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März 2011

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Die Furcht der Herrschenden vor dem Virus der Revolte

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Revolten sind ansteckend, vor allem wenn ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung aufgrund der Zuspitzung der kapitalistischen Wirtschaftskrise vor einer ständig wachsenden Armut steht. Die herrschende Klasse hat die Krise überhaupt nicht im Griff und wird zunehmend besorgter wegen des wachsenden Widerstands gegen ihre Sparpolitik. Diese Sorge äußert sich auf zweierlei Art: in dem Versuch, Konzessionen zu machen und ihre Herrschaft zu „demokratisieren“, und gleichzeitig im Ausbau ihres gesamten Repressionsapparates. 

Ägypten: die Volksarmee gegen das Volk

Das Zentrum der Epidemie befindet sich offensichtlich in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten. Mubarak ist bislang der wichtigste Skalp, den die Bewegung, die sich im Nahen und Mittleren Osten entfaltet hat, erobert hat. Ägypten ist eine wichtige Regionalmacht, hier gibt es auch eine stärker entwickelte Arbeiterklasse, die auf eine Geschichte von Kämpfen zurückblicken kann. Der Rücktritt von Mubarak hat aber nicht zur Auflösung der Bewegung geführt. Am 25. Februar fanden erneut Massenproteste auf dem Tahir-Platz in Kairo statt, es wurde gefordert, dass der Rest der Mubarak-Regierung (der noch immer im Amt ist) zurücktritt. Als mehrere Hundert der entschlossensten Demonstranten Anstalten machten, auf dem Tahir-Platz zu übernachten, stießen sie auf die geballte Kraft der „demokratischen“ Armee. Die Website „Occupied  London“ (die direkte Kontakte zur Bewegung in Ägypten zu haben scheint) zog daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen: „Die traurigen Ereignisse von heute Abend werden hoffentlich die ziemlich irreführende Auffassung, der zufolge ‚das Volk und die Armee vereint‘ seien, begraben und aufzeigen, dass das wahre Bild der Lage in Ägypten besser zusammengefasst wird durch den Spruch, dass ‚Armee und Polizei vereint vorgehen‘. Eine Gruppe von mehreren Hundert friedlichen Protestierenden, die versuchten, die Nacht auf dem Tahir-Platz und vor dem Parlamentsgebäude zu verbringen, um gegen die ungebrochene Militärherrschaft und die fortdauernde illegitime Beteiligung des alten Regimes an der Regierung zu protestieren, wurde gewaltsam angegriffen und von der Militärpolizei und von Armeeoffizieren vertrieben und verprügelt. Dabei hörten sie Flüche wie: ‚Ihr könnt nicht mit der Armee herumspringen, die Armee ist kein Freund des Volkes‘. Diese Institution ist genauso ein Teil des Regimes wie alle anderen Vertreter des Systems. Sie stellt nicht nur die gleichen verkrusteten politisch-militärischen Eliten dar, die Ägypten 60 Jahre lang regiert haben, sondern verkörpert auch gewaltige Geschäftsinteressen, die sich auf Günstlingswirtschaft und systematische Korruption stützen. Es gibt keine Zweifel daran, dass die Armee, wenn es nach ihr ginge, den Großteil der bisherigen (politischen und polizeilichen) Infrastruktur des Landes beibehalten möchte, während man gleichzeitig einzubläuen versucht, die Armee sei Verbündeter und Beschützer des Volkes“. (https://www.occupiedlondon.org/cairo/?p=355 [1])

Irak, Iran, Algerien…

Konnten die kapitalistischen Medien die Rebellion in Nordafrika noch als einen “Kampf für die Demokratie” darstellen, so bringt sie die Lage im Irak in einige Erklärungsnöte. Nach einem brutalen Krieg mit anschließender Besetzung, bei der Tausende von Menschen starben, gibt es im Irak nun mittlerweile eine Demokratie, aber in jüngster Zeit gibt es auch im Irak Massenproteste. Zunächst stand die unglaublich schlechte Sicherheitslage (das Leben ist aufgrund all der Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen und den Sicherheitskräften des Staates ständig in Gefahr) neben der Frage der staatlichen Korruption im Vordergrund der Demonstrationen. Aber viele der Demonstranten haben auch Forderungen nach einer besseren Versorgung mit Wasser, Strom usw. gestellt. Die Regierung ist schon zur Subventionierung der Strompreise gezwungen gewesen, um die Wut dämpfen, aber das hat die Proteste bislang nicht wirklich abgewürgt. Bei den jüngsten Protesten am 4. März versammelten sich Tausende im Zentrum Bagdads, um gegen Korruption und Arbeitslosigkeit zu protestieren.

Während die Herrschenden gern Bilder von der brutalen Repression in Ägypten und insbesondere Libyen zeigen, zeigen sie kein Interesse, die blutige Bilanz nach dem gewaltsamen Polizeieinsatz am „Tag des Zorns“, dem 25. Februar, im Irak (29 Tote) zu thematisieren. Auch schweigen sich die Medien über den Versuch aus, die Proteste vom 4. März niederzuknüppeln und mit Wasserwerfern auseinanderzutreiben. Zum Zeitpunkt, als dieser Artikel verfasst wurde, hatten wir wenig Kenntnisse über etwaige Versuche der Arbeiterklasse im Irak, ihren eigenen, autonomen Kampf aufzunehmen, obgleich Ölarbeiter aus Kirkuk Mitte Februar mit Streiks gedroht hatten, so wie seinerzeit in Ägypten. Aber es ist sicher, dass die Reaktion auf die Opposition gegen die irakische „Demokratie“ ziemlich genauso geartet ist wie die gegen die ägyptische „Diktatur“.

Auch der Iran, der vermutlich die bedeutendste Macht in der Region ist, ist von der Protestwelle erfasst worden. Seit 2009 stand die sogenannte „Grüne Bewegung“ an der Spitze der Proteste gegen die Ahmadinejad-Regierung; sie scheint zu versuchen, bei den Protesten ihre eigenen Ziele einzubringen. Auf die Proteste selbst reagierte das Regime mit der üblichen Brutalität und mit Massenverhaftungen. Doch die Arbeiterklasse im Iran hat auch ihre eigene Stimme erhoben. Time schrieb am 22. Februar 2011: „Im letzten Jahr gab es Streiks und Proteste in der Automobilindustrie, in der Reifen-, Zucker-, Textil- und Metallindustrie und im Transportwesen. Viele dieser Proteste drehten sich um ‚Brot-und-Butter-Fragen‘: unbezahlte Löhne, unerwartete Entlassungen, wachsende Arbeitslosigkeit und Kürzungen.“ Vor kurzem fanden in Abadan Streiks in den Ölraffinerien, wo die Arbeiter seit einem halben Jahr mehr keinen Lohn bekommen haben, und Straßenproteste statt. Das iranische Regime ist sehr nervös wegen der Entwicklung in Abadan, wo es eine der weltgrößten Raffinerien gibt, die schon 1979 ein Epizentrum der Revolte gegen den Schah gewesen war.

Nach den Demonstrationen in Algerien im Januar und Februar hat das Regime die Aussetzung der seit 1972 geltenden „Notstandsgesetze“ verkündet. Diese Gesetze wurden unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus erlassen, um jegliche öffentliche Versammlung oder Demonstration zu verbieten. Die Regierung hat auch Schritte zur Bekämpfung der Arbeits- und Obdachlosigkeit angekündigt, zwei Themen, die von den Demonstranten bei den jüngsten Protesten in den Vordergrund gestellt wurden. Natürlich wird diesen Ankündigungen nichts Substanzielles folgen. Mitte Februar wurde eine Demonstration von 2-3.000 Mensch von 30-40.000 Polizisten umzingelt; einer für den 26. Februar geplanten Demonstration ging eine Reihe von Verhaftungen voraus. Trotz der fortdauernden Atmosphäre staatlicher Repression gab es eine entschlossene Demonstration von Studenten in Tizi Ouzu. Auch unter den ArbeiterInnen gibt es Anzeichen wachsender Kampfbereitschaft: 300 Beschäftigte eines Phosphat produzierenden Unternehmens in Annaba demonstrierten vor dem Firmensitz und forderten höhere Löhne und Sozialleistungen. Im Gesundheitswesen fand Anfang Februar ein Streik statt, auch im Erziehungswesen von Bejaïa wurde zwei Tage gestreikt. 

In Tunesien gehen die Proteste trotz des Rücktritts von Ben Ali weiter. Am 25. Februar demonstrierten 100.000 Menschen gegen die „Übergangsregierung“, die von vielen als eine Neuauflage des alten Regimes betrachtet wird. Weitere Proteste haben in Marokko, Jordanien, Jemen und Bahrain stattgefunden, wo die Lage weiterhin angespannt bleibt. Erneut hat die herrschende Klasse auf ihre Art reagiert. Die Polizei tötete sieben Demonstranten in Marokko. In Bahrain ging die herrschende Klasse anfangs äußerst gewaltsam gegen die Demonstranten auf dem Perlenplatz vor, aber dem Rat der US-Regierung folgend, gab sie schließlich nach. In Syrien, wo überall Geheimpolizei  präsent ist, sind die Demonstrationen bislang noch sehr klein geblieben; die Antwort war jedes Mal nackte Repression. 200 Leute, die ihre Solidarität mit den Protesten in Libyen zum Ausdruck bringen wollten, wurden gewaltsam auseinandergejagt.

In Saudi-Arabien versuchte der König wiederum, die Unzufriedenheit durch die Ankündigung von Lohnerhöhungen und die Auszahlung von Sozialleistungen aufzufangen. Und in Erwartung künftiger Proteste wurden alle Demonstrationen verboten. In einer offiziellen Ankündigung heißt es: „Die Gesetzgebung im Königreich verbietet kategorisch jegliche Art von Demonstrationen, Märschen und Sit-ins, da sie im Widerspruch zur islamischen Scharia und den Werten und Traditionen der saudischen Gesellschaft stehen.“ Hinzugefügt wurde, dass die Polizei per Gesetz die Erlaubnis habe, „alle notwendigen Maßnahmen gegenüber Gesetzesbrechern zu ergreifen“.

Asien, Europa, Amerika…

Trotz der Pseudo-Erklärungen der Presse ist die rebellische Stimmung kein „arabisches“ Phänomen. 100.000 Menschen protestierten am 23. Februar in Neu Delhi, um ihre wachsende Unzufriedenheit mit der Arbeitslosigkeit und den steigenden Preisen zum Ausdruck zu bringen. Ein Demonstrant sagte einem Reporter: „Ich verdiene 100-125 Rupien am Tag (2-3 Dollar). Wie kann man damit überleben, wenn die Preise ständig steigen?“ Im Dezember betrug die Inflation 18 Prozent. Auf einem Spruchband stand geschrieben: „Die Preissteigerungen werden noch dazu führen, dass die Leute auf der Straße getötet werden.“

In China fand letztes Jahr eine große Streikwelle statt, und die Regierung ist extrem nervös wegen weiteren Äußerungen von Unzufriedenheit. Sie reagierte auf Aufrufe im Internet zu einer Jasmin-Revolution mit weiteren Zugangsbeschränkungen zum Internet und mit einer massiven Polizeipräsenz auf den Straßen. Es wurden Straßensperren errichtet, um die Bewegungsfreiheit am geplanten Protesttag einzuschränken.

Auch in Südosteuropa haben sich die Lebensbedingungen rapide verschlechtert, und auch hier gibt es einen Nährboden für eine wachsende Unzufriedenheit. In Albanien wurden am 25. Februar bei einem Protest vor Regierungsgebäuden mindestens drei Menschen erschossen. In Kroatien fand eine Reihe von Demonstrationen gegen die Regierung und gegen steigende Lebenshaltungskosten statt. Anfangs hatten zumindest einige der Demonstrationen einen stark nationalistischen Beigeschmack, aber in der jüngsten Zeit ist der Anteil der ArbeiterInnen und StudentInnen gestiegen; man sieht mehr Spruchbänder und Forderungen gegen den Kapitalismus. In Griechenland gab es neben den Jugendrevolten Ende 2008 eine Reihe von Generalstreiks gegen die Regierung und deren sattsam bekanntes Sparprogramm. Zunächst drohten diese eintägigen Streiks unter der strikten Gewerkschaftskontrolle zu Rituale zu verkümmern, doch der letzte, der am 23. Februar stattfand, scheint lebendiger gewesen zu sein. Es gab eine massivere Beteiligung der Beschäftigten der Privatindustrie und des öffentlichen Dienstes, die Banken, Schulen, Krankenhäuser, das Transportwesen und andere Bereiche umfasste. Dabei kam es auch zu Streiks außerhalb der offiziellen Aktionstage. 

Zu den bedeutendsten Kämpfen der letzten Zeit zählt die Mobilisierung der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Wisconsin, USA, die die wachsende Unzufriedenheit der amerikanischen Arbeiterklasse kristallisierte. „Zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes protestieren auf der Straße und besetzen das State Capitol in Wisconsin aus Protest gegen vorgeschlagene Änderungen der Tarifverhandlungen zwischen dem Staat als Arbeitgeber und den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. Der junge republikanische Gouverneur Scott Walker, der von der Tea Party unterstützt wird, hat ein Gesetz vorgeschlagen, welches den meisten der ca. 175.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Tarifvereinbarungen unmöglich macht, weil sie so keine Verhandlungen über Renten- und Krankenkassenbeiträge mehr führen  könnten und stattdessen nur noch über Löhne verhandeln könnten. Zudem müssten, dem Gesetzesvorschlag zufolge, die Gewerkschaften eine Art jährliche Zulassung von ihren Mitgliedern für die eingeschränkten Kompetenzen bei zukünftigen Tarifverhandlungen erhalten. Feuerwehrleute, die von den vorgeschlagenen Änderungen  nicht betroffen sind (weil ihre Gewerkschaft Walker bei den Novemberwahlen unterstützte), haben ihre Solidarität mit den anderen Beschäftigten bekundet und sich den Protesten angeschlossen, von denen viele meinen, sie seien durch die Welle von Unruhen in Ägypten und anderen Staaten im arabischen Raum inspiriert worden. Viele Protestierende in Wisconsin hielten demonstrativ Plakate hoch, auf denen der ominöse Spitzname Scott ‚Mubarak‘ Walker geschrieben stand, und andere skandierten: ‚Wenn Ägypten Demokratie haben kann, warum nicht Wisconsin? ‘. Protestierende in Ägypten haben sogar ihre Solidarität mit den Beschäftigten in Wisconsin zum Ausdruck gebracht!“ (aus einem Artikel der IKS-Sektion in den USA zu  „Wisconsin – Die Verteidigung der Gewerkschaften führt in die Niederlage“)

Der Konflikt in Wisconsin wird als ein Kampf zur Verteidigung der Gewerkschaften dargestellt, und die meisten Arbeiter fassen diesen auch so auf, so wie Hunderttausende im Mittleren Osten ihren Kampf als einen Kampf für die Demokratie betrachten. Die herrschende Klasse schlachtet diese ideologische Schwäche aus, aber die tieferliegenden Gründe all der gegenwärtigen Revolten sind in Wirklichkeit andere. Die Revolten sind eine notwendige Reaktion gegenüber der wirtschaftlichen Verschlechterung und politischen Repression, die die weltweite Krise des Systems erzwingt. Die Keime einer internationalen Bewegung gegen das Systems sind unübersehbar angesichts der schnellen Ausbreitung der Revolten über Landesgrenzen hinweg und des Aufkommens gemeinsamer Schlachtrufe, die eine echte internationale Klassensolidarität zum Ausdruck bringen. Wenn sich ArbeiterInnen in Ägypten und Amerika bewusst gegenseitig in ihren Kämpfe unterstützen, wird der Weg zur Revolution ein wenig breiter und die herrschende Klasse hat allen Grund zur Besorgnis.       Amos, 5.3.11

Aktuelles und Laufendes: 

  • Ägypten [2]
  • Libyen [3]
  • Revolten Tunesien [4]
  • Arbeiterkämpfe Naher Osten [5]

Erdbeben, Tsunami und Atomunglücke in Japan Der Horror des Kapitalismus

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«Man muss das Schlimmste befürchten». Dies ist der Tenor  aller Schlagzeilen der Medien, aber auch der meisten führenden Politikern der Welt.  Doch das Schlimmste ist schon eingetreten! Zunächst das Erdbeben, dann der Tsunami und schließlich der Nuklearunfall - die japanische Bevölkerung steckt in einer schrecklichen Lage. Heute schon leben Millionen Menschen unter dem Damoklesschwert der nuklearen Verseuchung, die aus den Reaktoren Fukushimas entweicht. Diesmal hat es kein armes Land ins Mark getroffen wie Haiti oder Indonesien, sondern ein Land, das bekannt ist für seine Spitzentechnologie. Ein Land, das als erstes mit der Nuklearenergie experimentiert hat und das in Anbetracht der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 besonders mit deren Gefahren vertraut ist.

Der Kapitalismus lässt die Menschheit für Naturkatastrophen immer anfälliger werden

Erneut sind der Wahnsinn des Kapitalismus und das unverantwortliche Verhalten der herrschenden Klassen deutlich geworden. Erst jetzt nimmt die Welt davon Kenntnis, dass 127 Millionen Menschen auf einem schmalen Küstenstreifen wohnen, oft in Holzhäusern, auf Landstrichen, die ständig den Gefahren von Erdbeben und alles verschlingenden Monsterwellen ausgesetzt sind. Dabei treibt die Bevölkerungsdichte im Katastrophenfall selbstredend die Zahl der Opfer noch weiter in die Höhe.

Als ob dies nicht reichen würde, wurden Atomkraftwerke, die überall veritable Zeitbomben bilden, auch an Orten gebaut, die Erdbeben- und Tsunami-gefährdet sind. Die meisten AKWs in Japan sind vor ca. 40 Jahren gebaut worden, und dies nicht nur in sehr dicht bewohnten Gebieten, sondern darüber hinaus in Küstennähe, d.h. sie sind besonders durch Tsunamis gefährdet. So sind denn auch von 55 Reaktoren in 17 AKWs elf durch das Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber nicht nur AKWs waren betroffen, sondern auch petrochemische Anlagen, die am Meer errichtet worden waren und die zum Teil in Brand gerieten, was das menschliche Desaster und die Umweltkatastrophe noch verschlimmerte.

Die Herrschenden versuchen uns glauben zu machen, die Natur sei schuld; man könne Stärke und Zeitpunkt von Erdbeben sowie das Ausmaß von Tsunamis nicht vorhersehen. Richtig. Aber es fällt auf, dass der Kapitalismus, der Wissenschaft und Technologie, die eigentlich eingesetzt werden könnten, um solchen Katastrophen vorzubeugen, in den letzten zwei Jahrhunderten phänomenal vorangetrieben hat, die Menschheit noch immer diesen schrecklichen Gefahren aussetzt. Die gegenwärtige kapitalistische Welt verfügt über gewaltige technologische Mittel, aber sie ist unfähig, Letztere zum Nutzen der Menschheit einzusetzen, denn aus ihrer Sicht zählt nur der Profit für das Kapital … auf Kosten von Menschenleben.

Seit der Katastrophe von Kobe 1995 hat der japanische Staat beispielsweise den Bau von erdbebensicheren Gebäuden vorangetrieben – Gebäude, die auch dem jüngsten Beben standgehalten haben, die aber den Vermögenden vorbehalten blieben bzw. als Bürogebäude in den Großstädten genutzt werden.

Die Bevölkerung ist nun schon bis ins 250 km von Fukushima entfernte Tokio hinein einer Strahlendosis ausgesetzt, die offiziellen Angaben zufolge 40 Mal höher ist [1] als der Durchschnittswert, was die japanische Regierung jedoch nicht daran hindert, diesen Strahlenwert als „gefahrlos“ einzustufen.

Die groben Lügen der Herrschenden

Heute werden Vergleiche mit früheren GAU’s in Atomkraftwerken angestellt, insbesondere mit der Kernschmelze im Reaktor von Three Mile Island in den USA 1979. Offiziell hatte diese keinen einzigen Toten hinterlassen. Alle politisch Verantwortlichen erklären, „bislang“ handelte es sich bei Fukushima um keinen so ernsthaften Störfall wie die Explosion in Tschernobyl 1986. Soll man sich durch solche außerordentlich optimistischen Äußerungen beruhigen lassen?  Wie ist die wirkliche Gefährdung der Bevölkerung in Japan, Asien, Russland, in den USA, auf der ganzen Welt einzuschätzen?  Die Antwort ist ganz einfach: äußerst dramatisch. Schon jetzt sind große Gebiete Japans radioaktiv verseucht; die japanische Betreibergesellschaft Tepco reagiert auf die Ereignisse, indem sie sich von Tag zu Tag trickst. Das Leben Hunderter Beschäftigter und Feuerwehrleute wird skrupellos aufs Spiel gesetzt, indem sie einer hohen Strahlendosis ausgesetzt werden. Es ist widerlich, wenn die japanische Regierung von den kamikaze-artigen „Helden“ spricht, ist sie doch der Hauptverantwortliche für dieses Gemetzel. Die Hilflosigkeit der Verantwortlichen ist derart groß, dass sie nach einer Woche verzweifelter Versuche, die beschädigten Reaktoren zu kühlen (wobei sie sogar den irren Vorschlag ins Auge gefasst hatten, Kabel anzuschließen, um einen der fusionierenden Reaktoren zur Stromgewinnung zu benutzen, was die die Explosionsgefahr erhöht hätte), als einzig verbleibende Lösung ins Auge gefasst haben, das Atomkraftwerk in Fukushima – wie in Tschernobyl – mit Sand und Beton abzudecken [2]. Angesichts der aktuellen wie auch der kommenden Entsetzlichkeiten enthält der Diskurs unserer Ausbeuter wie immer nichts anderes als Lügen!

1979 log Washington über die radioaktiven Folgen der Kernschmelze im Zentrum der Zentrale, obwohl 140.000 Menschen evakuiert wurden. Auch wenn niemand direkt zu Tode gekommen ist, sind die Krebserkrankungen in den darauffolgenden Jahren um das Hundertfache gestiegen, was die US-Regierung nie zugeben wollte.

Im Falle Tschernobyls, wo gravierende strukturelle und Instandhaltungsschwächen festgestellt wurden, hat die russische Regierung wochenlang den Ernst der Lage verheimlicht. Erst nach der Explosion des Reaktors und dem Austritt einer gewaltigen radioaktiven Wolke, die kilometerhoch in die Höhe stieg und sich über Tausende Kilometer ausdehnte, hat die Welt das Ausmaß der Katastrophe erfasst. Die Verantwortlichen im Westen haben genau das Gleiche gemacht. Damals hat sich der französische Staat besonders hervorgehoben, als er die Riesenlüge verbreitete, die Wolke sei vor den Grenzen Frankreichs stehengeblieben! Eine andere aufschlussreiche Tatsache: heute noch zieht die WHO (Weltgesundheitsorganisation), die mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) verbunden ist, eine lächerliche Bilanz der Explosion in Tschernobyl : 50 Todesopfer, neun (!) an Krebs verstorbene Kinder und 4000 potenziell tödliche Krebserkrankungen. In Wirklichkeit sind einer Studie der New Yorker Akademie der Wissenschaften zufolge 985.000 Menschen infolge der Explosion in Tschernobyl gestorben [3]. Und heute sind es die gleichen Institutionen, die eine Bilanz Fukushimas erstellen und uns über die Risiken informieren sollen. Fragt sich nur, welche Glaubwürdigkeit diese Institutionen besitzen. Was wird aus den „Liquidatoren“ in Fukushima geschehen, wenn man weiß, dass in Tschernobyl „von den 830.000 Liquidatoren, die auf dem Gelände gewirkt haben, ca. 112.000-125.000 gestorben sind“? [4] Heute noch versuchen die Herrschenden zu vertuschen, dass der Kern des AKW in Tschernobyl immer noch äußerst gefährlich ist, dass es heute noch notwendig ist, den Kern des Reaktors mit einer x-ten Betonschicht abzudecken. Genauso war verheimlicht worden, dass es in Fukushima mehr als 200 Störfälle in den letzten 10 Jahren gegeben hat.

Alle Staaten leugnen die Wirklichkeit der atomaren Gefahren! Der französische Staat erklärt unaufhörlich und dreist, dass die 58 Atomkraftwerke in Frankreich völlig sicher seien, obwohl die meisten von ihnen in erdbebengefährdeten Gebieten oder in Überschwemmungsgebieten bzw. an der Küste liegen. Während des Sturms von 1999, als eine Sturmfront große Schäden in Europa angerichtet und 88 Tote hinterlassen hatte, kam es infolge der Überschwemmung des AKW in Blayais, in der Nähe von Bordeaux, fast zu einer Kernschmelze. Nur wenige wussten davon. In Fessenheim steht ein AKW, das so alt ist, dass es vor Jahren hätte außer Betrieb gesetzt werden sollen. Aber dank der Verwendung von Ersatzteilen, von denen viele nicht zueinander passen, ist es noch immer in Betrieb, wahrscheinlich mit hohen, verheerenden Strahlenbelastungen für das Wartungspersonal. Doch unverdrossen behauptet man, „alles im Griff“ zu haben und „transparent“ zu handeln.

Unmittelbar nach dem Beben in Japan am 11. März haben die Medien dreist behauptet, die japanischen AKWs gehören zu den „sichersten“ der Welt. Zwei Tage später äußerte man das Gegenteil und erinnerte daran, dass die Betreibergesellschaft Tepco bereits in der Vergangenheit Störfälle vertuscht habe. Doch sind die AKWs in Frankreich, wo “sich innerhalb von 10 Jahren die Zahl der kleineren Störfälle und Unregelmäßigkeiten verdoppelt hat“ [5], und anderswo auf der Welt sicherer?  Keinesfalls!  „Ungefähr 20% der 440 in Betrieb befindlichen zivilen Kernkraftwerke stehen in Gebieten mit ‚wichtigen seismischen Bewegungen‘, so die WNA (World Nuclear Association), ein Industrieverband. Einige der 62 im Bau befindlichen AKWs stehen in erdbebengefährdeten Gebieten, ebenso eine Reihe der 500 anderen Bauprojekte in den Schwellenländern. Viele AKWs – auch die vier durch den Tsunami in Fukushima beschädigten Reaktoren – stehen auf oder in der Nähe des ‚Feuerkreises’, einem 40.000 km langen Ring tektonischer Gräben, die im Pazifik gemessen wurden.“ [6]

So geben ernsthafte Quellen zu bedenken, dass „immer mehr  radioaktive Elemente im Umlauf sind. Zum Beispiel gab es vor 1945 kein Plutonium in der Natur, mittlerweile findet man es gar in den Milchzähnen britischer Kinder“ [7], obgleich Großbritannien sein ziviles Atomprogramm eingestellt hat.

Der Kapitalismus treibt die Menschheit in immer mehr Katastrophen

In Japan kämpfen die Menschen nicht nur mit der nuklearen Katastrophe, sondern auch mit einer anderen Katastrophe.  Die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist innerhalb weniger Stunden in eine seit dem 2. Weltkrieg nie da gewesene Krise gestürzt - massive Zerstörungen, Zehntausende Tote und zusätzlich atomare Verstrahlung wie nach den Atombombenabwürfen auf Nagasaki und Hiroshima.

Millionen Menschen im Nordosten Japans überleben ohne Elektrizität, ohne Trinkwasser, mit immer weniger Lebensmitteln, wenn diese nicht gar radioaktiv verseucht sind. 600.000 Menschen mussten vor dem Tsunami flüchten, der ganze Städte an der Pazifikküste weggespült hat, und leben nun, der Gefahr radioaktiver Verstrahlung ausgesetzt, mittellos in Kälte und Schnee. Im Gegensatz zu den Ankündigungen der japanischen Regierung, die die Gefahren weiterhin verharmlost, die Opferzahlen heruntergespielt und lediglich tröpfchenweise preisgibt, muss man jetzt schon von Zehntausenden Toten im ganzen Land ausgehen. Das Meer spült ständig Leichen an Land. Das Ausmaß der zerstörten Wohnungen, Gebäude, Krankenhäusern, Schulen usw. wird immer größer.

Ganze Dörfer, Gebäude, Züge, ja Städte im Nordosten des Landes sind vom Tsunami mitgerissen worden. In einigen Städten, die in engen Tälern liegen, wie Minamisanriku, ist mehr als die Hälfte der 17.000 Einwohner ums Leben gekommen oder gilt als verschwunden. Nachdem die Behörden 30 Minuten vor Eintreffen der Welle die Bevölkerung gewarnt hatte, waren die Straßen schnell verstopft; diejenigen, die zu spät geflüchtet waren, wurden Opfer der Wellen.

Die Bevölkerung ist von all den westlichen Medien für ihren „beispielhaften Mut“ und ihre „Disziplin“ gelobt worden ; jetzt ruft der Premierminister sie auf, „wieder bei null mit dem Wiederaufbau anzufangen“. Mit anderen, deutlicheren Worten gesagt: die japanische Arbeiterklasse muss sich auf neue Entbehrungen, auf mehr Ausbeutung und auf noch mehr Elend einstellen. Die Bilder, die seit Jahrzehnten verbreitet werden, sind bekannt: zum Beispiel jenes Bild des japanischen Arbeiters, der mit seinem Arbeitergeber unterwürfig Morgengymnastik treibt, stillhält und sich stumm ausbeuten lässt, sich stoisch verhält und nur auf Befehle wartet, während das Dach über seinem Kopf zusammenstürzt. Tatsächlich ist die japanische Bevölkerung außerordentlich mutig, aber der in den Medien porträtierte „Stoizismus“  sieht ganz anders aus. Unter den Hunderttausenden Menschen, die in Notunterkünften Zuflucht gefunden haben, wächst berechtigterweise die Wut; weitere Hunderttausend haben ebenfalls die Flucht angetreten, darunter ein wachsender Teil der 38 Millionen Einwohner des Großraums Tokio. Und diejenigen, die ausharren, tun dies nicht, um der Gefahr und ihrem Schicksal zu trotzen, sondern weil sie keine andere Wahl haben. Es fehlt ihnen an finanziellen Mitteln, und wo sollten sie auch hin? Wer wird sie aufnehmen?  Umweltflüchtling zu sein stellt in den Augen der Herrschenden etwas Unanständiges dar. Jedes Jahr müssen ungefähr 50 Millionen Menschen vor Umweltgefahren flüchten, aber es gibt keine UN-Konvention für sie,  selbst wenn sie Opfer einer Katastrophe wie die eines atomaren Unfalls sind. Es ist klar, dass den armen und mittellosen Japanern, die vor der Nuklearkatastrophe zu flüchten versuchen oder einfach woanders hinziehen, nirgendwo ein „Asylrecht“ zugestanden wird.

Dieses irrsinnige Ausbeutungssystem ist todgeweiht und wird jeden Tag noch unmenschlicher. Obwohl die Menschheit ein umfangreiches Wissen und gigantische technologische Mittel angesammelt hat, sind die Herrschenden unfähig, alle Mittel zu mobilisieren, die die Menschheit  vor derartigen Naturkatastrophen schützen. Im Gegenteil, sie wirken furchtbar zerstörend, überall auf der Welt.  Wie ein Teilnehmer an unserem französischsprachigen Forum meinte: „Wir haben keine andere Wahl gegenüber dieser kapitalistischen Hölle: Sozialismus oder Barbarei. Gegen das System kämpfen oder krepieren“.

Mulan, 19.3.2011

 

1. Die Erfahrung zeigt, welche Glaubwürdigkeit diese offiziellen Zahlen im Allgemeinen und insbesondere die des Nuklearbereichs haben – die goldene Regel lautet – die Herrschenden lügen, manipulieren und unterschätzen die Gefahren!

2. As Le Canard Enchaîné reported on March 16th 2011, the current disaster was even predicted: “the eight German engineers from Areva who worked on site at the Fukushima nuclear power station 1, weren't mad (…) surprised by the earthquake 'when the number 4 reactor block was fully operational' on Friday evening (March 11th), they were sent awa to safety 40 miles from the nuclear power station” and then “taken to Frankfurt on Sunday March 13th”.

3. Quelle : « Troublante discrétion de l’Organisation mondiale de la santé », Le Monde du 19 mars.

4.                https://www.monde-diplomatique.fr/2010/12/KATZ/19944 [6]

5.                www.europe1.fr/societe/En-France-les-incidents-nucleaires-en-hausse-497336 [7]

6. www.lemonde.fr [8]

7. blog.mondediplo.net/2011-03-12-Au-Japon-le-seisme-declenche-l-alerte-nucleaire [9]

 

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Erdbeben [10]
  • Tsunami [11]
  • Atomare Verseuchung Japan [12]

Japan: Schlampereien und Sorglosigkeit in einem Hightechland…

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Als vor mehr als einem Jahr in der Armenhochburg Haiti das schwerste Erdbeben in der Geschichte Nord- und Südamerikas zuschlug, wurden auf einen Schlag knapp über 300.000 Menschen in den Tod gerissen, weitere 310.000 verletzt, 1.85 Millionen Menschen obdachlos gemacht. Das heißt, ein Drittel der Bevölkerung Haitis fiel dem Beben zum Opfer. Damals sagte man, ein Erdbeben in solch einem rückständigen, unterentwickelten Land, dessen Bauten und Hilfsdienste in keinster Weise auf die Folgen eines schweren Bebens vorbereitet sind, konnte nur eine horrende Todesbilanz hinterlassen.

 Als am 11. März das stärkste Erdbeben der jüngsten Zeit vor der Ostküste Japans einen gewaltigen Tsunami auslöste und eine Todeszone entlang der Küste hinter sich ließ, in der auf mehreren Hundert Kilometern unzählige Häuser dem Erdboden gleichgemacht, mehrere AKWs beschädigt wurden und schon kurze Zeit später eine nukleare Katastrophe in Fukushima gemeldet wurde, da fragten sich viele, wie es möglich ist, dass sich in dem Hightechland Japan, einer der führenden Industriemächte, solch eine Katastrophe ereignen konnte.

Mittlerweile ist bekannt geworden:

-          Nicht nur das Atomkraftwerk in Fukushima wurde unweit der Küste, also in einem Gebiet errichtet, das als höchst erdbebengefährdet gilt, sondern auch eine  Reihe weiterer AKWs. Die Planer behaupten, man hätte die Stärke der Erdbeben der letzten 100 Jahre studiert und dabei allenfalls mit Erdbeben der Stärke 8.2 auf der Richterskala gerechnet. Was aber sind 100 Jahre in der Erdgeschichte? Wie kann es überhaupt sein, dass AKW in solchen Gefahrenzonen errichtet wurden und werden?„‘Die Möglichkeit eines Tsunamis wurde bei der Planung nie in Betracht gezogen‘, sagte der frühere Toshiba-Ingenieur Shiro Oguro, der nach eigener Aussage 35 Jahre mit Planung, Bau und Wartung der Reaktoren betraut war. Man habe nicht berücksichtigt, dass die Welle eines Tsunamis nicht nur die reguläre Stromversorgung, sondern auch die unterhalb des Reaktors, praktisch direkt am Meer gelegenen, Notstromaggregate beschädigen und außer Betrieb setzen könnte.“  (WELTONLINE, 14.3.2011). „Die vorgesehenen Sicherheitssysteme seien nicht für ein Tsunami-gefährdetes Kraftwerk konzipiert gewesen. Andere Sicherheitssysteme seien nur ungenügend für den Notfall geplant gewesen. So sei das Containment, die Stahlschutzhülle, in der sich der eigentliche Reaktordruckbehälter befindet, nur für die Hälfte des Drucks ausgelegt, der nach dem Unfall tatsächlich auftrat. Sicherheitssysteme, die eigentlich redundant, also getrennt voneinander mehrfach vorhanden sein müssen, seien nicht ausreichend gewesen.“ (ebenda). 

-          Die Betreiberfirma Tepco hat in den letzten Jahren Dutzende von Störfällen vertuscht, bei der Wartung geschlampt, immer wieder gefälschte Reaktordaten veröffentlicht. „17 Reaktoren, darunter auch der jetzige Unglücksmeiler, mussten für Inspektionen vorübergehend vom Netz genommen werden“ (Spiegel, 12.März 2011). Wie kann man solche Schlampereien, Vertuschungen, Unachtsamkeiten erklären? Durch einen besondere Hang japanischer Techniker zur Sorglosigkeit oder gar durch die blinde Technikgläubigkeit der Japaner? Wie ist es möglich, dass in einem Land, das in vielen anderen Bereichen für seine hochentwickelte Technologie bekannt ist, die Sicherheitsstandards beim Betrieb von AKW so herabgedrückt wurden, der Staat so oberflächlich kontrollierte?

Tickende Zeitbomben…

Wir können im Rahmen dieses Artikels nicht näher auf die Gründe für den Bau von AKWs und für die Benutzung der Atomenergie eingehen. Es stellt sich aber die Frage, welche Sicherheitsphilosophie der Tatsache zugrunde liegt, dass weltweit mehr als 50 Atomkraftwerken in den aktivsten Erdbebenregionen des Planeten errichtet wurden? In Kalifornien in den USA stehen zwei AKW, Diabolo Canyon  und San Onofre, in unmittelbarer Nähe zum Andreasgraben. In der Türkei wurde der Reaktor Akkuyu Bay unweit der Ecemis-Bruchlinie errichtet. In China, das ebenfalls häufig von  Erdbeben erschüttert wird, stehen schon 27 AKWs, Dutzende weitere sind geplant. Bei Lahore, Pakistan, soll ein Reaktor ans Netz gehen, der in einem Gebiet mit mäßigem bis hohem Erdbebenrisiko steht. Taiwan verfügt über sechs Reaktoren – obwohl das Land in einem der am meisten von Erdbeben gefährdeten Regionen liegt. Anstatt die Gefahren der Natur zu berücksichtigen, hat der Kapitalismus überall tickende Zeitbomben geschaffen! Während die Katastrophe von Tschernobyl die ganze Unfähigkeit und Sorglosigkeit des stalinistischen Herrscherregimes zu Tage brachte, werfen die Ereignisse von Fukushima ein grelles Licht auf die Unfähigkeit und die Fahrlässigkeit der kapitalistischen Hochtechnologieländer.

Sicher, der Einsatz von angeblich billigem Atomstrom spielt eine nicht unwesentliche Rolle im internationalen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf.  Hinzu kommt das Bestreben, von Öllieferungen weniger abhängig zu werden, wie Obama jüngst in seiner Rechtfertigung für den Bau von Dutzenden neuen AKWs in den USA unterstrich.

In der Tat ist der globale Konkurrenzdruck mit verantwortlich dafür, dass beim Betrieb von Energie erzeugenden Anlagen – wie beim Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft insgesamt – immer wieder Sicherheitsstandards untergraben werden. Dies trifft natürlich nicht nur auf AKWs zu. So explodierte vor knapp einem Jahr vor der Küste der führenden Industriemacht, den USA, die Ölplattform Deepwater Horizon. Im Untersuchungsbericht über die Ursachen der Explosion der Ölplattform mussten eklatante Mängel bei der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften eingeräumt werden. Der Konkurrenzdruck zwingt gerade die großen Konzerne, die einen gewaltigen Investitionsbedarf für den Bau und die Wartung ihrer Anlagen und Betriebe haben, dazu, überall zu sparen und dabei tendenziell die Sicherheit zu untergraben. Diese Fahrlässigkeit ist kein auf die rückständigen Länder begrenztes Phänomen, sondern nimmt gerade in den höchst entwickelten Staaten die unglaublichsten Dimensionen an. Dazu gehört beispielsweise, dass man die Laufzeiten von Kraftwerken verlängert, obgleich deren Verschleiß offensichtlich ist. So sollte nach rund 40 Betriebsjahren der Reaktor 1 des Meilers Fukushima-Daiichi eigentlich im März 2011 den Betrieb einstellen. In Deutschland hatte die Bundesregierung gerade die Laufzeiten von mehreren Meilern um mehrere Jahre verlängert, damit die Energieriesen sich die Taschen noch praller füllen können.

Der Kapitalismus – Vergewaltiger der Natur

Dass die kapitalistische Produktionsweise keine Rücksicht auf die Natur nimmt, wird auch angesichts des Höhenflugs des Biosprits deutlich. Während auf der einen Seite Menschen hungern, wird andererseits immer mehr Weizen, Mais, Raps usw. für die Herstellung von Biosprit angepflanzt, mit der Konsequenz, dass die Nahrungsmittelpreise auch dadurch mit in die Höhe geschraubt werden. So wird nicht nur der Raubbau an den Ressourcen der Natur forciert, es werden auch immer mehr Menschen in den Hunger getrieben.

Dass Panscherei und der systematische Einsatz von nicht zulässigen, gefährlichen Stoffen bei der Lebensmittelherstellung keine Besonderheit von unterentwickelten oder von Gangsterbanden dominierten Ländern sind, sondern gerade in den hochentwickelten Industriestaaten immer wieder praktiziert werden, zeigte Anfang des Jahres der jüngste Dioxinskandal in Deutschland, als aufflog, dass ein Futtermittelhersteller bis zu 77-mal mehr Dioxin dem Futterfett beigemischt hatte als erlaubt. Die Kontrollmethoden des Staates waren lächerlich lasch. Skrupellosigkeit ohne Ende bei den Futtermittelherstellern, ein Gewähren lassen durch die staatlichen Behörden, die sich in anderen Fragen als argwöhnische Überwacher aufspielen.   

Zurzeit kann niemand sagen, ob man die Reaktoren in Fukushima wieder in den Griff kriegen wird. Das ganze Ausmaß der ökologischen und ökonomischen Auswirkungen lässt sich heute noch nicht erkennen. Mittlerweile ist bekannt, dass die Kosten für Aufräumarbeiten in Three Mile Island über eine Milliarde betrugen, die Folgekosten von Tschernobyl (z.B. für den Sakrophag) liegen wesentlich höher. Die Folgekosten des atomaren Desasters von Fukushima werden alles Bisherige übertreffen. Bislang scheint die Metropole Tokio mit ihren 35 Millionen Einwohnern noch vom Schlimmsten verschont geblieben zu sein; nicht auszumalen, welche Konsequenzen sich für diese Stadt ergeben könnten. Jedenfalls erscheint das Verhältnis zwischen den Profiten, die die energieerzeugenden Firmen einfahren, und den Kosten, die für die Gesellschaft anfallen, als völlig irrational.

Klar ist, die direkte und indirekte Bedrohung für die Natur und die Menschen nimmt immer größere, bedrohliche Ausmaße an. Je länger das System wütet, desto mehr sind die Grundlagen für das Überleben der Menschheit gefährdet.                                      23.03.2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Tsunami Japan [13]
  • Erdbeben Japan [14]
  • Fukushima Atomkatastrophe [15]
  • Umweltzerstörung Kapitalismus [16]

Libyen: Volksaufstand von bürgerlichen Flügelkämpfen zu Grabe getragen

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Die Ereignisse in Libyen sind extrem schwierig zuverfolgen. Eine Sache ist jedoch klar: Die Bevölkerung leidet unter Repression,Angst und Unsicherheit. Vielleicht sind Tausende aufgrund der Reaktionen desRepressionsapparates des Regimes gestorben; aber nun sind die Menschen immermehr im Kreuzfeuer gefangen, da die Regierung und die Opposition um die Machtim Land kämpfen. Wofür sterben sie? Auf der einen Seite, um Gaddafis Kontrolleüber den Staat aufrechtzuerhalten, auf der anderen um den Libyschen Nationalrat– die selbsternannte „Stimme der Revolution“ - bei dessen Kampf um die Macht zuunterstützen. Die Arbeiterklasse in Libyen und in den anderen Ländern wird dazuaufgefordert, zwischen zwei Arten von Gangstern zu wählen. In Libyen wird dazuaufgerufen, dass die Arbeiter sich aktiv an diesem Bürgerkrieg zwischenrivalisierenden Teilen der herrschenden Klasse Libyens bei deren Kampf um dieKontrolle des Staates und der Wirtschaft beteiligen sollen. In den anderenLändern werden die Arbeiter ebenso ermuntert, den tapferen Kampf der jeweiligenOpposition zu unterstützen. Aber die Arbeiter haben kein Interesse daran, irgendeinenFlügel der herrschenden Klasse zu unterstützen.

Die Ereignisse in Libyen begannen als ein Massenprotestgegen Gaddafi; sie wurden inspiriert durch die Bewegungen in Ägypten undTunesien. Der Auslöser für die Explosionen der Wut in vielen Städten schien diebrutale Niederschlagung der ersten Demonstrationen gewesen zu sein. DemEconomist vom 26.2.11 zufolge kam die Initialzündung durch eine Demonstrationin Bengasi am 15. Februar durch ca. 60 Jugendliche. Ähnliche Demonstrationenfanden in anderen Städten statt – das Regime reagierte mit Kugeln! InAnbetracht der Ermordung von vielen jungen Leuten zogen Tausende von Menschenauf die Straße und kämpften verzweifelt gegen die Repressionskräfte desStaates. In diesen Kämpfen sah man sehr mutige Aktionen. Als die Bevölkerungvon Bengasi erfuhr, dass Söldner über den Flughafen eingeflogen wurden,stürmten die Menschen zum Flughafen und kämpften gegen dessen Verteidiger;ihnen gelang es den Flughafen zum Preis von großen Verlusten zu übernehmen.

In einer anderen Aktion benutzten Zivilisten Bulldozerund andere schwere Fahrzeuge, um Kasernen zu erobern. Die Bevölkerung inanderen Städten vertrieb die Repressionskräfte des Staates. Die einzigeReaktion des Regimes war verstärkte Repression, aber dies bewirkte das Auseinanderbrechenund die Auflösung ganzer Teile der Armee, sobald Soldaten und Offiziere sichweigerten, Befehle zum Töten von Protestierenden auszuführen. Eine Einzelpersonerschoss einen befehlshabenden Offizier, nachdem er den Befehl für Todesschüsseerteilt hatte. Anfangs scheint es sich um eine echte Explosion des Ärgers imVolke gehandelt zu haben, das sich gegen die brutale Repression und wachsendewirtschaftliche Misere, insbesondere unter der städtischen Jugend auflehnte.

Warum hat die Entwicklung in Libyen einen anderen Verlauf genommen?

Die sich zuspitzende Wirtschaftskrise und die wachsendeWeigerung, sich der Repression zu beugen, waren der größere Hintergrund derBewegungen in Tunesien, Ägypten und anderswo in Nordafrika und im MittlerenOsten. Die Arbeiterklasse und die Bevölkerung im Allgemeinen hat jahrelangschlimmste Armut und Ausbeutung erlitten, während sich die herrschende Klassedie Taschen vollstopfte.

Aber warum unterscheidet sich die Lage in Libyen sosehr von der in Tunesien und Ägypten? In diesen Ländern gab es zwar auchRepression, aber das Hauptmittel, um die soziale Unzufriedenheit unterKontrolle zu bringen, war das Mittel der Demokratie.

In Tunesien wurden die wachsenden Demonstrationen derArbeiter und der Bevölkerung insgesamt gegen Arbeitslosigkeit fast von heute aufmorgen abgelenkt in eine Auseinandersetzung um die Frage, wer Ben Ali ablösenwürde. Unter der Führung des US-Militärs drängte das tunesische Militär denPräsidenten Ben Ali dazu, eine Fliege zu machen. In Ägypten dauerte es etwas länger, Mubarak zumAbdanken zu bewegen, aber auch sein Widerstand trug dazu bei, dass dieUnzufriedenheit sich auf die Frage seines Rücktritts konzentrierte. Wichtigwar, dass einer der Faktoren, der schließlich zu seinem Rücktritt wesentlichbeitrug, der Ausbruch von Streiks mit der Forderung nach besserenLebensbedingungen und höheren Löhnen war. Das zeigte, während sich Arbeiter anden massiven Demos gegen die Regierung beteiligt hatten, hatten sie ihreeigenen Klasseninteressen nicht vergessen. Sie waren nicht bereit, diese imNamen der Forderung, „der Demokratie eine Chance zu geben“, fallen zu lassen.

Sowohl in Ägypten als auch in Tunesien ist das Militärdas Rückgrat des Staates; es war dazu in der Lage die Interessen des nationalenKapitals über die Interessen bestimmter Cliquen zu stellen. In Libyen hat dasMilitär nicht die gleiche Rolle. Während der letzten Jahrzehnte hat dasGaddafi-Regime absichtlich das Militär relativ schwach gehalten, genau wie andereTeile des Staates, die eine Machtbasis als ein Rivale für die Gaddafi-Cliquehätten aufbauen können, schwach gehalten wurden. „Gaddafi versuchte das Militärschwach zu halten, damit das Militär ihn nicht so stürzen konnte, wie erseinerzeit König Idris abgesetzt hatte“, meinte Paul Sullivan, ein Nordafrika-Expertean der Washingtoner National Defense University. Die Folge ist ein „schlechtausgebildetes Militär, das von schlecht ausgebildeten Offizieren geführt wird, die  am Ende ihrer Kräfte sind, nicht geradepersönlich stabil und mit einer ungeheuren Menge an Waffen, die leichtzugänglich sind.“ (Bloomberg, 2.3.11) Das bedeutete, dass die einzige Antwortdes Regimes gegenüber aufkeimender Unzufriedenheit nackte Repression seinkonnte.

Die große Brutalität seitens des Staates trieb dieArbeiterklasse zu einem Ausbruch ihrer Wut, als sie sah, wie ihre Kinder undandere Angehörigen abgeschlachtet wurden. Aber die Arbeiter, die sich an denDemonstrationen beteiligten, taten dies eher als Einzelpersonen.  Trotz des großen Mutes, der erforderlich war,um sich gegen die Gewehr Gaddafis zu richten, waren die Arbeiter nicht dazu inder Lage, ihre eigenen Klasseninteressen einzubringen.

In Tunesien begann die Bewegung innerhalb derArbeiterklasse und der Armen mit deren Protesten gegen Arbeitslosigkeit undRepression. Das Proletariat in Ägypten geriet in Bewegung, nachdem es währendder letzten Jahre mehrfach gekämpft hatte; und diese Erfahrung hat ihm dasSelbstvertrauen gegeben, seine Klasseninteressen zu verteidigen. DessenBedeutung wurde am Ende der Demonstrationen deutlich, als eine Streikwelleausbrach– siehe dazu den Artikel auf unserer Webseite.

Das libysche Proletariat beteiligte sich an diesemKonflikt von einer Schwächeposition aus. Es gab Berichte von einem Streik ineiner Ölförderanlage. Aber es ist unmöglich zu sagen, ob es andere Ausdrückevon Aktivitäten der Arbeiterklasse gegeben hat. Es mag solche gegeben haben,aber man muss trotzdem sehen, dass die Arbeiterklasse als eine Klasse alssolches abwesend ist.

Das heißt, dass die Arbeiterklasse von Anfang anempfänglich war für all das ideologische Gift, das durch dieses Chaos und dievöllig verwirrte Lage verstärkt wird. Das Wiederauftauchen der altenmonarchistischen Fahne und deren Übernahme als das Symbol der Revolte innerhalbweniger Tage zeigt, wie groß diese Schwäche ist. Diese Fahne und die   nationalistische Forderung nach einem „freienLibyen“ werden immer zusammen  in denVordergrund gestellt.  

Stammeskonflikte sind auch zum Vorschein gekommen, indenen das Gaddafi Regime unterstützt oder abgelehnt wird, dabei spielen ineinigen Fällen regionale oder Stammesinteressen eine Rolle, und Stammesführernutzen ihre Autorität aus, um an die Spitze der Rebellion zu treten. AuchIslamisten, die mit den Rufen „Allahu Akbar“ aufgetreten sind, konnten beivielen Demonstrationen vernommen werden.

Dieser Sumpf an Ideologien hat eine Lage begünstigt, wounzählige ausländische Arbeitskräfte sich zur Flucht aus dem Land gezwungensahen. Warum sollten sich ausländische Arbeiter um eine Nationalfahne sammeln? Einewirklich proletarische Bewegung hätte die ausländischen Arbeiter von Anfang anin ihrer Bewegung aufgenommen, denn man hätte gemeinsame Forderungen aufstellenkönnen: höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und das Ende der Repressionfür alle Arbeiter. Sie hätten sich vereinigen können, denn ihre Stärke war ihreEinheit, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Nation, Stamm oderReligion.

Gaddafi hat all diese Gifteausgenutzt, um die Arbeiter und die Bevölkerung dazu zu bewegen, ihn gegen die angebliche Gefahr zu verteidigen, die für seine “Revolution” ausgeht:Ausländer, Stammeskonflikte, Islamismus, der Westen.

Ein neues  Regime auf der Warteliste

Die Mehrheit der Arbeiterklasse hasst das Regime. Aberdie wirkliche und größte Gefahr für die Arbeiterklasse besteht darin, derOpposition auf den Leim zu gehen. Diese Opposition, mit dem neuen Nationalratan der Spitze, ist eine Zusammenwürfelung von verschiedenen Fraktionen derherrschenden Klasse, früheren Mitgliedern des Regimes, Monarchisten usw., nebenStammes- und religiösen Führern. All diese Leute haben die Tatsache ausgenutzt, dass diese Bewegung keine eigenständigeproletarische Führung hat, um ihre Forderungen nach der Ersetzung Gaddafisdurch andere Kräfte durchzusetzen.

Der Nationalrat ist sich über seine Rolle im Klaren. „DasHauptziel des Nationalrates besteht darin, ein politisches Gesicht für dieRevolution zu haben.“ „Wir werden helfen, andere libysche Städte mit Hilfe unsererNationalarmee zu befreien, insbesondere Tripolis, von der ein Teil seineUnterstützung für den Kampf des Volkes erklärt hat.“ (Reuters Africa, 27.2.11). „Es gibtkein gespaltenes Libyen“ (Reuters, 27.2.11). Mit anderen Worten, ihr Ziel besteht in der Aufrechterhaltung derkapitalistischen Diktatur mit einem anderen Gesicht.

Die Opposition ist nicht ausreichend vereint. Gaddafisfrüherer Justizminister Mustafa Mohamed Abud Ajleil kündigte die Bildung einerprovisorischen Regierung Ende Februar an, er erhielt dabei Unterstützung voneinigen früheren Diplomaten. Sie hatte ihren Sitz in Al-Baida.. Dieser Schrittwurde vom Nationalrat, der seinen Sitz in Berghazi hat, verworfen.

Dies zeigt die tiefen Spaltungen innerhalb der Opposition,die irgendwann explodieren werden, falls man Gaddafi loswerden wird, oder wenndiese „Führer“  sich drängeln, um ihreHaut zu retten, falls es Gaddafi gelingt, an der Macht zu bleiben.

Die Medien haben ein großes Aufheben gemacht von denKomitees, die in den Städten und Regionen entstanden sind, wo Gaddafi dieKontrolle verloren hat. Viele dieser Komitees scheinen selbsternannt zu sein,oder von lokalen Würdenträgern ernannt worden zu sein, aber auch wenn einigevon ihnen direkt Ausdrücke des Volksaufstands waren, sieht alles danach aus,als ob sie durch den normalen bürgerlichen Rahmen des Nationalrates aufgesaugtworden sind. Die Bemühungen dieses Nationalrates, eine nationale Armee auf dieBeine zu stellen, bringen nur Tod und Zerstörung für die Arbeiterklasse und dieBevölkerung insgesamt, wenn diese Armee ihre Kämpfe mit den Truppen Gaddafisausträgt. Die gesellschaftliche Verbrüderung, die anfänglich dazu beitrug, diedurch das Regime ausgeübte Repression zu untergraben, weicht heftigen Kämpfenauf rein militärischer Ebene, während die Bevölkerung dazu aufgerufen wird,Opfer zu bringen, damit die Nationalarmee kämpfen kann.

Die Verwandlung der bürgerlichen Opposition in einneues Regime wird durch die zunehmend offene Unterstützung durch die Großmächte– USA, GB, Frankreich, Italien usw. beschleunigt.  Die imperialistischen Gangster distanzierensich jetzt von ihrem früheren Kumpel Gaddafi, um sicher zu stellen, falls einneues Team an die Macht kommt, sie die gleichen Möglichkeiten haben sichdurchzusetzen. Sie werden diejenigen unterstützen, die mit denimperialistischen Interessen dieser Großmächte übereinstimmen.

Was als eine verzweifelte Reaktion von Teilen derBevölkerung gegen die Repression zu begonnen haben scheint, ist von derherrschenden Klasse in Libyen und international schnell zu ihren eigenenZwecken ausgenutzt worden. Eine Bewegung, die als eine wütende  Reaktion gegen die Massaker an jungen Leutenanfing, schlug um in ein weiteres Massaker an Jugendlichen, aber dieses Mal imNamen eines „Freien Libyen“.

Die Arbeiterklasse in Libyen und anderswo kann auf dieLage nur reagieren, indem sie ihre Entschlossenheit verstärkt, nicht in den blutigenKampf zwischen verschiedenen Flügeln der herrschenden Klasse im Namen derDemokratie oder der freien Nation hineingezogen zu werden. In den kommenden Tagenund Wochen wird - solange Gaddafi an seiner Macht kleben bleibt - derinternationale  Chor zur Unterstützungder Opposition im Bürgerkrieg noch lauter werden. Und falls Gaddafi verschwindet,wird es eine ebenso betäubende Kampagne zum Triumph der Demokratie, der Machtdes Volkes und Freiheit  geben. Wer sichauch immer durchsetzen wird, die Arbeiter werden dazu aufgefordert werden, sichmit dem demokratischen Antlitz der kapitalistischen Herrschaft zu identifizieren.Phil5/3/11

Aktuelles und Laufendes: 

  • Ägypten [2]
  • Volksaufstand Libyen [17]
  • Proteste Tunesien [18]

Leute: 

  • Gaddafi [19]

Was ist los in Nordafrika, im Nahen & Mittleren Osten?

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Die gegenwärtigen Ereignisse im Mittleren Osten und Nordafrika sind von historischer Bedeutung, deren Folgen bis jetzt noch nicht klar abzusehen sind. Aber es ist wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, die es den Revolutionären ermöglichen wird, einen kohärenten Rahmen der Analyse zu entfalten. Die folgenden Punkte stellen keineswegs diesen Rahmen dar, noch liefern sie eine detailierte Beschreibung der Ereignisse, sondern lediglich einige grundsätzliche Eckpunkte als Beitrag zur Debatte. Die gegenwärtigen Ereignisse im Mittleren Osten und Nordafrika sind von historischer Bedeutung, deren Folgen bis jetzt noch nicht klar abzusehen sind. Aber es ist wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, die es den Revolutionären ermöglichen wird, einen kohärenten Rahmen für ihre Analyse zu entwickeln. Die folgenden Punkte stellen keineswegs diesen Rahmen dar, noch liefern sie eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse. Sie tragen lediglich einige grundsätzliche Eckpunkte zur Debatte bei.

Eine Welle von Kämpfen … und ihre Unterschiede

1. Seit 1848 und 1917-1919 haben wir solch eine breitgefächerte, simultane Welle von Revolten nicht mehr gesehen. Das Epizentrum der Bewegung lag in Nordafrika (Tunesien, Ägypten und Libyen, aber auch Algerien und Marokko), Proteste gegen die bestehenden Regime sind im Gaza-Streifen, Jordanien, Irak, Iran, Jemen, Bahrain und Saudi-Arabien ausgebrochen, während in einer Reihe anderer repressiver arabischer Staaten, insbesondere Syrien, eine  erhöhte Alarmbereitschaft herrscht. Und das Echo dieser Proteste ist auch in anderen Teilen Afrikas zu vernehmen: Sudan, Tansania, Simbabwe, Swaziland…  Den Widerhall dieser Revolten spürt man auch bei den Demonstrationen gegen korrupte Regierungen und gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Kroatien, angesichts der Spruchbänder und Slogans der Studentendemos in Großbritannien sowie des Arbeiterkampfes in Wisconsin und sicher auch in vielen anderen Ländern. Das heißt nicht, dass all diese Bewegungen in der arabischen Welt identisch wären; sie sind es weder auf der Ebene ihres Inhaltes, ihrer Forderungen, noch hinsichtlich der Reaktion der herrschenden Klasse, aber es gibt sicher eine Reihe von Gemeinsamkeiten, weshalb man von dem Phänomen insgesamt sprechen kann.

Der historische Kontext

2. Der historische Rahmen, in dem sich diese Ereignisse abspielen, ist folgender:

  • eine tiefe, ja die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus, die die schwächeren arabischen Länder mit besonderer Wucht getroffen hat und die jetzt schon Millionen  Menschen in bittere Armut gestürzt hat, wobei die Aussichten sich immer mehr verschlechtern. Die Jugend, die im Gegensatz zu vielen „überalterten“ Industriegesellschaften einen großen Bevölkerungsanteil ausmacht, ist durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit für die unzähligen gebildeten, aber auch ungebildeten jungen Menschen besonders hart getroffen. Bei allen Protesten stand die Jugend an vorderster Front.
  • das unerträglich korrupte und repressive Wesen all dieser Regimes in der Region. Nachdem lange Zeit die Bevölkerung durch das brutale Vorgehen der Geheimpolizei oder der Armee atomisiert oder terrorisiert werden konnte, tragen diese Waffen des Staates nun mit dazu bei, dass der Wille in der Bevölkerung wächst, zusammenzukommen und gemeinsam Widerstand zu leisten. Das war besonders ersichtlich in Ägypten, als Mubarak seine Schlägerbanden und Zivilpolizisten  auf die Menschen hetzte, die den Tahrir-Platz besetzten, um diese zu terrorisieren. Diese Provokationen verstärkten nur die Entschlossenheit der Menschen, sich zu verteidigen; statt der erhofften Einschüchterung strömten noch mehr Menschen herbei. Die empörende Korruption und die Gier der herrschenden Cliquen, die ungeheure Mengen an privatem Reichtum gescheffelt haben, während der Großteil der Menschen täglich ums Überleben kämpft, hat die Flammen der Rebellion weiter angefacht, nachdem die Menschen erst einmal die Angst verloren hatten. Auf dieser Ebene ist wiederum die Rolle der neuen Generation ausschlaggebend gewesen; in diesem Sinn haben auch die Jugendrebellion in Griechenland vor zwei Jahren, die Studentenkämpfe in Großbritannien und Italien, der Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich ihren Einfluss in der “arabischen” Welt hinterlassen, insbesondere im Zeitalter von Facebook und Twitter, in dem es der herrschenden Klasse viel schwerer fällt, eine lückenlose Nachrichtensperre über die Kämpfe gegen die bestehenden Verhältnisse zu verhängen.
  • Diese plötzliche Furchtlosigkeit, die so stark ins Auge sprang, ist nicht nur das Resultat von Veränderungen auf örtlicher und regionaler Ebene, sondern auch die Folge einer veränderten Stimmung, der Unzufriedenheit und des offenen Klassenkampfes auf internationaler Ebene. In Anbetracht der Wirtschaftskrise zeigen die Ausgebeuteten und die Unterdrückten immer weniger Bereitschaft, die ihnen abverlangten Opfer zu leisten.

Zum Klassencharakter dieser Bewegungen…

3. Der Klassencharakter dieser Bewegungen ist nicht einheitlich und unterscheidet sich von Land zu Land und je nach Phase. Insgesamt jedoch kann man sie als Bewegungen der nichtausbeutenden Klassen, als Sozialrevolten gegen den Staat bezeichnen. Im Allgemeinen steht die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie spielt sicherlich eine wesentliche Rolle und übt Einfluss aus, was sich an den Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen an der spezifischen Entwicklung der Arbeiterkämpfe ablesen lässt, wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten, die ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung war, Mubarak fallen zu lassen (siehe dazu andere Artikel in unserer Presse). In den meisten dieser Länder ist die Arbeiterklasse nicht die einzige unterdrückte Klasse. Die Bauernschaft und andere Schichten, die aus noch älteren Produktionsweisen stammen, haben noch ein großes Gewicht auf dem Lande, auch wenn sie sehr zersplittert und durch Jahrzehnte kapitalistischen Niedergangs ruiniert sind. Dagegen lebt die Arbeiterklasse in den Städten, in denen das Zentrum der Revolten lag, Seite an Seite mit einer zahlenmäßig starken Mittelschicht, die zwar proletarisiert wird, dabei jedoch immer noch ihre Besonderheiten aufrechthält, und einer Masse von Slumbewohnern, die teilweise aus Arbeitern, teilweise aus kleinen Händlern und einem Heer von „Deklassierten“ bestehen. Selbst in Ägypten, wo es die am stärksten gebündelte und erfahrenste Arbeiterklasse im arabischen Raum gibt, haben, so hoben Augenzeugen hervor, die Proteste am Tahrir-Platz „sämtliche Klassen” mobilisiert, mit Ausnahme der höheren Chargen des herrschenden Regimes. In anderen arabischen Ländern war das Gewicht der nicht-proletarischen Schichten weitaus größer, als dies in den Kämpfen in den meisten zentralen Ländern der Fall ist.

Die Notwendigkeit, den Klassencharakter der Bewegung besser zu erfassen

4. Bei dem Versuch, den Klassencharakter dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei sich ergänzende Fehler vermeiden: auf der einen Seite die Vermengung all dieser Massen mit dem Proletariat (eine Position, die am deutlichsten von der Groupe Communiste Internationaliste - GCI verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Ablehnung alles Positiven in den Revolten, da sie nicht explizite Arbeiterrevolten sind. Ein Blick zurück auf die Ereignisse im Iran Ende der 1970er Jahre: auch damals gab es eine Volkserhebung, in der die Arbeiterklasse eine Zeitlang eine führende Rolle spielte, was jedoch am Ende nicht verhinderte, dass die Bewegung von den Islamisten einverleibt wurde. Auf einer größeren, historischen Ebene stellt sich das Problem der Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und allgemeinen gesellschaftlichen Revolten auch dem Staat in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus – einem Staat, der aus der Bewegung aller nicht-ausbeutenden Klassen hervorgeht, gegenüber dem die Arbeiterklasse aber ihre Selbständigkeit bewahren muss.

Die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse – ein Bezugspunkt?

5. In der Russischen Revolution 1917 wurden die Sowjets durch die Arbeiter ins Leben gerufen, aber sie stellten auch für die anderen unterdrückten Schichten ein Modell für ihre Organisierung dar. Ohne das richtige Augenmaß zu verlieren – es ist noch ein weiter Weg bis zum Anbruch einer revolutionären Situation, in der die Arbeiterklasse eine klare politische Führung gegenüber den anderen Schichten übernehmen kann -, ist es offensichtlich, dass die Methoden des Arbeiterkampfes die sozialen Revolten in der arabischen Welt beeinflusst haben, was deutlich wird:

  • in den Tendenzen zur Selbstorganisierung, deren deutlichster Ausdruck die Nachbarschaftsschutzkomitees waren, die als Reaktion auf die Taktik des ägyptischen Regimes gegründet wurden, kriminelle Banden auf die Bevölkerung zu hetzen. Sie werden auch deutlich in der „Delegiertenstruktur“ einiger der größten Versammlungen auf dem Tahrir-Platz, überhaupt in dem ganzen Prozess kollektiver Diskussion und Entscheidungsfindungen;
  • in der Besetzung von Räumen und Plätzen, die normalerweise vom Staat kontrolliert werden, um einen zentralen Brennpunkt für Versammlungen und die Organisierung auf breiterer Ebene zu schaffen;
  • in dem kollektiven Eintreten für die Notwendigkeit, sich selbst entschlossen gegen Schläger und Polizisten zur Wehr zu setzen, die von dem Regime gegen sie gehetzt wurden, wobei man gleichzeitig aber Gewalt, Zerstörung und Plünderung als Selbstzweck vermeiden wollte;
  • in den bewussten Anstrengungen, sektiererische und andere Spaltungen zu überwinden, von denen das Regime stets zynisch Gebrauch machte: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Schiiten und Sunniten, religiösen und weltlichen Gruppen, Männern und Frauen;
  • in den zahlreichen Versuchen der Verbrüderung mit den unteren Rängen der Soldaten, den Rekruten.

Es ist kein Zufall, dass diese Tendenzen sich am stärksten in Ägypten entwickelten, wo die Arbeiterklasse auf eine lange Tradition von Kämpfen schauen kann und in einer entscheidenden Phase der Bewegung als eine eigenständige Kraft in Erscheinung trat, indem sie eine Reihe von Kämpfen begann, die - wie jene von 2006-07 - als „Keime“ des zukünftigen Massenstreiks angesehen werden können. Diese Kämpfe enthielten viele der wichtigsten Merkmale des Massenstreiks: die spontane Ausdehnung von Streiks und Forderungen von einem Bereich auf den anderen, die kompromisslose Ablehnung der staatlichen Gewerkschaften, gewisse Tendenzen zur Selbstorganisierung, das Formulieren von politischen und ökonomischen Forderungen. Hier erkennt man in Ansätzen die Fähigkeit der Arbeiterklasse, als Tribüne, als Dreh- und Angelpunkt für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzutreten und die Perspektive einer neuen Gesellschaft anzubieten.

Das Gewicht der Illusionen und andere Gefahren…

6. All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, es stehen noch viele Hindernisse im Weg, Illusionen und ideologische Schwächen.

  • Illusionen – vor allem über die Demokratie – sind noch sehr stark in jenen Ländern, in denen eine Mischung aus militärischen Tyrannen und korrupten Monarchien herrscht, in denen die Geheimpolizei allgegenwärtig ist und Verhaftungen, Folter und Ermordung von Dissidenten an der Tagesordnung sind. Diese Illusionen bieten der demokratischen „Opposition“ eine Gelegenheit, sich als eine Regierungsalternative anzubiedern: El Baradei und die Muslimbruderschaft in Ägypten, die Übergangsregierung in Tunesien, der Nationalrat in Libyen… In Ägypten macht man sich vor allem große Illusionen über die Armee als eine Kraft, die „auf Seiten des Volkes“ steht, obgleich jüngste Repressionsmaßnahmen seitens der Armee gegen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sicherlich eine Minderheit von Leuten zum Nachdenken veranlasst hat.
  • Ein wichtiger Aspekt des demokratischen Mythos‘ in Ägypten ist die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften, die von vielen der kämpferischsten Arbeiter geteilt wird, die zu Recht die Auflösung der diskreditierten staatlichen Gewerkschaften verlangen.
  • Illusionen über Nationalismus und Patriotismus, die offenkundig wurden angesichts der breiten Aneignung der Nationalfahne in Ägypten und Tunesien als ein Symbol der „Revolution“ oder – wie in Libyen - der alten monarchistischen Fahne als ein Emblem all jener, die in Opposition zum Gaddafi-Regime stehen. Auch die Brandmarkung Mubaraks als Agenten des Zionismus auf vielen Spruchbändern in Ägypten zeigt, dass die israelisch-palästinensische Frage ein wichtiger Hebel zur Ablenkung vom Klassenkampf und zur Mobilisierung für imperialistische Konflikte bleibt. Dennoch bestand nur wenig Interesse daran, die palästinensische Frage in den Vordergrund zu stellen, da die Herrschenden das Leid der Palästinenser lange genug ausgeschlachtet haben, um vom Leid abzulenken, das sie ihrer eigenen Bevölkerung zumuten. Und es schwang sicherlich ein Element des Internationalismus mit, wenn Nationalfahnen anderer Länder geschwenkt wurden, um die Solidarität mit den Revolten in diesen Ländern zum Ausdruck zu bringen. Das schiere Ausmaß der Revolten in der „arabischen“ Welt und darüber hinaus ist eine Verdeutlichung der materiellen Wirklichkeit des Internationalismus, aber die patriotische Ideologie ist sehr anpassungsfähig, und bei diesen Ereignissen sehen wir, dass sie sich in populistische und demokratische Formen verwandeln kann.
  • Illusionen über die Religion angesichts der häufigen Abhaltung öffentlicher Gebete und des Einsatzes von Moscheen als Organisationszentren der Rebellion. In Libyen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass von Anfang an gesonderte islamistische Gruppen (einheimische und nicht – wie Gaddafi behauptet – Ableger der al-Qaida) eine wichtige Rolle in der Revolte spielten.  Zusammen mit der Rolle von Stammesloyalitäten spiegelt dies die relative Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen sowie die Rückständigkeit des Landes und seiner staatlicher Strukturen wider.  Doch gemessen daran, wie sehr sich die radikalen Islamisten vom Schlage Bin Ladens als Antwort auf das Elend der Massen in den „muslimischen Ländern“ gebrüstet haben, haben die Revolten in Tunesien und Ägypten und sogar in Libyen und den Golfstaaten wie Jemen und Bahrain gezeigt, dass die Jihad-Gruppen mit ihrer Praxis kleiner terroristischer Zellen und mit ihrer schädlichen sektiererischen Ideologie durch den massiven Charakter der Bewegung und deren aufrichtigen Streben nach Überwindung der sektiererischen Spaltungen nahezu vollkommen marginalisiert worden sind.

Zur Tragödie in Libyen…

7. Die gegenwärtige Lage in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten ist noch im Fluss. Als diese Zeilen geschrieben wurden, erwartete man Proteste in Riad, auch wenn das saudische Regime bereits dekretiert hatte, dass alle Demonstrationen den Gesetzen der Scharia widersprechen. In Ägypten und Tunesien, wo die „Revolution“ angeblich schon triumphiert hat, kommt es ständig zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und dem nun „demokratischen“ Staat, der mehr oder weniger von den gleichen Kräften verwaltet wird, die den Laden vor dem Abgang der „Diktatoren“ führten. Die Streikwelle in Ägypten, die viele ihrer Forderungen schnell durchsetzen konnte, scheint jetzt abgeebbt zu sein. Doch weder die Arbeiterkämpfe noch die breitere soziale Bewegung haben in jenen Ländern einen größeren Rückschlag erlitten. Es gibt Hinweise darauf, dass weiterhin breit gefächerte Diskussionen und Reflexionen zumindest in Ägypten stattfinden. Doch in Libyen haben die Dinge einen ganz anderen Verlauf genommen. Was anfangs als echte gesellschaftliche Revolte von unten begann, mit unbewaffneten Zivilisten, die mutig Kasernen stürmten und den Sitz der so genannten „Volkskomitees“ in Brand setzten, insbesondere im Osten des Landes, ist schnell zu einem sehr blutigen und totalen „Bürgerkrieg“ zwischen bürgerlichen Fraktionen ausgeartet, wobei die imperialistischen Mächte wie Geier über dem Gemetzel kreisen. Aus marxistischer Sicht ist dies ein Beispiel für die Umwandlung eines beginnenden Bürgerkrieges – im Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen den Klassen - in einen imperialistischen Krieg. Das historische Beispiel Spaniens – sehen wir einmal ab von den beträchtlichen Unterschieden im globalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und von der Tatsache, dass die anfänglichen Erhebungen gegen Francos Staatsstreich unverkennbar proletarischen Charakters waren -  belegt, dass die nationale und internationale Bourgeoisie in solchen Situationen sowohl mit ihren fraktionellen, nationalen und imperialistischen Rivalitäten fortfahren, als auch alle Ansätze einer sozialen Revolution ausmerzen kann.

8. Der Hintergrund für diese Wende der Ereignisse in Libyen ist die extreme Rückständigkeit des libyschen Kapitalismus, der mehr als 40 Jahre lang vorwiegend von einem Terrorapparat unter der direkten Führung Gaddafis beherrscht wurde. Diese Struktur hinderte die Armee daran, als eine Kraft zu wirken, die das nationale Interesse über das Partikularinteresse bestimmter Führer oder Fraktionen stellt, wie wir in Tunesien oder Ägypten gesehen haben. Gleichzeitig wird das Land von regionalen und Stammesspaltungen zerrissen; diese haben eine Schlüsselrolle bei  der Unterstützung für oder der Gegnerschaft zu Gaddafi gespielt. Ebenfalls scheint eine „nationale“ Spielart des Islamismus seit Beginn der Revolte eine Rolle gespielt zu haben, obgleich die Rebellion anfangs allgemeiner und sozialer ausgerichtet und nicht von tribalistischen oder islamistischen Motiven geleitet war. Die wichtigste Industrie in Libyen ist die Ölindustrie, und die Unruhen im Land haben den Ölpreis stark beeinflusst. Doch ein Großteil der in der Ölindustrie beschäftigten Arbeiter sind Migranten aus Europa, den anderen Ländern des Mittleren Ostens, aus Asien und Afrika. Und obgleich es anfangs Berichte über Streiks in diesem Wirtschaftsbereich gab, ist die Massenflucht der ausländischen Arbeiter ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich kaum mit einer „Revolution“ identifizieren konnten,  in der die Nationalfahne hochgehalten wird.  In der Tat gab es Berichte über Verfolgungen und Übergriffen gegen schwarze Arbeitskräfte durch die „Rebellen“, da Gerüchte verbreitet wurden, dass einige der angeheuerten Söldner aus schwarzafrikanischen Staaten stammen sollten,  was zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber allen schwarzafrikanischen Migranten führte. Die Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen ist somit ein entscheidendes Element in der negativen Entwicklung der Lage dort.

Imperialistische Geier über Nordafrika…

9. Ein klarer Beleg, dass die „Rebellion“ zu einem Krieg zwischen bürgerlichen Lagern ausgeartet ist, ist die überstürzte Abwendung hochrangiger Offizieller von Gaddafi (dazu gehören Botschafter im Ausland, Armee- und Polizeioffiziere sowie Beamte). Besonders die militärischen Befehlshaber  sind bei der „Regularisierung“ der bewaffneten Gaddafi-Gegner immer mehr in den Vordergrund gerückt. Doch das vielleicht deutlichste Zeichen ist die Entscheidung der „internationalen Gemeinschaft“, sich auf die Seite der „Rebellen“ zu stellen. Frankreich hat bereits den provisorischen Nationalrat in Bengasi als die Stimme des neuen Libyen anerkannt und den Gaddafi-Gegnern militärische Berater zu Seite gestellt. Nachdem man schon diplomatisch eingegriffen hatte, um den Rücktritt von Ben Ali und Mubarak zu beschleunigen, fühlten sich die USA und Großbritannien durch das Taumeln des Gaddafi-Regimes zu Beginn der Protestbewegung zu weiteren Taten ermuntert. So kündigte zum Beispiel William Hague übereilig an, dass sich Gaddafi bereits auf der Flucht nach Venezuela befände. Nachdem Gaddafis Kräfte im Begriff waren, die Oberhand zu gewinnen,  wurde das Gerede über die Einrichtung einer Flugverbotszone oder anderer Formen militärischen Eingreifens immer lauter. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels scheint es jedoch tiefgreifende Divergenzen innerhalb der EU und der NATO zu geben, wobei Großbritannien und Frankreich am stärksten für ein militärisches Eingreifen plädieren und die USA und Deutschland am stärksten zögern. Die Obama-Administration ist  natürlich nicht aus Prinzip gegen militärische Interventionen,  aber sie möchte sich nicht der Gefahr aussetzen, ein weiteres militärisches Fiasko in der arabischen Welt zu erleben. Es kann auch sein, dass einige Teile der herrschenden Klasse auf der Welt meinen, dass Gaddafis „Vorgehensweise“ der Terrorisierung der Massen eine Methode sein kann, eine abschreckende Wirkung gegen weitere mögliche Unruhen in der Region auszuüben. Eins ist jedoch sicher: Die Ereignisse in Libyen wie auch die ganze Entwicklung in der Region haben die groteske Heuchelei der Herrschenden dieser Welt an den Tag gelegt. Nachdem man jahrelang Gaddafis Libyen als eine Brutstätte des internationalen Terrorismus beschimpft hatte (was es natürlich auch war), zeigten sich die Führer von Ländern wie die USA oder Großbritannien erfreut, als Gaddafi im Jahr 2006 einen scheinbaren Sinneswandel vollzog und seine Massenvernichtungswaffen aufgab, weil die Regierungen dieser Länder nach Rechtfertigungen suchten, ihre Haltung gegenüber den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu begründen. Insbesondere Tony Blair hatte große Eile, den früheren “verrückten Terroristenführer” zu umgarnen. Heute, nur wenige Jahre später, wird Gaddafi wieder ein verrückter Terroristenführer genannt, und diejenigen, die ihn vorher unterstützt haben, müssen jetzt strampeln, um sich von ihm zu distanzieren. Und dies ist nur eine Episode in einer unendlichen Geschichte: All die neulich verjagten oder noch immer an der Macht befindlichen arabischen Diktatoren sind von den USA und anderen Mächten loyal unterstützt worden, und diese haben bislang wenig Interesse an den „demokratischen“ Bestrebungen der Menschen in Tunesien, Ägypten, Bahrain oder Saudi-Arabien gezeigt. Die  durch die Preissteigerungen und den Gütermangel verursachten Straßenproteste gegen die irakische Regierung, welche von den USA in den Sattel gehievt wurde, wie auch gegen die gegenwärtigen Herrscher im kurdischen Irak, auf die die Regierung mit Repression antwortete, zeigen auch, wie verlogen die Versprechen des „demokratischen Westens“ sind.

Erlebt die Demokratie einen neuen Aufschwung?  Zu den Perspektiven…

10. Einige internationalistische Anarchisten in Kroatien äußerten auf www.libcom.org [20], dass die Ereignisse in den arabischen Staaten aus ihrer Sicht wie eine Neuauflage der Ereignisse in Osteuropa 1989 erscheinen, wo das Streben nach Wandel durch den Begriff der „Demokratie” sterilisiert wurde und eine Verbesserung in der Lage der Arbeiterklasse keineswegs eingetreten war. Hier handelt es sich um eine sehr legitime Sorge, wenn man das große Gewicht der demokratischen Verschleierungen innerhalb dieser neuen Bewegung betrachtet. Doch verliert man damit nicht einen wesentlichen Unterschied auf der Ebene der Klassenkonfiguration weltweit aus den Augen? Als der Ostblock 1989 zusammenbrach, hatte die Arbeiterklasse den Höhepunkt in ihren Kämpfen – Kämpfe, die sich seinerzeit politisch nicht weiterentwickelt hatten - bereits  überschritten. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die daraufhin entfesselten Kampagnen über den angeblichen Tod des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes sowie das Unvermögen der ArbeiterInnen Osteuropas, auf dem eigenen Klassenterrain zu reagieren, bewirkten einen längeren Rückschlag für die internationale Arbeiterklasse. Während die stalinistischen Regimes in Wirklichkeit unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise litten, gab es für die Länder im Westen noch immer einen gewissen wirtschaftlichen Spielraum, um den Eindruck zu erwecken, dass der globale Kapitalismus vor einer neuen Blüte stand. Heute stehen wir vor einer anderen Lage. Das globale Ausmaß der kapitalistischen Krise ist nie so offensichtlich gewesen; die ArbeiterInnen müssen heute überall auf der Welt erkennen, dass sie vor den gleichen Problemen stehen: Arbeitslosigkeit, steigende Preise,  mangelnde Perspektiven innerhalb dieses Systems. Und während der letzten sieben, acht Jahre ist es zu einem langsamen, aber reellen Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe auf der ganzen Welt gekommen. An der Spitze dieser Kämpfe stand zumeist eine neue Generation von ArbeiterInnen, die nicht so stark durch die Rückschläge der 1980er und 1990er Jahre geprägt war und aus der weltweit politisierte Minderheiten hervorgegangen sind. In Anbetracht dieser tiefgreifenden Unterschiede besteht die Aussicht, dass die Ereignisse in der arabischen Welt keine negative Auswirkungen auf den Klassenkampf in den zentralen Ländern haben, sondern zur allgemeinen Verstärkung des Klassenkampfes beitragen werden:

-          durch die Bekräftigung der Macht der massiven und illegalen Straßenaktionen; deren Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass die Herrschenden der Welt ihre Selbstbeherrschung verlieren;

-          indem die bürgerliche Propaganda, die die „Araber“ als eine gleichförmige Masse von gehirnlosen Fanatikern darstellt, durchkreuzt wird und die Fähigkeit der Massen dieser Regionen zum Diskutieren, Nachdenken und zur Selbstorganisierung deutlich geworden ist.  

-          indem auch die Glaubwürdigkeit der Führer der zentralen Länder untergraben wird, deren Bestechlichkeit und Skrupellosigkeit durch deren Wendungen gegenüber der arabischen Welt entblößt wurde.

Politisierten Minderheiten werden diese sowie andere Punkte eher ins Auge fallen als der Mehrheit der Arbeiter in den Industriestaaten, aber langfristig werden sie zur wirklichen Vereinigung des Klassenkampfes über alle nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg beitragen. Dies schmälert keinesfalls die Verantwortung und die Last der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern, die jahrelange Erfahrung mit den Freuden der „Demokratie“ und der „unabhängigen“ Gewerkschaften haben und deren historische und politische Traditionen tief verwurzelt und im Herzen des weltimperialistischen Systems gebündelt sind. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten, mit den demokratischen Illusionen zu brechen und den verarmten Massen der Bevölkerung einen anderen Weg aufzuzeigen, hängt vom Vermögen der Arbeiter in den zentralen Ländern ab, ihnen ein Beispiel eines selbstorganisierten und politisierten Arbeiterkampfes zu geben.    IKS, 11. 3.2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Klassenkampf Nordafrika [21]
  • Naher Osten [22]
  • Wisconsin [23]

Leute: 

  • Gaddafi [19]
  • Mubarak [24]
  • El Baradei [25]

Wo geht’s lang zum (selbstorganisierten) Klassenkampf?

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Interview mit einem Genossen der IKS, der aktiv bei den Demonstrationen und Versammlungen in Frankreich beteiligt war

Kannst du in einigen Worten zusammen fassen, was in den letzten Monaten angesichts der anstehenden Rentenreform in Frankreich passiert ist?

Also, ganz kurz zusammengefasst: Seit März 2010 gab es Demonstration gegen die geplante Rentenreform der Regierung in Frankreich. Anfangs war die Atmosphäre auf den Demos eher resignativ, würde ich sagen. Im Sommer hieß es dann von Seiten der Gewerkschaften, dass die Arbeiter nicht genügend gegen die Rentenreform kämpfen, und man sie deshalb eh nicht verhindern könne. Rückblickend kann man sagen, dass das Spannende war, dass im Spätsommer die Stimmung plötzlich umschlug. Zum einen wurden im Sommer Skandale um eben jenen Minister bekannt, der die arbeitende Bevölkerung dazu aufrief, den Gürtel wieder mal enger zu schnallen. Zum anderen war die Empörung über die oft brutale Ausweisung der Romas groß. Tja, und im September war dann plötzlich eine ganz andere Stimmung da. Jeweils bis zu 3 Millionen Menschen gingen bei den großen Demos am 7. Und 23. September auf die Straße, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. In einigen Städten bildeten sich daraufhin Straßen- und branchenübergreifende Versammlungen, z.B. in Paris, Toulouse und anderswo.

Du bist aus Toulouse in Südfrankreich. Wie hast du persönlich die Kämpfe gegen die Rentenreform erlebt?

In Toulouse gingen einige Initiativen zur Bildung von Versammlungen von der CNT-AIT aus. Ihr Hauptanliegen war, dass die Leute die Möglichkeit haben sollten, das Wort zu ergreifen. Auch um sich vorbereiten zu können, auf den Demos zu sprechen. Dazu mussten viele auch erst mal Selbstbewusstsein schöpfen. Dies war einfacher, wenn man dies auf den Versammlungen bereits diskutiert hatte. Dies fand ich und fanden wir als IKS richtig und haben uns auch aktiv in die Demos und Versammlungen eingebracht.

Was war das Hauptanliegen dieser Versammlungen?

Nun ja, das Anliegen war vor allen Dingen, dass sich diese Versammlungen überall verbreiten. Es gab in Toulouse verschiedene solche Versammlungen, die alle als Straßenversammlungen begonnen haben. Ich kann ein Beispiel einer Versammlung nennen, an der ich selbst aktiv beteiligt gewesen bin (und noch weiter aktiv bin). Diese Versammlung ist unmittelbar aus einer Demonstration entstanden Anfang Oktober. Der Auslöser war, dass am Ende der Demonstration plötzlich einige Leute riefen, dass man nach der Demo noch auf der Straße bleiben solle, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Ich würde sagen, es war mehr eine Art Straßentreffen als eine richtige Versammlung. Jemand schnappte sich ein Megafon und rief die Demonstrierenden dazu auf, nach der Demo NICHT zu gehen. Die Gewerkschaften hatten bei den Demos nämlich so laute Anlagen, dass man gar nicht mit einander sprechen konnte. Da es weiterhin zu laut war, schlug jemand vor, dass wir uns abends noch einmal dort treffen sollten, um zu diskutieren.

Und das hat so spontan funktioniert?

Ja, das war der Beginn von täglichen Treffen in Saint Sernin, einem Viertel in Toulouse – zunächst auf der Straße. So trafen wir uns Montags bis Freitags, jeden Tag, zwei Monate lang.

Wer war denn an solch einem Treffen beteiligt und worüber wurde gesprochen?

Es waren die unterschiedlichsten Leute daran beteiligt: prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Schüler und allerlei Beschäftigte. Je nach Tag trafen sich etwa 10 bis 50 Leute. Ein wichtiges Thema, das immer wieder besprochen wurde, war wie man den streikenden Arbeitern unsere Solidarität bekunden könne; außerdem auch, wie man sich bei den nächsten Demos besonders stark beteiligen könnte.

Wie sah diese Vorbereitung denn konkret aus?

Also, wir haben gewisse Slogans vorbereitet, die von den Streikenden auf den Demos gerufen werden sollten. Außerdem wurden Flugblätter gemeinsam besprochen und geschrieben. Die wurden dann für jede neue Demo wieder aktualisiert. Insgesamt gab es in der ganzen Zeit 10 große Demos.

Was war das Hauptanliegen dieser Versammlung in Saint Sernin?

Wie schon angedeutet war das Hauptanliegen Solidarität und die Teilnahme an spektakulären Aktionen, wie z.B. Blockaden organisieren. Einerseits, um die streikenden Arbeiter aktiv zu unterstützen, so wie die Teilnahme am Streik bei der Müllabfuhr. Die Streikenden haben uns akzeptiert und die Streikposten wurden zahlenmäßig verstärkt. Allerdings haben sich die Gewerkschaften sehr stark dagegen gewandt.

 

Waren Gewerkschaftler auch bei dieser Versammlung oder anderen Versammlungen beteiligt?

 

Bei der Versammlung in Saint Sernin kamen ab und zu einzelne Gewerkschaftler. Allerdings waren die ziemlich enttäuscht, weil die Arbeiter sauer auf die Gewerkschaften waren und deutlich sagten, dass sie die Schnauze voll haben von den Gewerkschaften. Besonders, weil sie bei den Demos gesehen haben, dass die Aktionen der Gewerkschaften nichts gebracht haben. Zudem wollten die Gewerkschaften die Rentenreform ja auch nicht verhindern, sondern lediglich einzelne Bestandteile verändern.

Wie hast du dich während einer solchen Vollversammlung gefühlt, und wie war die Stimmung bei den Vollversammlungen insgesamt?

Es gab viele Jugendliche. Dies hat für großen Enthusiasmus gesorgt. Was allen gemein war, war die große Empörung über die Regierung, z.T. auch über die Gewerkschaften, aber die Sorge über unsere Zukunft war ständig zu spüren. Es war sehr anregend, denn es gab den wirklichen Willen etwas gemeinsam zu tun. Und es gab viele Diskussionen, die sich immer wieder um die Frage drehten, wie können wir kämpfen? Wie können wir solidarisch mit anderen Streikenden sein?

In Deutschland schaut die arbeitende Bevölkerung regelmäßig bewundernd und anerkennend gen Westen und sagt, die französischen Arbeiter und Studenten machen es richtig; die wehren sich. Wie kommt es, dass den Studenten, Schülern, Rentnern, Arbeitslosen und Arbeitern in Frankreich so viel schneller der Kragen platzt und sie sich wehren?

Es gibt eine lange Tradition von Streiks in Frankreich einschließlich einschlägigen Erfahrungen mit den Gewerkschaften. Dies kann ein Grund sein. Wenn es aber darum geht, warum diese Streiks und Versammlungen eine gewisse Stärke entwickeln konnten, so würde ich drei Gründe nennen:

1.     die Energie und der Enthusiasmus besonders der jungen SchülerInnen und StudentInnen

2.     den Beitrag von politisch bereits Aktiven sowie natürlich…

3.     das spontane Bedürfnis vor Ort zusammen zu kommen

Welche Rolle spielte in dieser Bewegung die Selbstorganisation?

Prinzipiell ist es enorm wichtig, dass die Streikenden, Schüler, Rentner, prekär Beschäftigten und Arbeiter ihre Kämpfe selbst organisieren. Nur so können sie zusammen kommen und ihre Forderungen in gemeinsamen Diskussionen herausfinden. Gerade für die Letztgenannten ist diese Einsicht wichtig, da die Gewerkschaften sich ja stets als Vertreter der Beschäftigten für die jeweiligen Branchen ausgeben. Doch gerade auf die Gewerkschaftspolitik ist man so sauer gewesen. Wenn man sich die Streiks und Demos der vergangenen Monate in Frankreich anschaut, würde ich sagen, dass wir erst am Anfang von selbst organisierten Kämpfen stehen. Es gab Ansätze von Eigeninitiativen, oft auch angeregt von politisch organisierten Leuten. Aber dies sind auf jeden Fall erste wichtige Erfahrungen von Selbstorganisierung.  

Inzwischen hat es in Ägypten auch eine massive soziale und politische Bewegung vieler jungen Leute und der arbeitenden Bevölkerung gegeben. Dort hat man ja auch über Straßenversammlungen, z.B. auf dem Tahrirplatz, gehört. Siehst du da Ähnlichkeiten zu deinen Erfahrungen in Frankreich bezogen auf die Selbstorganisierung?

Eine interessante Frage. Eine Frage, die ich mir so noch nicht gestellt habe. Ich denke, Ägypten ist ein wunderbares Beispiel, wie man kämpfen kann. Für die Zukunft sollten wir so viel wie möglich von den dort gemachten Erfahrungen lernen, indem wir genauer hinschauen, wie gekämpft wurde.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zusammenfassung des Treffens von Alicante

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Das Red de Encuentro y Solidaridad (Netz Zusammenkommen und Solidarität) und Ateneo Libertario L'Escletxa (Libertäre Athenäum L’Escletxa), beide in Alicante ansässig. Wir bedanken uns für die sehr solidarische Aufnahme und die ausgezeichnete Unterkunft, in der wir uns sehr wohlgefühlt haben, sowie für die ständige Aufmerksamkeit der GenossInnen. All das drückt die proletarische Haltung der Gastfreundschaft und Kameradschaft aus.

Wer waren die Teilnehmer?

Abgesehen von den organisierenden Kollektiven waren Delegierte anwesend aus der Asamblea de Barcelona(Versammlung aus Barcelona), Círculo Obrero de Debate de Barcelona (Proletarischer Diskussionszirkel aus Barcelona), Colectivo de Trabajadores de Valencia(Arbeiterkollektiv aus Valencia), Asamblea de Trabajadores y Trabajadoras por la huelga general(ArbeiterInnerversammlung für den Generalstreik) aus Alicante und  Asamblea Interprofesional de Toulouse(Berufsübergreifende Versammlung Toulouse,Frankreich). Die GenossInnen von Ruptura y Asambleade Trabajadores del Sur de Madrid (Bruch und Arbeiterversammlung aus dem Süden Madrids) sowieAsamblea Autónoma (Autonome Versammlung aus Granada) konnten nicht teilnehmen, aber sie haben ihr Interesse bekundet, in Kontakt zu bleiben. Im eigenen Namen haben auch GenossInnen aus Burgos, Murcia und Alicante teilgenommen.

Welche Aktivitäten fanden statt?

Am Freitag wurde die Erfahrung der Asamblea Barcelona vorgestellt und debattiert. Samstagmorgen wurden die Kämpfe in Frankreich im letzten November sowie die Erfahrung der Versammlung von Toulouse behandelt und debattiert. Samstagnachmittag fand eine Generaldebatte statt, die wir hierzusammenfassen.

Am Samstagabend gab es einen geselligen Abend mit einem Essen in einem Restaurant. Samstagmittag stand Paella auf dem Menü in einem Restaurant, das durch die Immobilienspekulation heruntergewirtschaftet war und in einen Garten umgewandelt wurde, wo wir uns dank der GenossInnen von Ateneo Libertario L’Escletxa versammeln konnten. Eine ältere Nachbarin, die Unterstützung und menschliche Beistand durch diese GenossInnen erhält, nahm am Essen teil.

Debatten und aufgeworfene Fragen

Das Treffen zeichnete sich durch eine rege Beteiligung in einer Atmosphäre des gegenseitigen Zuhörens und Respekts aus. Zu keinem Zeitpunkt boten die unterschiedlichen Meinungen Anlass zu Spannungen. Stattdessen wurde mit den Differenzen im Verlauf der Debatte verantwortlich umgegangen, da Letztere von dem Anliegen geprägt war, das uns Einende über das Trennende zu stellen. Wir wollen auf die aufgeworfenen Fragen in chronologischer Reihenfolge eingehen.

Gewerkschaften

Ein Genosse meinte, die Gewerkschaften verteidigen die ArbeiterInnen nicht, sie seien sogar gegen diese. Es wurde nachgefragt, ob dies auf alle Gewerkschaften zuträfe oder nur auf die CCOO-UGT. Obgleich auch Zweifel geäußert wurden, war die Mehrheit der Auffassung, dass dies auf alle Gewerkschaften zuträfe und der Grund hierfür in dem eigentlichen Wesen der Gewerkschaften liege. Aber es ist wichtig hervorzuheben, dass man nicht gegen die einfachen Gewerkschaftsmitglieder war, mit denen man im Gegenteil zusammenarbeiten möchte.

Die Versammlungen

Gegenüber den Gewerkschaften stellen die Versammlungen eine Alternative dar. Sie sind vor einem Jahrhundert aufgetaucht. Gegenüber einer Idee, der zufolge „vor uns die Wüste bestand, jetzt aber die Oase anfängt“, meinten andere GenossInnen, dass es eine Kontinuität in den Kämpfen und im Bewusstsein der verschiedenen Arbeitergenerationen gibt. Wir fangen nicht bei null an, wir setzen die Erfahrung der Versammlungen und Kämpfe, die in den letzten 100 Jahren in Spanien wie anderswo auf der Welt ausgetragen wurden, fort und eignen uns diese an. Doch die Versammlungen sind kein  unfehlbares Rezept, sondern eine lebendige Erfahrung. Die ArbeiterInnen können sich irren, Fehler machen, betrogen werden, aber sie können ebenso lernen, korrigieren, einen anderen Kurs einschlagen.

Die Versammlungen erfüllen verschiedene Funktionen: Sie sind Entscheidungszentrum, Ort der Debatte, Treffpunkt und Weg zur Vereinigung, Mittel der Geselligkeit  und zur Überwindung des Individualismus und der Atomisierung, Zentrum der Selbsterziehung, ein Mittel, mit dem jeder seine Verantwortung für gemeinsame Anliegen übernehmen und den Zusammenhang zwischen den individuellen und kollektiven Interessen als Klasse erkennen kann.

Wann entstehen Versammlungen?

Die Versammlungen entstehen nicht durch den Beschluss einer Minderheit, sondern sie werden durch ArbeiterInnen kollektiv geschaffen, die den Kampf vorbereiten und ihn weitertragen. Dies bedeutet nicht, dass Kollektive wie wir keine besondere Rolle zu übernehmen hätten, ihre Aufgabe besteht jedoch nicht darin, anstelle der Mehrheit zu handeln, sondern Propaganda zu betreiben, Erfahrungen bekannt zu machen und auszutauschen, Orientierungen vorzuschlagen, sich am Kampf zu beteiligen, indem man alle Möglichkeiten unterstützt und die Bedingungen für die Entwicklung des Bewusstseins, für die Solidarität, die durch die Kämpfe und die Versammlungen hervorgebracht werden, vorbereitet.

Ein Genosse meinte, dass die Versammlungen aus einem Bruch mit der Normalität hervorgehen. Die Alltagsnormalität bedeutet, dass wir uns als passive, abwartende, von den Unternehmern, Gewerkschaften oder Politikern abhängige Menschen verhalten, in Konkurrenzzueinander stehen, den anderen nicht trauen, und stattdessen auf uns selbst bezogen leben, den Blick ausschließlich auf die „eigenen Angelegenheiten“ gerichtet.  Der Bruch mit der Normalität ermuntert uns, aktiver, offener für Debatten und gemeinsames Handeln zu werden, die Suche nach der Einheit voranzutreiben, Kameradschaft, das gemeinsame Nachdenken, die Übernahme von Verantwortung. Die Versammlungen sind mit dem Kampf, seiner Vorbereitung und Entfaltung verbunden. 

Die Versammlung von Alicante (AFEMA) verstand sich als eine offene Versammlung, die die Solidarität mit anderen Beschäftigten und die Ausdehnung des Kampfes anstrebt. In Frankreich verstehen sich die Versammlungen als ein branchenübergreifender Zusammenschluss, d.h. als eine Zusammenfassung von Beschäftigten aus verschiedenen Branchen, Arbeitslosen, RentnerInnen, StudentenInnen usw., deren Ziel die Schaffung einer gemeinsamen Grundlage ist, damit der Kampf gegen die gewerkschaftliche Sabotage wirkungsvoll geführt werden kann.

In Spanien entstehen gegenwärtig Initiativen, die auf die Überwindung der Passivität und der von den Gewerkschaften organisierten demobilisierenden Demonstrationen und Kundgebungen hinarbeiten. Denn bei Letzteren sollen wir nur ein kleines Häuflein Teilnehmer sein, die lediglich vorgegebene Parolen rufen, Pfeifkonzerte veranstalten und wegen der lauten Musik ansonsten schweigen. So kommt kein Bruch mit der kapitalistischen Normalität zustande, im Gegenteil, diese wird dadurch nur aufrechterhalten. Es kommt zu keiner Debatte, zu keiner Initiative der Teilnehmer und zu keiner Kontaktaufnahme untereinander.

Wenn wir zusammenkommen und protestieren, dann müssen wir uns dafür einsetzen, dass diese Gelegenheiten genutzt werden, um wirkliche Versammlungen abzuhalten, auf denen Maßnahmen und Initiativen zum Kampf beschlossen, Kontakte hergestellt, über Kriterien diskutiert und Erfahrungen ausgetauscht werden. Wie die GenossInnen erklärten, organisierten sich in Frankreich Demonstranten, um am Ende jeder Demonstration Versammlungen auf der Straße abzuhalten, Versammlungen, an denen sich bis zu 400 Personen beteiligten.

Halten wir uns die Erfahrung Ägyptens vor Augen. Auf dem Tahir-Platz versammelten sich die Leute täglich, um sich Gehör zu verschaffen, verschiedene Forderungen vorzutragen, gemeinsam vorzugehen, alle Fragen gemeinsam zu diskutieren, Konzerte zu feiern und zu singen… Man muss sich dafür einsetzen, dass die öffentlichen Plätze in den Stadtvierteln zu einem Ort des Treffens, des Austausches und des Zusammenschlusses umgewandelt werden, wo Beschäftigte, Arbeitslose, StudentenInnen, Nachbarn, RentnerInnen ihre Forderungen vortragen und diese mit anderen Forderungen zu einem Ganzen bündeln. Wenn die Kraft dazu vorhanden ist, sollten diese Versammlungen zu ständigen Versammlungen werden, die sich nicht auflösen, bevor die Forderungen durchgesetzt sind.

Die Notwendigkeit einer Alternative

Ein Genosse warf das folgende Problem auf: Es ist sehr gut, wenn man Forderungen aufstellt, es ist sehr gut, wenn man für unmittelbare Ziele kämpft. Aber wie steht es um das Endziel? Welche gesellschaftlichen Wünsche haben wir? Welche gesellschaftliche Alternative bieten wir? Besteht nicht die Gefahr der Ermüdung, Erschöpfung und Demobilisierung, wenn man den Blick und die Aktivitäten auf den rein lokalen und unmittelbaren Rahmen beschränkt?

Dies stieß eine große Diskussion an. In den Wortmeldungen herrschte Übereinstimmung darüber, dass der Genosse den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Gleichzeitig wurde deutlich, dass man auf späteren Treffen über das Thema diskutieren muss: Welche Gesellschaft wünschen wir, wie können wir diese aufbauen?

Einige Ideen wurden angesprochen: Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus? Die Gesellschaften, die sich „kommunistisch“ nannten, wie Russland, China, Kuba, haben nichts mit Kommunismus zu tun, sondern waren rein staatskapitalistische Gebilde. Ein anderer Redebeitrag warf die Frage auf: Warum ist die russische Revolution von 1917 gescheitert und warum ist daraufhin der bürokratische Kapitalismus entstanden? Ein weiterer Redebeitrag stellte die Frage: Beweist Russland die Unmöglichkeit des Kommunismus? Welche Lehren muss man aus dieser Erfahrung ziehen, um nicht die gleichen Fehler zu begehen?

All diese Fragen konnten nicht beantwortet werden, da dies über die Ziele des Treffens hinausging. Daneben gab es einen zweiten Fragenkomplex: Gibt es eine Einheit zwischen den gegenwärtigen, unmittelbaren Kämpfen und dem Endkampf sowie der Gesellschaft, auf die wir hinarbeiten wollen? Die Frage weitergeführt: Entwickeln wir, wenn wir in den gegenwärtigen Kämpfen Kreativität und Initiative erleben, damit nicht sozusagen embryonenhaft die Grundlage für eine zukünftige Gesellschaft, deren Stützpfeiler die aktive und massive Beteiligung der Mehrheit sein wird? Errichten wir, wenn die Solidarität in den gegenwärtigen Kämpfen siegt und sich ausdehnt, damit auch den anderen Stützpfeiler der zukünftigen Gesellschaft, die sich auf die Gemeinschaft aller stützen wird?

Der Bruch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen

Es wurde darauf hingewiesen, dass sich in der gegenwärtigen Gesellschaft eine große Empörung und tiefgreifende Wut aufstauen. Es wurde gesagt, dass Tunesien und Ägypten eine Explosion der Empörung und gesellschaftlichen Wut über die enorme Armut und vor allem über die Ausweglosigkeit des Kapitalismus sowie die fehlende Zukunft darstellen.

Eine Genossin meinte, die Reichen werden immer reicher, die Politiker und Banker immer arroganter bei der Zurschaustellung ihres Reichtums, während gleichzeitig Verzweiflung, Arbeitslosigkeit, Marginalisierung um sich greifen… Aber warum reagieren die Leute nicht? Warum kommt es hier zu keiner Explosion der Empörung?

Ein Genosse antwortete: In der sich demokratisch gebärenden Gesellschaft gibt es eine Art unsichtbarer gesellschaftlicher Vertrag, demzufolge diejenigen, die unten stehen, jene tolerieren, die sich ständig bereichern und oben stehen, solange sie ein Minimum zum Überleben und Konsumieren haben und ihnen eine gewisse Zukunft geboten wird. Doch wenn all dies immer mehr bedroht wird, wenn nur noch die Aussicht auf Arbeitslosigkeit, Armut und Prekarisierung besteht, dann wird dieser „gesellschaftliche Vertrag“ gebrochen. Dann fangen die da unten an zu begreifen, dass ihre Armut die Folge des Reichtums der Minderheit ist und diese auf Kosten des Leids der Mehrheit lebt. Dem fügte ein anderer Genosse hinzu: Der „Wohlfahrtstaat“ ist längst begraben und durch einen „Armutsstaat“ ersetzt worden.

Die Entwicklung des Vertrauens

Aber die Genossin bohrte weiter und fragte: Warum passiert in Spanien nicht das Gleiche wie in Frankreich oder in Ägypten?

In Frankreich waren die Kampfbereitschaft und der Frust über die Lage sehr groß. Die Gewerkschaften versuchten diese mittels Versammlungen mit massiver Beteiligung zu kanalisieren und kontrollieren, aber sie taten dies nicht aus freien Stücken, sondern aufgrund des Drucks in der Klasse. In dieser Dynamik entstanden und entfalteten sich branchenübergreifende Vollversammlungen.

In Spanien hat die CCOO-UGT pantomimische „Streiks“ organisiert, jetzt wurde auch ein Sozialpakt aufgezwungen. Sie wollen jede Möglichkeit verhindern, dass es zu Initiativen der ArbeiterInnen kommt. Diese können sich nämlich nur aufgrund der Mobilisierung von unten entfalten, durch den Beitrag von kollektiven Anstrengungen wie unseren Versammlungen, durch den Ausbruch von spontanen Kämpfen. Der Weg ist sehr schwierig und lang.

Es fehlt im Augenblick noch etwas, das ein Genosse folgendermaßen umschrieb: Die Leute haben heute kein Vertrauen mehr in Politiker, aber sie haben noch weniger Vertrauen in sich selbst.

Die Entwicklung des Vertrauens ist ungeheuer wichtig. Dies ist die tiefergehende Bedeutung unseres Treffens: zur Entwicklung des Selbstvertrauens der ArbeiterInnen beitragen. Es ist sehr einfach, alles Vorgegebene zu schlucken; das ist ja das, was die Gewerkschaft betreiben: eine von ihnen für uns vorbereitete Mobilisierung, von ihnen für uns vorbereitete Proteste usw. Doch all das untergräbt faktisch nur das Selbstvertrauen der ArbeiterInnen, lässt sie noch passiver werden und auf ihre eigene Verantwortung verzichten.

Blockade von Raffinerien

Zum Schluss kamen wir auf ein Thema zu sprechen, das zwar nicht weiter ausführlich behandelt werden konnte, aber wieder aufgegriffen werden soll. Ein Genosse meinte, die Blockade von Raffinerien, Flughäfen, Transportmitteln usw. hätten eine Schlüsselrolle in den Kämpfen in Frankreich gespielt. Sie lähmten den Kapitalismus, weil sie die Mobilität einschränkten, den Warenverkehr lahm legten usw. Auf diese Weise würde das Herz des Systems – die Reproduktion – getroffen.  

Ein anderer Genosse stimmte damit nicht überein. Er meinte, die Regierung verfüge über ausreichend Treibstoffreserven. Stattdessen hätten die Regierung und die Gewerkschaften für eine Art Hysterie gesorgt, mit dem Ziel, die Bewegung in ein schlechtes Licht zu rücken, damit sie als gegen die Mehrheit der Bevölkerung und auch gegen viele Beschäftigte gerichtet erscheint. 

Er hob hervor, was dem Kapital und dem Staat wirklich zusetzt, sei die massive Ausdehnung und Vereinigung der Bewegung. Dies würde zu ihrer politischen und gesellschaftlichen Isolierung beitragen. Sicherlich habe es aber auch Fälle gegeben, in denen die Blockade einer Fabrik oder einer Universität ein Mittel gewesen sei, die Kämpfenden zusammenzuschweißen. In solchen Fällen seien Blockaden eine wirksame Waffe.

[1] [26] Dies stützt sich auf die Notizen, die von den Teilnehmern des “Colectivo de Trabajadores“ aus Valencia gemacht wurden. Es mag Fehler geben, deshalb bitten wir die anderen TeilnehmerInnen, auf Ungenauigkeiten usw., sofern vorhanden, hinzuweisen.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkämpfe Spanien [27]
  • Arbeiterversammlungen [28]
  • Arbeiterinitiativen [29]

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