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Februar 2011

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Aufstände in Tunesien und Ägypten, die beste Solidarität ist Klassenkampf

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Wir veröffentlichen nachfolgend einen Artikel, den wir 6 Tage vor dem Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Mubarak verfasst haben. Wir werden in kürze auf die Ereignisse seit dem Rücktritt des Präsidenten und die weitere Entwicklung eingehen. Der Donner in Tunesien und Ägypten hallt in Algerien, Libyen, Marokko, Gaza, Jordanien, Syrien, Irak, Bahrain und Jemen wider. Welche Fahnen die Demonstranten auch tragen mögen, all diese Proteste haben ihre Wurzeln in der weltweiten Wirtschaftskrise des Kapitalismus und ihrer direkten Auswirkungen: Arbeitslosigkeit, steigende Preise, Sparpolitik, Repression und Korruption der Regierungen, die diese brutalen Angriffe gegen die Lebensbedingungen zentralisieren. Kurzum, sie haben die gleichen Wurzeln wie die Revolte der griechischen Jugend gegen die Polizeirepression 2008, der Kampf gegen die „Rentenreform“ in Frankreich, die jüngsten Studentenproteste in Italien und Großbritannien und die Arbeiterstreiks von Bangladesh bis China und von Spanien bis die USA.

Wir veröffentlichen nachfolgend einen Artikel, den wir 6 Tage vor dem Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Mubarak verfasst haben. Wir werden in kürze auf die Ereignisse seit dem Rücktritt des Präsidenten und die weitere Entwicklung eingehen.

Der Donner in Tunesien und Ägypten hallt in Algerien, Libyen, Marokko, Gaza, Jordanien, Syrien, Irak, Bahrain und Jemen wider. Welche Fahnen die Demonstranten auch tragen mögen, all diese Proteste haben ihre Wurzeln in der weltweiten Wirtschaftskrise des Kapitalismus und ihrer direkten Auswirkungen: Arbeitslosigkeit, steigende Preise, Sparpolitik, Repression und Korruption der Regierungen, die diese brutalen Angriffe gegen die Lebensbedingungen zentralisieren. Kurzum, sie haben die gleichen Wurzeln wie die Revolte  der griechischen Jugend gegen die Polizeirepression 2008, der Kampf gegen die „Rentenreform“ in Frankreich, die jüngsten Studentenproteste in Italien und Großbritannien und die Arbeiterstreiks von Bangladesh bis China und von Spanien bis die USA.

Die Entschlossenheit, der Mut und das Solidaritätsgefühl, das in den Straßen von Tunesien, Kairo, Alexandria und vielen anderen Städten zutage tritt, sind sehr inspirierend. Die Massen, die den Tahir-Platz in Kairo besetzt halten oder andere öffentliche Plätze haben sich selbst mit Nahrungsmitteln versorgt, die Angriffe von regimetreuen Schlägertrupps und der Polizei abgewehrt, die Soldaten zur Verbrüderung aufgerufen, ihre Verwundeten gepflegt, Spaltungen zwischen Muslimen und Christen, zwischen religiös und weltlich orientierten Gruppen beiseite geschoben.  In den Stadtvierteln haben sie Komitees gegründet, um ihre Häuser vor den Plünderern zu schützen, die von der Polizei manipuliert werden. Zehntausende haben tagelang oder gar wochenlang gestreikt, um die Reihen der Demonstranten zu stärken.

In Anbetracht des Gespenstes massiver Revolten und der Angst vor der Ausdehnung der Bewegung in der gesamten ‘arabischen Welt’ und sogar darüber hinaus, hat die herrschende Klasse auf der ganzen Welt mit zwei ihrer verlässlichsten Waffen reagiert: Repression und Mystifikation. In Tunesien wurden Dutzende auf den Straßen erschossen, aber jetzt verkündet die herrschende Klasse den Anfang eines Übergangs zur Demokratie; in Ägypten pendelt das Mubarak-Regime zwischen Verprügeln, Erschießen, Tränengaseinsatz, Verhöhnen und Verbreiten von vagen Versprechungen. Im Gaza-Streifen verhaftet die Hamas Demonstranten, die ihre Solidarität mit den Revolten in Tunesien und Ägypten zeigen,  in der Westbank hat die PLO „nicht zugelassene Versammlungen“ zur Unterstützung der Aufstände verboten; im Irak schießt das Regime, das von den US-und britischen „Befreiern“ in den Sattel gehievt wurde, auf Teilnehmer an Protesten gegen Arbeitslosigkeit und Güterknappheit. In Algerien werden Konzessionen nach dem Niederknüppeln der ersten Revolten gemacht, indem schüchterne Protestformen zugelassen werden; in Jordanien hat der König seine Regierung entlassen.

Auf internationaler Ebene hört man von Seiten der  herrschenden Klasse zwei Töne: die Rechten und natürlich Israel unterstützen offen das Regime Mubaraks als das einzige Bollwerk gegen eine Übernahme der Macht durch Islamisten. Und ein Grundgedanke wird von Obama verbreitet: nach anfänglichem Zögern lautete seine Botschaft, dass Mubarak gehen müsse und zwar schnell. Der „Übergang zur Demokratie“ wird als der einzige Weg vorwärts für die unterdrückten Massen Nordafrikas und des Mittleren Ostens dargestellt.

Die Gefahren für die Bewegung

Die Massenbewegung mit Schwerpunkt  Ägypten steht somit vor zwei Gefahren: eine Gefahr ist, dass der Geist der Revolte im Blut erstickt wird. Es scheint, dass der Anfangsversuch des Mubarak-Regimes, sich mittels eiserner Faust zu retten, fehl geschlagen ist. Zunächst musste die Polizei sich aufgrund der Massendemonstrationen aus den Straßen zurückziehen, und den Prügelknaben des Mubarak-Regimes ist es letzte Woche auch nicht gelungen, den Willen der Demonstranten zu brechen. Bei beiden Konfrontationsrunden stellte sich die Armee als „neutrale Kraft“ dar, sogar als eine Kraft auf Seiten der Mubarak-feindlichen Versammlungen, welche sie vor den Angriffen der Verteidiger des Regimes schützte. Ohne Zweifel sympathisieren viele Soldaten mit den Protesten und wären nicht bereit, auf die Menge in der Straße zu schießen. Einige Soldaten sind auch schon desertiert. In den höheren Rängen der Militärhierarchie gibt es sicherlich Kreise, die Mubarak jetzt loswerden wollen. Aber die Armee des kapitalistischen Staates ist keine neutrale Kraft. Ihr „Schutz“ des Tahir-Platzes ist auch eine Art Eindämmung, ein großer Kessel, und wenn es hart auf hart kommt, wird die Armee tatsächlich gegen die Ausgebeuteten eingesetzt werden, es sei denn diesen gelingt es, die unteren Ränge der Armee, die Rekruten, für sich zu gewinnen und die Armee als ein organisierter Teil der Staatsmacht zum Zerbröseln zu bringen.

Aber damit sind wir bei der zweiten großen Gefahr angelangt, vor der die Bewegung steht – die Gefahr der weitverbreiteten Illusionen in die Demokratie. Der Glaube, dass der Staat vielleicht nach einigen Reformen dazu bewegt werden kann, dem Volk zu dienen, der Glaube, dass „alle Ägypter“, vielleicht mit Ausnahme einiger weniger korrupter Individuen, grundsätzlich die gleichen Interessen hätten, der Glaube an die Neutralität der Armee, der Glaube, dass die furchtbare Armut, unter der die Mehrheit der Bevölkerung leidet, überwunden werden kann, wenn es ein funktionierendes Parlament und ein Ende der Willkürherrschaft eines Ben Ali oder Mubarak gibt…

Diese Illusionen der Demonstranten, die jeden Tag durch deren Reden und deren Spruchbänder sichtbar werden, entwaffnen die wirkliche Bewegung der Befreiung, welche eigentlich nur vorankommen kann als seine Bewegung der Arbeiterklasse, die für ihre eigenen Interessen kämpft, die sich von denen der anderen Gesellschaftsschichten unterscheiden, und die vor allem den Interessen der Herrschenden und all ihrer Parteien und Fraktionen entgegengesetzt sind. Die unzähligen Ausdrücke der Solidarität und Selbstorganisation, die man bislang beobachten konnte, spiegeln das typisch proletarische Wesen der gegenwärtigen Erhebungen wider, und wie viele der Protestierenden meinten, sie kündigen eine neue und humanere Gesellschaft an. Aber diese neue und bessere Gesellschaft kann nicht durch Parlamentswahlen eingeführt werden, indem El Barbadei oder die Moslimbruderschaften oder irgendeine andere bürgerliche Fraktion an die Spitze des Staates gestellt werden.  Diese Fraktionen, die durch die Illusionen der Massen an die Macht gespült werden können, werden nicht davor zurückschrecken, später Repression gegen dieselben Massen einzusetzen.

In den mainstream Medien und in den Gruppierungen der Extremen Linken redet man viel von einer “Revolution” in Tunesien und Ägypten. Aber die einzige Revolution, die heute Sinn macht, ist die proletarische Revolution, weil wir in einer Ära leben, in welcher der Kapitalismus, demokratisch oder diktatorisch, der Menschheit ganz einfach nichts mehr anbieten kann. Solch eine Revolution kann nur international erfolgreich sein, indem sie alle nationalen Grenzen und Nationalstaaten überwindet. Die heutigen Klassenkämpfe und Massenrevolten sind sicherlich eine Stufe auf dem Weg zu solch einer Revolution, aber sie stoßen auf alle möglichen Hürden. Um das Ziel der Revolution zu verwirklichen, müssen tiefgreifende Umwälzungen der politischen Organisation und des Bewusstseins von Millionen von Menschen stattfinden.

In gewisser Hinsicht verkörpert die Lage in Ägypten sehr gut die historische Lage, vor der die Menschheit insgesamt steht. Der Kapitalismus befindet sich in seinem endgültigen Niedergang. Die herrschende Klasse kann für die Zukunft des Planeten keine Perspektiven anbieten, aber die ausgebeutete Klasse ist sich ihrer eigenen Macht,  ihrer eigenen Perspektiven und ihres eigenen Programms der Überwindung dieser Gesellschaft noch nicht bewusst. Letztendlich besteht die Gefahr, dass diese vorübergehende Pattsituation in der gegenseitigen Zerstörung der beteiligten Klassen endet, wie das Kommunistische Manifest schrieb, in einem Versinken in Chaos und Zerstörung. Aber die Arbeiterklasse wird ihre eigene Macht nur dadurch entdecken, indem sie wirkliche Kämpfe führt; deshalb sind die Auseinandersetzungen in Nordafrika und im Mittleren Osten trotz all ihrer Illusionen und Schwächen ein wahres Leuchtfeuer für die anderen ArbeiterInnen auf der Welt.  

Vor allem stellen sie einen Aufruf an die ArbeiterInnen der höher entwickelten Länder dar, die ebenso angefangen haben, wieder zurück zum Kampf zu finden, den nächsten Schritt zu vollziehen, ihre praktische Solidarität mit den Massen der “Dritten Welt” zum Ausdruck zu bringen, indem sie ihren eigenen Kampf gegen die Sparpolitik und die Verarmung intensivieren. Dadurch legen sie all die Lügen von der kapitalistischen Freiheit und Demokratie bloß, mit der sie eine lange und bittere Erfahrung gemacht haben.      

World Revolution, 5.2.2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Algerien [1]
  • Aufstand Tunesien [2]
  • Ägypten [3]
  • Klassenkampf Nordafrika [4]
  • Naher Osten [5]

Leute: 

  • Ben Ali [6]
  • Mubarak [7]
  • El Baradei [8]

Der Klassenkampf rückt in den Mittelpunkt

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Nichts deutet daraufhin, dass die Flut der Rebellion in Nordafrika und im Nahen Osten abebbt. Die jüngsten Entwicklungen: Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei in der libyschen Stadt Bengasi nach der Verhaftung eines Anwalts, der an einer Kampagne beteiligt war, die eine Untersuchung des brutalen Massakers an Hunderten von Gefängnisinsassen nach Protesten im Jahr 1996 forderte. Gaddafis Regime geht erneut mit unbarmherziger Brutalität vor – es gibt Berichte über Heckenschützen und Helikopter, die in die Mengen feuern und viele dabei töten; in Bahrain besetzten Tausende von Demonstranten die Pearl-Kreuzung in Manama, in der Hoffnung, so an die Besetzung des Tahir-Platzes anzuknüpfen. Sie riefen Slogans gegen sektiererische Spaltungen („Keine Schiiten, keine Sunniten – wir sind alle Bahrainis!“) und gegen selbsternannte Führer („Wir haben keine Führer“). Als diese Zeilen verfasst wurden, hatte die Bereitschaftspolizei den Platz gerade unter erheblicher Gewaltanwendung geräumt – etliche Demonstranten wurden verletzt worden, einige getötet. Im Irak hat es neue Demonstrationen gegen die Lebensmittelpreise und den Strommangel gegeben. 

Doch die vielleicht wichtigste Entwicklung in der letzten Woche war die eindeutige Bewegung von Massenkämpfen der ArbeiterInnen in Ägypten gewesen. Um dies zu verdeutlichen, stützen wir uns auf Artikelauszüge von Journalisten oder Akademikern, die auf die Existenz von Arbeiterkämpfen in Ägypten hingewiesen haben, welche viel weiter entwickelt sind als es anhand der Informationen, die der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, erkennbar wird. Dies trifft insbesondere auf die Selbstorganisierung der Arbeiter zu.  Von dem verständlichen Enthusiasmus seines Autors mitgerissen, neigt der nachfolgende Auszug zu einer gewissen Übertreibung, wenn er vom „revolutionären Kampf an den Arbeitsplätzen“ spricht. Aus unserer Sicht hat die Lage nicht solch einen Reifegrad erreicht, wie die gegenwärtigen Grenzen der Bewegung, auf die wir am Ende des Artikels eingehen, selbst zeigen.

Wie Hossam el-Hamalawy (1) in einem Artikel, der vomGuardian am14. Februar veröffentlicht worden war, schrieb, war die starke Zunahme von Arbeiterkämpfen zugunsten eigener Forderungen ein mächtiger Faktor bei der Entscheidung der Armee, Mubarak in die Wüste zu schicken:

„Alle Klassen in Ägypten nahmen am Aufstand teil. Mubarak war es gelungen, sich von allen sozialen Klassen der Gesellschaft zu entfremden. Auf dem Tahir-Platz traf man auf Söhne und Töchter der ägyptischen Eliten, zusammen mit ArbeiterInnen, Mittelständlern und den Armen der Stadt. Doch es sei daran erinnert, dass erst als die Massenstreiks am Mittwoch begonnen hatten (1), das Regime zu bröckeln begann und die Armee Mubarak dazu zwingen musste, zurückzutreten, da das System dabei war zu kollabieren… Vom ersten Tag, dem 25. Januar, an hatte die Arbeiterklassean den Protesten teilgenommen. Doch die ArbeiterInnen nahmen zunächst als‚Demonstranten‘ und nicht unbedingt als ‚ArbeiterInnen‘ teil – was bedeutete, dass sie nicht unabhängig agierten. Die Regierung, nicht die Protestierenden, hat die Wirtschaft zum Halten gebracht,  mit ihrer Ausgangssperre und indem sie Banken und Geschäfte schloss. Es war ein kapitalistischer Streik, der darauf abzielte, das ägyptische Volk zu terrorisieren. Erst als die Regierung versuchte, das Land am 8. Februar wieder in den ‚Normalzustand‘ zu versetzen, kehrten die ArbeiterInnen in ihre Fabriken zurück, diskutierten die aktuelle Lage und begannen, sich in Massen zu organisieren und als unabhängiger Block zu handeln.“

Ein Artikel von David McNally (2) aufwww.pmpress.org [9] gibt eine Vorstellung davon, wie weit verbreitet diese Bewegung gewesen war:

„Im Verlaufe weniger Tage in der ersten Februarwoche stürzten sich Zehntausende von ihnen in die Schlacht. Tausende von Eisenbahnarbeitern traten in den Streik und blockierten im Betrieb befindliche Eisenbahnlinien. Sechstausend Arbeiter der Suezkanal-Behörden verließen ihren Arbeitsplatz und veranstalteten Sitzstreiks in Suez und zwei weiteren Städten. In Mahalla blockierten 1.500 ArbeiterInnen der Abul Sebae Textiles die Schnellstraße. Im Kafr al-Zayyat- Krankenhaus veranstalteten Hunderte von Krankenschwestern einen Sitzstreik, dem sich Hunderte anderer Krankenhausbeschäftigte anschlossen.

In ganz Ägypten schlossen sich Tausende anderer Beschäftigter – Busfahrer in Kairo, Angestellte der Telecom Ägypten, Journalisten einer Reihe von Zeitungen, ArbeiterInnen pharmazeutischer Fabriken und von Stahlwerken – der Streikwelle an. Sie forderten bessere Löhne, die Entlassung rücksichtsloser Manager, die Nachzahlung ausstehender Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und unabhängige Gewerkschaften. In vielen Fällen riefen sie auch zum Rücktritt von Präsident Mubarak auf. Und in einigen Fällen, wie im Fall der 2.000 ArbeiterInnen der Helwan Seidenfabrik, forderten sie die Entfernung ihres kompletten Aufsichtsrates. Dann gab es da die Tausenden von Fakultätsmitgliedern der Kairoer Universität, die sich den Protesten anschlossen, den Sicherheitskräften entgegentraten und den Premierminister Ahmed Shariq daran hinderten, zu seinem Regierungsbüro zu gelangen.“

Wir könnten noch zahllose andere Beispiele hinzufügen: über die 20.000 ArbeiterInnen in Al-Mahalla Al-Kobra, 100 Kilometer nördlich von Kairo entfernt, die nach einer dreitägigen Unterbrechung, den Streik in der größten Spinnerei und Weberei in Ägypten wieder aufnahmen. ArbeiterInnen in der Tourismusindustrie, wie die 150, die im Schatten der Pyramiden eine öffentlichkeitswirksame Demo gegen ihre miserablen Löhne veranstalteten; Bankangestellte, die die Entlassung ihrer korrupten Bosse forderten; Ambulanzfahrer, die ihre Vehikel zur Blockierung von Straßen einsetzten, um für bessere Arbeitslöhne zu protestieren; ArbeiterInnen,die vor dem Sitz der ägyptischen Gewerkschaftsbundes demonstrierten und Letzteren als ein „Haufen Diebe“ und als eine „Verbrecherbande“ anprangerten sowie seine Auflösung forderten - ihre Worte bewahrheiteten sich umgehend, als Schlägertypen der ETUF mit Prügel und Kugeln antworteten. Auch die Polizei hatte in aller Öffentlichkeit gegen die Weise protestiert, wie sie gegen die Demonstranten eingesetzt wurde, ein klares Anzeichen für die stark rückläufige Moral in den niederen Rängen der Staatsmacht. Wir könnten noch weitaus mehr solche Beispiele aufzählen.

Wie McNally bemerkt, zeigt diese Bewegung viele Charakteristiken des Massenstreiks, wie sie von Rosa Luxemburg analysiert worden waren:

„Was wir hier sehen, ist mit anderen Worten der Aufstieg der ägyptischen Arbeiterklasse. Nachdem sie bereits im Zentrum des Volksaufstandes auf den Straßen gestanden hatten, tragen nun Zehntausende von ArbeiterInnen den revolutionären Kampf zurück zu ihren Arbeitsplätzen, erweitern und vertiefen die laufende Bewegung. Indem sie so verfahren, beweisen sie die aktuelle Relevanz der Analyse, die von der großen polnisch-deutschen  Sozialistin Rosa Luxemburg entwickelt worden war. In ihrem Buch Der Massenstreik, das sich auf die Erfahrungen aus den Massenstreiks von 1905 gegen die zaristische Diktatur in Russland stützt, argumentiert Luxemburg, dass wirklich revolutionäre Bewegungen sich durch interagierende Wellen des politischen und ökonomischen Kampfes, die sich gegenseitig hochschaukeln, entwickeln. An einer Stelle, die von der Erhebung in Ägypten hätte inspiriert sein können, erklärt sie:

‚Jeder neue Anlauf und neue Sieg des politischen Kampfes verwandelt sich in einen mächtigen Anstoß für den wirtschaftlichen Kampf (…) Nach jeder schäumenden Welle der politischen Aktion bleibt ein befruchtender Niederschlag zurück, aus dem sofort tausendfältige Halme des ökonomischen Kampfes emporschießen. Und umgekehrt. Der unaufhörliche ökonomische Kriegszustand der Arbeiter mit dem Kapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach…‘.“

Wie sowohl McNally als auch Hossam el-Hamalawy hervorheben, kam die Macht dieser Bewegung nicht über Nacht. In den vergangenen sieben Jahren standen die ArbeiterInnen an der vordersten Front des Widerstandes gegen Armut und Repression, die der gesamten Bevölkerung aufgezwungen wurden. Es gab eine Reihe von Streikbewegungen in den Jahren 2004, 2006-07 und 2007-08, wobei die TextilarbeiterInnen von Mahalla eine besonders bedeutsame Rolle spielten, ohne zu vergessen, dass sich auch viele andere Sektoren anschlossen. 2007 veröffentlichten wir einen Artikel (2),der in diesen Kämpfen wegen ihres hohen Selbstorganisationsgrad und ihrer Solidarität bereits die „Keime des Massenstreiks“ wahrnahm. Wie Rosa Luxemburg unterstrich, ist der Massenstreik etwas, das über einen längeren Zeitraumheranreift – die Kämpfe von 1905, über die sie schrieb, waren in den aufeinanderfolgenden Kämpfen der letzten beiden Jahrzehnte vorbereitet worden –und 1905 war auch eine Brücke zur Revolution von 1917.

Doch trotz allen Raunens über die Revolution in diesen Ländern – manchmal ehrlich gemeint, wenngleich irrig, manchmal Bestandteil des mystifizierenden Diskurses des Linksextremismus, der stets danach strebt, allein schon das Konzept der Revolution zu banalisieren – sieht sich diese Bewegung zu zukünftigen Massenstreiks vielen Gefahren ausgesetzt:

- der Gefahr der Repression. Jetzt, wo die massenhaften Proteste sich aufgelöst haben, richtet die Armee, die die Macht „übernommen“ hat (faktisch stand sie immer im Mittelpunkt derselben), dringende Aufrufe an die Ägypter, zur Arbeit zurückzukehren. Schließlich habe die Revolution ja triumphiert! Es gab versteckte Andeutungen, dass Arbeiterversammlungen verboten werden sollen. Wir haben bereits erlebt, dass, während die Armee behauptet hatte, das Volk zu schützen, Hunderte von Aktivisten von just dieser „populären“ Institution festgenommen und gefoltert wurden und dass es keinen Grund gibt, davon auszugehen, dass diese Art von „leiser“ Repression nicht fortgesetzt wird, während Frontalzusammenstöße vermieden werden.

- der Illusionen der Kombattanten selbst. Illusionen wie jene, dass die Armee dem Volk gehört, sind gefährlich, weil sie die Unterdrückten daran hindern, zu erkennen, wo ihr Feind steht und von wo der nächste Schlag kommen wird. Doch die Illusionen in die Armee sind Teil einer allgemeineren Illusion, der Illusion in die „Demokratie“, die Vorstellung, dass eine andere Form des kapitalistischen Staates seine Funktion verändern und ihn dazu bringen könne, den Bedürfnissen der Mehrheit zu dienen. Der Ruf nach unabhängigen Gewerkschaften, die in vielen der heutigen Streiks(3) erhoben werden, sind im Grunde eine Variante dieses demokratischen Mythos: Sie gründen sich insbesondere auf die Idee, dass der kapitalistische Staat, dessen Rolle es ist, ein System zu schützen, das den ArbeiterInnen bzw. der Menschheit insgesamt nichts anzubieten hat, der ausgebeuteten Klasse wenigstens erlauben werde, ihre eigenen unabhängigen Organisationen permanent aufrechtzuerhalten.

Wir sind noch weit weg von einer Revolution in dem einzigen Sinn, den sie heute haben kann – der internationalen proletarischen Revolution. Das authentische revolutionäre Bewusstsein, das erforderlich ist, um solch eine Revolution zum Sieg zu führen, kann sich nur auf globaler Ebene entwickeln, und es kann nicht ohne den Beitrag der ArbeiterInnen in den am höchsten entwickelten Ländern Realität werden. Doch die Proletarier (und die anderen unterdrückten Schichten) des Nahen Ostens und Nordafrikas lernen hier und heute grundlegende Lehren aus ihren eigenen Erfahrungen: Lehren darüber, wie man die Leitung des eigenen Kampfes übernimmt, wie in den Streiks, die sich von unten ausbreiteten, in den nachbarlichen Schutzkomitees, die wie Pilze aus dem Boden schossen, nachdem Mubarak seine Polizei und den Bodensatz der Gesellschaft dazu ermuntert hatte, ihre Häuser zu plündern; Lehren der täglichen „direkten Demokratie“ auf dem Tahir-Platz. Noch einmal McNally:

„Sich zusammen mit diesen Formen der Selbstorganisation des Volkes entwickelnd, gibt es neue Praktiken der Radikaldemokratie. Auf dem Tahir-Platz beteiligte sich das Nervenzentrum der Revolution, die  manchmal in die Hunderttausende gehende Menge, direkt am Entscheidungsprozess. Organisiert in kleineren Gruppen, diskutierten und debattierten die Leute und sandten schließlich Delegierte zu Beratungen über die Forderungen der Bewegung. Wie ein Journalist (4) erklärt, „kommen schließlich Delegierte aus diesen Mini-Versammlungen zusammen, um die vorherrschende Stimmung auszuloten, ehe potenzielle Forderungen über das notdürftige Lautsprechersystem des Platzes vorgelesen werden. Die Annahme eines jeden Antrags stützt sich auf die Proportionen der Buhrufe und des Beifalls der Menge insgesamt.“

Auch Lehren darüber, wie man sich kollektiv gegen die Angriffe der Polizei und der Kriminellen zur Wehr setzt; wie man sich mit den Soldaten verbrüdert, wie man sektiererische Spaltungen zwischen Sunniten und Schiiten, Muslimen und Christen, Religiösen und Säkularen überwindet. Lehren in Internationalismus, breitete sich die Revolte doch von Land zu Land aus, dabei ihre Forderungen und Methoden mitnehmend, da die Proletarier allerorten erkennen, dass sie es mit dem gleichen sinkenden Lebensstandard, mit dem gleichen repressiven „Regime“, mit demselben Ausbeutungssystem zu tun haben.

Was vielleicht am bedeutendsten ist: die bloße Tatsache, dass die Arbeiterklasse sich selbst genau in dem Moment des „demokratischen Triumphes“ so nachdrücklich in Erinnerung zurückgerufen hat, nach dem Abgang Mubaraks, das angeblich das wahre Ziel der Revolte gewesen ist, enthüllt ihre Fähigkeit, sich den Rufen nach Opfern und Selbstverleugnung zugunsten der „Nation“ und des „Volkes“, die stets im Mittelpunkt der patriotischen und demokratischen Kampagnen der Bourgeoisie stehen, zu widersetzen. In Interviews mit der Presse in den vergangenen Tagen haben ArbeiterInnen häufig auf die einfache Wahrheit hinter ihren Motiven für die Streiks und Proteste hingewiesen: Sie können ihre Familien nicht ernähren, weil ihre Löhne zu niedrig und die Preise zu hoch sind oder weil sie überhaupt keine Aussicht auf einen Job haben. Dies sind in wachsendem Maße die Bedingungen, denen sich die Arbeiterklasse in allen Ländern gegenübersieht, und keine „demokratische Reform“ wird auch nur einen Deut daran ändern. Die Arbeiterklasse hat nur ihren Kampf zu ihrer Verteidigung und die Perspektive einer neuen Gesellschaft als ihre Lösung.

Amos,16.2.2011

Fußnoten:

(1) Hossam el-Hamalawy ist ein ägyptischer Journalist, der einen Blog bei arabawy.org [10] betreibt und ausgiebig über Arbeiterkämpfe in Ägypten in den letzten Jahren berichtet hat.

(2) David McNally ist Professor für politischeWissenschaften an der York University in Toronto. Die Titel seiner Bücher geben eine Ahnung von seinem allgemeinen politischen Standpunkt: Another World is possible: Globalization and Anti-Capitalism (Winnipeg 2005) und Against the Market:Political Economy, Market Socialism and the Marxist Critique (London 1999).

(3) Siehe zum Beispiel dieses Dokument beihttps://www.europe-solidaire.org/spip.php?article20203 [11]. Dies sieht nach ernsthaften Bemühungen der Arbeiterbewegung in Ägypten aus, ihre Selbstorganisation durch Massenversammlungen und gewählten Komitees zu entfalten, während gleichzeitig eine Affinität zu demokratischen und gewerkschaftlichen Vorstellungen zum Ausdruck kommt.

„Forderungen der Eisen- und Stahlarbeiter“

1. Sofortiger Rücktritt des Präsidenten und aller Menschen und Symbole des Regimes.

2. Konfiszierung aller Gelder und allen Eigentums von allen Symbolen des früheren Regimes und von jedermann, der sich als korrupt erwiesen hat.

3. Eisen- und Stahlarbeiter, die die Märtyrer und Kämpfer gestellt haben, rufen alle Arbeiter Ägyptens dazu auf, gegen die Arbeiterföderation des Regimes und der herrschenden Partei zu revoltieren, sie zu demontieren und jetzt ihre eigene unabhängige Gewerkschaft zu verkünden sowie ihre allgemeine Versammlung zu planen, um frei ihre eigene unabhängige Gewerkschaft zu etablieren, ohne vorherige Erlaubnis durch das Regime, das gefallen ist und all seine Legitimität verloren hat.

4. Die Konfiszierung der öffentlichen Unternehmen, die verkauft, geschlossen oder privatisiert worden waren, so wie des öffentlichen Sektors, der dem Volk gehört, und seine Nationalisierung im Namen des Volkes, sowie die Bildung eines neuen Managements durch Arbeiter und Techniker.

5. Bildung von Arbeiterüberwachungskomitees an allen Arbeitsplätzen, die Überwachung der Produktion, der Preise, des Vertriebs und der Löhne.

6. Aufruf zu einer allgemeinen Versammlung aller Bereiche und politischen Strömungen des Volkes, um eine neue Verfassung zu entwickeln und wirkliche Volkskomitees zu wählen, ohne auf die Einwilligung oder auf Verhandlungen mit dem Regime zu warten.

Am Freitag, den 11. Februar wird eine riesige Arbeiterdemonstration zumTahir-Platz strömen, um sich der Revolution anzuschließen und die Forderungen der Arbeiter von Ägypten zu verkünden.

Lang lebe die Revolution!

Lang leben die ägyptischen Arbeiter!

Lang lebe die Intifada der ägyptischen Jugend – Volksrevolution für das Volk!“

(4) Jack Shenker, „Cairo’s biggest protest yet demands Mubarak’s immediate departure“, Guardian, 5. Februar 2011.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Revolten in Ägpyten [12]
  • Libyen [13]
  • Tunesien [14]

Leute: 

  • Mubarak [7]

Die Revolten in Ägypten und den arabischen Ländern: Das Gespenst des Klassenkampfes

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Als diese Zeilen geschrieben wurden, war die soziale Lage in Ägypten noch immer explosiv. Millionen von Menschen waren auf den Straßen, trotzten der Ausgangssperre, dem staatlichen Regime und seiner blutigen Repression. Gleichzeitig ist auch die soziale Bewegung in Tunesien nicht von der Tagesordnung: Trotz der Flucht Ben Alis, der Regierungsumbildung und des Versprechens von Wahlen ist es nicht gelungen, den großen Zorn der Bevölkerung zu dämpfen. In Jordanien drückten Tausende von Demonstranten ihren Unmut über die wachsende Armut aus. In Algerien scheinen die Proteste erstickt worden zu sein, doch kann dieser Eindruck auch dem internationalen Black-out geschuldet sein, und es scheint, als werden die Kämpfe in Kabylia fortgesetzt.

Medien und Politiker aller Art sprechen unaufhörlich über die „Revolten in der arabischen Welt“ und richten die Aufmerksamkeit auf regionale Besonderheiten, auf den Mangel an Demokratie, auf die Verbitterung der Bevölkerungen darüber, dass sie 30 Jahre lang immer die gleichen Gesichter an der Macht gesehen haben.

All dies ist richtig. Ben Ali, Mubarak, Rifai, Bouteflika & Co. sind wahre Gangster, Karikaturen der Diktatur der Bourgeoisie. Doch vor allem gehört diese soziale Bewegung den Ausgebeuteten aller Länder. Diese Explosionen des Zorns wurzeln in der Beschleunigung der Weltwirtschaftskrise, die immer mehr Teile der Menschheit in fürchterliche Armut stürzt.

Nach Tunesien nun Ägypten! Der Bazillus der Revolte in den arabischen Ländern, besonders in Nordafrika, den die herrschende Klasse seit langem befürchtet hat, ist mit einem Schlag ausgebrochen. Die Bevölkerungen waren nicht nur mit den durch die Weltwirtschaftskrise verursachten wirtschaftlichen Nöten konfrontiert, sondern hatten es darüber hinaus auch noch mit skrupellosen, repressiven Regimes zu tun. Und im Angesicht dieser Explosion des Zorns haben die Regierungen und Herrscher ihr wahres Gesicht gezeigt, haben sich als eine Klasse geouted, die durch Hunger und Mord herrscht. Die einzige Antwort, mit der sie aufwartet, sind Tränengas und Kugeln. Und wir sprechen hier nicht nur über „Diktatoren“, die unter Zugzwang stehen. Unsere eigenen „demokratischen“ Herrscher, rechte wie linke, waren lange Zeit Freunde und Verbündete dieser Diktatoren bei der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung gewesen. Die höchst gepriesene Stabilität dieser Regimes gegen die Gefahr des radikalen Islamismus hatte sich jahrzehntelang auf Polizeiterror gestützt, und unsere feinen Demokraten stellten sich gerne taub gegenüber ihrer Folterpraxis, ihrer Korruption, gegenüber dem Klima der Angst, in welchem diese Regimes sich zu Gebietern über die Bevölkerung machten. Im Namen der Stabilität, der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten, des Friedens und der Völkerfreundschaft haben sie diese Regimes aus ihren eigenen erbärmlichen Gründen unterstützt.

Die soziale Revolte in Ägypten

In Ägypten gab es Dutzende, vielleicht Hunderte von Toten, Tausende, Zehntausende von Verletzten und Festgenommenen. Der Sturz Ben Alis war der Zündfunken. Er löste eine riesige Welle der Hoffnung in den Völkern der arabischen Länder aus. Wir erlebten aber auch viele Ausbrüche der Verzweiflung, eine Serie von Selbstmorden in Algerien, Marokko, Mauretanien, der westlichen Sahara, in Saudi-Arabien und Sudan, besonders unter den jungen arbeitslosen Menschen. In Ägypten hörten wir dieselben Schlachtrufe wie in Tunesien: „Brot, Freiheit, Würde!“ Dies war eine deutliche Antwort auf die Auswirkungen  der Weltwirtschaftskrise: Arbeitslosigkeit (in Ägypten betrifft sie 20 Prozent der Bevölkerung); materielle Unsicherheit (in Ägypten leben vier von zehn Menschen unterhalb der Armutsgrenze, und es sind etliche internationale Dokumentationen über jene Menschen gemacht worden, die davon leben, den Müll auf den Kairoer Müllhalden zu sortieren); die steigenden Preise für Grundnahrungsmittel. Der Schlachtruf: „Mubarak, dégagé!“ wurde direkt von den Tunesiern übernommen, die damit den Rücktritt von Ben Ali forderten. Demonstranten in Kairo verkündeten: „Es ist nicht unsere Regierung, sie sind unsere Feinde!“ Ein ägyptischer Journalist sagte zu einem Korrespondenten des Figaro: „Keine politische Bewegung kann für sich beanspruchen, diese Demonstrationen begonnen zu haben. Es ist die Straße, die sich hier selbst zum Ausdruck bringt. Die Menschen haben nichts zu verlieren. Es kann einfach nicht so weiter gehen.“ Ein Satz lag auf jedermanns Lippen: „Wir haben keine Angst mehr“.

Im April 2008 traten die Arbeiter und Arbeiterinnen einer Textilfabrik in Mahalla im Norden Kairos in einen Streik um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Um die ArbeiterInnen zu unterstützen und zu einem Generalstreik am 6. April aufzurufen, hatte sich eine Gruppe junger Leute auf Facebook und Twitter organisiert. Diesmal blockierte die ägyptische Regierung – im Gegensatz zur tunesischen – schon im Voraus jeglichen Internetzugang.

Am Dienstag, den 25. Januar, am so genannten „Nationalen Polizeitag“, strömten Zehntausende von Protestierenden auf die Straßen Kairos, Alexandrias, Tantas und Suez‘ und stießen mit den Ordnungskräften zusammen. Es folgten vier Tage der Zusammenstöße; die staatliche Gewalt steigerte den Zorn nur. In diesen Tagen und Nächten setzte die Bereitschaftspolizei  Tränengas, Gummigeschosse und echte Munition ein. Ihr zur Seite stand eine Armee von 500.00 sehr gut ausgerüsteter und ausgebildeter Soldaten, ein zentraler Pfeiler des Regimes, anders als in Tunesien. Das Regime machte auch extensiven Gebrauch von „Baltageyas“ - Schläger, die direkt vom Staat kontrolliert werden und darauf spezialisiert sind, Demonstrationen aufzulösen – wie auch von zahllosen Agenten der Staatssicherheit, die Zivilsachen trugen und sich unter die Demonstranten mischten.

Am Freitag, den 28. Januar, ein arbeitsfreier Tag, strömten gegen Mittag trotz des Verbots öffentlicher Versammlungen Demonstranten aus den Moscheen und gingen in großer Zahl auf die Straßen, überall die Polizei konfrontierend. Dieser Tag wurde der „Tag des Zorns“ genannt. Die Regierung hatte bereits das Internet und die Mobilfunknetze, ja sogar die Festnetzanschlüsse gesperrt. Dennoch schwoll die Bewegung an: Am Abend missachteten die Demonstrationen die Ausgangssperre in Kairo, Alexandria, Suez… Polizeifahrzeuge setzten Wasserkanonen gegen die Mengen ein, die sich größtenteils aus jungen Leuten zusammensetzten. In Kairo wurden Armeepanzer zunächst als Helden der Befreiung willkommen geheißen, und es gab eine Anzahl von Versuchen, sich mit der Armee zu fraternisieren. Dieser Tatsache wurde eine Menge Publizität geschenkt, zumal in zumindest einem Fall ein Konvoi bewaffneter Fahrzeuge so daran gehindert wurde, die Ordnungskräfte zu unterstützen. Einige Polizisten schmissen ihre Armbänder weg und schlossen sich den Demonstranten an. Doch sehr schnell eröffneten in anderen Gegenden Bewaffnete das Feuer auf die Demonstranten, die ihnen entgegenkamen, um sie zu begrüßen, und mähten sie nieder. Der Armeechef, Sami Anan, der eine Militärdelegation für die Gespräche mit den USA im Pentagon anführte, kehrte am Freitag umgehend nach Ägypten zurück. Polizeiautos und Reviere wie auch das Hauptquartier der Regierungspartei wurden in Brand gesetzt, das Informationsministerium wurde geplündert. Die vielen Verletzten stauten sich in überlasteten Krankenhäusern. Auch in Alexandria wurde das Regierungsgebäude niedergebrannt. In Mansura im Nildelta gab es gewaltsame Zusammenstöße, denen etliche Menschen zum Opfer fielen. Eine Menge versuchte, den staatlichen Fernsehsender zu übernehmen, wurde aber von der Armee zurückgewiesen.

Gegen 23:30 Uhr erschien Mubarak im Fernsehe, kündigte die Entlassung seiner Regierung an, versprach politische Reformen und Schritte in Richtung Demokratie, bestand aber weiterhin beharrlich auf die Notwendigkeit, dass die „Sicherheit und Stabilität Ägyptens gegen Versuche der Destabilisierung“ gewährleistet werden müsse.

Die Sorge der Imperialisten

Doch obwohl Tunesien für die Demonstranten ein Modell war, geht es bezüglich der Lage in Ägypten um mehr für die Bourgeoisie. Tunesien ist ein verhältnismäßig kleines Land, und es besitzt imperialistische Relevanz allenfalls für eine zweitrangige Macht wie Frankreich.(1) Ganz anders Ägypten, das das bei weitem am dichtesten bevölkerte Land in der Region (über 80 Millionen Einwohner) ist und das vor allem eine Schlüsselposition im Nahen Osten besonders für die amerikanische Bourgeoisie besetzt. Der Fall des Mubarak-Regimes könnte in ein regionales Chaos münden, was schwere Konsequenzen zur Folge haben könnte. Mubarak ist nach Israel der Hauptverbündete der USA in der Region und spielt eine vorherrschende Rolle in den israelisch-palästinensischen Beziehungen wie auch in den Beziehungen zwischen Al Fatah und Hamas. Dieser Staat ist bis jetzt als ein Stabilitätsfaktor im Nahen Osten betrachtet worden. Gleichzeitig macht die politische Entwicklung im Sudan, der kurz davor ist, in zwei Teile zu zerbrechen, ein starkes Ägypten umso notwendiger. Es ist daher ein eminent wichtiger Faktor in der US-Strategie gegenüber dem israelisch-arabischen Konflikt, und seine Destabilisierung kann möglicherweise in eine Reihe von benachbarten Ländern überschwappen, besonders in Jordanien, Libyen, Jemen und Syrien. Dies erklärt die Besorgnisse der USA, deren enge Beziehungen zum Mubarak-Regime sie in eine sehr unbequeme Lage versetzten. Obama und die US-Diplomatie versuchten, Druck auf Mubarak auszuüben, während sie gleichzeitig die Essentials des Regimes bewahrten. Daher machte Obama publik, dass er eine halbe Stunde auf Mubarak eingeredet und ihn gedrängt habe, mehr Ballast wegzuwerfen. Zuvor hatte Hillary Clinton erklärt, dass die Ordnungskräfte sich mehr zurückhalten und die Regierung sehr schnell die Kommunikationsmittel wiederherstellen sollten. Am nächsten Tag wurde, offensichtlich auf Druck der Amerikaner, General Omar Suleiman, Chef der mächtigen militärischen Sicherheitskräfte, verantwortlich für die Verhandlungen mit Israel, als Vizepräsident präsentiert. Die Armee hat sich dadurch beliebt gemacht, dass sie sich während der Demonstrationen im Hintergrund hielt und bei zahllosen Gelegenheiten eine freundliche Haltung gegenüber den Mengen einnahm. Dies ermöglichte ihr, in einer Reihe von Fällen die Menschen dazu zu veranlassen, nach Hause zu gehen, um ihr Heim gegen Plünderer zu schützen.

Und in anderen arabischen Ländern…

Weitere Äußerungen der Revolte gab es in Algerien, Jemen und Jordanien. Im letztgenannten Land versammelten sich 4.000 Menschen in Amman zum dritten Mal innerhalb von drei Wochen, um gegen die Verteuerung der Lebensmittel zu protestieren und wirtschaftliche sowie politische Reformen zu fordern, insbesondere den Rücktritt des Premierministers. Die Behörden machten ein paar Gesten, es wurden einige kleine wirtschaftliche Maßnahmen ergriffen sowie einige politische Beratungen abgehalten. Doch die Demonstrationen breiteten sich auf die Städte Irbid und Kerak aus. Am 22. Januar wurde im Zentrum Algiers (Algerien) eine Demonstration brutal unterdrückt; es blieben fünf Tote und über 800 Verletzte auf der Strecke. In Tunesien hat der Zorn weder durch den Sturz Ben Alis noch durch die Repression ein Ende genommen. In den Gefängnissen gab es eine Häufung von standrechtlichen Hinrichtungen – mit mehr Toten als draußen bei den Zusammenstößen mit der Polizei. Eine „Karawane der Befreiung“ vom westlichen Teil des Landes, wo die Bewegung einst ihren Ausgang genommen hatte, ignorierte das Ausgangsverbot und schlug ihr Lager vor dem Amt des Ministerpräsidenten auf, wo sie den Rücktritt einer Regierung forderte, die sich aus den Kumpanen und Anführern des Ben Ali-Regimes zusammensetzte. Der Zorn war auch deshalb nicht gewichen, weil immer noch dieselben alten Leute das Zepter in der Hand hielten. Schließlich fand am 27. Januar eine Regierungsumbildung statt, bei der die kompromitiertesten Minister geschasst wurden, aber am alten Ministerpräsidenten festgehalten wurde. Dies beruhigte die Lage keineswegs. Die hemmungslose Polizeirepression geht weiter, und die Lage bleibt chaotisch.

Diese Ausbrüche massiver, spontaner Revolten offenbaren, dass die Bevölkerung genug hat und nicht länger bereit ist, die Armut und Repression auf sich nehmen, die von diesen Regimes verantwortet werden. Doch sie zeigen auch das Gewicht demokratischer und nationalistischer Illusionen: In zahllosen Demonstrationen wurden Nationalfahnen geschwenkt. In Ägypten wie in Tunesien wurde der Zorn der Ausgebeuteten rasch in Richtung eines Kampfes für mehr Demokratie gedrängt. Der Hass der Bevölkerung gegen das Regime und die Konzentration auf Mubarak (wie auf Ben Ali in Tunesien) bedeuteten in der Konsequenz, dass die ökonomischen Forderungen gegen die Armut und Arbeitslosigkeit von sämtlichen bürgerlichen Medien in den Hintergrund  verbannt wurden. Dies macht es  der herrschenden Klasse in den demokratischen Ländern ganz offensichtlich möglich, der Arbeiterklasse besonders in den zentralen Ländern die Idee zu verkaufen, dass diese „Volkserhebungen“ nicht dieselbe fundamentale Ursache haben wie die Arbeiterkämpfe, die hier ablaufen: den Bankrott des Weltkapitalismus.

Auf zu einer Weiterentwicklung des Klassenkampfes

Diese Eruption des sozialen Zorns, die durch die Verschärfung der Krise des Weltkapitalismus in den Länder der Peripherie des Systems ausgelöst wurde, die bis jetzt fast ausschließlich von Krieg und imperialistischen Spannungen beherrscht waren, ist ein ganz wichtiger neuer politischer Faktor, mit dem die Weltbourgeoisie immer häufiger rechnen muss. Der Aufstieg dieser Revolten gegen die Korruption von Führern, die sich die Tasche vollscheffeln, während die große Mehrheit der Bevölkerung darbt, kann nicht zu einer eigenen Lösung in diesen Ländern führen. Doch sie sind Anzeichen für ein Heranreifen sozialer Konflikte, die auch bald in den höchst entwickelten Ländern als Reaktion auf die gleichen Übel - fallender Lebensstandard, wachsende Armut, massive Jugendarbeitslosigkeit - ins Kraut schießen werden.

Wir sehen bereits jetzt, mit den Studentenkämpfen in Frankreich, Großbritannien und Italien, den Beginn der Rebellion der jungen Menschen in Europa gegen das Scheitern des Weltkapitalismus. Das jüngste Beispiel ist Holland: Am 22. Januar versammelten sich in Den Haag 20.000 StudentInnen und LehrerInnen vor dem Parlamentsgebäude und dem Bildungsministerium. Sie protestierten gegen den steilen Anstieg der Studiengebühren, die in erster Linie jene treffen werden, die ihr zweites Jahr wiederholen, was oft bei StudentInnen der Fall ist, die arbeiten müssen, um ihr Studium zu finanzieren. Sie werden 300 Euro pro Jahr extra zahlen müssen, während der letzte Etat die Streichung von 7.000 Jobs in diesem Bereich vorsieht. Diese Demonstration war eine der wichtigsten Studentendemos in diesem Land in den letzten 20 Jahren. Auch sie wurde von der Polizei angegriffen.

Diese sozialen Bewegungen sind das Symptom für die internationale Entwicklung des Klassenkampfes, auch wenn in den arabischen Ländern die Arbeiterklasse noch nicht deutlich als autonome Kraft aufgetreten ist und stattdessen in einer Bewegung des Volksprotestes aufgeht.

Überall auf der Welt verbreitert sich die Kluft zwischen einer herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, die mit schamloser Arroganz ihren Reichtum zur Schau stellt, und der Masse der Ausgebeuteten, die immer tiefer in die Verarmung stürzt. Diese Kluft neigt dazu, die Proletarier aller Länder zu vereinen, sie zu einer gemeinsamen Front zusammenzuschweißen, während die Bourgeoisie auf die Empörung jener, die sie ausbeutet, nur mit weiteren Sparmaßnahmen, mit dem Schlagstock und mit Kugeln antwortet.

Die Revolten und sozialen Kämpfe der kommenden Jahre werden in den verschiedenen Regionen unvermeidlich verschiedene Formen annehmen. Die Stärken und Schwächen dieser sozialen Bewegungen werden nicht überall dieselben sein. In einigen Fällen werden ihr Zorn, ihre Militanz und ihr Mut beispielhaft sein. In anderen Fällen werden die Methoden und der Massencharakter des Kampfes es ermöglichen, neue Perspektiven zu eröffnen und ein Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiterklasse zu etablieren, der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die der Menschheit eine Zukunft bietet. Insbesondere die Konzentration und Erfahrung des Proletariats in den Ländern im Zentrum des Weltkapitalismus werden entscheidend sein. Ohne die massive Mobilisierung der ArbeiterInnen in den zentralen Ländern werden die sozialen Revolten in den Peripherien des Kapitalismus zur Ohnmacht verurteilt sein und unter die Vorherrschaft dieser oder jener Fraktion der herrschenden Klasse geraten. Allein der internationale Kampf der Arbeiterklasse, ihre Solidarität, ihre Organisation und ihr Bewusstsein darüber, was in ihrem Kampf auf dem Spiel steht, wird in der Lage sein, alle unterdrückten Schichten in den Kampf zu ziehen, um dem sterbenden Kapitalismus den Garaus zu machen und eine neue Welt an seiner Statt zu errichten.

Révolution Internationale   30. Januar 2011

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  • Demokratie und Diktatur [18]
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Die Staatsangestellten Wisconsins: Die Gewerkschaften zu verteidigen, führt in die Niederlage

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Zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes protestieren auf der Straße und besetzen das State Capitol in Wisconsin aus Protest gegen vorgeschlagene Änderungen der Tarifverhandlungen zwischen dem Staat als Arbeitgeber und den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. Der junge republikanische Gouverneur Scott Walker, der von der Tea Partyunterstützt wird, hat ein Gesetz vorgeschlagen, welches  den meisten der ca. 175.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Tarifvereinbarungen unmöglich macht, weil sie so keine Verhandlungen mehr führen  könnten über Renten- und Krankenkassenbeiträge und stattdessen nur noch über Löhne verhandeln könnten. Zudem müssten, dem Gesetzesvorschlag zufolge, die Gewerkschaften eine Art jährliche Zulassung von ihren Mitgliedern für die eingeschränkten Kompetenzen bei zukünftigen Tarifverhandlungen erhalten. Feuerwehrleute, die von den vorgeschlagenen Änderungen  nicht betroffen sein würden (weil ihre Gewerkschaft Walker bei den Novemberwahlen unterstützte), haben ihre Solidarität mit den anderen Beschäftigten bekundet und sich den Protesten angeschlossen, von denen viele meinen, sie seien durch die Welle von Unruhen in Ägypten und anderen Staaten im arabischen Raum inspiriert worden. Viele Protestierende in Wisconsin hielten stolz Plakate hoch, auf denen der ominöse Spitzname Scott „Mubarak“ Walker geschrieben stand, und andere sangen: „Wenn Ägypten Demokratie haben kann, warum nicht Wisconsin?“. Protestierende in Ägypten haben sogar ihre Solidarität mit den Beschäftigten in Wisconsin zum Ausdruck gebracht!

Während das US-Außenministerium in den letzten Wochen  mehrfach die arabischen Führer zur Zurückhaltung gegenüber den Demonstranten aufgefordert hat, hat Gouverneur Walker damit gedroht, die Nationalgarde einzusetzen, um falls notwendig Repression auszuüben. Einige Armeeveteranenverbände haben darauf geantwortet,dass die Aufgabe der Nationalgarde darin besteht, bei Katastrophen einzuschreiten, aber nicht als persönliche Schlägerbanden im Dienste des Gouverneurs zu handeln. Die politische Lage in Wisconsin gilt als zerbrechlich,da eine Verfassungskrise droht. Alle 14 demokratischen Senatoren sind aus dem Bundesstaat ‚geflüchtet’,  weil sie sich weigern, dem durch die Republikaner beherrschten Organ der gesetzgebenden Gewalt die für Abstimmungen notwendige Zahl anwesender Stimmberechtigter zustellen, um das vom Gouverneur vorgeschlagene Gesetz zu verabschieden. Man behauptet, wenn sie auf dem Gebiet des Bundesstaates gefunden würden, würde die Polizei sie verhaften und zum State Capitol  zurückbringen. Auf der anderen Seite reden Gewerkschaftsführer und Vertreter der Demokratischen Partei offen davon, den Gouverneur und all die Senatoren, die dessen Projekt unterstützen, abzuwählen.Mit jeder Krise ähnelt die Politik in den USA immer mehr einem Comic.

Die Krise in Wisconsin wurde von den Medien im Landeals der erste große wirkliche Schlag seitens der republikanisch beherrschten Exekutive,die von der Tea Party unterstützt wird, dargestellt, um das politische Ziel der Zerschlagung der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes durchzusetzen, welcheviele Anhänger der Tea Party und derRepublikaner für den quasi Bankrott vieler US-Bundesstaaten verantwortlich gemacht. Diese Republikaner behaupten, die Durchsetzung von Sparmaßnahmen sei notwendig, um einen Staatshaushalt zu verabschieden, der von einem gewaltigen Haushaltsdefizit von 3,7 Milliarden Dollar geplagt wird. Auf der anderen Seite veranstalten die Demokraten und ihre Freunde in den Gewerkschaften ein lautes Geschrei um den republikanischen Gouverneur und seine nationalen Tea Party-Verbündeten; sie schlachten das Haushaltsdilemma aus, um das Ansehen der Gewerkschaften aufzupeppeln. Wer hat Recht?

Es stimmt, dass US-Bundesstaaten genau wie europäische Staaten tatsächlich vor einem Bankrott stehen. Während auf Bundesebene die Bundesregierung immer noch Maßnahmen des‚ quantitative easing’ (d.h. noch mehr Dollars drucken) ergreifen kann, verfügen die Bundessstaaten nicht über solche Privilegien; sie müssen deshalb Dringlichkeitsmaßnahmen ergreifen und drastische Sparprogramme verabschieden, um ihre Haushalte auszugleichen und aufdem Bondmarkt weiter Gelder erhalten zu können. Auf dieser Ebene scheint der Gesetzesentwurf von Gouverneur Walker einem lebensnotwendigen Bedürfnis der Herrschenden nach Senkung der Lohnkosten Rechnung zu tragen und einen dauerhaften Vorteil bei zukünftigen Lohnverhandlungen sicherzustellen. Sein Entwurf würde anderen Staaten  bei dem Versuch der Eindämmung der untragbaren Haushaltsdefizite als Vorbild dienen.

Aber auf einer globaleren Ebene sind sich die Herrschenden auch der politischen und sozialen Risiken bewusst,  schmerzhafte Angriffe gegen die Arbeiter zurichten, die schon unter hoher Arbeitslosigkeit, eingefrorenen Löhnen, Kurzarbeit  und den Folgen des Zusammenbruchs des Wohnungsmarktes stöhnen. Deshalb die bewährte Strategie des schrittweisen Vorgehens auf Bundes- und örtlicher Ebene, und die Vermeidung direkter und frontaler Angriffe gegen Leistungen für Beschäftigte. Dennoch besteht das Risiko, dass der Gesetzentwurf Gouverneur Walkers zu weit geht beider Destabilisierung der Gewerkschaften, da diese als Polizei in den Betrieben tätig sind, um die Wut der Arbeiter aufzufangen; auch könnten dadurch zu große Nachteile für die Demokratische Partei entstehen, die sich auf die Gewerkschaften stützen muss, um Gelder für die Parteikasse aufzutreiben. Die Politik Gouverneur Walkers würde nicht nur die Gefahr beinhalten,  die Gewerkschaften dann zu schwächen, wenn die Herrschenden diese am meisten brauchen; die Gefahr besteht auch, dass das Zweiparteiensystem in einem lebenswichtigen swing state (ein bei den Wahlen entscheidenderStaat, den Obama 2008 für sich erobern konnte) durcheinander gewirbelt wird.

Letztes Jahr wurde in Kalifornien gegen Kürzungen imBildungswesen protestiert, und Anfang dieser Woche haben ArbeiterInnen in Ohio gegen ein Gesetz protestiert, das ebenso Befugnisse bei Tarifverhandlungen einschränkt; auch in Indianapolis protestierten Lehrer. Wenn weitere Angriffe erforderlich sein werden, müssen die Herrschenden auf die Gewerkschaften zurückgreifen, um die kämpferischsten Arbeiter im Griff zu halten und sicherzustellen, dass der Kampf sich im Rahmen der Tarifverhandlungen um Löhne und andere Leistungen bewegt, anstatt den Staat zu konfrontieren.

Die Gefahren für die Finanzen Wisconsins sind nicht auf diesen Staat beschränkt. Der Bundesstaat steht dieses Jahr vor einem Haushaltsdefizit von 137 Millionen Dollar, in den nächsten beiden Jahre würde dieses auf 3.6 Milliarden $ anwachsen. Der drastischste Teil der Kürzungen, die Gouverneur Walker fordert, sieht vor, dass die meisten Staatsangestellten die Hälfte ihrer Pensions- und Gesundheitsversicherungsbeiträge selbst bezahlen. Aber diese Schritte ermöglichen dem Staat bis Juni 2011 nur Einsparungen von 30 Millionen $; während der nächsten beiden Jahre sollen 300 Millionen $ gespart werden – dies wären nur 10% des Defizits. Der Rest des Haushaltsentwurfs sieht vor, dass dieses Jahr 165 Millionen $ durch eine Umfinanzierung eingespart werden sollen. Damit hätten die größten Einsparungen nichts zu tun mit den Staatsangestellten. Dies mag für die Beschäftigen als ein Trost erscheinen, nachdem sie gewaltige Steigerungen ihrer Rentenbeiträge und Krankenkassenbeiträge hinnehmen sollen. Schätzungen zufolge entspräche dies Gehaltskürzungen im Durchschnitt von 10% für einen Lehrer in Madison (Hauptstadt des Bundesstaates Wisconsin).

Da die durchschnittliche Verhandlungsdauer bei Tarifrunden 15 Monate beträgt, hat sich der Gouverneur geweigert die Gewerkschaften zu treffen, stattdessen hat er drastische Maßnahmen gefordert,so die Entlassung von 1500 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, falls sein Plan nicht durchgesetzt wird. Er scheint seinem Ruf, als Hardliner auftreten zu wollen, treu zu bleiben. Aber handelt es sich nur um einen Fall eines Republikaners, der versucht, den rechten Flügen seiner Partei durch noch härtere ‚rechte“ Maßnahmen wie die Zerschlagung der Gewerkschaften zu überholen? Walker selbst spricht einedeutliche Sprache. „Für uns ist das eindeutig. Wir sind pleite. Es geht nicht um die Gewerkschaften. Es geht um den Ausgleich des Staatshaushaltes”. (NY Times [20]). Die Gewerkschaftsen wiederum bestreiten die dringlich notwendigen Maßnahmen, denn wie David Ahrens vom UW-Madisons Carbone Cancer Center meinte: “Er wäre eher glaubwürdig, wenn er sich jemals bemüht hätte, mit den Gewerkschaften ins Gespräch zu kommen.“Wisconsin State Journal) .” (Wisconsin State Journal [21])

Präsident Obama äußerte sich auch zugunsten der Gewerkschaften als ‘Belohnung’ für die 200 Millionen Dollar Zuwendungen für seine Wahlkampagne; er nannte die Vorschläge Walkers „einen Angriff gegen die Gewerkschaften“.  Aber der Sprecher des Parlamentes von Ohio, der Republikaner John Boehner, lobte Mr. Walkers Pläne,weil „er Probleme anpackt, die jahrelang vernachlässigt wurden auf Kosten von Arbeitsplätzen und wirtschaftlichem Wachstum“. Wie erwartet verteidigt die Linke die Gewerkschaften als den besten Schutz der ArbeiterInnen in harten Zeiten, während die Rechten diese als historische Anachronismen bezeichnen, die wirtschaftliches Wachstum behindern und als Jobkiller wirkten. Was sollen die ArbeiterInnen all davon halten?

Es ist wichtig, die Schlüsselrolle zu begreifen, welche die Gewerkschaften als ein Teil des Staatsapparates spielen. Sie fungieren als gewerkschaftliche Feuerwehr, als ein Sicherheitsventil auf ökonomischer und politischer Ebene. Die Art Tarifvertragsregelungen, die heute untergraben werden, wurden von Leuten wie Präsident Kennedy eingeführt, der deren Nutzen als ein Mittel der Sozialkontrolle verstanden hatte, insbesondere als die Gewerkschaften „Siege“ errangen, in denen das Verbot von Streiks vertraglich festgelegt wurde. Ende der 1960er und 1970er Jahre waren diese „Konzessionen“ auf ökonomischer Ebene eher tragbar als heute.  Vierzig Jahre Wirtschaftskrise haben zu großen Erosionen der Löhne geführt, die die Nachkriegsbabyboomgeneration erhalten hatte. Aber während die Gewerkschaften aus ökonomischer Sicht gewisse Kosten verursachen,  sind sie dennoch ein wirksames Instrument zurDurchsetzung von Sparmaßnahmen gegenüber der Arbeiterklasse. Zum Beispiel haben in Wisconsin die Gewerkschaften „schon einen Vertrag mit der früheren Regierungausgehandelt, um 100 Millionen $ Kürzungen vorzunehmen, all dies verbunden mit einer dreiprozentigen Lohnkürzung.“   Man bekommt das Gefühl, dass die Wut der Gewerkschaften über die Pläne des Gouverneurs nicht so sehr gegen die Leistungskürzungen für die Arbeiter gerichtet sind, die sie vertreten sollen, sondern gegen die Aussicht, dass sie nicht mehr als Partner für den Staat bei der Verwaltung der Wirtschaft angesehen werden.  Marty Beil, der Führer der WSEU/AFSCME – die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes in Wisconsin, verkündete, die Gewerkschaft sei vollkommen mit einigen Kürzungen einverstanden,  aber sie sei gegen die schamlosen Machtspielchen des Gouverneurs. „Wir sind bereit, die finanziellen Kürzungen mit umzusetzen, die vorgesehen sind, um unser Haushaltsdefizit in den Griff zukriegen, aber wir werden nicht auf unser gottgegebenes Recht verzichten, einer Gewerkschaft beizutreten. Ich wiederhole, wir werden nicht auf unser Recht verzichten, Tarifverhandlungen durchzuführen.“ In einer Pressekonferenz mit den Medien meinte er weiter: „Es geht hier nicht um Geld (…) Wir begreifen, dass wir Opfer bringen müssen.“ (MilwaukeeJournal Sentinel [22])

All das Gerede von der Zerschlagung der Gewerkschaften ist im Grunde ein Versuch, die Unzufriedenheit seitens der ArbeiterInnen mit den Angriffen auf ihre Lebensbedingungen zu kanalisieren und diese in die Sackgasse der Verteidigung der Gewerkschaften und der Demokratie zu lenken,welche sie angeblich verkörpern. Damit soll von effektiven Streikaktionen zur Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen abgelenkt werden. Schon bei der Bewegung in Wisconsin verpackten die Gewerkschaften diese erfolgreich als „Verteidigung der Demokratie“ (daher die Verbindung zu Ägypten), und obwohl die demokratischen Senatoren im Augenblick das Funktionieren desbürgerlich-demokratischen Apparates behindern, indem sie „untergetaucht“ sind und sich aus dem Gebiet des BundesstaatesWisconsin entfernt haben. Aktivisten derTea Party haben schon Gegendemonstranten herangekarrt, um dem„demokratisch-gewählten“  Gouverneur unter die Arme zu greifen und die „Mehrheit der Wisconsinites“, die für das harte Vorgehen gegen die Gewerkschaften gestimmt hatten, zu schützen.  Wenn es darum geht, die „Demokratie“ zu verteidigen, ist nicht klar, für welche Seite man Partei ergreifen muss!

In einer gewissen Weise ist die Suche der Polizeikräfte nach den verschwundenen Senatoren symbolisch für die umfassendere Suche seitens der Herrschenden nach einer Lösung für ihre Wirtschaftskrise. Da diese Lösung immer schwerer fassbar wird, müssen die Herrschenden auf allen Ebenen – Bundesstaat und örtlich – auf immer schärfere Angriffe gegen die Arbeiterklasse zurückgreifen. Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Beamte, Feuerwehrleute, Autobahnmeistereien, und vor allem Lehrer –werden vor allem zur Zielscheibe werden. Es ist kein Zufall und auch keine ideologische Vorliebe seitens des rechten Flügels, dass die Tea Party-Leute und die Republikaner die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ins Fadenkreuz genommen haben. Deren Löhne und Renten „belasten“ am schwersten den Staatshaushalt.

Aber die Angriffe gegen die staatlich Beschäftigten sind nicht auf die Bundesstaaten beschränkt geblieben, die vonden Republikanern regiert werden. In New York hat der Demokratische Gouverneur Cuomo gedroht, annährend 10.000 Leute zu entlassen, falls die Verhandlungen mit den Gewerkschaften zum Stillstand kommen, und der Demokrat Jerry Brown in Kalifornien sprach von der Notwendigkeit schmerzhafter Einschnitte im Staatshaushalt. Auf Bundesebene hat Präsident Obama selbst die Gehälter der Bundesbeschäftigten eingefroren, und seine Haushaltskommission hat gedroht, 10%der Beschäftigten auf Bundesebene zu entlassen. Aber der Eifer, mit dem die TeaParty Republikaner wie Walker ihren Kreuzzug gegen die Grundlagen der Gewerkschaften führen, beinhaltet die Gefahr, dass dieser als Bumerang zurückschlägt und – falls bis zum Ende durchgeführt – sich gegen diese wenden wird. Die Herrschenden sind unvermeidlich auf die Gewerkschaften angewiesen,wenn der Klassenkampf weiter an Schärfe gewinnen wird. Der Versuch seiten seines jungen Republikanischen Gouverneurs, die Gewerkschaften in seinem Bundesstaat auszuschalten, ist ein weiteres Beispiel der Schwierigkeiten der herrschenden Klasse in den USA, das politische Spiel infolge des gesellschaftlichen Zerfalls im Griff zu behalten, das dieses System immer mehr annagt.  

Colin, 20.02.2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkampf Wisconsin [23]
  • Streiks USA [24]

Leute: 

  • Gouverneur Walker [25]

Ägypten: Der Klassenkampf steht im Mittelpunkt

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Nichts deutet daraufhin, dass die Flut der Rebellion in Nordafrika und im Nahen Osten abebbt. Diejüngsten Entwicklungen: Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei inder libyschen Stadt Bengasi nach der Verhaftung eines Anwalts, der an einerKampagne beteiligt war, die eine Untersuchung des brutalen Massakers anHunderten von Gefängnisinsassen nach Protesten im Jahr 1996 forderte. GaddafisRegime geht erneut mit unbarmherziger Brutalität vor – es gibt Berichte überHeckenschützen und Helikopter, die in die Mengen feuern und viele dabei töten;in Bahrain besetzten Tausende von Demonstranten die Pearl-Kreuzung in Manama,in der Hoffnung, so an die Besetzung des Tahir-Platzes anzuknüpfen. Sie riefenSlogans gegen sektiererische Spaltungen („Keine Schiiten, keine Sunniten – wirsind alle Bahrainis!“) und gegen selbsternannte Führer („Wir haben keineFührer“). Als diese Zeilen verfasst wurden, hatte die Bereitschaftspolizei denPlatz gerade unter erheblicher Gewaltanwendung geräumt – etliche Demonstrantenwurden verletzt worden, einige getötet. Im Irak hat es neue Demonstrationengegen die Lebensmittelpreise und den Strommangel gegeben.

Doch die vielleichtwichtigste Entwicklung in der letzten Woche war die eindeutige Bewegung vonMassenkämpfen der ArbeiterInnen in Ägypten gewesen. Wie Hossam el-Hamalawy (1)in einem Artikel, der vom Guardian am14. Februar veröffentlicht worden war, schrieb, war die starke Zunahme vonArbeiterkämpfen zugunsten eigener Forderungen ein mächtiger Faktor bei derEntscheidung der Armee, Mubarak in die Wüste zu schicken:

„AlleKlassen in Ägypten nahmen am Aufstand teil. Mubarak war es gelungen, sich vonallen sozialen Klassen der Gesellschaft zu entfremden. Auf dem Tahir-Platz trafman auf Söhne und Töchter der ägyptischen Eliten, zusammen mit ArbeiterInnen,Mittelständlern und den Armen der Stadt. Doch es sei daran erinnert, dass erstals die Massenstreiks am Mittwoch begonnen hatten (1), das Regime zu bröckelnbegann und die Armee Mubarak dazu zwingen musste, zurückzutreten, da das Systemdabei war zu kollabieren… Vom ersten Tag, dem 25. Januar, an hatte die Arbeiterklassean den Protesten teilgenommen. Doch die ArbeiterInnen nahmen zunächst als‚Demonstranten‘ und nicht unbedingt als ‚ArbeiterInnen‘ teil – was bedeutete,dass sie nicht unabhängig agierten. Die Regierung, nicht die Protestierenden, hatdie Wirtschaft zum Halten gebracht,  mitihrer Ausgangssperre und indem sie Banken und Geschäfte schloss. Es war einkapitalistischer Streik, der darauf abzielte, das ägyptische Volk zuterrorisieren. Erst als die Regierung versuchte, das Land am 8. Februar wiederin den ‚Normalzustand‘ zu versetzen, kehrten die ArbeiterInnen in ihre Fabrikenzurück, diskutierten die aktuelle Lage und begannen, sich in Massen zuorganisieren und als unabhängiger Block zu handeln.“

Ein Artikel von DavidMcNally (2) auf www.pmpress.org [9]gibt eine Vorstellung davon, wie weit verbreitet diese Bewegung gewesen war:

„ImVerlaufe weniger Tage in der ersten Februarwoche stürzten sich Zehntausende vonihnen in die Schlacht. Tausende von Eisenbahnarbeitern traten in den Streik undblockierten im Betrieb befindliche Eisenbahnlinien. Sechstausend Arbeiter derSuezkanal-Behörden verließen ihren Arbeitsplatz und veranstalteten Sitzstreiksin Suez und zwei weiteren Städten. In Mahalla blockierten 1.500 ArbeiterInnen derAbul Sebae Textiles die Schnellstraße. Im Kafr al-Zayyat- Krankenhausveranstalteten Hunderte von Krankenschwestern einen Sitzstreik, dem sichHunderte anderer Krankenhausbeschäftigte anschlossen.

Inganz Ägypten schlossen sich Tausende anderer Beschäftigter – Busfahrer inKairo, Angestellte der Telecom Ägypten, Journalisten einer Reihe von Zeitungen,ArbeiterInnen pharmazeutischer Fabriken und von Stahlwerken – der Streikwellean. Sie forderten bessere Löhne, die Entlassung rücksichtsloser Manager, die Nachzahlungausstehender Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und unabhängige Gewerkschaften.In vielen Fällen riefen sie auch zum Rücktritt von Präsident Mubarak auf. Undin einigen Fällen, wie im Fall der 2.000 ArbeiterInnen der Helwan Seidenfabrik,forderten sie die Entfernung ihres kompletten Aufsichtsrates. Dann gab es dadie Tausenden von Fakultätsmitgliedern der Kairoer Universität, die sich denProtesten anschlossen, den Sicherheitskräften entgegentraten und den PremierministerAhmed Shariq daran hinderten, zu seinem Regierungsbüro zu gelangen.“

Wir könnten nochzahllose andere Beispiele hinzufügen: über die 20.000 ArbeiterInnen inAl-Mahalla Al-Kobra, 100 Kilometer nördlich von Kairo entfernt, die nach einerdreitägigen Unterbrechung, den Streik in der größten Spinnerei und Weberei inÄgypten wieder aufnahmen. ArbeiterInnen in der Tourismusindustrie, wie die 150,die im Schatten der Pyramiden eine öffentlichkeitswirksame Demo gegen ihremiserablen Löhne veranstalteten; Bankangestellte, die die Entlassung ihrerkorrupten Bosse forderten; Ambulanzfahrer, die ihre Vehikel zur Blockierung vonStraßen einsetzten, um für bessere Arbeitslöhne zu protestieren; ArbeiterInnen,die vor dem Sitz der ägyptischen Gewerkschaftsbundes demonstrierten undLetzteren als ein „Haufen Diebe"und als eine „Verbrecherbande“ anprangerten sowie seine Auflösung forderten –ihre Worte bewahrheiteten sich umgehend, als Schlägertypen der ETUF mit Prügelund Kugeln antworteten. Auch die Polizei hatte in aller Öffentlichkeit gegendie Weise protestiert, wie sie gegen die Demonstranten eingesetzt wurde, einklares Anzeichen für die stark rückläufige Moral in den niederen Rängen derStaatsmacht. Wir könnten noch weitaus mehr solche Beispiele aufzählen.

Wie McNally bemerkt,zeigt diese Bewegung viele Charakteristiken des Massenstreiks, wie sie von RosaLuxemburg analysiert worden waren:

„Waswir hier sehen, ist mit anderen Worten der Aufstieg der ägyptischenArbeiterklasse. Nachdem sie bereits im Zentrum des Volksaufstandes auf denStraßen gestanden hatten, tragen nun Zehntausende von ArbeiterInnen denrevolutionären Kampf zurück zu ihren Arbeitsplätzen, erweitern und vertiefendie laufende Bewegung. Indem sie so verfahren, beweisen sie die aktuelleRelevanz der Analyse, die von der großen polnisch-deutschen  Sozialistin Rosa Luxemburg entwickelt wordenwar. In ihrem Buch Der Massenstreik, dassich auf die Erfahrungen aus den Massenstreiks von 1905 gegen die zaristischeDiktatur in Russland stützt, argumentiert Luxemburg, dass wirklichrevolutionäre Bewegungen sich durch interagierende Wellen des politischen undökonomischen Kampfes, die sich gegenseitig hochschaukeln, entwickeln. An einerStelle, die von der Erhebung in Ägypten hätte inspiriert sein können, erklärtsie:

‚Jederneue Anlauf und neue Sieg des politischen Kampfes verwandelt sich in einenmächtigen Anstoß für den wirtschaftlichen Kampf (…) Nach jeder schäumendenWelle der politischen Aktion bleibt ein befruchtender Niederschlag zurück, ausdem sofort tausendfältige Halme des ökonomischen Kampfes emporschießen. Undumgekehrt. Der unaufhörliche ökonomische Kriegszustand der Arbeiter mit demKapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach…‘.“

Wie sowohl McNally alsauch Hossam el-Hamalawy hervorheben, kam die Macht dieser Bewegung nicht überNacht. In den vergangenen sieben Jahren standen die ArbeiterInnen an dervordersten Front des Widerstandes gegen Armut und Repression, die der gesamtenBevölkerung aufgezwungen wurden. Es gab eine Reihe von Streikbewegungen in denJahren 2004, 2006-07 und 2007-08, wobei die TextilarbeiterInnen von Mahallaeine besonders bedeutsame Rolle spielten, ohne zu vergessen, dass sich auchviele andere Sektoren anschlossen. 2007 veröffentlichten wir einen Artikel (2),der in diesen Kämpfen wegen ihres hohen Selbstorganisationsgrad und ihrerSolidarität bereits die „Keime des Massenstreiks“ wahrnahm. Wie Rosa Luxemburgunterstrich, ist der Massenstreik etwas, das über einen längeren Zeitraumheranreift – die Kämpfe von 1905, über die sie schrieb, waren in denaufeinanderfolgenden Kämpfen der letzten beiden Jahrzehnte vorbereitet worden –und 1905 war auch eine Brücke zur Revolution von 1917.

Doch trotz allenRaunens über die Revolution in diesen Ländern – manchmal ehrlich gemeint,wenngleich irrig, manchmal Bestandteil des mystifizierenden Diskurses desLinksextremismus, der stets danach strebt, allein schon das Konzept derRevolution zu banalisieren – sieht sich diese Bewegung zu zukünftigenMassenstreiks vielen Gefahren ausgesetzt:

- der Gefahr derRepression. Jetzt, wo die massenhaften Proteste sich aufgelöst haben, richtetdie Armee, die die Macht „übernommen“ hat (faktisch stand sie immer imMittelpunkt derselben), dringende Aufrufe an die Ägypter, zur Arbeit zurückzukehren.Schließlich habe die Revolution ja triumphiert! Es gab versteckte Andeutungen,dass Arbeiterversammlungen verboten werden sollen. Wir haben bereits erlebt,dass, während die Armee behauptet hatte, das Volk zu schützen, Hunderte von Aktivistenvon just dieser „populären“ Institution festgenommen und gefoltert wurden unddass es keinen Grund gibt, davon auszugehen, dass diese Art von „leiser“Repression nicht fortgesetzt wird, während Frontalzusammenstöße vermiedenwerden.

- der Illusionen der Kombattantenselbst. Illusionen wie jene, dass die Armee dem Volk gehört, sind gefährlich,weil sie die Unterdrückten daran hindern, zu erkennen, wo ihr Feind steht undvon wo der nächste Schlag kommen wird. Doch die Illusionen in die Armee sindTeil einer allgemeineren Illusion, der Illusion in die „Demokratie“, dieVorstellung, dass eine andere Form des kapitalistischen Staates seine Funktionverändern und ihn dazu bringen könne, den Bedürfnissen der Mehrheit zu dienen.Der Ruf nach unabhängigen Gewerkschaften, die in vielen der heutigen Streiks(3) erhoben werden, sind im Grunde eine Variante dieses demokratischen Mythos:Sie gründen sich insbesondere auf die Idee, dass der kapitalistische Staat,dessen Rolle es ist, ein System zu schützen, das den ArbeiterInnen bzw. derMenschheit insgesamt nichts anzubieten hat, der ausgebeuteten Klasse wenigstenserlauben werde, ihre eigenen unabhängigen Organisationen permanentaufrechtzuerhalten.

Wir sind noch weit wegvon einer Revolution in dem einzigen Sinn, den sie heute haben kann – derinternationalen proletarischen Revolution. Das authentische revolutionäreBewusstsein, das erforderlich ist, um solch eine Revolution zum Sieg zu führen,kann sich nur auf globaler Ebene entwickeln, und es kann nicht ohne den Beitragder ArbeiterInnen in den am höchsten entwickelten Ländern Realität werden. Dochdie Proletarier (und die anderen unterdrückten Schichten) des Nahen Ostens undNordafrikas lernen hier und heute grundlegende Lehren aus ihren eigenenErfahrungen: Lehren darüber, wie man die Leitung des eigenen Kampfes übernimmt,wie in den Streiks, die sich von unten ausbreiteten, in den nachbarlichenSchutzkomitees, die wie Pilze aus dem Boden schossen, nachdem Mubarak seinePolizei und den Bodensatz der Gesellschaft dazu ermuntert hatte, ihre Häuser zuplündern; Lehren der täglichen „direkten Demokratie“ auf dem Tahir-Platz. Nocheinmal McNally:

„Sichzusammen mit diesen Formen der Selbstorganisation des Volkes entwickelnd, gibtes neue Praktiken der Radikaldemokratie. Auf dem Tahir-Platz beteiligte sichdas Nervenzentrum der Revolution, die  manchmal in die Hunderttausende gehende Menge,direkt am Entscheidungsprozess. Organisiert in kleineren Gruppen, diskutiertenund debattierten die Leute und sandten schließlich Delegierte zu Beratungenüber die Forderungen der Bewegung. Wie ein Journalist (4) erklärt, „kommenschließlich Delegierte aus diesen Mini-Versammlungen zusammen, um dievorherrschende Stimmung auszuloten, ehe potenzielle Forderungen über dasnotdürftige Lautsprechersystem des Platzes vorgelesen werden. Die Annahme einesjeden Antrags stützt sich auf die Proportionen der Buhrufe und des Beifalls derMenge insgesamt.“

Auch Lehren darüber,wie man sich kollektiv gegen die Angriffe der Polizei und der Kriminellen zur Wehrsetzt; wie man sich mit den Soldaten verbrüdert, wie man sektiererischeSpaltungen zwischen Sunniten und Schiiten, Muslimen und Christen, Religiösenund Säkularen überwindet. Lehren in Internationalismus, breitete sich dieRevolte doch von Land zu Land aus, dabei ihre Forderungen und Methodenmitnehmend, da die Proletarier allerorten erkennen, dass sie es mit demgleichen sinkenden Lebensstandard, mit dem gleichen repressiven „Regime“, mitdemselben Ausbeutungssystem zu tun haben.

Was vielleicht am bedeutendstenist: die bloße Tatsache, dass die Arbeiterklasse sich selbst genau in demMoment des „demokratischen Triumphes“ so nachdrücklich in Erinnerungzurückgerufen hat, nach dem Abgang Mubaraks, das angeblich das wahre Ziel derRevolte gewesen ist, enthüllt ihre Fähigkeit, sich den Rufen nach Opfern undSelbstverleugnung zugunsten der „Nation“ und des „Volkes“, die stets imMittelpunkt der patriotischen und demokratischen Kampagnen der Bourgeoisiestehen, zu widersetzen. In Interviews mit der Presse in den vergangenen Tagenhaben ArbeiterInnen häufig auf die einfache Wahrheit hinter ihren Motiven fürdie Streiks und Proteste hingewiesen: Sie können ihre Familien nicht ernähren,weil ihre Löhne zu niedrig und die Preise zu hoch sind oder weil sie überhauptkeine Aussicht auf einen Job haben. Dies sind in wachsendem Maße dieBedingungen, denen sich die Arbeiterklasse in allen Ländern gegenübersieht, undkeine „demokratische Reform“ wird auch nur einen Deut daran ändern. DieArbeiterklasse hat nur ihren Kampf zu ihrer Verteidigung und die Perspektiveeiner neuen Gesellschaft als ihre Lösung.

Amos,16.2.2011

 

Fußnoten:

(1) Hossam el-Hamalawy ist ein ägyptischerJournalist, der einen Blog bei arabawy.org [10] betreibt und ausgiebig über Arbeiterkämpfe inÄgypten in den letzten Jahren berichtet hat.

(2) David McNally ist Professor für politischeWissenschaften an der York University in Toronto. Die Titel seiner Bücher gebeneine Ahnung von seinem allgemeinen politischen Standpunkt: Another World is possible: Globalization and Anti-Capitalism(Winnipeg 2005) und Against the Market: PoliticalEconomy, Market Socialism and the Marxist Critique (London 1999).

(3) Siehe zum Beispiel dieses Dokument bei https://www.europe-solidaire.org/spip.php?article20203 [11].Dies sieht nach ernsthaften Bemühungen der Arbeiterbewegung in Ägypten aus, ihreSelbstorganisation durch Massenversammlungen und gewählten Komitees zuentfalten, während gleichzeitig eine Affinität zu demokratischen undgewerkschaftlichen Vorstellungen zum Ausdruck kommt.

 

„Forderungen der Eisen- und Stahlarbeiter“

1.Sofortiger Rücktritt des Präsidenten und aller Menschen und Symbole desRegimes.

2.Konfiszierung aller Gelder und allen Eigentums von allen Symbolen des früherenRegimes und von jedermann, der sich als korrupt erwiesen hat.

3.Eisen- und Stahlarbeiter, die die Märtyrer und Kämpfer gestellt haben, rufenalle Arbeiter Ägyptens dazu auf, gegen die Arbeiterföderation des Regimes undder herrschenden Partei zu revoltieren, sie zu demontieren und jetzt ihreeigene unabhängige Gewerkschaft zu verkünden sowie ihre allgemeine Versammlungzu planen, um frei ihre eigene unabhängige Gewerkschaft zu etablieren, ohnevorherige Erlaubnis durch das Regime, das gefallen ist und all seineLegitimität verloren hat.

4.Die Konfiszierung der öffentlichen Unternehmen, die verkauft, geschlossen oderprivatisiert worden waren, so wie des öffentlichen Sektors, der dem Volkgehört, und seine Nationalisierung im Namen des Volkes, sowie die Bildung einesneuen Managements durch Arbeiter und Techniker.

5.Bildung von Arbeiterüberwachungskomitees an allen Arbeitsplätzen, dieÜberwachung der Produktion, der Preise, des Vertriebs und der Löhne.

6.Aufruf zu einer allgemeinen Versammlung aller Bereiche und politischenStrömungen des Volkes, um eine neue Verfassung zu entwickeln und wirklicheVolkskomitees zu wählen, ohne auf die Einwilligung oder auf Verhandlungen mitdem Regime zu warten.

AmFreitag, den 11. Februar wird eine riesige Arbeiterdemonstration zumTahir-Platz strömen, um sich der Revolution anzuschließen und die Forderungender Arbeiter von Ägypten zu verkünden.

Langlebe die Revolution!

Langleben die ägyptischen Arbeiter!

Langlebe die Intifada der ägyptischen Jugend – Volksrevolution für das Volk!“

 (4) JackShenker, „Cairo’s biggest protest yet demands Mubarak’s immediate departure“, Guardian, 5. Februar 2011.

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