen nicht um Berufsdünkel geht, sondern um die Suche nach Alternativen zu den bestehenden Gewerkschaften. Und die Beliebtheit des Eisenbahnerstreiks innerhalb der Bevölkerung zeigt uns das Gleiche. Das, wonach die Arbeiterklasse noch unsicher tastend zu suchen begonnen hat, wird sie nicht bei den Gewerkschaften finden (egal welchen) sondern im gemeinsamen, solidarischen Kampf.
Wie weiter?
Dieses Tasten, das sich dahinter verbergende Potenzial des Widerstands gegen die kapitalistischen Angriffe, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die kämpfenden Eisenbahner durch die Gewerkschaften in eine faktische Isolierung geführt worden sind. Sie mussten bisher ohne die ganz große Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen bei der Deutschen Bahn, isoliert und abgeschirmt auch von anderen Teilen ihrer Klasse ihren Kampf ausfechten. Es gilt jetzt, Initiativen zu entwickeln, um dieser Isolierung entgegenzutreten, indem man das Gespräch mit anderen Eisenbahnern sucht, indem man die arbeitende Bevölkerung insgesamt nicht mehr nur als "Bahnkunden" betrachtet, wie die GDL das tut, sondern als Mitstreiter, die als Lohnabhängige alle die gleichen Interessen haben. Die spontane Sympathie der Bevölkerung zeigt auf, wie falsch es wäre, den Kampf gegen Hungerlöhne und schlimme Arbeitsbedingungen als eine Besonderheit der Bahn aufzufassen. Wenn die Herrschenden in den letzten Wochen gelernt haben, den Kampf der Eisenbahner zu fürchten, und sich nun nicht mehr ohne Weiteres trauen, mit Streikverboten vorzustoßen, dann vor allem deswegen, weil sie wissen, dass sich dahinter eine allgemeine Unzufriedenheit der Arbeiterklasse anstaut.
Außerdem gilt es, wachsam zu sein gegenüber dem, was die "Tarifparteien" an "Lösungen" auf Kosten der Betroffenen auszutüfteln versuchen werden.
Für die gesamte Arbeiterklasse gilt es, die Kampfkraft der Eisenbahner zum Beispiel zu nehmen, damit aus einer isolierten Auseinandersetzung allmählich ein allgemeiner und solidarischer Kampf werden kann. IKS 16. November 2007
Wieder einmal wurde weltweit die Bekanntgabe aus Oslo erwartet. Wer hat sich dieses Jahr den Friedensnobelpreis verdient für besondere Bemühungen um den Weltfrieden? Da schau her, der Al Gore. Der selbsternannte Klimaschutzapostel. Was ist denn eigentlich sein besonderes Verdienst für die Menschheit? Der fliegt, laut seinem Film "Eine unbequeme Wahrheit" mit Flugzeugen durch die ganze Welt, um seinen Vortrag über die gefährlichen Umweltsünden zu halten und wie wenig Zeit der Menschheit wohl noch
Wieder einmal wurde weltweit die Bekanntgabe aus Oslo erwartet. Wer hat sich dieses Jahr den Friedensnobelpreis verdient für besondere Bemühungen um den Weltfrieden? Da schau her, der Al Gore. Der selbsternannte Klimaschutzapostel. Was ist denn eigentlich sein besonderes Verdienst für die Menschheit? Der fliegt, laut seinem Film "Eine unbequeme Wahrheit" mit Flugzeugen durch die ganze Welt, um seinen Vortrag über die gefährlichen Umweltsünden zu halten und wie wenig Zeit der Menschheit wohl noch bleiben wird, wenn nicht bald handfeste Maßnahmen ergriffen werden, um die Zerstörung des Planeten Erde aufzuhalten. (Übrigens kostet sein Dienst an der Menschheit, also jeder Vortrag nur wenig mehr als 150.000 $!) In einem Punkt hat Gore aber leider recht. Die Zeit drängt in der Tat. Zwar kann unser Planet auf eine Milliarden alte Geschichte zurückblicken, doch die letzten 200 Jahre haben Mutter Erde arg zugesetzt. Es sind eben die letzten 200 Jahre, die den Sieges- und Zerstörungszug des Kapitalismus gesehen haben mit rauchenden Schornsteinen, Atombomben, Leerfischung der Meere etc.
Nach Al Gores Verständnis gibt es einen klaren Schuldigen: den Menschen. Aber nicht verzweifeln, es gibt auch einen Weg aus der Sackgasse. Es braucht nämlich nur einen solch tollen Kerl wie Gore, der der Welt mit dramatischen Bildern ein schlechtes Gewissen macht und dann wie ein wahrer Held die Lösung parat hat. So verkündet er zum Schluss seines Films auf die Frage, was tun, stolz, kauft neue stromsparendere Kühlschränke und Autos. Denn wenn alle dies täten, dann würde die Zerstörung der Erde auf den Stand der 1970er (!) zurückgehen. Danke, Mister Gore, welch revolutionärer und wirksamer Ansatz!
Für eben diesen wahnsinnig effektiven Ansatz hat Gore also den Friedensnobelpreis erhalten. Was fällt hier auf? Zum einen, dass jeder allein seinen Lösungsweg durchziehen soll. Zudem konsumiert man so mehr und kurbelt nebenbei auch noch die Wirtschaft an (notfalls auf Pump). Zum anderen aber fällt gerade auf, dass dies überhaupt keine Lösung darstellt. Natürlich sind umweltfreundlichere Kühlschränke begrüßenswert, aber mal ehrlich, reicht dies, um die Erde und die Menschheit vor einer ökologischen Katastrophe zu bewahren? Sicher nicht.
Unkraut wächst schließlich immer wieder nach, es sei denn, man reißt es an der Wurzel raus. Die Wurzel des Übels liegt aber nicht im Kühlschrank, sondern im Kapitalismus höchst selbst. Ein System, dessen wichtigstes Lebensprinzip ist: MEHR Profit, um JEDEN Preis, so kann er nichts und niemanden zu liebe auf Profit verzichten. Auch nicht der Umwelt zuliebe. Sonst geht das eigene Unternehmen noch unter.
Wenn es stimmen würde, dass man rein auf indivudeller Ebene einen echten Fortschritt in Sachen Umweltschutz erzielen könnte, weshalb hat denn dann der gute Mister Gore nicht selbst die Welt erretten können? Schließlich war Gore zwei Legislaturperioden (sprich acht Jahre) lang der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, der Weltmacht Nr.1 und nebenbei bemerkt als Industriemacht einer der Haupterzeuger der Umweltverschutzungen. Der ehemals zweitwichtigste Mann der Erde und beinahe-Präsident - und dennoch keine Kehrtwende in Sachen Umweltschutz? Und nicht nur das. Zum Umweltschutz gehört natürlich auch, dass es keine Kriege mehr gibt. Darum geht es ja zumindest dem Namen nach auch bei der Vergabe des Friedensnobelpreises. Aber siehe da. Gore und seine Regierung zogen seinerzeit in den Balkankrieg. So erhält wieder einmal ein Kriegstreiber einen Friedensnobelpreis.
Aber es ist ja auch bekannt, dass die Vergabe des Friedensnobelpreises stets politisch motiviert ist. In diesem Jahr ist die Botschaft wohl ein Schuss vor den Bug der Bushregierung. Ein europäischer Aasgeier versucht dem amerikanischen ein Auge auszuhaken.
Wem wirklich ernsthaft an Frieden, Menschlichkeit und an einer lebensfähigen Umwelt gelegen ist, der kann unmöglich auf diesen oder irgendeinen von der herrschenden Klasse gekürten Friedensheiligen schauen. Was wir als arbeitende Bevölkerung brauchen, ist Mut und Zuversicht, dass unser Kampf für eine klassenlose Gesellschaft gelingen kann. Erst in einer solchen Welt ohne Krieg, Profitgier und Ausbeutung können Mensch und Natur in Einklang miteinander leben. Es mag verrückt klingen, aber auch die Natur braucht dringend den Klassenkampf und die Weltrevolution, keinesfalls aber diese lahme Friedenstaube von Gore. 7.11.2007
Dies ist der Wortlaut der Rede, die ein Genosse der türkischen Gruppe Enternasyonalist Komünist Sol (Internationalistische Kommunistische Linke) auf dem 17. Internationalen Kongress der Internationalen Kommunistischen Strömung im Mai dieses Jahres zur Situation in der Türkei gehalten hatte. Wir denken, dass wir unseren Lesern die Aussagen dieser Rede nicht vorenthalten dürfen. Dies ist der Wortlaut der Rede, die ein Genosse der türkischen Gruppe Enternasyonalist Komünist Sol (Internationalistische Kommunistische Linke) auf dem 17. Internationalen Kongress der Internationalen Kommunistischen Strömung im Mai dieses Jahres zur Situation in der Türkei gehalten hatte. Wir denken, dass wir unseren Lesern die Aussagen dieser Rede nicht vorenthalten dürfen. Gerade die Äußerungen des Genossen über die imperialistischen Ambitionen der Türkei im Nordirak, haben bis heute nichts an ihrer Richtigkeit und Aktualität eingebüßt, wie der erst in jüngster Zeit erfolgte Aufmarsch von über 100.000 türkischen Soldaten an der Grenze zum Irak zeigt.
In den letzten fünf Monaten passierten etliche Besorgnis erregende Ereignisse in der Türkei. Nach dem Mordanschlag auf Hrant Dink (einem armenischstämmigen Journalisten) im Januar hat es äußerst brutale Angriffe gegen Ausländer, etliche nationalistische Massendemonstrationen, Bombenanschläge wegen des andauernden blutigen Krieges zwischen bewaffneten kurdischen Nationalisten und der türkischen Armee gegeben. Es hat den Anschein, als wird die Lage immer schlimmer. Die letzte Bombe der Bourgeoisie explodierte vor einigen Tagen in Ankara; sie tötete sechs Menschen und verletzte mehr als hundert. Daraufhin rief der Ministerpräsident zur nationalen Einheit gegen den Terrorismus auf, dem sich auch die meisten linksbürgerlichen Organisationen anschlossen.
Die Türkei ist besonders in den Großstädten mittlerweile in eine künstliche Polarisierung zwischen der säkular-bürokratischen Opposition und den Anhängern der liberalen islamistischen Regierung geraten. Die Presseorgane der säkular-bürokratischen Opposition, die sich wichtiger nimmt, als sie tatsächlich ist, setzten die Behauptung in Umlauf, dass das „Regime in Gefahr“ sei, und begannen Massendemonstrationen gegen ihre politischen Gegner zu organisieren. Obwohl die bürgerlichen, säkular-nationalistischen Medien behaupteten, dass es sich hierbei um eine „Basis“-Bewegung handle, war offensichtlich, dass jenen, die demonstrieren gingen, dies auch leicht gemacht wurde und sie die Unterstützung einer starken Fraktion der Bourgeoisie genossen. Der vielleicht bedeutendste Aspekt dieser Demonstrationen waren jedoch die linksnationalistischen Parolen, die skandiert wurden. Was diese Parolen zeigten, ist, dass das Elend der verknöcherten Staatsbourgeoisie durch den Zerfall der alten kemalistischen Staatsideologie verursacht wird. Die Probleme dieser Ideologie beschränken sich nicht auf solche Parolen: Winzige faschistische Sekten, die von Generälen a.D. gegründet wurden, schwören, zu töten und zu sterben, um das Land zu retten; alte linksextremistische Gruppen, die sich offenbar dem Rechtsextremismus zugewandt haben, schreiben Parolen an die Mauern, mit denen zur Invasion des Nordirak und mehr aufgerufen wird; und gelegentlich rufen hochrangige Armeekader zur „Befreiung“ der irakischen Turkmenen auf. Die Armeebürokratie ist noch immer eine der stärksten Mächte in der Türkei. Jedoch ist nicht alles Gold, was glänzt; die Propaganda ist ein Beweis dafür. Niemals zuvor hatte diese Fraktion der Bourgeois eine solch massive Propaganda machen müssen, um sich den Anschein zu geben, als erhielte sie massive Unterstützung. Auch wenn es ihr gelang, Hunderttausende dazu zu bringen, durch die Straßen zu marschieren, so handelt es sich hier um einen Akt der Verzweiflung. Je verzweifelter die Bourgeoisie ist, desto bösartiger wird sie.
Was den anderen Flügel der Bourgeoisie anbelangt, so scheint auch er große Probleme zu haben. Als die Regierung von Tayyip Erdoğan mit der Unterstützung der Hauptfraktion der kapitalistischen Klasse gewählt worden war, bestand die Absicht, den alten Traum zu verwirklichen, eine Brücke nach Europa für das Öl von Baku zu bilden, um so der Europäischen Union beitreten zu können. Noch bis vor kurzem hatte es den Anschein, als habe der Traum eine Chance auf Verwirklichung; doch anders als Russland, dem es gelang, wovon die Türkei träumte, wurden die imperialistischen Ambitionen der Türkei inzwischen größtenteils zerstört. Die Möglichkeit, der Europäischen Union beizutreten, schwindet. Obwohl Erdoğans Regierung noch immer sehr stark ist, erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass sie auch nach den kommenden Wahlen noch so stark sein wird wie heute. Erdoğans Regierung schien kein Interesse daran zu haben, den Irak zu betreten, als sie von den Vereinigten Staaten dazu eingeladen wurde. Sie wollte durchaus imperialistische Interessen im Nordirak verfolgen, doch sie wollte nicht dorthin gehen, wo es die Vereinigten Staaten wünschten - und dies war damals sicherlich nicht der Nordirak. Es ist auch wichtig zu bemerken, dass die sozialen Bedingungen angesichts der massiven Antikriegswelle sich damals nicht wirklich für eine massenhafte Kriegsmobilisierung eigneten. Doch nun werden Hunderttausende für den Nationalismus mobilisiert und von antikurdischen Ressentiments aufgestachelt. Es stellt sich hier die Frage, ob die Invasion des Nordirak der Fantasie winziger faschistischer Sekten entsprungen ist oder eine tatsächliche Option ist. Wird der amerikanische Imperialismus den türkischen Imperialismus gegenüber den bürgerlichen kurdischen Fraktionen vorziehen, denen es nicht gelang, das Gebiet zu kontrollieren? Könnte die türkische Bourgeoisie ihre imperialistischen Ambitionen auf die Kontrolle des Erdöls im Nordirak richten? Ein neuer imperialistischer Krieg im Mittleren Osten könnte früher als erwartet ausbrechen. Die wichtigsten Fernsehsender in der Türkei, einschließlich des berüchtigten Fox Television Network, der erst kürzlich seinen Sendebetrieb in der Türkei aufgenommen hat, haben bereits mit der Debatte begonnen, ob die Türkei in den Nordirak eindringen soll oder nicht. Obwohl die Linksextremisten in der Türkei eifrig dabei sind, unabhängige Kandidaten für die kommenden Wahlen aufzustellen, um die bürgerliche Versammlung in einen herzlichen und freudvollen Ort zu verwandeln, könnten die Wahlen mit der Bildung eines Kriegskabinetts enden, das die Unterstützung jener erhält, die für die Verteidigung des Säkularismus und Kemalismus mobilisiert worden waren. Es ist eine Möglichkeit: vielleicht nicht die wahrscheinlichste, aber doch eine bedeutende und gefährliche Möglichkeit. Was diese Möglichkeit zeigt, ist die Mentalität der Bourgeoisie in Bezug auf imperialistische Kriege. Im dekadenten Kapitalismus werden imperialistische Kriege der Kriegsführung wegen geführt.
1974, als die türkische Armee in Zypern einmarschierte, schickten Armeekommandeure Panzer und Soldaten an die Grenze zu Griechenland. Wäre es möglich gewesen, hätten sie nicht gezögert, einen blutigen Krieg mit Griechenland anzuzetteln. Heute werden sie, wenn es die Bedingungen ermöglichen, den Nordirak anzugreifen und die endlosen Konflikte, die Zerstörungen, die Gewalt und das Leid ignorieren, die dies mit sich bringen würde. Die Bourgeoisie in der Türkei hat ernste Probleme: Es gibt schwere Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, der Sozialstaat ist im Rückzug begriffen, das alte bürgerliche Konzept vom Staatsbürgertum zerbröselt, die türkische Bourgeoisie ist hinsichtlich ihrer Beziehungen zur kurdischen Bourgeoisie gescheitert, und die alten politischen und ideologischen Strukturen des Kemalismus, die das Fundament des türkischen Regimes bilden, erweisen sich als zu belastend für die Bourgeoisie. Und doch bedeutet die Zerstörung jener alten Strukturen das gesamte Regime aufs Spiel zu setzen, da die politische Rechtfertigung des bürgerlichen Regimes auf dem Kemalismus beruht. Die türkische Bourgeoisie wandelt auf dünnem Eis. Die einzige Lösung, die sie gegenüber ihren Problemen anbieten kann, ist ein neuer imperialistischer Krieg. Wenn dies heute nicht im Nordirak passiert, wird es morgen vielleicht anderswo passieren: Doch es wird passieren. Wie das Manifest der Kommunistischen Linken an die Arbeiter Europas, im Juni 1944 von der Gauche Communiste de France verfasst, erklärte: „Solange es Ausbeuter und Ausgebeutete gibt, ist der Kapitalismus Krieg und der Krieg Kapitalismus.“ Und wenn wir all die vielen endlosen lokalen Kriege, die Explosionen in den Städten, die brutalen Morde auf der Welt betrachten, sehen wir deutlich, dass der Kapitalismus die Menschheit in die Barbarei führt.
Dies führt zur Frage der Lage des Proletariats in der Türkei. Nach der Niederlage der massiven Welle proletarischer Kämpfe in der Türkei, die 1989 mit den Streiks der öffentlichen Bediensteten begann und sich schnell auf gewerkschaftliche und nicht gewerkschaftliche ArbeiterInnen in den privaten Sektoren ausbreitete, zur Bildung von unabhängigen Fabrikkomitees führte und 1995, nach der Besetzung des Kizilay-Platzes in Ankaras, wo sich die Verwaltungszentren der türkischen Regierung befinden, durch Arbeiter des Öffentlichen Dienstes endete, gelang es den Gewerkschaften, einen sehr großen Einfluss auf das Proletariat zu erringen. In den letzten Jahren gab es ein bemerkenswertes Wachstum in der Zahl von Klassenkämpfen. Besonders in den letzten Monaten gab es etliche ziemlich große Arbeiterdemonstrationen, eine erhebliche Welle von Fabrikbesetzungen und zahllose Streiks in einer ganzen Reihe von Industriezweigen. Jedoch gelang es in nahezu keinem dieser Kämpfe, einen bedeutenden Erfolg zu erlangen, was zumeist auf die Tatsache zurückzuführen war, dass jene Kämpfe – auch wenn sie zahlreich waren – sich auf einzelne Sektoren oder gar einzelne Arbeitsplätze beschränkten und sich nicht ausweiteten. Da es keinen vereinten Kampf gab, hatte die Bourgeoisie keine große Mühe, die kämpfende Arbeiterklasse zu besiegen. Es ist auch wichtig zu bemerken, dass die meisten jener Kämpfe aktiv von den Gewerkschaften sabotiert wurden; beispielsweise bestand während einer Fabrikbesetzung die Methode der Gewerkschaft, um die Arbeiter zum Einlenken zu zwingen, darin, ihnen eine türkische Flagge auszuhändigen, um sie über das Fabriktor aufzuspannen. In der Tat machten Arbeiter in den meisten dieser Kämpfe ihren Unmut über die Gewerkschaften kund. Tatsächlich beteiligen sich die Gewerkschaften in der Türkei zwar nicht aktiv an der Sabotierung des Kampfgeistes der Arbeiter durch die türkische Bourgeoisie, aber sie spielen eine aktive Rolle bei der Mobilisierung des Proletariats für die nationalistische Sache. Selbst linksextreme Gewerkschaften beteiligten sich aktiv dabei, die Arbeiter in den säkularistischen Demonstrationen hinter einer Abteilung der Bourgeoisie aufzustellen.
Die Rolle der Gewerkschaften wurde noch sichtbarer während der letzten 1.Mai-Demonstration in Istanbul. Die wichtigste linksnationalistische Gewerkschaft hatte erklärt, dass sie den Mai-Feiertag in einer „verbotenen“ Zone in Istanbul, auf dem Taksim-Platz, begehen wollte, da sich dieses Jahr der berüchtigte Blutige 1.Mai zum dreißigsten Mal jährte. Damals hatten sich fast eine Million Demonstranten auf dem Taksim-Platz versammelt und waren von unbekannten Schützen aus zwei Gebäuden und einem Auto nahebei unter Feuer genommen worden. Der Istanbuler Bürgermeister, der wegen seiner Sympathien für Erdoğans Partei bekannt ist, war entschlossen, solch eine Demonstration zu verbieten; jedoch hatten etliche linksextremistische Gruppierungen und Parteien bereits erklärt, dass sie sich der Gewerkschaft auf dieser Demonstration anschließen würden. Bald darauf geriet dieses Ereignis aus der Kontrolle der Gewerkschaft und der linksextremistischen Gruppierungen. Der diesjährige 1.Mai in Istanbul war ziemlich brutal: Die Istanbuler Stadtregierung hatte die Polizei angewiesen, kompromisslos einzuschreiten, was diese auch tat. Wo immer sich ArbeiterInnen versammelten, um den Taksim-Platz zu betreten, wurden sie von der Polizei angegriffen. Viele von ihnen wurden zusammengeschlagen, rund eintausend wurden festgenommen, und eine alte Person starb in ihrer Wohnung infolge des Tränengases, mit dem die Polizei um sich warf. Während die rechtsbürgerlichen Medien die Polizisten als Helden darstellten, gaben die liberalen Nationalisten und die Linksextremisten dem Bürgermeister die Schuld an den Verkehrsproblemen, die auftraten, und die Gewerkschaftsführer, denen es von der Polizei gestattet wurde, den Platz zu betreten, und die ihn sogleich wieder verließen, um später vor den Fernsehkameras ihren Sieg zu erklären, wurden als Helden gefeiert. Jedoch hatten die Gewerkschaften erwartungsgemäß nichts zum Klassenkampf beigetragen. Auch wenn die einfache Androhung eines eintägigen Streiks ausgereicht hätte, um viele davor zu bewahren, zusammengeschlagen oder festgenommen zu werden, bewiesen die Gewerkschaften einmal mehr, dass sie der Arbeiterklasse nichts zu geben haben. Stattdessen nannte die Gewerkschaft diesen 1.Mai einen Kampf für die Demokratie, und die Gewerkschaftsführer gingen gar so weit, die Polizeiattacken gegen das Proletariat als die Rache gegen die jüngsten säkular-nationalistischen Demonstrationen darzustellen.
Wenn wir die Lage des Proletariats in der Türkei betrachten, sehen wir, dass das Proletariat unter sehr schlechten Bedingungen lebt. Die Bedingungen des Industrie- und Landproletariats sind in einigen Teilen der Türkei unvorstellbar. Große Teile der Akademiker, selbst Ärzte und Ingenieure, sind stark proletarisiert und äußerst ausgebeutet, wenn sie denn einen Job haben. Es gibt eine massive Arbeitslosigkeit, besonders unter jungen Menschen, und mit dem Zerfall der Staatsideologie sowie in Ermangelung einer starken kommunistischen Stimme werden die meisten Arbeitslosen in bürgerliche Ideologien wie den Islamismus, Nationalismus und die nationale Befreiung hineingezogen. Es gibt sehr kämpferische Teile der Arbeiterklasse, doch die Vorherrschaft der Gewerkschaften und der Einfluss bürgerlicher Ideologien auf die ArbeiterInnen hindern dieselben an einer Vereinigung auf Klassengrundlage. Die einzige Lösung der Probleme des Proletariats, das einzige Heilmittel gegen die Bedrohung des proletarischen Kampfes durch bürgerliche Ideologien ist der proletarische Internationalismus und die internationale Klassensolidarität.
Die Bourgeoisie führt das Proletariat zu noch mehr Leid, zu noch mehr Elend und noch mehr Toten. Der Kommunismus ist die einzige realistische Alternative zum Versinken in die Barbarei. Unter diesen Umständen denken wir, dass es äußerst wichtig für die verschiedenen proletarischen Gruppierungen ist, sich in regelmäßigen Diskussionen und in internationaler Solidarität zu üben.
Dieser Text wurde auch veröffentlicht auf: en.internationalism.org/forum [4] und auf Libcom.
EKS
Juli 2007
Wir veröffentlichen im Folgenden ein Flugblatt, dass die Freunde und Freundinnen der klassenlosen Gesellschaft vor rund einem Jahr anlässlich des Streiks der Beschäftigten der Bosch-Siemens Haushaltsgeräte (BSH) in Berlin herausgegeben haben. Wir stimmen den in dieser Flugschrift geäußerten Aussagen hinsichtlich der Rolle der Gewerkschaften – hier der IG Metall – und der Notwendigkeit einer Ausweitung des Kampfes im Wesentlichen zu. Wir denken ferner, dass der Kampf der ArbeiterInnen der BSH eine viel größere Öffentlichkeit verdient hat, als ihm die bürgerlichen Medien eingeräumt haben, die naturgemäß kein Interesse daran haben konnten, seinem Anliegen mehr Gehör zu verschaffen. In diesem Sinne begrüßen wir, dass die Genossen und Genossinen dieser Gruppe sich darum bemüht haben, ihre Stimme gegen die Ignoranz der bürgerlichen Medien zu erheben und auf die Bedeutung dieses Kampfes hinzuweisen. Dieser Kampf war in der Tat eine wichtige Episode im Kampf unserer Klasse, da die Beschäftigten der BSH wichtige Erfahrungen gesammelt haben, die unbedingt weiteren Kreisen der Arbeiterklasse selbst ein Jahr danach zugänglich gemacht werden sollten.
Tatsache ist: Die deutsche Disziplin und Ruhe könnten trügerisch sein. Eine neue RAF… ist nicht in Sicht. Aber wenn irgendwo 200 empörte Arbeiter, die entlassen werden sollen, obwohl der Konzern insgesamt schwarze Zahlen schreibt, alles kurz und klein schlagen, kann ein einziger Gewaltausbruch dieser Art einen Flächenbrand auslösen, wie einst der unpolitische Mordversuch an Rudi Dutschke zu Ostern 1968.
Peter Glotz (SPD), Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.5.2005
Trotz einiger Kämpfe gegen Massenentlassungen und Betriebsschließungen, beispielsweise bei Opel Bochum, AEG Nürnberg und dem Berliner Baumaschinenwerk CNH, kam es bisher nicht zu dem von Peter Glotz befürchteten Flächenbrand. Die verschiedenen Streiks und Auseinandersetzungen, die in den letzten Jahren stattfanden, blieben weitestgehend isoliert voneinander. Auch der Kampf bei Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH) Berlin im Herbst 2006, der sich gegen die geplante Schließung des Produktionsstandorts richtete, war kein Startschuss für eine breitere Bewegung. Im Gegensatz zu anderen Auseinandersetzungen suchten die BSH-Arbeiter jedoch den Zusammenschluss mit anderen Beschäftigten und probten den Aufstand gegen die Gewerkschaft. Dennoch gelang es ihnen nicht, dem Unternehmen ihren Willen aufzuzwingen und den Erhalt aller Arbeitsplätze durchzusetzen. Auf ihrem Solidaritätsmarsch durch die Bundesrepublik traten sie in direkten Kontakt mit anderen Arbeitern und entwickelten im Laufe dieser Reise durch die ihnen entgegengebrachte Solidarität ein Gefühl der eigenen Stärke. Sie lehnten den von der IG Metall ausgehandelten und als Sieg verkauften Kompromiss mit einer satten Zweidrittelmehrheit ab und äußerten lautstark ihren Unmut über dieses Ergebnis. Dennoch fügten sie sich letztendlich der Aufforderung zur Beendigung aller Kampfmaßnahmen, denn die Enttäuschung über die Verhandlungsführer führte nur zu Frustration, Wut und Resignation. So schafften die Streikenden es nicht, sich aus der gewerkschaftlichen Gängelung zu befreien und das weitere Vorgehen selbst zu bestimmen.
Nachdem zwei Wochen lang täglich Betriebsversammlungen durchgeführt wurden und die Produktion still stand, entschloss sich die Gewerkschaft Ende September zu einem offenen Streik gegen die drohende Betriebsschließung zum Jahresende. Es folgte das übliche Ritual: Tische und Stühle wurden aufgestellt, IG Metall-Fähnchen in den Boden gesteckt, beschriftete Müllsäcke über den Kopf gezogen, das Firmenlogo mit der obligatorischen Botschaft („Dieser Betrieb wird bestreikt“) geschmückt und nicht sonderlich originelle Transparente mit Aufschriften wie „Wir wollen arbeiten“ und „Siemens entlässt seine besten Kinder“ aufgehangen. Ganz im sozialpartnerschaftlichen Sinne war sich die IG Metall mit der Unternehmensleitung schon im Voraus einig, ihren Beitrag zu der geplanten „Kostensenkung“ im Umfang von 8,5 Millionen Euro leisten zu wollen – nur über das Wie herrschte Uneinigkeit.Hier und da wurde zwar über den angebotenen Lohnverzicht gemurrt, aber wenn man die Beschäftigten in jenen Tagen fragte, wie es denn weitergehen solle und welche Aktionen geplant seien, verwiesen sie achselzuckend auf ihre Anführer. Es machte den Anschein, als hätten die Arbeiter den Lohn des Betriebs gegen den Scheck der Gewerkschaft getauscht, die Anweisungen des Vorarbeiters gegen jene der Funktionäre und die monotone Beschäftigung im Werk gegen das gelangweilte Herumsitzen außerhalb.So plätscherte der Streik vor sich hin, weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Es folgten ein paar kleinere Aktionen, eine Demonstration durch Siemensstadt und ein Solidaritätsfest auf dem Betriebsgelände. Einige Politiker ließen sich sehen und bekundeten ihre Solidarität – die Beschäftigten dankten es ihnen mit Applaus. Von Selbsttätigkeit und Leidenschaft war, zumindest auf dem Werksgelände, wenig zu spüren und so könnte man diesen Streik in eine Reihe von Abwehrkämpfen stellen, wie sie selbst in diesem beschissenen Land in letzter Zeit des öfteren aufflammten, z. B. bei der AEG Nürnberg oder dem Berliner Baumaschinenwerk CNH.
Der Streik nahm jedoch eine andere Entwicklung, als man es in diesen Tagen vermutet hätte – ausgehend von einer Idee des Kampfes, der über die Grenze des eigenen Betriebes hinausgehen sollte. Während in Berlin weiter die Toreinfahrten bewacht wurden, um einen möglichen Abtransport der Maschinen zu verhindern, machten sich etwa 50 Arbeiter auf, um andere Produktionsstandorte in ganz Deutschland zu besuchen. Auf dem so genannten Marsch der Solidarität besuchten sie verschiedene Betriebe, diskutierten mit anderen Lohnabhängigen über ihre Situation und verteilten Flugblätter in den jeweiligen Fußgängerzonen. Sie warben um Solidarität mit dem Ziel, zusammen mit möglichst vielen Arbeiterinnen aus den verschiedensten Fabriken vor der Siemenszentrale in München mit einer Großkundgebung ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.In Nauen blockierten sie einen Tag lang das dort ansässige BSH-Werk, in Kamp Lintfort schlossen sie sich mit den Beschäftigten der ehemaligen Siemens-Mobiltelefonsparte BenQ zusammen und demonstrierten durch den Ort, begleitet von der städtischen Feuerwehr, den ortsansässigen Stahlkochern und weiten Teilen der Bevölkerung. Doch nicht nur Betriebe des Siemens-Konzerns waren das Ziel, auch den Beschäftigten von Miele statteten sie einen Besuch ab und leisteten dadurch einen Beitrag, der Konkurrenz unter den Arbeitern praktisch entgegen zu wirken. Eine weitere positive Erfahrung machten sie bei AEG Nürnberg, wo ein großer Teil der dort Beschäftigten seine Arbeit unterbrach, um mit den Berliner Streikenden zu diskutieren.Durch die ihnen entgegengebrachte Solidarität entwickelte sich allmählich Vertrauen in die eigene Macht. Verteilten sie anfänglich noch Flugblätter, die ihnen die Gewerkschaft mit auf den Weg gab, schrieben sie später ihre eigenen mit selbst aufgestellten Forderungen. Sie traten immer selbstbewusster auf, und, gestärkt durch die Zusage vieler anderer Arbeiter auch nach München kommen zu wollen, diskutierten sie auch andere von kämpfenden Arbeitern gemachte Erfahrungen jenseits des Legalismus wie z. B. Bahnhofs- und Autobahnbesetzungen. Das Neue gegenüber vergleichbaren Streiks in den letzten Jahren bestand nicht darin, dass die Ziele radikaler gewesen wären. Genau wie bei Opel oder AEG waren die Arbeiter von BSH in der Defensive. Das Neue lag in der Tatsache, dass sie sich nicht einfach in ihrem Werk verbunkert, sondern den ersten und unverzichtbaren Schritt für jede Bewegung von Lohnabhängigen gegen das Kapital gemacht haben: Sie suchten den Kontakt zu anderen Arbeitern, selbst zu Arbeitern von Konkurrenzbetrieben. Und sie haben begonnen, Selbsttätigkeit zu entwickeln.
Eben das missfiel nicht nur der Unternehmensleitung, sondern auch der Gewerkschaft. Einerseits brauchen Gewerkschaften eine auch mal grollende Basis, mit der sie Unternehmern und Regierung drohen können. Andererseits haben sie vor nichts so viel Angst wie vor eben der „Aufkündigung des sozialen Friedens“, von der sie immer reden, wenn sie ihre Verhandlungsposition verbessern wollen. Wenig verwunderlich daher, dass die IG Metall der sich entwickelnden Dynamik des Solidaritätsmarsches in einer Nacht- und Nebelaktion ein jähes Ende bereitete – genau einen Tag vor dem erwarteten Höhepunkt: der Großkundgebung vor der Siemens-Zentrale in München. Die Verhandlungsführer unterzeichneten einen „Kompromiss“ ganz nach Geschmack der Unternehmensleitung und teilten diesen schon der Öffentlichkeit in einer Pressemeldung mit, bevor die davon betroffene Belegschaft im Ganzen auch nur informiert worden war: 216 Entlassungen, Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, Wegfall der Schichtzulage, Streichung der Jahreszulage, Kürzungen bei der Urlaubsvergütung und den Sonderzahlungen. Die Gegenleistung: Eine unverbindliche Absichtserklärung, das Werk in Spandau bis 2010 zu erhalten. Die Kundgebung wurde abgeblasen, die Arbeiter, die bereits in Bussen auf dem Weg nach München waren, wurden kurzerhand zurückgerufen, nachdem sie wochenlang durchs Land gezogen waren und Solidarität mit ihrem Streik eingefordert hatten. „Wir sind von der IG-Metall, der wir zu hundert Prozent vertraut haben, vollkommen benutzt und verarscht worden“, so ein BSH-Arbeiter (siehe das nachstehende Interview).
Wie sehr es bei dem Deal darum ging, die durch den Streik entstandene Unruhe und Bewegung so schnell wie möglich zu beenden, wurde bei der Präsentation des Verhandlungsergebnisses deutlich: Ein Punkt in der Einigung zwischen Siemens und IG Metall lautete, dass es keine Kundgebungen und Demonstrationen außerhalb Berlins mehr geben dürfe. Ob ein solcher Knebelvertrag überhaupt legal ist, mögen die Rechtsgelehrten entscheiden und tut hier nichts zur Sache. Die BSH-Belegschaft jedenfalls traute ihren Ohren nicht, als die Einigung vorgetragen wurde, erhob sich von den Bänken und forderte in einer öffentlichen Abstimmung die Fortführung des Streiks. Wutentbrannt verließen die Arbeiterinnen das Streikzelt und beschimpften die Verhandlungsführer als Streikbrecher. Bei der Urabstimmung fiel das miserable Verhandlungsergebnis dann auch durch: Zwei Drittel der Belegschaft votierten dagegen, ein Drittel dafür. Doch das deutsche Streikrecht ist eine ausgeklügelte Technik des sozialen Friedens: Während ein Streik nur mit 75 Prozent Zustimmung begonnen werden darf, reichen 25 Prozent Zustimmung, um ihn zu beenden. Die Mehrheit der Arbeiter war gegen das Ende des Streiks, aber juristisch betrachtet hatten IG Metall und Unternehmensleitung ihr Ziel erreicht. Für kurze Zeit schien alles möglich, zwischen den Arbeiterinnen und ihren Repräsentanten hatte sich eine Kluft aufgetan, die nur mühsam wieder geschlossen werden konnte.Nach zwei Tagen Ungewissheit wurde der Streik auf einer Versammlung endgültig begraben. Der Betriebsratsvorsitzende Güngor Demirici machte den verständnisvollen demokratischen Moderator; er hatte offensichtlich die Hosen voll und erklärte vor etwa 200 Arbeiterinnen und Arbeitern gebetsmühlenartig, jetzt könne man ja „miteinander reden“. Und tatsächlich: Er redete wie ein Wasserfall – nur die Gegner des Streikabbruchs blieben stumm, abgesehen von einigen Zwischenrufen. Die Versammlung wurde beendet und der Streik war erledigt. Wilde Streiks und Fabrikbesetzungen sind in Deutschland ungewöhnlich und nicht unriskant. Es wäre dreist, den BSH-Arbeitern vorzuhalten, dass sie diesen Schritt nicht gemacht haben – zumal wenn man selbst nur Unterstützer des Streiks ist, der nichts riskiert. Aber es war bitter zu sehen, wie eine Belegschaft, die sich noch kurz zuvor gegen die Gewerkschaft aufgelehnt hatte, plötzlich, als es ernst wurde, ratlos und sprachlos da stand. Der kurze Moment des Aufruhrs war verstrichen und die Macht des Gewerkschaftsapparates und die Angst vor dem Existenzverlust erdrückten alles Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Das Ende des Streiks bei BSH hat wieder einmal gezeigt, dass die Drohung der Produktionsverlagerung ein wirksames Mittel ist, um Lohnkosten zu senken und Kündigungen in großem Umfang durchzusetzen. Die sich zur Wehr setzenden Arbeiterinnen und Arbeiter sind in der Defensive, und sogar die traditionellen gewerkschaftlichen Forderungen nach Lohnerhöhung oder besseren Arbeitsbedingungen bleiben in der allgemeinen Stimmung des Durchpeitschens sozialer Angriffe immer öfter auf der Strecke. Die Ausgangslage für Arbeitskämpfe scheint sich verschlechtert zu haben, und die Gewerkschaften geben sich mittlerweile meist schon mit dem bloßen Standorterhalt zufrieden. Entsprechend feiert die IG Metall den ausgehandelten Kompromiss bei BSH als einen Sieg: „Wichtigstes Ziel erreicht: Arbeit und Produktion bleiben erhalten!“ Die BSH-Arbeiter fühlen sich zu Recht verarscht, denn ihnen ging es um den Erhalt aller Arbeitsplätze, und die Gewerkschaft hat den Kampf genau in dem Moment sabotiert, als er an Schwung gewann. Keine Frage: Solche Streiks gegen Betriebsschließungen stellen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht in Frage. Aber sie beschneiden die Freiheit des Kapitals, nach Belieben hier ein Werk dicht und dort eines mit billigeren Arbeitern aufzumachen. Moralische Empörung darüber ist lächerlich. Das Kapital kennt keine andere Logik als die, aus einem Euro zwei zu machen. Es lebt von der Konkurrenz unter den Arbeitern. Mit dem Marsch der Solidarität hat die BSH-Belegschaft begonnen, diese Konkurrenz zu überwinden. Wenn die Arbeiterinnen anfangen sich auszutauschen und feststellen, dass alle in der gleichen Situation stecken, sie ständig damit bedroht sind, ausrangiert und auf Hartz IV gesetzt zu werden, dann ist immerhin ein Anfang gemacht. Aber es kann nicht um eine Bewegung für den Erhalt von Arbeitsplätzen gehen. Die ständige Unsicherheit und die Erpressung durch die Unternehmen sind zwingende Folgen des Lohnsystems, also einer Gesellschaft, in der wir unsere knappe Lebenszeit verkaufen müssen, um überleben zu können. In der wir nicht darüber bestimmen können, was und wie produziert wird. In der Arbeiter darum kämpfen, weiterhin 40 Stunden die Woche in einer beschissenen Fabrik arbeiten zu dürfen, weil ihnen andernfalls der soziale Abstieg droht. Aus diesem Elend könnte nur eine Bewegung für die Vergesellschaftung der Produktion herausführen, die mit der Lohnarbeit Schluss macht. Nur dann wäre die weltweit steigende Produktivität auch nicht länger eine Bedrohung, die Angst um die eigene Existenz auslöst, sondern die Grundlage für ein von der Schufterei befreites Leben. Die Abschaffung der Lohnarbeit ist nichts, was sich eine einzelne Belegschaft auf die Fahnen schreiben könnte. Sie wird erst zur praktischen Möglichkeit, wenn die soziale Krise eine breite Bewegung auf den Plan ruft. Der Kampf der BSH-Arbeiter hätte der Anfang einer solchen Bewegung werden können. Mit ihrer Sabotage des Streiks hat die Gewerkschaft in aller Deutlichkeit gezeigt, dass sie daran kein Interesse hat. Zukünftige Auseinandersetzungen werden sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob die Arbeiterinnen und Arbeiter die Konsequenzen daraus ziehen und ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen. freundinnen und freunde der klassenlosen gesellschaft, Dezember 2006
Wie ist nach dem Streik die Stimmung im Werk? Vergiftet und demoralisiert. Es besteht allgemein Wut auf den Gesamtbetriebsrat und die IG Metall. Die Kolleginnen und Kollegen fühlen sich von der Gewerkschaft verraten. Ich persönlich vermeide heute den Kontakt zum Betriebsrat, mit einer Ausnahme. Auch mit den Kollegen, die sich als Streikbrecher entpuppt haben, will ich keinen Kontakt haben. Vierzehn Tage vor Beginn des Streiks ist noch eine erstaunlich hohe Anzahl von Kollegen in die IG Metall eingetreten. Die haben teilweise ein höheres Streikgeld bekommen als Leute die seit über 20 Jahren einbezahlt haben, da sie einen höheren Monatssatz abdrückten. Für die Zukunft müsste man sich überlegen, ob man es zulässt, dass kurzfristig Leute in die Gewerkschaft eintreten. Außerdem waren das vor allem Leute, die sich an den vorherigen Auseinandersetzungen nie beteiligt und auch sonst sehr unsolidarisch verhalten haben. Meine Vermutung ist, dass ihnen unter der Hand ein Angebot der Übernahme unterbreitet wurde, was dazu geführt hat, dass besonders diese Gruppe von Kolleginnen und Kollegen bei der Urabstimmung für die Beendigung des Streiks gestimmt und dies auch öffentlich erklärt hat. Ich persönlich möchte mit diesen Leuten nichts zu tun haben, weil ich der Meinung bin, dass man mit Streikbrechern und Mobbern keine Diskussionen führen sollte.
Diskutiert ihr gemeinsam über eure Zukunft oder regelt das jeder für sich alleine? Und gibt es Tendenzen im Werk, sich die Abfindung zu schnappen und damit endlich eine Möglichkeit zu haben, dem grauen Fabrikalltag zu entfliehen?
Die Auseinandersetzung um die Abfindungen und die Zukunft der Kollegen ist keine berufliche, sondern eine existenzielle Frage. Die meisten Kollegen wollen kündigen und sich mit einer guten Abfindung aus dem Werk verabschieden. Denn ein Großteil der Leute sieht für sich keine Zukunft mehr bei BSH Berlin. Neue Investitionen in das Werk sind nicht vorgesehen, dafür gehen viele Aufträge an das Werk in Nauen, nach Polen und in die Türkei. Es ist momentan noch total unklar, wer gekündigt und wer übernommen werden soll. Der Krankenstand im Berliner Werk ist dementsprechend hoch. Die Kollegen haben keine Energie mehr für einen erneuten Arbeitskampf. Deshalb wird es wahrscheinlich viel mehr Kollegen geben, die freiwillig kündigen wollen, als im Verhandlungsergebnis vereinbart wurde. Ich schätze die Zahl auf etwa 400 Leute, aber es soll ja nur für 216 Kollegen aus dem Siemens-Fonds eine Abfindung gezahlt werden. In diesem Fonds sind 23 bis 25 Millionen Euro, pro Person macht das eine Abfindungssumme von etwa 90.000 Euro brutto – verdammt wenig für Leute die teilweise 20 oder 25 Jahre hier arbeiten! Es ist übrigens kaum bekannt, dass Siemens die Abfindungen nicht allein aus eigener Tasche bezahlt, sondern dafür durch das deutsche Steuerabschreibungsrecht auch staatlich bezuschusst wird. Einerseits wollen die Leute gehen, andererseits haben sie aber auch Angst davor, da das Geld wahrscheinlich nicht reichen wird. Diese Entwicklung ist brisant und kann zu einem neuen Konflikt nach der Verkündigung des Ergebnisses der Sozialtarifverhandlungen führen. Versucht die Konzernzentrale, oder auch die Gewerkschaft, unliebsame Kollegen auszusortieren?Ich persönlich rechne damit gekündigt zu werden. Es ist ziemlich sicher, dass die Personalabteilung eine so genannte Schwarze Liste mit unliebsamen Kolleginnen und Kollegen führt, die sich schon vor oder während des Streiks engagiert und gestört haben.
Täuschte unser Eindruck, dass die Belegschaft stark nach Nationalitäten und Geschlecht gespalten ist? Und wurden diese Trennungen während des Streiks aufgebrochen?
Bis zum Streik gab es sehr strikte Trennungen zwischen den verschiedenen Gruppen. Dabei spielten hohe Sprachbarrieren eine große Rolle, besonders bei den asiatischen und türkischen Kolleginnen und Kollegen. Vor allem zum vorwiegend aus türkischen Kollegen zusammengesetzten Betriebsrat blieben die anderen Nationalitätengruppen auf Distanz, da dieser nur seine eigenen Leute informierte. Die Konzernführung übte in der Vergangenheit systematisch Druck auf die verschiedenen Gruppen – vor allem auf die Frauen – aus und hat gezielt Gerüchte gestreut und damit die Unterteilung in ethnische Gruppen gestützt. Die türkischen Frauen wendeten sich ab, sobald ein Deutscher in ihre Nähe kam. Während des Streiks hat sich die Beziehung allerdings sehr verbessert, es gab viele persönliche Gespräche und gegenseitige Unterstützung. Vor allem beim Solidaritäts-Marsch spielten ethnische Zugehörigkeiten keine Rolle mehr. Am Streik, wie auch an einer spontanen Demo, haben sich türkische Frauen stark beteiligt. Der Druck gegenüber Frauen im Werk ist stark und sie sind in den letzten Jahren massiv zusammengestrichen worden, aber die Streikbereitschaft der Verbliebenen war sehr hoch.
Habt ihr euch nach Ausbruch des Streiks neu zusammengefunden oder liefen die Diskussionen weitestgehend in den schon vorher vorhandenen Grüppchen ab?
Meine persönlichen Kontakte zu anderen Kolleginnen und Kollegen haben sich seit dem Streik vermehrt, es werden auch mehr persönliche Gespräche geführt. Es kommen viele Kollegen mit ihren Problemen zu mir, auch türkische, polnische, afrikanische und vietnamesische. Es handelt sich dabei aber eher um individuelle Kontakte, es haben sich meines Wissens keine neuen Gruppen gebildet. Die Kommunikation lief und läuft dabei mehr über meine Person als untereinander ab. Meine guten Kontakte haben vor dem Streik dazu geführt, dass der Betriebsrat versucht hat, mich in die Streikvorbereitungen einzubinden und als Vermittler zwischen ihm und der Belegschaft einzusetzen, nachdem er es bis zum letzten Moment unterlassen hat, die Kostensenkungs- und Standortschließungspläne der Unternehmensleitung der Belegschaft mitzuteilen. Der Betriebsrat war eigentlich ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen und hatte in der Vergangenheit bereits versucht, mir ein Redeverbot auf den Vollversammlungen zu erteilen.
Was ist auf den über zwei Wochen dauernden Betriebsversammlungen passiert?Zunächst fanden Informationsveranstaltungen statt. Zum Beispiel hat jemand vom Finanzamt erklärt, dass ein Drittel der Abfindung an den Staat geht und man dies Geld zusätzlich einfordern muss. Als nächstes kam jemand von einem Schöneberger Stadtteil-Laden und hat uns über Hartz IV informiert, zum Beispiel darüber, dass unsere Abfindung zu 60 Prozent aufgebraucht sein muss, bevor wir ein Anrecht auf ALG II haben. Diese Informationsveranstaltung war der Wendepunkt. In diesem Moment haben alle realisiert, was ihnen blüht, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Alle waren bestürzt, und man hätte eine Nadel fallen hören können, nachdem der Referent seinen Vortrag beendet hatte. Eine Kollegin musste sich übergeben und Kerlen standen die Tränen in den Augen. Den meisten war nun klar geworden, dass sie für ihren Job kämpfen müssen. Und das wurde dann auch in der anschließenden Debatte so diskutiert. Es gab zwar auf den Betriebsversammlungen eine breite Redebeteiligung, auch von den Frauen, aber erst nach dem Hartz IV-Vortrag wurde so etwas wie Kampfgeist unter den Kollegen deutlich, den die IG Metall ja auch unterstützt hat. Bis zum Verhandlungsabschluss nach dem Streik hatten die Kollegen u. a. deshalb auch hundertprozentiges Vertrauen zur Gewerkschaft!Es war auf den Betriebsversammlungen auch klar, dass die Unternehmensleitung über ein Mikrofon zuhört, das in der Mitte des Raumes an der Decke hing. Mit der Behauptung, zu Beginn des Streikes anonyme Drohbriefe bekommen zu haben, versuchte die Unternehmensleitung die Belegschaft zu kriminalisieren und kam sogar mit Leuten vom Wachschutz in die Versammlung. Das machte aber überhaupt keinen guten Eindruck auf die Kollegen, die den Abzug des Wachschutzes durchsetzten. Die Unternehmensleitung hat sich dann auch nicht mehr blicken lassen, aber es war klar: Wir lassen uns nicht kriminalisieren! Und deshalb konnten die ruhig hören, was wir in den Versammlungen zu besprechen hatten. Wie ist die Idee für den Solidaritätsmarsch entstanden?Die Idee hatte ein Kollege auf der fortlaufenden Betriebsversammlung geäußert, die Gewerkschaft hat sich eher drangehängt. Es war anfänglich völlig unklar, wie viele sich an dem Marsch beteiligen würden und ich war eher skeptisch, ob er zustande kommt. Letztendlich waren dann aber etwa 50 Leute kontinuierlich mit dabei, an manchen Orten kamen noch weitere aus Berlin hinzu und wir haben gut 4500 km zurückgelegt.Bevor es los ging hatten wir riesengroßen Schiss, überhaupt auf die Öffentlichkeit zuzugehen, aber mit der Zeit legte sich das. Der Marsch war von Anfang an mit der Idee verbunden, eine soziale Bewegung in Gang zu bringen. Wir haben die Öffentlichkeit über die Situation bei BSH und die Konzern-Politik informiert, zum Beispiel darüber, dass die Verluste, von denen geredet wird, oft nur bedeuten, dass dem Unternehmen zusätzlicher Gewinn entgangen ist. Wir haben auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Werken besucht, auch von Konkurrenzunternehmen wie zum Beispiel Miele. Ein Arbeiter von CNH hatte uns auf einer der Betriebsversammlungen darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig die mediale Öffentlichkeit für die Vermittlung des eigenen Anliegens ist.
Welche Erfahrungen habt ihr auf dem Marsch gemacht?Die erste Station unseres Marsches war unser Schwesterwerk in Nauen. Dort haben wir die Zufahrten blockiert und versucht, mit den Beschäftigten ins Gespräch zu kommen. Wir wollten sie unbedingt bei unserem Protest dabeihaben, aber es war sehr schwierig an sie heranzukommen. Ich habe noch nie so viele verängstigte und eingeschüchterte Gesichter gesehen und wir haben es leider bis zum Ende nicht geschafft, dass sie sich mit uns solidarisieren. Man muss allerdings bedenken, dass die Arbeitsplatzsituation in Nauen noch viel schlimmer ist als in Berlin. Viele von ihnen haben Zeitverträge, verdienen weniger, obwohl sie im Vergleich zu anderen mehr arbeiten müssen, und waren verunsichert ohne Ende.Ziemlich krass war auch, dass einige Kollegen aus unserem Werk dort als Streikbrecher weiter arbeiteten. Sie quetschten ihre Gesichter an die Decke des Busses, als sie an uns vorbeifuhren, um sich zu verstecken. Das war einfach nur lächerlich und ich habe große Verachtung für diese Leute. Im Nauener Werk sind sie übrigens nicht gut angesehen - allerdings nicht, weil sie Streikbrecher sind, sondern weil sie zu dem bei uns gültigen Tariflohn arbeiten und damit mehr verdienen. Das Werk in Nauen ist zwar nicht mehr im Tarifverbund, dafür gilt der Fortbestand des Werkes aber zunächst als sicher.Ein besonderes Gänsehauterlebnis hatte ich in Kamp Lintfort. Dort haben wir uns mit den Kollegen von BenQ getroffen und eine Demo durch die Innenstadt gemacht. Es beteiligten sich 4000 bis 5000 Leute, die städtische Feuerwehr, Stahlkocher, Kindergärten, kirchliche Gruppen... eigentlich war der ganze Ort auf den Beinen.Wir haben noch viele weitere Fabriken und Städte besucht, mit den Leuten vor Ort über unsere Situation diskutiert, aber auch die Politik der großen Konzerne thematisiert. Vor allem junge Leute zwischen 20 und 35 Jahren, die ja vor allem in befristeten Verträgen stecken, waren für unsere Ideen sehr empfänglich. Unsere Forderungen waren: Keine Entlassungen, kein Arbeitsplatzabbau aus Profitgründen und die Schaffung neuer Ausbildungsplätze.Uns war wichtig, dass dies keine rein betriebliche Auseinandersetzung ist, sondern eine politische. Wir haben anderen Kollegen angeboten, ihnen zu Hilfe zu kommen und es zu einer Angelegenheit aller Beschäftigten zu machen, wenn ihr Werk von Verlagerung bedroht ist und geschlossen werden soll. Überall wurde uns zugesagt, zu der großen Kundgebung vor der Siemens-Zentrale in München zu kommen, die dann 24 Stunden vorher von der IG Metall-Führung abgesagt wurde. War der Marsch eher eine Gewerkschaftsveranstaltung oder habt ihr eigene Ziele und Forderungen entwickelt?Der IG Metall ist der Marsch langsam aus den Händen geglitten, und deshalb hat sie einfach einen Rückzieher gemacht. Stuttgart war in dieser Hinsicht ein Wendepunkt. Hier, wie auch in Kamp Lintfort und Dillingen, haben wir angefangen, eigene Kontakte zu Betriebsräten zu knüpfen und unsere Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wir haben gemerkt, dass wir wesentlich besser bei den Leuten ankommen, wenn wir unsere eigenen Inhalte vertreten. Die Flugblätter, die wir von der IG Metall zum Verteilen in die Hände gedrückt bekamen, haben nicht das vermittelt, um was es uns ging.Dafür bildeten wir eine Kreativgruppe, an der sich sieben bis acht Leute beteiligten. Wir haben eigene Flugblätter geschrieben, neue Buttons entworfen, mit denen wir dann die IG Metall-Logos überklebt haben, und selbst Transparente gemalt. Unsere Flugblätter mussten wir selbst finanzieren, und so kam auch die grundsätzliche Frage auf, welche Möglichkeiten der Eigenfinanzierung von Selbstorganisierung bestehen. Viele Kollegen waren auf jeden Fall bereit, auf einen Monatslohn zu verzichten.Ein weiteres Problem war unser Streikleiter, der gleichzeitig Schichtleiter im Betrieb war. Er wurde von der IG Metall-Führung eingesetzt und hat, wie wir später erfahren haben, falsche Infos über unseren Protest nach Berlin weitergegeben. Der Streikleiter hat auch eingefordert, alle Reden zu halten, wir haben dann aber einen Wechsel durchgesetzt. Wir wurden im Verlauf unserer Reise immer selbstbewusster, standen nicht mehr als Horde rum, sondern haben verschiedene Trupps mit fünf bis acht Leuten gebildet. Wir haben uns über die ganze Stadt verteilt und allmählich unsere Macht gespürt. Die Chefs hatten schon Angst vor uns und beschäftigten sich intensiv mit unserem Protest. Das wurde uns in einem Gespräch mit dem Bosch-Chef klar, der eine Delegation in seinem Zimmer empfing und den Kollegen klar machte, dass er unsere Aktionen und T-Shirts mit den Aufschriften „Wir machen die Plattmacher platt“ nicht gut fände und sie aufforderte: „Beenden Sie das sofort“. Die Unternehmensleitung von Siemens hatte noch mehr Schiss. Sie gerieten unter Druck und standen auch in der Presse ziemlich schlecht da, unter anderem wegen der geplanten Erhöhung der Managergehälter um 30% und der Schmiergelder, die bei BenQ gezahlt wurden. Wann habt ihr von dem beschissenen Abschluss und der Absage der Kundgebung in München durch die IG Metall erfahren? Wir waren gerade in Ulm, als uns der dortige Jugendgewerkschaftssekretär frühmorgens darüber informierte, dass alles abgeblasen sei. Wir wollten eigentlich gerade weiter fahren und waren völlig überrascht. Später gab es dann noch einen Anruf aus Berlin, der uns noch mal bestätigte, dass es zu einem Abschluss kam und alle Proteste beendet seien. Nach einigen Telefonaten hin und her packten wir unsere Sachen und traten die Heimreise an. Gab es Überlegungen, die Kundgebung auf eigene Faust durchzuziehen?Wir kamen auf der Rückfahrt immer näher an München ran und fingen an zu diskutieren, was wir jetzt machen sollen. Ab auf die nächste Raststätte und uns Bier besorgen oder doch einfach nach München fahren? Wir waren aber völlig führungslos und die Stimmung im Bus war auch nicht eindeutig für eine Weiterfahrt auf eigene Faust. Die Enttäuschung war riesengroß und wir haben uns dann für die nächste Raststätte entschieden...Wir wollten unbedingt nach München, mit den anderen Arbeitern zusammen kämpfen und haben auch schon über weitere Schritte nachgedacht.Immerhin hatte der IG Metall-Sekretär Luis Sergio zu Beginn des Marsches noch verkündet: „In München lassen wir die Puppen tanzen!“, und dann sagt die Gewerkschaft in letzter Minute alles ab. Das war das Ende eines Traums! Wir sind von der IG Metall, der wir zu 100 % vertraut haben, vollkommen benutzt und verarscht worden. Es muss endlich eine soziale Bewegung her, damit sich in dieser Scheiß-Republik was bewegt, damit der lohnabhängige Arbeiter bei Entlassung nicht nur die Alternative Arbeitsamt und Hartz IV hat, sondern gegen seinen möglichen Arbeitsplatzverlust und sozialen Abstieg kämpfen und streiken darf!
Im Berliner Werk hat das Verhandlungsergebnis zu Tumulten geführt, die Mehrheit der Belegschaft hat sich gegen die Gewerkschaftsvertreter aufgelehnt.
Wir sind zurückgekommen, als die Tumulte schon im Gange waren. Die ruhigsten Leute waren auf einmal am Schreien. Wir hätten nie für möglich gehalten, dass die IG Metall uns so verarschen könnte. Aber nachdem die IG Metall kurzfristig die Kontrolle über den Streik verloren hatte, konnte sie wie auch die Unternehmensleitung den ausgehandelten Kompromiss in der Öffentlichkeit als ihren Sieg verkaufen.
Woran lag das? Unser Eindruck war, dass die „guten“ Führer beklatscht und die „schlechten“ ausgebuht wurden, aber jede Vorstellung davon fehlte, das Heft des Handelns in die eigenen Hände zu nehmen.
Die Kollegen bei BSH sind nicht streikerprobt gewesen, denn auch bei den vorherigen Kündigungswellen hat es keinen Streik gegeben! Es gab somit auch keine konkrete Planung für eine selbstorganisierte Versammlung, und es herrschte Angst davor eine einzuberufen, da der Kollege, der es machen sollte, akut von Kündigung bedroht gewesen wäre. Immerhin hätte nicht nur die Unternehmensleitung gegen die Belegschaft gestanden, sondern auch der IG Metall-Vorstand und der Betriebsrat hätten gegen eine eigenständige Weiterführung des Streiks agiert. In den Betriebsratsvorsitzenden Demirci fehlte das Vertrauen. Somit herrschte eine gewisse Führungslosigkeit unter den kampfbereiten Arbeitern. Es hätte aber sowieso einer doppelten Führung während des Streiks bedurft: Am besten wären zwei Streikführer, die sich nicht leiden können, um Kungeleien zu verhindern. Aber es war auch die Angst vor dem Verlust der Abfindung, die die Kampfbereitschaft verringerte. Denn es gab Überlegungen weiter zu machen und das Werk zu besetzen, aber dies hätte zur Folge haben können, dass man alles verliert. Welche Lehren könnte man aus dem Streik ziehen? Was hätte anders laufen können?Mir ist klar geworden, dass man sich nicht auf die Gewerkschaft verlassen darf, und dass man Mut zu kritischen Fragen auf den Betriebsversammlungen haben muss. Wichtig ist außerdem, sich nicht einschüchtern zu lassen. Man muss auch die Kontakte selber knüpfen und darauf achten, dass Informationen nicht monopolisiert werden. Ein Fehler war sicherlich, dass wir hundertprozentig der IG Metall vertraut haben. Aber was hätten wir denn auch ohne Führung ausrichten können? Was wäre gewesen, wenn wir, was auch diskutiert wurde, mit 200, vielleicht 300 Leuten ohne Rückhalt der Gewerkschaft das Werk besetzt hätten? Wir waren auf das Streikgeld angewiesen und hatten außerdem durch die Pressemitteilungen der IG Metall nach der Urabstimmung den Rückhalt in der Öffentlichkeit verloren. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass das Streikrecht dahingehend geändert werden muss, dass die einfache Mehrheit für eine Weiterführung des Streiks reicht. Was rätst Du Kollegen, die durch angedrohte Betriebsschließungen in eine ähnliche Situation geraten?Das wichtigste ist die Solidarität. Man muss auf jeden Fall andere Betriebe aufsuchen und sie um Hilfe bitten. Ein weiterer Vorschlag wäre, Betriebsversammlungen im Werk zu veranstalten, zu denen man Beschäftigte aus allen anderen Betrieben einlädt, um zusammen die weiteren Schritte zu diskutieren.Und selbstverständlich das Erstellen von Infoblättern, in denen man klarstellt, worum es geht und was man eigentlich will, am besten auch zweisprachig, was wir leider nicht hingekriegt haben. Die Forderungen sollte man als existenziell Betroffene aufstellen, die eigenen Probleme selbst darstellen und sich nicht auf höhere Instanzen verlassen.Es ist wichtig eigene Netzwerke aufzubauen und die Leute dazu zu bringen, dass sie das Thema Fabrik-Verlagerungen und die Bedeutung des Arbeitsplatzverlustes an ihren Schulen und in den Familien diskutieren. Als persönlichen Erfolg würde ich verbuchen, dass an einer Berliner Schule ein selbstgeschriebenes Flugblatt zur Grundlage genommen wurde, um über Standortverlagerungen von Betrieben zu diskutieren. Wie ist heute Dein Verhältnis zur Gewerkschaft?Ich bin immer noch Mitglied der IG Metall, obwohl ich von ihr sehr enttäuscht bin. Ich möchte bei zukünftigen IG Metall-Versammlungen sprechen und erzählen, wie sie uns in den Rücken gefallen ist – und dafür muss ich weiterhin Mitglied der Gewerkschaft sein.
Gibt es noch Kontakte zu Leuten die ihr auf eurer Reise kennen gelernt habt? Und wie haben sie auf die Absage der Großkundgebung reagiert?
Vereinzelt gibt es noch Kontakte. Andere wiederum habe ich mehrmals angerufen, aber es kam keine Rückmeldung mehr. Ich habe den Eindruck, dass sich die Kollegen vor allem von BenQ von uns im Stich gelassen fühlen. Ich wehre mich allerdings dagegen ein Verräter zu sein. Der Abbruch der Protestaktionen wurde uns vom IG Metall-Vorstand aufgezwungen.
Wie haben die Streikenden die Unterstützung durch linke Gruppen aufgenommen?Ich habe mich sehr über die Unterstützung dieser Gruppen gefreut und die übergroße Mehrheit der Belegschaft sieht das genauso. Wir fragen nicht nach Parteibuch, Religion usw. und ohne diese Gruppen wären wir ein einsamer Haufen geblieben. Sie haben uns teilweise mit wertvollen Informationen versorgt und besonders hilfreich war es, wenn sie Kontakte zu Kollegen aus anderen Werken herstellten oder uns bestimmte Printmedien zur Verfügung stellten. Ohne diese Gruppen hätten wir auf jeden Fall weniger Wirkung gehabt. Wie stellst Du Dir Deine persönliche Zukunft vor? Nicht besonders rosig . Ich nehme wohl die Abfindung plus Übernahme in die Transfergesellschaft und hoffe, einen anderen Job zu kriegen. Mal sehen was kommt. Für mich ist jedenfalls nach dem Kampf vor dem Kampf! Das Interview wurde Mitte November 2006 geführt.
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/11/151/nationale-lage-deutschland
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkampf
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/2/30/die-gewerkschaftsfrage
[4] https://en.internationalism.org/forum
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/naher-osten
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/3/43/imperialismus
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse