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Mai 2008

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Die Hungerrevolten zeigen die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus

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In den letzten Wochen ist in etlichen Ländern der kapitalistischen Peripherie eine Reihe von Revolten, Proteste und Streiks gegen die steigenden Nahrungsmittel- und Energiekosten ausgebrochen. Auf ihrem jüngsten Treffen haben die Wachhunde der kapitalistischen Institutionen – IWF, Weltbank und G8 – vor einer gigantischen Destabilisierung und vor Konflikten in fast 40 Ländern rund um den Globus gewarnt. Es ist kein Zufall, dass die Hungerrevolten jetzt ausbrechen, da der starke Anstieg in den Nahrungsmittelpreisen keine natürliche In den letzten Wochen ist in etlichen Ländern der kapitalistischen Peripherie eine Reihe von Revolten, Proteste und Streiks gegen die steigenden Nahrungsmittel- und Energiekosten ausgebrochen. Auf ihrem jüngsten Treffen haben die Wachhunde der kapitalistischen Institutionen - IWF, Weltbank und G8 - vor einer gigantischen Destabilisierung und vor Konflikten in fast 40 Ländern rund um den Globus gewarnt. Es ist kein Zufall, dass die Hungerrevolten jetzt ausbrechen, da der starke Anstieg in den Nahrungsmittelpreisen keine natürliche Katastrophe ist, sondern das Resultat aus der Verschärfung der kapitalistischen Krise. Die Bedingungen verschlechtern sich für die ArbeiterInnen in allen Ländern Seitdem die weltweite Finanzkrise begonnen hatte, haben sich die Lebensbedingungen für die Arbeiterklasse überall auf der Welt drastisch verschlechtert. Während in den vorherigen Phasen der sich verschärfenden Krise die ArbeiterInnen in den peripheren Ländern weitaus härter und schneller betroffen waren als die ArbeiterInnen der Industrieländer, erleben wir nun, dass die ArbeiterInnen der Industriezentren und der Peripherie gleichzeitig - auch wenn in unterschiedlichem Umfang - unter den Folgen der Krise leiden. Ob in den USA, wo jeden Monat um die 200.000 Menschen infolge der Hypothekenkrise ihr Heim verlieren, wo Tausende ihren Job verlieren und sich steigenden Nahrungsmittel- und Energiepreisen ausgesetzt sehen, ob in Europa, wo die Preise vieler Grundnahrungsmittel um 30 bis 50 Prozent gestiegen sind, ob in den „aufstrebenden Ländern" wie Indien und China, wo die Lebensmittelpreise ebenfalls stark angestiegen sind, oder in den peripheren Ländern, niemals zuvor seit 1929 wurden so viele Menschen in solch einer kurzen Zeitspanne von den Auswirkungen der Krise bedroht. Doch selbst 1929 verbreitete sich die Hungersnot nicht so schnell unter den armen Massen in der kapitalistischen Peripherie. Und wir stehen erst am Anfang dieses Abstiegs. Die steigenden Ölpreise haben die Produktions- und Transportkosten aufgebläht, was sich in den Nahrungsmittelpreisen für die Konsumenten niederschlägt. Der Preis für Reis, Weizen und andere Feldfrüchte ist in den meisten Ländern um 50 bis 100 Prozent gestiegen, in manchen Fällen hat er sich verdoppelt und verdreifacht, mit einer dramatischen Beschleunigung insbesondere in den letzten paar Wochen. Die Konsequenzen für Arbeiter, Bauern und die Massen der Arbeitslosen in den peripheren Ländern sind besonders brutal.

Die Inflation der Nahrungsmittelpreise und die Unruhen

Zwischen dem Frühjahr 2007 und Februar 2008 hat sich der Preis für Weizen und Soja verdoppelt. In den letzten zehn Monaten ging der Preis für Körnerfrüchte (Mais) um 66, für Reis um 75 Prozent in die Höhe. Der von der FAO etablierte Nahrungsmittelindex stieg zwischen März 2007 und März 2008 um 57 Prozent. Dennoch hält die FAO daran fest, dass die Preisexplosion nicht die Folge schrumpfender Ernteerträge ist, sei doch die weltweite Getreideproduktion 2007 um fünf Prozent gestiegen. Und doch sterben täglich 100.000 Menschen an Hunger oder an Krankheiten, die unmittelbare Konsequenzen des Hungers sind. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger. 900 Millionen Menschen sind ständig unterernährt. Als Reaktion darauf sind Unruhen ausgebrochen in Ägypten, Burkina Faso, Südafrika, Kamerun, Marokko, Mosambique, im Senegal, in Elfenbeinküste, Mauretanien, im Jemen, in Indonesien, Indien, Bangladesh, Thailand, auf den Philippinen, in Mexiko und Peru, in Argentinien, Honduras, Haiti...

Eine „herzzerreißende Auswahl" der herrschenden Klasse

"Die UN werden eine ‚herzzerreißende' Auswahl bei der Adressierung ihrer Nothilfe treffen müssen, es sei denn, dass die Regierungen mehr Geld ausgeben und helfen, immer teurer werdende Nahrungsmittel zu kaufen, warnte ein Sprecher des Welternährungsprogramms (WEP), um 73 Millionen Menschen in 80 Ländern in diesem Jahr zu ernähren.... Wenn wir in diesem Sommer nicht mehr erhalten, werden wir eine ganz herzzerreißende Auswahl vornehmen müssen - entweder reduzieren wir die Begünstigten oder wir reduzieren die Rationen... Das WEP hat an die Regierungen appelliert, weitere 500 Millionen Dollar zu spenden, um mit den höheren Nahrungsmittelpreisen zu Rande zu kommen. Die USA haben 200 Millionen für die Nothilfe freigemacht, Deutschland zehn Millionen." (The Guardian, 16.4.08)

Während der IWF voraussagt, dass die Kosten der jüngsten Finanzkrise bis zu 1.000.000.000.000 (1 Billion) betragen werden und verschiedene Länder bereits Hunderte von Milliarden Dollar für Rettungsoperationen für notleidende Banken ausgegeben haben, geht den Lebensmittelhilfe-Organisationen das Geld aus, da die großen Länder nur Krümel geben... Sicherlich ziehen es die kapitalistischen Institutionen vor, Banken zu retten, statt mehr als eine Milliarde Menschen zu ernähren, doch die jüngste Ernährungskrise wird wenigstens weitere 500 Millionen Hungernde innerhalb einiger Monate hinzufügen...

Während in den Industrieländern sich viele ArbeiterInnen 30-50prozentigen Preiserhöhungen bei Nahrungsmitteln und Energie ausgesetzt sehen und insbesondere die Arbeitslosen und prekär Beschäftigten mit Schwierigkeiten haben, mit ihren Einkünften auszukommen, bedeutet die Verdoppelung der Preise für Grundnahrungsmittel in den peripheren Ländern der Welt die Gefahr des Verhungerns. Da mehr als eine Milliarde Menschen von weniger als einem Dollar am Tag leben und da viele von ihnen bis zu 90 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen, bedroht ein solch krasser Anstieg der Lebensmittelpreise sie unmittelbar.

Diese katastrophale, lebensbedrohliche Situation führte zu einer Reihe von Hungerrevolten und Streiks für höhere Löhne etc. Aus Furcht vor einer Explosion der Proteste haben die Regierungen Vietnams und Indiens - beide Länder sind Reisexporteure - die Ausfuhr von Reis ausgesetzt. Kasachstan - achtgrößter Getreideexporteur - hat angedroht, ebenfalls den Getreideexport auszusetzen. Auf den Philippinen drohte die Regierung lebenslängliche Strafen für diejenigen an, die Reis horten! Infolgedessen werden Nahrungsmittel immer knapper, da wichtige Getreidearten entweder zunehmend gehortet werden oder weil ihr Export zusammenbricht. Selbst in den USA schränken die Großhändler den Einkauf von Mehl, Reis und Speiseöl ein, da die Nachfrage das Angebot weit übertrifft. Es gibt auch Anekdoten über einige Verbraucher, die Getreidelager horten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis noch größere Preiserhöhungen die USA, Europa und Ostasien erreichen.

Die Angst vor dem Hunger ist ein Albtraum, der den Aufstieg der Menschheit von Anbeginn begleitet - und angespornt - hat. Die Hauptursache dieser Gefahr war stets die verhältnismäßige Primitivität der Produktivkräfte der Gesellschaft gewesen. Die Hungersnöte, die periodisch die vor-kapitalistischen Gesellschaften heimgesucht hatten, waren die Folge eines unzureichenden Verständnisses und einer mangelhaften Beherrschung der Naturgesetze. Seitdem die Gesellschaft sich in Klassen aufgeteilt hat, waren die Ausgebeuteten und Armen stets die Hauptopfer dieser Rückständigkeit und Fragilität der menschlichen Existenz gewesen. Nun jedoch, wo zusätzliche 100 Millionen menschliche Wesen praktisch über Nacht vom Hunger bedroht werden, wird es immer deutlicher, dass heute die Hauptursache des Hungers nicht in der Rückständigkeit der Wissenschaft und Technologie, sondern in der Rückständigkeit unserer gesellschaftlichen Organisation liegt. Selbst die Repräsentanten der offiziellen Institutionen der herschenden Ordnung sehen sich gezwungen zuzugeben, dass die gegenwärtige Krise „menschengemacht" ist. Während seiner aufsteigenden Epoche fühlte sich der Kapitalismus trotz allen Elends, das er verursachte, in der Lage, langfristig die Menschheit von der Geißel des Hungers zu befreien. Dieser Glaube gründete sich auf die Fähigkeit des Kapitalismus - tatsächlich auf seine dringenden Bedürfnisse als ein Konkurrenzsystem -, permanent die Produktivkräfte zu revolutionieren. In den Jahren, die dem II. Weltkrieg folgten, wies man auf die Erfolge der modernen Landwirtschaft, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, die Industrialisierung neuer Regionen des Planeten, die Steigerung der Lebenserwartung als Beweis hin, dass man die „Schlacht gegen den Hunger", die von der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft ausgerufen worden war, letztendlich gewinnen werde. Erst kürzlich behauptete das kapitalistische Regime, dass es durch die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern wie China oder Indien etliche Hunderte von Millionen vor den Klauen des Hungers bewahrt habe. Und selbst jetzt möchte es uns glauben machen, dass in die Höhe schnellende Preise weltweit das Produkt des wirtschaftlichen Fortschritts seien, des neuen Wohlstandes, der in den aufstrebenden Ländern geschaffen werde, des neuen heftigen Verlangens der Massen nach Hamburger und Joghurt. Doch selbst wenn dies stimmen würde, müssten wir uns über den Sinn eines Wirtschaftssystems Gedanken machen, das nur in der Lage ist, die einen Menschen zum Preis des Lebens anderer Menschen, den Verlierern im Konkurrenzkampf ums Überleben, zu ernähren.

In Wirklichkeit ist der explodierende Hunger in der Welt von heute nicht einmal das Ergebnis solch eines verabscheuungswürdigen „Fortschritts". Was wir erblicken, ist die Verbreitung des Hungers in den rückständigsten Regionen der Welt und in den „aufstrebenden" Ländern. Überall auf der Welt ist der Mythos, dass der Kapitalismus das Gespenst des Hungers bannen kann, als erbärmliche Lüge entlarvt worden. Wahr ist, dass der Kapitalismus die materiellen und gesellschaftlichen Vorbedingungen für solch einen Sieg geschaffen hat. Nachdem er dies getan hat, ist der Kapitalismus selbst zum größten Hindernis für einen solchen Fortschritt geworden. Die Massenproteste gegen den Hunger in Asien, Afrika und Lateinamerika in den vergangenen Wochen enthüllen der Welt, dass die Ursachen des Hungers nicht natürlich, sondern gesellschaftlich sind.

Die Ursachen der gegenwärtigen Krise

Die Politiker und Experten der herrschenden Klasse haben eine Reihe von Erklärungen für die gegenwärtige dramatische Situation. Diese beinhalten den Wirtschafts"boom" in Teilen Asiens, die Verbreitung des „Biosprits", die ökologischen Katastrophen und der Klimawechsel, die Ruinierung der landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft in den „unterentwickelten" Ländern, einen spekulativen Run auf Nahrungsmittel, die Einschränkungen der Agrarproduktion, die durchgesetzt werden, um die Nahrungsmittelpreise hochzutreiben, etc. All diese Erklärungen enthalten ein Körnchen Wahrheit. Keine von ihnen erklärt jedoch für sich genommen irgendetwas. Sie sind die besten Symptome - mörderische Symptome -, die zusammengenommen die Hauptursachen des Problems anzeigen. Die Bourgeoisie wird stets Lügen über ihre Krise verbreiten, ja sich selbst belügen. Doch was derzeit auffällt, ist das Ausmaß der Unfähigkeit der Regierungen und Experten, zu verstehen, was vor sich geht, oder gar ihren Reaktionen den Anschein von Kohärenz zu verleihen. Die Hilflosigkeit der angeblich allmächtigen herrschenden Klasse wird immer augenscheinlicher. Was bei den verschiedenen Erklärungen auffällt, ist - abgesehen von ihren zynischen und heuchlerischen Charakter - die Tatsache, dass jede Fraktion der herrschenden Klasse danach trachtet, die Aufmerksamkeit auf jenen Aspekt zu lenken, der ihre eigenen unmittelbaren Interessen am meisten betrifft. Ein Beispiel: Ein Gipfeltreffen von G8-Politikern ruft die „Dritte Welt" dazu auf, durch eine unmittelbare Senkung ihrer Zölle gegen Agrarimporte auf die Hungerrevolten zu reagieren. Mit anderen Worten: der erste Gedanke dieser feinen Repräsentanten der kapitalistischen Demokratie war, von der Krise zu profitieren, um ihre eigenen Exportchancen zu erhöhen! Ein weiteres Beispiel: die jüngste „Debatte" in Europa. Die Industrielobby zetert über den landwirtschaftlichen Protektionismus der Europäischen Union, den Ruin der Subsistenzwirtschaft in der „Dritten Welt" etc. Und warum? Weil sie sich von der industriellen Konkurrenz Asiens bedroht fühlt, will sie die landwirtschaftlichen Subventionen zusammenstreichen, die von der Europäischen Union bezahlt werden und die man sich nicht länger leisten könne, wie diese Lobby meint. Die Bauernlobby ihrerseits sieht in den Hungerrevolten einen Beweis für die Notwendigkeit, die Subventionen zu erhöhen. Die Europäische Union hat die Gelegenheit genutzt und die Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion zu Diensten der „erneuerbaren" Energie - wie in Brasilien, einem ihrer Hauptrivalen auf diesem Gebiet - verurteilt.

Die „Teilerklärungen" der Bourgeoisie sind, abgesehen davon, dass sie der zynische Ausdruck ihrer rivalisierenden Partikularinteressen sind, nur dazu da, um die Verantwortung des kapitalistischen Systems für die gegenwärtige Katastrophe zu verbergen. Insbesondere kann keines dieser Argumente und nicht einmal alle Argumente zusammengenommen die beiden Hauptkennzeichen der aktuellen Krise erklären: ihr Ausmaß und ihre plötzliche, brutale Beschleunigung zurzeit.

Das Ausmaß der kapitalistischen Krise

Während in der Vergangenheit Hunderte von Millionen Chinesen nur wenig zu essen hatten (die berühmte "eiserne Reisschüssel"), gebe es nun einen stärkeren Verzehr von Fleisch, Milchprodukten und Weizen. Eine wachsende Nachfrage nach mehr Fleisch und Milch bedeute, Futtergetreide für Vieh und Geflügel übernimmt die Landwirtschaft, was wiederum bedeutet, dass immer weniger Münder von demselben Nutzland ernährt werden können. Dies ist die Haupterklärung, die von vielen Fraktionen der Bourgeoisie vorgebracht wird. Die Proletarisierung eines Teils der Bauernmassen, die radikal deren Lebensstil gewandelt und sie in den Weltmarkt integriert hat, wird von der herrschenden Klasse als eine große Verbesserung ihrer Bedingungen betrachtet. Doch was zu erklären bleibt, ist, wie diese Verbesserung, diese Befreiung von Millionen aus den Klauen des Hungers sich in ihr... Gegenteil verkehren konnte. Der Präsident der Weltbank, Robert Zoellick, erklärte jüngst, dass die steigenden Preise den ganzen Fortschritt, der im "Kampf gegen die Armut" zuletzt erzielt worden war, zunichte machten.

Biokraftstoffe: Die Ersetzung des Benzins durch Weizen, Körnerfrüchte, Palmöl etc. hat in der Tat zu dramatischen Kürzungen der Nahrungsmittelerzeugnisse geführt. Nicht nur dass die "Verschmutzungs"bilanz von Biokraftstoffen negativ ist (jüngste Untersuchungen zeigen, dass Biokraftstoffe die Luftverschmutzung steigern, da sie noch gefährlichere Partikel als normales Benzin ausstoßen, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass einige Biokraftstoffe fast soviel Öl als Energie benötigen, wie sie selbst an Energie produzieren), auch ihre ökologischen und ökonomischen Konsequenzen sind für die gesamte Menschheit katastrophal. Solch ein Wechsel zur Kultivierung von Weizen, Körnerfrüchten/Mais, Palmöl etc. für die Herstellung von Energie statt für die Ernährung ist ein typischer Ausdruck für die kapitalistische Blindheit und Destruktivität. Er wird zu einem Teil von dem zwecklosen Versuch angetrieben, den steigenden Erdölpreisen Herr zu werden, und zu einem anderen Teil - besonders in den Vereinigten Staaten - von der Hoffnung, ihre Abhängigkeit von importiertem Öl zu reduzieren, um ihre Sicherheitsinteressen als imperialistische Macht zu schützen. Weit davon entfernt, die Krise zu erklären, ist der Biosprit-Skandal ein Symptom - und ein aktiver Faktor - ihrer Ausmaße.

Exportsubventionen und Protektionismus: Einerseits gibt es landwirtschaftliche Überproduktion in einigen Ländern und eine permanente "Exportoffensive"; gleichzeitig können sich andere Länder nicht mehr selbst ernähren. Konkurrenz und Protektionismus in der Landwirtschaft bedeuten, dass - ganz so wie bei anderen Waren in der Wirtschaft - die produktiveren Bauern in den Industrieländern große Teile ihrer Feldfrüchte (oft mit staatlicher Suvention) in die "Drittwelt"-Länder exportieren und so die einheimische Bauernschaft ruinieren - was den Exodus vom Land in die Stadt steigert, die weltweiten Flüchtlingsströme anschwellen lässt und zur Abwanderung von einst landwirtschaftlich genutztem Land führt. In Afrika sind beispielsweise die einheimischen Bauern von europäischen Geflügel- und Rindfleischexporten ruiniert worden. Mexiko stellt nicht mehr genügend Nahrungsmittel her, um seine Bevölkerung zu ernähren. Das Land muss jährlich mehr als 10 Milliarden Dollar für den Import von Nahrungsmittel ausgeben. "Linke" Propagandisten der herrschenden Klasse, aber auch viele wohlmeinende, jedoch in die Irre geleitete oder schlecht informierte Menschen rufen zu einer Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft in den "peripheren" Ländern und zur Abschaffung der landwirtschaftlichen Subventionen sowie des Schutzes ihrer eigenen Märkte durch die alten kapitalistischen Ländern auf. Was diese Argumente nicht in Betracht zu ziehen vermögen, ist, dass der Kapitalismus von Anbeginn von der Eingliederung der Subsistenzwirtschaft in den Weltmarkt gelebt hat und auf diese Weise expandierte, was den Ruin und die oft gewaltsame Trennung der einheimischen Bauern von ihrem Land, von ihren Produktionsmitteln bedeutete. Die Wiedererlangung des Landes durch die Produzenten ist nur im Rahmen der Überwindung des Kapitalismus selbst denkbar. Dies heißt nichts anderes als die Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Produktion für den Markt sowie des Antagonismus zwischen Stadt und Land, die fortschreitende Auflösung der Mega-Citys durch eine weltweite und planvolle Rückkehr Hunderter von Millionen von Menschen aufs Land: nicht zum althergebrachten Land der bäuerlichen Isolation und Rückständigkeit, sondern zu einem Land, das durch seine Vernetzung mit den Citys und mit einer weltweiten menschlichen Kultur neu belebt wird.

Indem die bürgerlichen Medien diese o.g. Faktoren auflisten, versuchen sie die Demaskierung der tieferen Hauptursachen zu verhindern. In Wirklichkeit erleben wir nicht zuletzt die kombinierten, akkumulierten Konsequenzen der langfristigen Auswirkungen der Umweltvergiftung und der zutiefst zerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus in der Landwirtschaft.

Die Destruktivität des Kapitalismus in Landwirtschaft und Umwelt

Etliche zerstörerische Tendenzen sind offen zutage getreten. Entsprechend des Konkurrenzdrucks ist die traditionelle Bauernwirtschaft verschwunden; die Bauern sind zu Abhängigen von Kunstdünger, Pestiziden und künstlicher Bewässerung geworden. Das International Rice Research-Institut warnt, dass der Erhalt des Reisanbaus durch den übermäßigen Gebrauch von Dünger und die Beeinträchtigung der Bodenqualität gefährdet sei.

"Zum Verkauf bestimmte Feldfrüchte in Monokultur wurden zur Regel; der Ertrag wurde verdoppelt, doch auf Kosten eines dreimal höheren Wasserverbrauchs durch den Zugriff auf das Grundwasser mit elektrischen Pumpen. Dies und die Überdüngung hat weitverbreiteten Schaden an Boden und Wasser angerichtet" (1) Zurzeit sind etwa 40 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte das Ergebnis von künstlicher Bewässerung; 75 Prozent des weltweit verfügbaren Trinkwassers wird zu diesem Zweck von der Landwirtschaft Zweck verbraucht. Das Anpflanzen von Luzernen in Kalifornien, von Zitrusfrüchten in Israel, von Baumwolle rund um den Aralsee in der früheren Sowjetunion, von Weizen in Saudiarabien oder im Jemen, d.h. das Anpflanzen von Feldfrüchten in Gebieten, die nicht die natürlichen Bedingungen für ihr Wachstum bieten, bedeutet eine enorme Verschwendung von Wasser in der Landwirtschaft. Der massive Einsatz von "gekreuztem Saatgut" (hybrid seeds) stellt eine direkte Gefahr für die natürliche Vielfalt dar. (2)

In vielen Gebieten der Welt wird der Boden immer mehr vergiftet. In China sind 10 Prozent des Anbaugebiets kontaminiert; jährlich sterben 120.000 Bauern durch die Bodenverschmutzung an Krebs. Ein Resultat dieser Bodenauszehrung durch das rastlose Streben nach Produktivität ist die Tatsache, dass die Nahrungsmittel in den Niederlanden, das "landwirtschaftliche Kraftwerk" Europas, äußerst nährstoffarm sind.

Und mit jedem Grad Celsius, mit dem die globale Erwärmung zunimmt, gehen die Reis-, Weizen- und andere Getreideerträge um 10 Prozent zurück. Die jüngsten Hitzewellen in Australien haben zu beträchtlichen Schäden an den Feldfrüchten und zur Austrocknung des Bodens geführt. Jüngste Erkenntnisse haben aufgezeigt, dass der Anstieg der Temperaturen die Überlebensfähigkeit vieler Pflanzen bedroht oder ihren Nährwert reduziert. Trotz neuer Anbaugebiete, die für die Bewirtschaftung gewonnen wurden, schrumpft die nutzbare landwirtschaftliche Fläche weltweit infolge der Auslaugung, der Erosion, der Vergiftung und der Auszehrung des Bodens.

So taucht eine Gefahr auf, die die Menschheit lange als Albtraum der Vergangenheit abgetan hat. Die kombinierten Auswirkungen der klimatisch bedingten Austrocknung und der Fluten sowie ihre Konsequenzen für die Landwirtschaft, die kontinuierliche Zerstörung und Reduzierung von fruchtbarem Boden, die Vergiftung und Überfischung der Meere führt zu einem Mangel an Nahrungsmitteln. Seit 1984 kann die weltweite Getreideproduktion nicht mehr mit dem Wachstum der Erdbevölkerung Schritt halten. Innerhalb von zwanzig Jahren ist sie von 343 Kilo pro Person auf 303 Kilo gefallen (Carnegie Department of Global Ecology in Stanford). Die Verrücktheit des Sytems bedeutet, dass der Kapitalismus gezwungen ist, ein Über-Produzent fast aller Güter zu sein, während er andererseits einen Mangel an Lebensmitteln schafft, indem er die eigentliche, natürliche Grundlage für sein Wachstum zerstört. Die wirklichen Ursachen für diese Absurdität liegen in der kapitalistischen Produktion begründet: "Auf der anderen Seite reduziert das große Grundeigentum die agrikole Bevölkerung auf ein beständig sinkendes Minimum und setzt ihr eine beständig wachsende, in großen Städten zusammengedrängte Industriebevölkerung entgegen; es erzeugt dadurch Bedingungen, die einen unheilbaren Riß hervorrufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels, infolge wovon die Bodenkraft verschleudert und diese Verschleuderung durch den Handel weit über die Grenzen des eignen Landes hinausgetragen wird. (Liebig.) (...) Große Industrie und industriell betriebene große Agrikultur wirken zusammen. Wenn sie sich ursprünglich dadurch scheiden, daß die erste mehr die Arbeitskraft und daher die Naturkraft des Menschen, die letztere mehr direkt die Naturkraft des Bodens verwüstet und ruiniert, so reichen sich später im Fortgang beide die Hand, indem das industrielle System auf dem Land auch die Arbeiter entkräftet und Industrie und Handel ihrerseits der Agrikultur die Mittel zur Erschöpfung des Bodens verschaffen" (Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 25, "Das Kapital", Bd. III, Sechster Abschnitt, S. 815, 47. Kapitel, Metäriewirtschaft und das bäuerliche Parzelleneigentu, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1983)

Eine brutale Beschleunigung des Krisentempos

Seit dem Zusammenbruch der Immobilienspekulation in den USA und anderen Ländern (Großbritannien, Spanien, etc.) suchen viele Hedgefonds und andere Investoren nach alternativen Möglichkeiten, um ihr Geld anzulegen. Derzeit stehen die landwirtschaftlichen Feldfrüchte im Visier der Spekulation. Die zynische Rechnung der Spekulation in Zeiten einer ernsten Krise: Landwirtschaftliche Feldfrüchte sind eine "todsichere Wette", da sie zu den letzten Dingen gehören, auf die die Menschen "verzichten" können! Milliarden von spekulativen Dollars sind bereits in Agrarkonzernen angelegt worden. Diese kolossalen spekulativen Summen haben mit Sicherheit die drastischen Preiserhöhungen mit beschleunigt, doch sie sind nicht die tatsächliche Hauptursache. Wir können davon ausgehen, dass sich der Preisanstieg landwirtschaftlicher Produkte fortsetzen würde, selbst wenn die Spekulation beendet werden würde.

Dennoch verschafft uns dieser Einblick in die Rolle der Spekulation (die isoliert betrachtet ein red herring ist) eine Ahnung über die Verknüpfungen in der zeitgenössischen Weltwirtschaft. In Wirklichkeit gibt es eine Verbindung zwischen der "Eigentumskrise" und dem Erdbeben im weltweiten Finanzkapital einerseits und der Preisexplosion bei den Nahrungsmitteln andererseits. Die Weltrezession von 1929, die brutalste in der Geschichte des Kapitalismus bis dahin, wurde von einem dramatischen Verfall der Preise begleitet. Die Verarmung der Arbeitermassen zu jener Zeit war mit der Tatsache verknüpft, dass die Löhne im Zusammenhang mit der Massenarbeitslosigkeit noch dramatischer fielen als andere Preise. Heute dagegen werden die Tendenzen einer weltweiten Rezession, die manifest werden, von einer allgemeinen Woge der Inflation begleitet. Die in die Höhe schnellenden Preise der Nahrungsmittel sind die Speerspitze dieser Entwicklung, auf jederlei Art verknüpft mit den steigenden Kosten für Energie, Transport und so weiter. Das jüngste Hineinpumpen von Milliarden von Dollar in die Wirtschaft durch die Regierungen, um die vor der Pleite stehenden Banken und das Finanzsystem zu stützen, hat wahrscheinlich mehr als jeder andere Faktor zur derzeitigen weltweiten Inflationsspirale beigetragen. Dies auch, weil er den Schuldenberg enthüllt, auf dem das "Krisenmanagement" der letzten Jahrzehnte zu einem großen Teil basierte, und somit das "Vertrauen" unter den Geschäftsleuten untergräbt.

Die Arbeitermassen der Welt sind in einem eisernen Schraubstock eingezwängt. Während einerseits die weltweite Arbeitslosigkeit einen unbarmherzigen Druck auf die Löhne ausübt, fressen andererseits die in die Höhe schnellenden Preise den Wert des Wenigen weg, was die ProletarierInnen noch verdienen.

Die derzeitige Verschärfung der weltweiten und historischen Krise des Weltkapitalismus zeigt sich als eine vielköpfige Hydra. Zusammen mit der monströsen Eigentums- und Finanzkrise, die weiterhin im Zentrum des Kapitalismus schwelt, ist bereits ein zweites Monster in Gestalt von in die Höhe schnellender Preise und des Hungers erschienen. Und wer kann uns sagen, was noch alles folgen wird? Im Augenblick scheint die herrschende Klasse noch überwältigt und irgendwie hilflos zu sein. Ihre hektischen Reaktionen enthüllen den Versuch, die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft zu verstärken und ihre Politik international zu koordinieren, aber sie illustrieren auch die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Nationen. Die besänftigenden Worte der Politikmacher bezwecken, der Welt, ja sich selbst das Gefühl auszureden, immer mehr die Kontrolle darüber zu verlieren, was mit ihrem System geschieht. Eine Entwicklung, die die herrschende Klasse mit einer zweifachen Gefahr konfrontiert: der Gefahr der Destabilisierung ganzer Länder oder ganzer Kontinente und ihres Versinkens in eine Spirale des Chaos sowie der langfristigen Gefahr einer revolutionären Erhebung, die den Kapitalismus selbst in Frage stellt.

Die Verantwortung des Proletariats

Wegen der zerstörerischen Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf die Landwirtschaft und auf die Umwelt ist die Menschheit tatsächlich mit einem Rennen gegen die Zeit konfrontiert. Je mehr der zerstörerische Kapitalismus die Welt verwüstet, desto mehr ist die Grundlage für das Überleben der Menschheit bedroht. Jedoch zwingen die drastische Verschlechterung der Wirtschaftskrise und die spekulativen Effekte auf die Nahrungsmittelpreise die Arbeitermassen, Arbeitslosen und Bauern, umgehend zu reagieren. Ihr Kampf ist einerseits ein defensiver Kampf ums Überleben, andererseits jedoch wirft er die Notwendigkeit auf, die Ursachen ihrer lebensbedrohlichen Lage auszumerzen.

Fußnoten:

(1) Dies ist einem interessanten Artikel bei Libcom von Ret Marut entnommen. ("A world food crisis: empty rice bowls and fat rats [1]").

(2) "Dies ist ein modifiziertes Saatgut - so kontruiert, dass es sich selbst nicht reproduzieren und nur mit Hilfe von Kunstdünger wachsen kann. So werden die Farmer in die Abhängigkeit von multinationalen Konzernen gesperrt, die ihnen dieses Saatgut verkaufen. In der einheimischen Landwirtschaft schließt das Bebauungssystem ein symbiotisches Verhältnis zwischen Boden, Wasser, Nutzvieh und Pflanzen mit ein. Die hybride Landwirtschaft ersetzt diese Integration auf bäuerlicher Ebene durch die Integration von Inputs wie Saatgut und Chemikalien. Das einheimische Anbausystem beruht nur auf innere organische Inputs. Das Saatgut kommt von der Farm, die Düngung des Bodens kommt von der Farm, und die Schädlingsbekämpfung ist in den Kreuzungen der Feldfrüchte eingebaut. Im hybriden Komplex sind die Erträge an den erworbenen Inputs von Saatgut, Kunstdünger, Pestiziden, Erdöl und intensiver Bewässerung gebunden (...) Wenn die Bauern vom Mischsaatgut abhängig werden, wird diese natürliche Vielfalt und die lokale Anpassungsfähigkeit verloren gehen. Solch eine Kommerzialisierung tradioneller bäuerlicher Techniken erzeugt häufig einen fürchterlichen Druck auf die Bauern - in Indien haben im vergangenen Jahr 10.000 Bauern Selbstmord begangen, hauptsächlich wegen Zahlungsschwierigkeiten (...) Den Einsatz von Kunstdünger anstelle organischer Methoden, um den Boden wieder fruchtbar zu machen, wie die Kompostierung, Fruchtfolgen und der natürliche Dünger erzeugt leblose, ausgedörrte Böden, die anfällig gegenüber der Bodenerosion sind. Geschätzte 24 Milliarden Tonnen Erdboden des weltweiten Ackerlandes erodieren jährlich. Der Anteil von Staubpartikel in der unteren Atmosphäre hat sich in den vergangenen 60 Jahren verdreifacht." (Ret Marut, oben zitiert)

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

Mai 68: Das Erwachen der Arbeiterklasse - 3. Teil

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Gegenüber all den Lügen, die heute zum Mai 68 verbreitet werden, müssen die Revolutionäre die Wahrheit wiederherstellen. Sie müssen auch die Mittel anbieten, um die Bedeutung und die Lehren dieser Ereignisse zu begreifen. Sie müssen insbesondere verhindern, dass ihre Lehren unter einem Haufen Blumen und Kränzen begraben werden. Gegenüber all den Lügen, die heute zum Mai 68 verbreitet werden, müssen die Revolutionäre die Wahrheit wiederherstellen. Sie müssen auch die Mittel anbieten, um die Bedeutung und die Lehren dieser Ereignisse zu begreifen. Sie müssen insbesondere verhindern, dass ihre Lehren unter einem Haufen Blumen und Kränzen begraben werden. Wir haben schon damit angefangen, indem wir bislang zwei Artikel zum Mai 68 veröffentlicht haben, die auf die ersten Bestandteile der Ereignisse des Mai 68 zurückkommen – die Studentenproteste. In diesem Artikel wollen wir auf den wesentlichsten Bestandteil der Ereignisse eingehen – die Bewegung der Arbeiterklasse. In dem ersten Artikel dieser Reihe schrieben wir am Schluss zu den Ereignissen in Frankreich: „Am 14. Mai gingen die Diskussionen in vielen Betrieben weiter. Nach den gewaltigen Demonstrationen am Vorabend, die den ganzen Enthusiasmus und ein Gefühl der Stärke zum Vorschein gebracht hatten, war es schwierig die Arbeit wieder aufzunehmen, so als ob nichts passiert wäre. In Nantes traten die Beschäftigen von Sud-Aviation in einen spontanen Streik und beschlossen die Besetzung des Werkes. Vor allem die jüngeren Beschäftigten trieben die Bewegung voran. Die Arbeiterklasse war auf den Plan getreten.“ Diese Schilderung werden wir hier fortsetzen.

Die Ausdehnung der Streiks

In Nantes stießen die jungen Arbeiter, die im gleichen Alter waren wie die Studenten, die Bewegung an. Ihre Argumentation war einfach aber einleuchtend: „Wenn die Studenten, die ja mit einem Streik keinen Druck ausüben können, die Kraft besaßen, die Regierung zum Nachgeben zu zwingen, können die Arbeiter die Regierung auch zum Nachgeben zwingen.“ Die Studenten der Stadt wiederum erklärten sich mit den Arbeitern solidarisch; sie reihten sich in deren Streikposten ein: Verbrüderung. Die Kampagnen der CGT und der KPF warnten vor den „linken Provokateuren, die im Dienste der Arbeitgeber und des Innenministers stehen“ und die Studenten unterwandert hätten; aber diese Kampagnen zeigten keine große Wirkung. Insgesamt standen am Abend des 14. Mai 3100 Arbeiter im Streik. Am 15. Mai breitete sich die Bewegung auf die Renault-Werke in Cléon in der Normandie, und auf zwei weitere Fabriken in der Region aus: totaler Streik, unbegrenzte Werksbesetzungen, rote Fahnen an den Fabriktoren. Am Ende des Tages streikten 11.000 Beschäftigte. Am 16. Mai schlossen sich die Beschäftigten der anderen Renault-Werke an: rote Fahnen über Flins, Sandouville, Le Mans und Billancourt. An jenem Abend befanden sich 75.000 Arbeiter im Streik; aber als die Arbeiter von Renault-Billancourt in den Kampf traten, wurde ein deutliches Signal gesetzt. Es handelte sich um die größte Fabrik in Frankreich (35.000 Beschäftigte) und seit langem galt ein Sprichwort: „Wenn Renault niest, hat Frankreich Schnupfen.“ Am 17. Mai gab es 215.000 Streikende. Die Streiks erreichten nunmehr ganz Frankreich, vor allem die Provinz. Es handelte sich um eine vollkommen spontane Bewegung; die Gewerkschaften liefen ihr nur nach. Überall standen die jungen Arbeiter an ihrer Spitze. Häufig verbrüderten sich Studenten und junge Arbeiter. Junge Arbeiter zogen in die besetzten Universitäten und forderten die Studenten auf, zu ihnen in die Kantinen zum Essen zu kommen. Es gab keine genauen Forderungen. Stattdessen äußerte sich eher Unmut. Auf einer Fabrikmauer in der Normandie stand: „Wir brauchen Zeit zum Leben und mehr Würde!“ An jenem Tag rief die CGT zur „Ausdehnung des Streiks“ auf. Sie hatte Angst, von der „Basis überrollt“ und von der CFDT, welche von den ersten Tagen an viel präsenter war, verdrängt zu werden. Wie man damals sagte, war sie auf den „fahrenden Zug aufgesprungen“. Ihr Aufruf wurde erst am nächsten Tag bekannt. Am 18. Mai standen mittags eine Million Arbeiter im Streik, noch bevor der Streikaufruf der CGT bekannt wurde. Am Abend streikten zwei Millionen Beschäftigte. Am 20. Mai streikten sechs Millionen, und am 21. Mai hatten schon 6.5 Millionen die Arbeit niedergelegt. Am 22. Mai befanden sich acht Millionen im unbefristeten Streik. Es handelte sich um den größten Streik in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Er war sehr viel massiver als die vorher berühmt gewordenen Streiks – der ‚Generalstreik’ des Mai 1926 in Großbritannien (der eine Woche dauerte) und die Streiks im Mai-Juni 1936 in Frankreich. Alle Bereiche waren betroffen: Industrie, Transport und Verkehr, Energie, Post und Telekommunikation, Erziehungswesen, Verwaltungen (mehrere Ministerien waren vollkommen lahm gelegt), Medien (das staatliche Fernsehen streikte, die Beschäftigten prangerten vor allem die aufgezwungene Zensur an), Forschungslabore usw. Selbst die Bestattungsunternehmer streikten (Mai 68 war ein schlechter Zeitpunkt zum Sterben). Gar Berufssportler schlossen sich der Bewegung an. Die rote Fahne wehte über den Gebäuden des französischen Fußballverbandes. Die Künstler standen nicht abseits, das Filmfestival in Cannes wurde auf Veranlassung der Regisseure unterbrochen.In dieser Zeit wurden die besetzten Universitäten (wie auch andere öffentliche Gebäude wie das Odéon-Theater in Paris) zu Orten ständiger politischer Debatte. Viele Arbeiter, insbesondere die Jungen, aber nicht nur diese, beteiligten sich an diesen Diskussionen. Arbeiter baten diejenigen, die die Notwendigkeit einer Revolution vertraten, zu den Versammlungen in den besetzten Betrieben zu kommen und dort ihren Standpunkt zu vertreten. So wurde der kleine Kern von Leuten, die später die Sektion der IKS in Frankreich gründen sollte, dazu aufgefordert, in der besetzten Fabrik JOB ihre Auffassungen von den Arbeiterräten zu erklären. Und am bedeutendsten war, dass diese Einladung von Mitgliedern der …CGT und der KPF ausgesprochen wurde. Diese mussten eine Stunde lang mit den Hauptamtlichen der CGT des großen Werkes Sud-Aviation verhandeln, die gekommen waren, um die Streikposten der JOB zu ‚verstärken’, bevor sie die Zustimmung erhielten, ‚Linksradikale’ in das Werk zu lassen. Mehr als sechs Stunden lang diskutierten Arbeiter und Revolutionäre, auf Papierrollen sitzend, über die Revolution, die Geschichte der Arbeiterbewegung, die Sowjets und gar über den Verrat ... der KPF und der CGT. Viele Diskussionen fanden ebenfalls auf den Straßen und Bürgersteigen statt (im Mai 68 herrschte überall schönes Wetter). Sie entstanden spontan, jeder hatte etwas zu sagen („Man hört dem anderen zu und redet miteinander“ war einer der Slogans). Überall herrschte so etwas wie Feststimmung, außer in den ‚Reichenvierteln’, wo sich Angst und Hass ansammelten. Überall in Frankreich, in den Stadtvierteln, in einigen großen Betrieben oder in den benachbarten Bezirken tauchten „Aktionskomitees“ auf. Dort wurde darüber diskutiert, wie man kämpfen sollte, wie eine revolutionäre Perspektive aussehen könnte. Im Allgemeinen wurden diese Diskussionen von linken oder anarchistischen Gruppen angestoßen, aber dort versammelten sich viel mehr Leute als Mitglieder dieser Organisationen. Selbst bei der ORTF, den staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, entstand ein Aktionskomitee, das insbesondere von Michel Drucker mit angetrieben wurde, und an dem sich der unbeschreibliche Thierry Rolland beteiligte.

Die Reaktionen der Bourgeoisie

In Anbetracht dieser Lage befand sich die herrschende Klasse in einer Phase des Umherirrens, was sich durch verwirrte und unwirksame Initiativen äußerte. So diskutierte und verwarf das Parlament, welches von der Rechten beherrscht wurde, einen Zensurantrag, der von der Linken zwei Wochen zuvor eingebracht worden war: Die offiziellen Institutionen der Republik Frankreichs schienen in einer anderen Welt zu leben. Das Gleiche traf auf die Regierung zu, die an jenem Tag beschloss, Daniel Cohn-Bendit, der nach Deutschland gereist war, die Wiedereinreise zu verbieten. Diese Entscheidung ließ die Unzufriedenheit nur noch weiter hochkochen. Am 24. Mai kam es zu mehreren Demonstrationen, insbesondere um gegen das Aufenthaltsverbot Cohn-Bendits zu protestieren: „Nieder mit den Landesgrenzen!“ „Wir sind alle deutsche Juden!“ Trotz des von der CGT gelegten Sperrrings gegen die „Abenteurer“ und „Provokateure“ (d.h. die „radikalen“ Studenten) schlossen sich viele junge Arbeiter diesen Demonstrationen an. Am Abend hielt der Präsident der Republik, General de Gaulle, eine Rede. Er schlug ein Referendum vor, damit die Franzosen sich zur „Beteiligung“ äußern (eine Art Assoziation Kapital-Arbeit). Weltfremder konnte man nicht sein. Diese Rede stieß auf taube Ohren. Sie zeigte die totale Verwirrung der Regierung und der Bourgeoisie im Allgemeinen (1). In den Straßen hatten die Demonstrationen die Rede in Transistorradios verfolgt. Die Wut stieg sofort weiter an: „Wir pfeifen auf seine Rede.“ In ganz Paris und in mehreren Provinzstädten kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen; Barrikaden wurden errichtet. Zahlreiche Schaufenster wurden zerschlagen, Autos in Brand gesetzt. Dadurch richtete sich ein Teil der öffentlichen Meinung gegen die Studenten, die nunmehr als „Krawallmacher“ angesehen wurden. Es ist übrigens wahrscheinlich, dass sich unter die Demonstranten Mitglieder der gaullistischen Milizen oder Zivilpolizisten gemischt hatten, um Öl aufs Feuer zu gießen und der Bevölkerung Angst einzujagen. Es war aber auch klar, dass viele Studenten glaubten, sie würden die ‚Revolution machen’, indem sie Barrikaden errichteten oder Autos anzündeten, die als Symbol der ‚Konsumgesellschaft’ galten. Aber diese Handlungen brachten vor allem die Wut der Demonstranten, Studenten und jungen Arbeiter über die lächerlichen und provozierenden Reaktionen der Behörden gegenüber der größten Streikwelle der Geschichte zum Vorschein. Ein Ausdruck dieser Wut gegen das System: das Symbol des Kapitalismus, die Pariser Börse, wurde in Brand gesetzt. Schließlich konnte die Bourgeoisie erst am darauf folgenden Tag wirksamere Maßnahmen ergreifen. Am Samstag, den 25. Mai, wurden Verhandlungen im Arbeitsministerium (rue de Grenelle) zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Regierung aufgenommen. Von Anfang an waren die Arbeitgeber bereit, mehr zuzugestehen, als was die Gewerkschaften erwartet hatten. Es war offensichtlich, dass die Bourgeoisie Angst hatte. Der Premierminister Pompidou leitete die Verhandlungen. Am Sonntagmorgen traf er den Chef der CGT, Séguy, eine Stunde lang unter vier Augen. Die beiden Hauptverantwortlichen für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frankreich brauchten Zeit, um ohne Zeugen die Bedingungen für die Wiederherstellung der Ordnung zu besprechen (2). In der Nacht vom 26. zum 27. Mai wurde das „Abkommen von Grenelle“ unterzeichnet: - Lohnerhöhung von 7% für alle ab dem 1. Juni, plus 3% zusätzlich ab dem 1. Oktober;- Erhöhung der Mindestlöhne um 25%;- Kürzung der „Eigenleistungen“ im Gesundheitswesen von 30% auf 25% (insbesondere die Gesundheitsausgaben, die die Sozialversicherung nicht übernahm); - Anerkennung der Gewerkschaften in den Betrieben;- Sowie eine Reihe von sehr vagen Versprechungen des Beginns von Verhandlungen, insbesondere über die Frage der Arbeitszeit (die damals durchschnittlich 47 Stunden pro Woche betrug). In Anbetracht der Stärke der Bewegung handelte es sich um eine wahre Provokation: - Die 10% Lohnerhöhung sollte schnell durch die Inflation aufgefressen werden (damals gab es eine hohe Inflationsrate); - nichts zur Frage des Lohnausgleichs für die Inflation; - nichts Konkretes zur Verkürzung der Arbeitszeit. Man gab sich damit zufrieden, als Ziel die „schrittweise“ Rückkehr zur 40 Stundenwoche (welche schon 1936 offiziell erreicht worden war) zu proklamieren. Wäre man dem von der Regierung vorgeschlagenen Rhythmus gefolgt, hätte man das Ziel 2008 erreicht!- Die einzigen, die etwas Wesentliches erreichten, waren die am geringsten bezahlten Arbeiter (man wollte die Arbeiterklasse spalten und sie zur Wiederaufnahme der Arbeit drängen) sowie die Gewerkschaften (welche für ihre Saboteursrolle belohnt wurden). - Am 27. Mai verwarfen die Vollversammlungen das „Abkommen von Grenelle“ einstimmig. Bei Renault Billancourt haben die Gewerkschaften eine ‚Showveranstaltung’ organisiert, über die von den Medien groß berichtet wird. Als er von den Verhandlungen zurückkam, sagte Séguy zu den Journalisten, „die Wiederaufnahme der Arbeit steht unmittelbar bevor“, und er hoffte sehr wohl, dass die Arbeiter von Billancourt ein Beispiel dafür liefern würden. Aber 10.000 Beschäftigte, die sich seit dem Morgen versammelt hatten, hatten die Fortsetzung der Streiks beschlossen, noch bevor die Gewerkschaftsführer angekommen waren. Benoît Frachon, ‘historischer’ Führer der CGT (der sich schon an den Verhandlungen von 1936 beteiligt hatte) erklärte: „Das Abkommen von Grenelle wird Millionen von Arbeitern einen Wohlstand bieten, den sie nicht erhofft hatten.“ Todesstille im Saal. André Jeanson von der CFDT freute sich über das anfängliche Votum zur Fortsetzung des Streiks und sprach von der Solidarität zwischen Arbeitern, Studenten und kämpfenden Oberschülern: stürmischer Beifall. Schließlich trug Séguy einen „objektiven Bericht“ der „Errungenschaften von Grenelle“ vor: minutenlanges Pfeifkonzert. Danach machte Séguy eine Kehrtwendung: „Wenn man nach dem hier gehörten urteilen muss, werdet ihr euch nicht über den Tisch ziehen lassen!“ Applaus, aber aus der Menge rief eine Stimme: „Er führt uns hinters Licht.“ Der beste Beweis der Verwerfung des „Abkommens von Grenelle“: die Zahl der Streikenden stieg noch am 27. Mai auf neun Millionen. Am 9. Mai fand im Sportstadion Charléty in Paris eine große Versammlung statt. Sie wurde von der Studentengewerkschaft UNEF, der CFDT (welche sich radikaler als die CGT gab) und linken Gruppen einberufen. In den Reden wurden revolutionäre Töne geschwungen. Man wollte für die wachsende Unzufriedenheit mit der CGT und der KPF ein Ventil finden. Neben den Vertretern der Extremen Linken waren auch Politiker der Sozialdemokratie wie Mendès-France anwesend (ehemaliger Regierungschef in den 1950er Jahren). Cohn-Bendit, der mit schwarz gefärbten Haaren aus Deutschland zurückgekehrt war, trat auch auf (am Vorabend war er in der Sorbonne erschienen). Der 28. Mai war der Tag der Manöver und Schachzüge der linken Parteien. Am Morgen hielt François Mitterrand, Vorsitzender der « Fédération de la gauche démocrate et socialiste“ (in der die Sozialistische Partei, die Radikale Partei und verschiedene kleine linke Gruppe vertreten waren) eine Pressekonferenz ab. Er meinte, es gebe ein Machtvakuum – deshalb kündigte er seine Kandidatur als Präsident der Republik an. Am Nachmittag schlug Waldeck-Rochet, der Führer der KPF, eine Regierung mit „kommunistischer Beteiligung“ vor. Es ging darum zu vermeiden, dass die Sozialdemokraten die Lage allein zu ihren Gunsten ausnutzten. Am 29. Mai folgte eine große Demonstration, zu welcher die CGT aufrief und in der sie eine „Volksregierung“ forderte. Die Rechten warnten sofort vor einem „kommunistischen Komplott“. An diesem Tag „tauchte“ General de Gaulle ab. Einige brachten das Gerücht in Umlauf, er trete ab; tatsächlich flog er nach Deutschland, um dort die Unterstützung des General Massus, welcher in Deutschland die französischen Besatzungstruppen befehligte, und die Loyalität der Armee sicher zu stellen. Der 30. Mai stellte eine Art entscheidenden Tag dar bei dem Versuch der Bourgeoisie, die Lage wieder in den Griff zu kriegen. De Gaulle hielt erneut eine Rede. „Unter den gegenwärtigen Bedingungen trete ich nicht zurück (…). Ich löse heute die Nationalversammlung auf ...“ Gleichzeitig fand in Paris auf den Champs-Élysées eine gewaltige Demonstration zur Unterstützung de Gaulles statt. Aus den Reichenvierteln, den wohlhabenden Vororten und auch vom Land wurde mit Armeelastern das „Volk“ herangekarrt. Es kamen zusammen die Verängstigten und Besitzenden, die Bürgerlichen, die Vertreter der Religionsschulen für die Kinder der Reichen, die Führungsschichten, die sich ihrer ‚Überlegenheit’ bewusst waren, die kleinen Geschäftsinhaber, die um ihre Schaufenster fürchteten; Kriegsveteranen, die wegen der Angriffe auf die Nationalfahne erbost waren, die Geheimpolizei, die mit der Unterwelt unter einer Decke steckte, aber auch alte Algeriensiedler und die OAS, junge Mitglieder der faschistoiden Gruppe Occident, die alten Nostalgiker Vichys (obwohl diese alle de Gaulle verachteten). All diese feinen Leute strömten zusammen, um ihren Hass auf die Arbeiterklasse und ihre ‚Ordnungsliebe’ zu bekunden. Aus der Menge, zu der auch alte Kämpfer des „freien Frankreich“ gehörten, drangen Rufe wie „Cohn-Bendit nach Dachau!“. Aber die „Partei der Ordnung“ beschränkte sich nicht auf die Demonstranten auf den Champs-Elysées. Am gleichen Tag rief die CGT zu branchenmäßigen Verhandlungen zur „Verbesserung der Errungenschaften von Grenelle“ auf. Es handelte sich um ein Mittel zur Spaltung der Bewegung, um sie so vernichten zu können.

Die Wiederaufnahme der Arbeit

Von jenem Donnerstag an wurde die Arbeit wieder aufgenommen, allerdings nur langsam, denn am 6. Juni streikten immer noch ca. 6 Millionen Beschäftigte. Die Arbeit wurde in großer Zerstreuung wieder aufgenommen. 31. Mai: Stahlindustrie Lothringens, Textilindustrie Nordfrankreichs,4. Juni: Arsenale, Versicherungen5. Juni : Elektrizitätswerke, Kohlebergwerke6. Juni : Post, Telekommunikation, Transportwesen (In Paris setzte die CGT Druckmittel zur Wiederaufnahme der Arbeit ein. In jedem Betriebswerk kündigten die Gewerkschaftsführer an, dass in den anderen Depots die Arbeit schon wieder aufgenommen worden sei, was eine Täuschung war.);7. Juni: Grundschulen10. Juni: das Renault-Werk in Flins wurde von der Polizei besetzt. Ein von den Polizisten verprügelter Gymnasiast fiel in die Seine und ertrank;11. Juni: Intervention der CRS (Bürgerkriegspolizei) in den Peugeot-Werken in Sochaux (zweitgrößtes Werk in Frankreich). Zwei Arbeiter wurden getötet. In ganz Frankreich kam es erneut zu gewalttätigen Demonstrationen. „Sie haben unsere Genossen getötet.“ Trotz des entschlossenen Widerstands der Arbeiter räumten die CRS das Sochaux-Werk. Aber die Arbeit wurde erst 10 Tage später wieder aufgenommen. Aus Furcht, dass die Empörung erneut zu einem Wiederaufleben der Streiks führte (immerhin standen noch drei Millionen Beschäftigte im Streik), riefen die Gewerkschaften (mit der CGT an der Spitze) und die Linksparteien (mit der KPF an der Spitze) nachdrücklich zur Wiederaufnahme der Arbeit auf, „damit die Wahlen stattfinden können und der Sieg der Arbeiterklasse vervollständigt werden kann.“ Die Tageszeitung der KPF, l’Humanité, trug die Schlagzeile: „Gestärkt durch ihren Sieg nehmen Millionen Beschäftigte die Arbeit wieder auf.“ Der systematische Streikaufruf durch die Gewerkschaften vom 20. Mai an konnte nun erklärt werden: Sie wollten die Bewegung kontrollieren, damit sie so leichter zur Wiederaufnahme der Arbeit in den weniger kämpferischen Teilen und zur Demoralisierung der anderen Bereiche drängen konnten. Waldeck-Rochet erklärte in seinen Reden während des Wahlkampfes, dass die « Kommunistische Partei eine Partei der Ordnung ist ». In der Tat konnte die bürgerliche „Ordnung“ schrittweise wiederhergestellt werden. 12. Juni: Wiederaufnahme der Arbeit in den Schulen der Sekundarstufe14. Juni: Air France und Seeschiffahrt16. Juni : Besetzung der Sorbonne durch die Polizei17. Juni: chaotische Wiederaufnahme der Arbeit bei Renault Billancourt18. Juni: De Gaulle ließ die Führer der OAS freisetzen, die noch im Gefängnis saßen;23. Juni: Erster Wahltag der Parlamentswahlen mit großen Stimmengewinnen für die Rechten;24. Juni: Wiederaufnahme der Arbeit bei Citroën Javel, mitten in Paris (Krasucki, Nummer 2 der CGT, trat vor der Vollversammlung auf und rief zum Streikabbruch auf.)26. Juni: Usinor Dünkirchen30. Juni : Stichwahl mit einem historischen Sieg der Rechten. Einer der Betriebe, die als letzte die Arbeit wieder aufnahmen, waren die Radio- und Fernsehanstalten am 12. Juli. Viele Journalisten wollten nicht wieder bevormundet und zensiert werden, wie das vorher so sehr durch die Regierung geschehen ist. Nach der Wiederaufnahme der Arbeit wurden viele von ihnen entlassen. Überall wurde die Ordnung wiederhergestellt, gerade auch bei den Medien, die wichtig waren für die gezielte „Bearbeitung“ der Bevölkerung. So endete der größte Streik der Geschichte im Gegensatz zu den Behauptungen der CGT und der KPF in einer Niederlage. Eine schwere Schlappe, die durch die Rückkehr der Parteien und „Autoritäten“ bekräftigt wurde, welche während der Bewegung die ganze Wut und Verachtung auf sich gezogen hatten. Aber die Arbeiterbewegung weiß schon seit langem: „Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“ (Kommunistisches Manifest). Aber ungeachtet ihrer unmittelbaren Niederlage haben die Arbeiter in Frankreich 1968 einen großen Sieg nicht nur für sich selbst, sondern für das ganze Weltproletariat errungen. Dies werden wir in unserem nächsten Artikel aufzeigen, in dem wir versuchen werden, die tiefer liegenden Ursachen wie auch die historische und internationale Dimension dieses „schönen Mai“ in Frankreich herauszustellen. Fabienne (27/04/2008) 1) Am Tag nach dieser Rede kündigten die Beschäftigten der Kommunen in vielen Städten an, dass sie sich weigerten, das Referendum zu organisieren. Auch wussten die Behörden nicht, wie sie Wahlzettel drucken sollten – die Staatsdruckerei wurde bestreikt und die nicht streikenden privaten Druckereien verweigerten den Druckauftrag. Die Arbeitgeber wollten keine zusätzlichen Scherereien mit ihren Beschäftigten haben. 2) Man erfuhr später, dass Chirac, Staatssekretär im Ministerium für soziale Angelegenheiten, ebenfalls Krasucki, die Nummer 2 der CGT, (auf einem Dachboden!) getroffen hat.

 

Geographisch: 

  • Frankreich [4]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Mai 68 [5]

Leute: 

  • Cohn-Bendit [6]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • Mai 1968 in Frankreich [7]

Historische Ereignisse: 

  • Mai 68 [8]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [9]

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Links
[1] https://libcom.org/news/a-world-food-crisis-empty-rice-bowls-fat-rats-16042008 [2] https://de.internationalism.org/en/tag/3/52/umwelt [3] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus [4] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/frankreich [5] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/mai-68 [6] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/cohn-bendit [7] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/mai-1968-frankreich [8] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/mai-68 [9] https://de.internationalism.org/en/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse