Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Beitrag über das Verhältnis zwischen Marxismus und Wissenschaft, der uns von dem Anthropologen Chris Knight zugesandt wurde. Chris war zum 19. Kongress der IKS, der im Mai stattfand, eingeladen, um an der Debatte über dieses Thema teilzunehmen, mit dem sich die Organisation seit einiger Zeit beschäftigt. Diese Debatte spiegelt sich in Artikeln wider, die wir über Freud, Darwin und Chris’ eigene Theorie über die Ursprünge der menschlichen Kultur veröffentlicht haben; gleichzeitig haben wir vor, einige interne Diskussionstexte zu veröffentlichen, die wir geschrieben haben, um die Debatte voran zu bringen. Wir werden auch Näheres über die Debatte auf dem Kongress veröffentlichen.
Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Beitrag über das Verhältnis zwischen Marxismus und Wissenschaft, der uns von dem Anthropologen Chris Knight zugesandt wurde. Chris war zum 19. Kongress der IKS, der im Mai stattfand, eingeladen, um an der Debatte über dieses Thema teilzunehmen, mit dem sich die Organisation seit einiger Zeit beschäftigt. Diese Debatte spiegelt sich in Artikeln wider, die wir über Freud, Darwin und Chris’ eigene Theorie über die Ursprünge der menschlichen Kultur veröffentlicht haben; gleichzeitig haben wir vor, einige interne Diskussionstexte zu veröffentlichen, die wir geschrieben haben, um die Debatte voran zu bringen. Wir werden auch Näheres über die Debatte auf dem Kongress veröffentlichen.
Wir haben auf unserer englischen Webseite den Redebeitrag von Chris Knight als podcast zugänglich gemacht:https://en.internationalism.org/podcast/20110925/chris-knight-origins-of... [1]
Unser Ziel in dieser Debatte, die den früheren Diskussionen über Ethik, die menschliche Natur und den primitiven Kommunismus notwendigerweise folgte, ist nicht, eine einheitliche Auffassung über die Beziehung zwischen Marxismus und Wissenschaft zu erreichen oder uns auf eine bestimmte psychologische oder anthropologische Theorie festzulegen, die einem Punkt in unserer Plattform gleich käme. Auch besteht unser Interesse, wenn wir uns in Diskussionen mit Wissenschaftlern wie Chris Knight oder den Linguisten Jean-Louis Desalles engagieren, der auf unserem vorherigen Kongress gesprochen hatte, nicht darin, eine hochgradige Übereinstimmung mit ihnen in politischen Positionen, die unsere Organisation zu verteidigen da ist, anzustreben. Eher suchen wir eine Tradition der Arbeiterbewegung fortzusetzen, die sich durch ihre Offenheit gegenüber allen realen Entwicklungen der wissenschaftlichen Untersuchung auszeichnete, besonders wenn sie sich mit den Ursprüngen und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft befasste. Das ist es im Wesentlichen, was Marx‘ und Engels’ Begeisterung für die Theorien von Charles Darwin und L. H. Morgan, Trotzkis Anerkennung der Bedeutung der Freudschen Theorien usw. begründete. Und trotz der Dekadenz des Kapitalismus und der äußerst negativen Auswirkungen, die sie auf die Fortentwicklung und den Nutzen der Wissenschaft gehabt hat, ist das wissenschaftliche Denken im letzten Jahrhundert keineswegs zu einem völligen Stillstand gekommen. Auf dem Kongress selbst wie auch in der allgemeinen Diskussion über Marxismus und Wissenschaft, an der er teilnahm, legte Chris knapp, aber pointiert die anthropologischen Theorien dar, die er in seinem Buch “Blood Relations” (Blutsverwandtschaft) und anderen Werken ausgearbeitet hat. Seine Präsentation auf dem Kongress und die anschließende Diskussion sind ein Beweis, dass fruchtbare wissenschaftliche Untersuchungen und das Nachdenken über die Ursprünge der Menschheit sowie über die Wirklichkeit des „ursprünglichen Kommunismus“ bis heute natürlich nicht aufgehört haben zu existieren.
Der folgende Text befasst sich nicht direkt mit der Anthropologie, sondern mit der allgemeineren Beziehung zwischen dem Marxismus und der Wissenschaft. Er bietet einen Weg an, dem Verhältnis zwischen den beiden näher zu kommen; ein Weg, der grundlegend revolutionär ist und der den essenziellen Internationalismus wahrer Wissenschaft bekräftigt, die dialektische Art und Weise, in der sie sich vorwärts bewegt und ihre notwendige Gegnerschaft zu allen Formen der Ideologie. Wir laden unsere LeserInnen ein, Gebrauch zu machen vom Diskussionsforum auf unserer Webseite, um uns eure Sicht zu Chris Knights Text und zu seinen anthropologischen Theorien zu schicken. Chris hat gesagt, dass er bereit sei, an jeder Diskussion teilzunehmen, die seine Beiträge auf dieser Seite anregen.
IKS, Juni 2011
Chris Knight: Marxismus und Wissenschaft
„Die Wissenschaft“ ist laut Trotzki, „ist die Erkenntnis, die uns mit Macht ausstattet“[1] Die Naturwissenschaften, fuhr Trotzki fort, streben danach, die Gewalt über die Naturkräfte und -prozesse zu gewinnen. Die Astronomie machte die ersten Kalender, Voraussagen über Sonnenfinsternis und die genaue Navigation auf dem Meer möglich. Die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft erlaubte eine wachsende Befreiung von Krankheiten und deren Bezwingung. Die Fortschritte in der modernen Physik, Chemie und den anderen Naturwissenschaften haben der Menschheit eine immense Macht gegeben, Naturkräfte aller Art für sich nutzbar zu machen, und sie haben die Welt, in der wir leben, völlig verändert.
Zumindest potenziell gehört die daraus resultierende Macht uns allen - der gesamten menschlichen Spezies. Wissenschaft ist Selbsterkenntnis und Macht der Menschheit in diesem Stadium unserer Entwicklung auf diesem Planeten – und nicht nur die politische Macht einer Gruppe von Menschen über andere. Für Trotzki, wie für Marx vor ihm, ist es der ihr innewohnende Internationalismus – die globale, die ganze Menschheit umfassende Natur der Macht, die sie darstellt -, der die Stärke der Wissenschaft ausmacht und der sie von den rein lokalen, nationalen, territorialen oder auf Gesellschaftsklassen beruhenden (d.h. religiösen, politischen und ähnlichen) Formen des Bewusstseins unterscheidet. Ideologien drücken nur die Macht bestimmter Teile der Gesellschaft aus, die Wissenschaft dagegen gehört der menschlichen Spezies als solcher.
An diesem Maßstab gemessen, sind die Gesellschaftswissenschaften immer ein Paradox gewesen: einerseits vorgeblich wissenschaftlich, andererseits von der Bourgeoisie in der Hoffnung finanziert, so ihre politische und gesellschaftliche Kontrolle zu stärken. Selbst die Entwicklung der Naturwissenschaften – obgleich immanent international und wertvoll für die Menschheit – hat innerhalb eines begrenzten und begrenzenden gesellschaftlichen Kontexts stattgefunden. Sie ist stets zwischen zwei gegensätzlichen Forderungen hin und her gezerrt worden – zwischen den menschlichen Bedürfnissen einerseits und jenen von einzelnen Körperschaften, von Geschäftsinteressen und von herrschenden Eliten andererseits.
Partikularinteressen und die Interessen der Spezies – die Wissenschaft schwankte stets zwischen diesen beiden widersprüchlichen Interessenslagen. Zwischen beiden Extremen haben die mannigfaltigen Wissensformen ein Kontinuum gebildet. An dem einen Ende hat es Wissenschaften gegeben, die wenig mit Gesellschaftsfragen befasst sind – wie Mathematik, Astronomie und Physik zum Beispiel. Am anderen Ende hat es Bereiche wie Geschichte, Politik und die relativ junge Soziologie gegeben – Gebiete, deren gesellschaftliche Auswirkungen unmittelbar und direkt sind. Je direkter die gesellschaftlichen Auswirkungen einer Wissenschaftsdisziplin, desto direkter und unausweichlicher war der politische Druck auf sie gewesen. Und wo immer ein solcher Druck vorherrschte, war das Wissen entstellt und von seinem Kurs abgedrängt worden.
Gesellschaftliche Bedingungen und wissenschaftliche Objektivität
Ist der Marxismus eine Ideologie? Oder ist er eine Wissenschaft? In einem wüsten Angriff – geschrieben auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges – prangerte Karl Wittfogel, Autor von „Die orientalische Despotie“, Marx als einen Ideologen an. Er räumte ein, dass Marx eine solche Beschreibung seiner Person entrüstet zurückgewiesen hätte und empört über den Missbrauch seines Werks durch Stalin und seiner Nachfolger gewesen wäre. Die sowjetische Obrigkeit, schrieb Wittfogel 1953, zitierte stets Lenins Konzept der Parteilichkeit (partiinost), um die Wissenschaft „zurechtzubiegen“ – bis hin zur Fälschung von Tatsachen –, so dass sie sich besser für den politischen Gebrauch eignet. Diese Vorstellung von „Nützlichkeit“ oder Manipulation schien laut Wittfogel naturgemäß aus Marxens ursprünglicher Prämisse hervorzugehen, dass alles Wissen gesellschaftlich bedingt sei – produziert von den gesellschaftlichen Klassen, um sie ihren wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen anzupassen. Für die sowjetische Obrigkeit war die wissenschaftliche Wahrheit immer etwas, was es für politische Zwecke zu manipulieren galt.
Wittfogel fährt jedoch fort: „Marx hatte nicht diese Sicht. Er betonte nicht nur, dass ein Mitglied einer bestimmten Klasse für Ideen eintreten könnte, die nachteilig für seine Klasse wären – dies ist von Lenin und seine Nachfolgern bestritten worden –, sondern er forderte auch, dass ein echter Gelehrter sich nach den Interessen der Menschheit in ihrer Gesamtheit richten und die Wahrheit in Übereinstimmung mit den immanenten Erfordernissen der Wissenschaft suchen müsse, gleich wie sich das Schicksal einer besonderen Klasse, auf die Kapitalisten, Grundeigentümer oder Arbeiter auswirkt. Marx rühmte Ricardo dafür, dass er diese Haltung hatte, welche er nicht nur wissenschaftlich für redlich erklärte, sondern auch von der Wissenschaft einfordert. Aus demselben Grund verdammte Marx eine Person als gemein, die die wissenschaftliche Objektivität äußeren Zwecken unterordnete: ‚... ein Mensch, der versucht, die Wissenschaft einem Standpunkt anzupassen, der nicht seinem eigenen Interessen entstammt, wie irrig auch immer, sondern äußeren, fremden und irrelevanten Interessen, nenne ich gemein.’ Marx war völlig konsequent, wenn er die Ablehnung, die Wissenschaft den Interessen einer bestimmten Klasse anzupassen – die Arbeiter eingeschlossen –, ‚stoisch, objektiv und wissenschaftlich‘ nannte. Und er war auch darin konsequent, wenn er ein gegensätzliches Verhalten als eine ‚Sünde wider der Wissenschaft’ brandmarkte.
Das sind starke Worte. Sie zeigen Marx entschlossen, die stolze Tradition aufrechtzuerhalten, die unabhängige Gelehrtheit zu allen Zeiten auszeichnete. Es stimmt, der Autor von ‚Das Kapital‘ hielt sich nicht immer – und besonders in seinen politischen Schriften – an seine eigenen wissenschaftlichen Normen. Seine Haltung bleibt nichtsdestoweniger äußerst bedeutsam. Die Nachfolger des Lagers einer parteilichen Wissenschaft können kaum dafür beschuldigt werden, die Prinzipien der wissenschaftlichen Objektivität zu ignorieren, wozu sie sich nicht bekennen. Aber Marx, der diese Prinzipien ohne Einschränkung akzeptiert, darf legitimerweise kritisiert werden, sie verletzt zu haben.“[2]
Karl Marx, schreibt Wittfogel, spielte zwei miteinander unvereinbare Rollen. Er war ein großer Wissenschaftler, aber er war auch ein politischer Revolutionär. Er engagierte sich – wie jeder Wissenschaftler es tun muss – für „die Interessen der Menschheit in ihrer Gesamtheit“, aber er setzte sich auch für die Interessen der internationalen Arbeiterklasse ein. Die offensichtliche Unvereinbarkeit dieser beiden Aktivitäten (wie Wittfogel es sieht) bedeutete, dass „Marx‘ eigene Theorien (…) in entscheidenden Punkten von dem beeinträchtigt waren, was er selbst ‚irrelevante Interessen‘ nannte“.[3]
Wittfogel wird von dem Gesellschaftsanthropologen Marvin Harris zitiert, dessen Ansichten in dieser Frage ähnlich zu sein scheinen. Harris stellt Marxens „wissenschaftliche“ Seite dessen „dialektischem und revolutionärem“ Aspekt entgegen, mit der Absicht, die wissenschaftliche Seite gebrauchsfähig zu machen, indem er sie von allen Spuren des dialektischen und revolutionären Aspekts dekontaminiert. Laut Harris „gab sich Marx große Mühe, die wissenschaftliche Verantwortlichkeit über die Klasseninteressen zu stellen.“ Aber das sei lediglich in seinem wissenschaftlichen Werk der Fall. Große Teile des Werkes von Marx seien politisch, und hier sei die Wissenschaft politischen Zwecken untergeordnet – und daher missbraucht worden. Wenn die Wissenschaft aus politischen Beweggründen bemüht werde, dann müsse das zum Verrat an der wissenschaftlichen Objektivität und ihrem Zweck führen, sagt Harris: „Wenn es darum geht, die Welt zu verändern, anstatt sie nur zu interpretieren, dann wird der marxistische Soziologe nicht zögern, die Tatsachen zu fälschen, um sie nützlicher zu machen.“[4]
Wittfogels Hinweis, dass Marx versuchte, seine Wissenschaft auf „die Interessen der Menschheit in ihrer Gesamtheit“ zu gründen, ist wichtig. Wir stimmen mit Harris auch darin überein, dass Marx „sich selbst Mühe gab, die wissenschaftliche Verantwortlichkeit über die Klasseninteressen zu stellen“ – wenn mit „Klasseninteressen“ partikularistische Sonderinteressen im Gegensatz zu den universell menschlichen gemeint sind. Aber genau hier liegt das Problem. Wie Einstein und all die großen Wissenschaftler in all den Jahrhunderten glaubte Marx, dass es in der Verantwortung eines Wissenschaftlers liegt, die allgemeinen Interessen der Menschheit über die Sonderinteressen zu stellen. Die Frage, vor die er sich gestellt sah und vor die wir auch heute gestellt sind, lautet: In welcher konkreten Form werden diese allgemeinen Interessen in der heutigen modernen Welt ausgedrückt?
Marx kam auf Grundlage seiner wissenschaftlichen Studien zu dem Schluss, dass die allgemeinen Interessen der Menschheit nicht von den verschiedenen herrschenden Klassen des 19. Jahrhunderts in Europa vertreten wurden. Diese Interessen kamen nicht nur miteinander in Konflikt, sondern auch mit denen der menschlichen Spezies als solcher. Sie konnten daher nicht die gesellschaftliche Grundlage für eine wirklich objektive Gesellschaftswissenschaft bilden.
Die Schwäche sowohl der Position Wittfogels wie der Harris‘ ist, dass sie beide zu dieser Frage nichts zu sagen hatten. Sie waren in der eigentümlichen Lage, einerseits mit Marxens Grundvoraussetzungen übereinzustimmen und sich anderseits dennoch zu weigern, auch nur über die Möglichkeit zu diskutieren, dass die Schlussfolgerungen von Marx korrekt sein könnten. Sie waren völlig einverstanden damit, dass sich die Wissenschaft auf die allgemein menschlichen Interessen gründen muss. Marx zog aufgrund dieses Gedankens den Schluss, a) dass Wissenschaft selbst in dem Maße politisch revolutionär ist, als sie wahrhaft treu zu sich selbst und universell ist; b) dass es diese Art von „Politik“ ist (d.h. die Politik der Wissenschaft selbst), die die moderne revolutionäre Bewegung verlangt; und c) dass die einzig mögliche gesellschaftliche Grundlage für solch eine Wissenschafts-inspirierte Politik jene Klasse in der Gesellschaft ist, die selbst das Produkt der Wissenschaft ist, welche bereits in ihrem Kern eine internationale wie wissenschaftliche Entwicklung darstellt und deren Interessen allen existierenden Separatinteressen entgegengesetzt sind. Doch weder Wittfogel noch Harris äußerten auch nur ein Argument zu alledem. Sie nahmen es einfach als selbstverständlich an, dass die Interessen der Menschheit eine Sache sind und die Interessen der Arbeiterklasse eine andere.
Marx – und jeder Marxist, der es verdient, den Namen zu tragen - wusste, dass es nicht wert ist, sich für eine gesellschaftliche Kraft einzusetzen, es sei denn, sie stellt dank ihrer ureigenen Existenz wirklich die breiten Interessen der Menschheit dar. Und jeder Marxist, der diesen Namen verdient, weiß, dass es nur eine wirkliche Wissenschaft gibt – die realen Entdeckungen der Wissenschaftler, die unabhängig und für die eigenen autonomen Ziele der Wissenschaft arbeiten -, die von der Menschheit als Mittel zur Selbsterkenntnis und Befreiung verwendet werden kann. Von diesem Standpunkt aus wird die Absurdität des Arguments von Harris ersichtlich, dass, wenn es darum geht, die Welt zu verändern, der marxistische Soziologe „nicht zögern würde, die Daten zu verfälschen, um sie nützlicher zu machen“. Wie können gefälschte Daten für die Menschheit von Wert sein? Wie kann dies für jene opportun sein, die daran interessiert sind, die Welt zu verändern?
Harris hat Recht, darauf zu bestehen, dass, wenn ein partikulares politisches Interesse – sei es nun marxistisch oder nicht – die wissenschaftliche Arbeit im Griff hat, die Wissenschaft selbst darunter leiden werde. Eine besondere nationale und deshalb limitierte politische Partei oder eine bestimmte Gruppe, die in einem gegebenen Staat herrscht (wie z.B. die sowjetische Bürokratie und der „kommunistische“ Apparat während des Kalten Krieges) mag wohl das Gefühl haben, besondere Interessen zu besitzen, die sie über die breiteren Interessen heben, welche sie zu vertreten behauptet. In diesem Falle wird die Wissenschaft in dem Maße, wie die Wissenschaftler darin involviert sind, sicherlich entstellt werden. Aber eine Entstellung der Wissenschaft (d.h. ihre teilweise Umformung in Ideologie) kann nur eine Limitierung ihrer langfristigen Anziehungskraft und ihrer Brauchbarkeit für den Menschen beinhalten. Wo immer sich solche Dinge ereignen, schwächt die betroffene Schicht ihre Kraft, die Welt zu verändern, statt sie zu stärken.
Alle Entstellungen, Fälschungen oder Mystifikationen drücken nur die gesellschaftlichen Teilinteressen im Gegensatz zu den Allgemeininteressen aus. Marx befürwortete zu keiner Zeit, sich die Wissenschaft zurechtzuschustern, um sie diesem oder jenem gefühltem Teilinteresse anzupassen – ob Arbeiterklasse oder nicht: “Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (Marx: Die heilige Familie, MEW 2, S. 37)
Für Marx war die Frage, wer das Proletariat war, eine wissenschaftliche Frage, die auch nur wissenschaftlich beantwortet werden konnte, in völliger Unabhängigkeit von jedem unmittelbaren Druck oder Anliegen. Weit davon entfernt, für die Unterordnung der Wissenschaft unter die Politik zu streiten, bestand Marx auf die Unterordnung der Politik unter die Wissenschaft.
Autonomie und Klasseninteresse
Engels schrieb: “[…] je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter.“ (Engels: Feuerbach, MEW 21, S. 307) Wir können sicher sein, dass dies genau die Sichtweise von Marx zum Ausdruck bringt. Die Wissenschaft als einzige universelle, internationale und die Spezies vereinigende Form des Wissens hat Vorrang. Wenn sie in den Interessen der Arbeiterklasse verwurzelt werden musste, dann nur in dem Sinne, dass alle Wissenschaft in den Interessen der menschlichen Spezies insgesamt verwurzelt sein muss, wobei die internationale Arbeiterklasse diese Interessen in der modernen Epoche verkörpert, so wie die Erfordernisse der Produktion in früheren Perioden immer diese Interessen verkörpert haben.
Es ging nicht um die Unterordnung unter Partikularinteressen. Indem die Wissenschaft an die erste Stelle gesetzt wurde, war sie dazu bestimmt, sich über Partikularinteressen hinwegzusetzen und zum Ausdrucksmittel einer neuen Form politischen Bewusstseins zu werden. In diesem Sinne war die Wissenschaft sogar dazu bestimmt, die internationale Arbeiterklasse zu erschaffen. Ohne Wissenschaft gäbe es nur partikulare politische Arbeiterbewegungen; erst durch die wissenschaftliche Analyse können die allgemeinen Interessen der Klasse offengelegt werden.
Zugegeben: die Wissenschaft – selbst ein gesellschaftliches Produkt – kann (nach der Auffassung von Marx) der Arbeiterklasse nichts hinzufügen, was nicht schon in ihr vorhanden ist. Sie kann sich nicht der Arbeiterbewegung aufzwingen, als käme sie von außerhalb.[5] Erst in der und durch die Wissenschaft können sich die Arbeiter ihrer globalen, die Klasse in ihrer Gesamtheit innewohnenden Stärke bewusst werden – einer Stärke, die bereits in ihnen steckt. Und nur durch diese Bewusstwerdung ihrer eigenen Macht kann die internationale Arbeiterklasse politisch existieren.[6] Es stellt sich deshalb gar nicht die Frage, ob die Wissenschaft einer vorher existierenden politischen Kraft untergeordnet ist. Die politische Kraft ist die Wissenschaft selbst und kann ohne die Wissenschaft nicht bestehen. Die früheren vorherrschenden Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik werden umgekehrt.
Für Marx sind die Gesellschaftswissenschaften – einschließlich seiner eigenen – genauso wie alle anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins ein Produkt der Klassenverhältnisse. Seine allgemeine Formulierung ist wohl bekannt: "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ (Marx/Engels: Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 46)
Aus diesem Grunde erachtet es Marx als nicht möglich, die herrschenden Ideen der Gesellschaft zu ändern – oder eine allseits anerkannte Gesellschaftswissenschaft zu schaffen –, ohne die materielle Macht jener Kräfte zu brechen, die die Wissenschaft entstellen. Weil Marx die gesellschaftlichen Widersprüche als die Quelle der mythologischen und ideologischen Widersprüchlichkeiten sah, konnte er darauf bestehen, dass nur durch die Beseitigung der gesellschaftlichen Widersprüche selbst ihre Äußerungen in Ideologie und Wissenschaft überwunden werden konnten.
Das ist es, was Marx meinte, wenn er schrieb: "Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ (Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3; S. 7) Oder nochmals: "[…] man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe fasste.“ (Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungband 1, S. 25)
Deshalb war es vom Standpunkt von Marx und Engels aus in Ordnung, den Interessen der Wissenschaft treu zu bleiben – um ihre inneren theoretischen Widersprüche zu lösen -, so dass sie sich als Wissenschaftler verpflichtet fühlten, a) sich mit einer materiellen gesellschaftlichen Kraft zu identifizieren, die die „irrelevanten Interessen“, welche die Objektivität der Wissenschaft entstellen, beseitigen konnte, und b) die Leitung dieser materiellen Kraft zu übernehmen. Ihre Auffassung war es nicht, dass die Wissenschaft unzulänglich sei und dass die Politik hinzugefügt werden müsse.[7] Ihre Vorstellung war, dass Wissenschaft – wenn sie treu zu sich selbst blieb – immanent revolutionär ist, dass sie nicht ein politisches Projekt ist, sondern sich selbst anerkennen muss.
Marx und Engels glaubten, dass die Wissenschaft diese noch nie dagewesene politische Autonomie aus einem gesellschaftlichen Grund heraus gewinnen könne: Zum ersten Mal – und zwar als direktes Ergebnis der wissenschaftlichen Entwicklung selbst – war eine „Klasse“ in die Gesellschaft getreten, die in Wirklichkeit überhaupt keine Klasse war, die keinen traditionellen Status oder erworbene Interessen mehr zu verteidigen hat, keine Macht, Protektion zu gewähren, keine Macht, den Menschen vom Menschen zu spalten, und deshalb auch keine Macht, die Wissenschaft in irgendeiner Weise zu entstellen. “Und nur bei der Arbeiterklasse besteht der deutsche theoretische Sinn unverkümmert fort. Hier ist er nicht auszurotten; hier finden keine Rücksichten statt auf Karriere, auf Profitmacherei, auf gnädige Protektion von oben; [...]“, schrieb Engels. (Engels: Feuerbach, MEW 21, S. 306)
Erst hier kann die Wissenschaft sich selbst treu sein, denn nur hier existiert eine gesellschaftliche Kraft wahrer universeller Art, die fähig ist, die Spezies Mensch zu einem Ganzen zu vereinigen.
Das ist die Bedingung für eine wahrhaft unabhängige, wahrhaft selbständige und wahrhaft universelle Wissenschaft der Menschheit – die Existenz „einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 390)
Verifizierung des Marxismus
Einiges aus dem vorhergehenden Argument mag tendenziös erscheinen. Nahezu jeder politische oder gesellschaftliche Philosoph behauptet letztlich, dass seine Theorie allgemein menschliche Interessen ausdrückt und nicht eng begrenzte Sonderinteressen.
Die „Treue zu den Interessen der Menschheit“ als Maß für den wissenschaftlichen Wert eines begrifflichen Systems zu gebrauchen ist daher nicht möglich – es sei denn, es wird ein objektives Testverfahren dafür gefunden. Aber welche Art von Test könnte das sein? Letztendlich besteht der Beweis für den Pudding darin, gegessen zu werden. Was geschieht, wenn wir eine neue Hypothese ausprobieren? Bewährt sie sich? Vermindert sie die geistige Anstrengung bei der Lösung von intellektuellen Problemen? Mit anderen Worten: fügt die Hypothese – sei sie rein intellektuell oder auch praktisch – den Fähigkeiten der Wissenschaftler auf wesentlichen Gebieten neue Erkenntnisse hinzu?
Wenn sie das tut, dann sollte sich jedermann ultimativ dazu durchringen, die Tatsachen anzuerkennen. Angenommen, intellektuelle Effizienz ist unser Kriterium (andernfalls sind wir keine Wissenschaftler), dann wird sich der Zuspruch zu dieser Theorie weiter verbreiten. Ihre innere Kohärenz (die Übereinstimmung zwischen den einzelnen Teilen der Theorie) wird in einer weitverbreiteten gesellschaftlichen Zustimmung Ausdruck finden. Solche Fähigkeit, Zustimmung zu erzeugen, ist der gesellschaftliche Lackmustest der Wissenschaft.[8]
Auf lange Sicht muss der Marxismus und jede Gesellschaftswissenschaft einem derartigen Test unterzogen werden. Wissenschaften unterscheiden sich, angefangen beim bloßen Ad hoc-Wissen über das technische Wissen bis hin zum gesunden Menschenverstand, durch das Mittel ihrer abstrakten, symbolischen, formalen Kennzeichen. Wissenschaft ist ein Symbolsystem. Ähnlich wie bei jedem anderen solchen System hängt ihre Bedeutung von der Übereinkunft ab. Die Ziffer „2“ bedeutet „zwei“, nur weil wir alle sagen, dass dies so ist. Sie könnte auch „neun“ bedeuten. Alle symbolischen Systeme – einschließlich der Mythen und Ideologien – hängen in diesem Sinn von der gesellschaftlichen Übereinkunft ab. Doch im Fall der Mythen und Ideologien reicht der Bereich der Übereinkunft nur bis hierher. Es ist ein Punkt erreicht, an dem Uneinigkeit aufkommt – eine Uneinigkeit, die in den gesellschaftlichen Widersprüchen verwurzelt ist. Und wenn das eintritt, führt die Notwendigkeit, die miteinander unverträglichen Bedeutungen miteinander zu versöhnen, zu Widersprüchen innerer Art – innerhalb des Symbolsystems selbst.
Mythologie und Ideologie sind Ausdrücke der gesellschaftlichen Spaltung. Dies ist das wesentliche Merkmal, das diese Wissensformen von der Wissenschaft unterscheidet. Die Wissenschaft drückt die Macht und die Einheit der menschlichen Art aus – eine Macht, die die Menschen in den Klassengesellschaften in wachsendem Maße gegenüber der Natur in Anspruch nahmen, jedoch nicht gegenüber ihrer eigenen gesellschaftlichen Welt. Eine Wissenschaft der Gesellschaft müsste, um sich selbst als Wissenschaft zu beweisen, zeigen, dass sie ohne innere Widersprüche und in Einklang mit den Naturwissenschaften und der Wissenschaft in ihrer Gesamtheit steht. Langfristig kann sie das nur praktisch beweisen. Sie müsste ihre innere Folgerichtigkeit zeigen, indem sie ihre Verwurzelung in einer gesellschaftlichen Übereinkunft demonstriert, die die menschliche Rasse vereint. Sie müsste mit anderen Worten in der Praxis zeigen, dass sie Teil eines Symbolsystems bildet – einer globalen „Sprache“, entstanden aus den Begriffen der Wissenschaft -, das praktisch fähig wäre, die ganze Erde zu umfassen und sie endlich politisch zu vereinigen.[9]
Doch das ist nicht die einzige Prüfung. Bei jedem wissenschaftlichen Fortschritts ist die Prüfung zuerst eine theoretische. Kopernikus wusste, dass sich die Erde bewegt. Und er wusste das, lange bevor diese Tatsache für andere ausreichend bewiesen und universell anerkannt war. Einstein wusste, dass das Licht den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen ist. Und er wusste das, lange bevor es 1919 während einer Sonnenfinsternis von den Sternwarten in Cambridge und Greenwich beobachtet wurde (als gezeigt wurde, dass von einem Stern ausgesandte Lichtstrahlen vom Gravitationsfeld der Sonne abgelenkt werden). Bei wissenschaftlichen Entdeckungen war das immer so. Eine wissenschaftliche Revolution wird auf der Ebene der reinen Theorie bestätigt, lange bevor sie ihre Abschlussprüfung in der Praxis bestanden hat.
Die endgültige Bestätigung des Marxismus als Wissenschaft würde sich in seiner Fähigkeit zeigen, eine weltweite Einigkeit zu herzustellen – in seiner Kraft, die Menschheit zu vereinigen. Aber wenn der Marxismus eine echte Wissenschaft ist, dann sollte es möglich sein, sein Potenzial schon vorher theoretisch zu erweisen. Die Frage tut sich auf: wie? Ich werde dieses Problem im zweiten Teil dieses Artikels untersuchen.
[1] “Der einzelne Wissenschaftler mag sich überhaupt nicht um praktische Anwendung seiner Forschung kümmern. Je weiter sein Blick reicht, je kühner seine Phantasie ist, je freier er in seinen theoretischen Überlegungen von der notwendigen Alltagspraxis ist, desto besser. Aber die Wissenschaft ist keine Funktion individueller Wissenschaftler; sie ist eine Funktion der Gesellschaft. Die gesellschaftliche und geschichtliche Einschätzung der Wissenschaft hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Macht des Menschen zu steigern und ihn zu befähigen, Ereignisse vorauszusehen und die Natur zu beherrschen.” L. D. Trotzki, 'Dialektischer Materialismus and Wissenschaft' in I Deutscher (ed) The Age of Permanent Revolution: a Trotsky Anthology, New York 1964, p. 344, auf deutsch in “Leo Trotzki, Denkzettel, S. 398, russischer Originaltitel: „D.I. Mendelev i marksizm, 17.9.1925)
[2] K. Wittvogel, The ruling bureaucracy of oriental despotism: a phenomenon that paralysed Marx. The Review of Politics No. 15, 1953, pp. 355-56. Wittfogel zitiert Marx’s Theorien über Mehrwert (eigene Übersetzung)
[3] Wittfogel, p. 356n (eigene Übersetzung)
[4] M Harris, The Rise of Anthropological Theory London 1969, pp. 4-5; 220-21 (eigene Übersetzung)
[5] Solange die Arbeiterklasse schwach ist, schrieb Marx, wollen die Theoretiker ihr helfen, indem sie “Systeme ausdenken und nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen.” Doch wenn die Arbeiterklasse stark ist, haben seine Theoretiker “sich nur Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. [...] Von dem Augenblick an wird die Wissenschaft bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.“ (Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 143)
[6] Wie Trotzki ausdrückt: “.... das Bewusstsein der Stärke ist die wichtigste Grundlage einer wirklichen Stärke” (L. D. Trotzki Whither France? New York 1968, p116, Übersetzung durch IKS). Marx hatte dieselbe Idee im Kopf, als er schrieb: “[…] man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.“ (Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 390)
[7] Marx hatte im Allgemeinen keine sehr hohe Meinung über das politische Denken eben wegen seiner unvermeidlich subjektiven Ausrichtung: “Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt. Je schärfer, je lebendiger, desto unfähiger ist er zur Auffassung sozialer Gebrechen. [...] Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger, d.h. also, je vollendeter der politische Verstand, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, um so blinder ist er gegen die natürlichen und geistigen Schranken des Willens, um so unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken.“ (Marx: Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform, MEW 1, S. 402) Wenn Marx an die Notwendigkeit des politischen Kampfes glaubte, dann deshalb, weil er das politische Wesen der Hindernisse für die menschliche Befreiung und für die Autonomie der Wissenschaft erkannte: „Die Revolution überhaupt – der Umsturz der bestehenden Gewalt und die Auflösung der alten Verhältnisse – ist ein politischer Akt. Ohne Revolution kann sich aber der Sozialismus nicht ausführen. Er bedarf dieses politischen Aktes, soweit er der Zerstörung und Auflösung bedarf. Wo aber seine organisierende Tätigkeit beginnt, wo sein Selbstzweck, seine Seele hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg.“ (dito, S. 409)
[8] Siehe T.S. Kuhn, 'The Structure of Scientific Revolutions' International Encyclopaedia of Unified Science Vol 2, No. 2, Chicago 1970, p. viii. Marx hat diese Idee wenigstens wahrscheinlich teilweise von Feuerbach übernommen, obgleich sie auch ein großes Thema in Hegels Schriften ist. Feuerbach schreibt: “Wahr ist, worin der Andere mit mir übereinstimmt – Übereinstimmung das erste Kennzeichen der Wahrheit, aber nur deswegen, weil die Gattung das letzte Maß der Wahrheit ist. Was ich nur denke nach dem Maße meiner Individualität, daran ist der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das ist eine zufällige, nur subjektive Ansicht. Was ich aber denke im Maße der Gattung, das denke ich, wie es der Mensch überhaupt nur immer denken kann und folglich der Einzelne denken muß, wenn er normal, gesetzmäßig und folglich wahr denken will. Wahr ist, was mit dem Wesen der Gattung übereinstimmt, falsch, was ihr widerspricht. Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht.“ (Das Wesen des Christentums, Siebzehntes Kapitel: Der Unterschied des Christentums vom Heidentum, S. 252)
[9] Zu dieser Idee, wie sie während der Russischen Revolution ausgedrückt wurde, siehe Ch. Knight Past, future and the problem of communication in the work of V V Khlebnikov (unpublished M Phil thesis, University of Sussex, 1976).
Die Bewegung der Empörten in Spanien ist reich an Lehren. Sie bringt die zunehmende Kampfbereitschaft der Ausgebeuteten gegenüber der unaufhörlichen Verschlechterung der Lebensbedingungen und das Voranschreiten des Nachdenkens über « wie kann man kämpfen, wie kann man sich gemeinsam gegen die Wirtschaftskrise und die Angriffe des Kapitals wehren ? » zum Vorschein. Diese Bewegung hat auch in anderen Ländern Europas Wurzeln geschlagen, insbesondere in Griechenland, aber auch in anderen Teilen der Welt, bis hin nach Israel und Chile.
Und die letzten Ereignisse Ende Juli haben die Tiefe dieser gesellschaftlichen Unzufriedenheit und die Reifung des Arbeiterbewusstseins bestätigt. Während die internationalen Medien die Demonstrationen in Madrid vom Sommer dieses Jahres weitgehend ausgeblendet und stattdessen immer wieder berichtet haben, dass die Zeltlager abgebrochen werden und die Bewegung jetzt absterbe, haben die Mitglieder der IKS vor Ort dagegen feststellen können, dass Zehntausende Empörte, die sich auf den Straßen sammelten, von dem Willen beseelt waren, den Kampf fortzusetzen, weil sie wissen, dass die Krise noch viel härter zuschlagen und der Kampf notwendigerweise wieder aufflammen wird. Aber vor allem die Qualität der Diskussion über das wahre Wesen der bürgerlichen Demokratie, die Falle des Reformismus, die Sabotage der Bewegung durch Democracia Real Ya » (DRY), die Wichtigkeit der Debatte in den Versammlungen… haben unsere Mitglieder geradezu enthusiastisch werden lassen. Sie haben einen Bericht über ihre Intervention für die Mitglieder unserer Organisation angefertigt, um darüber zu informieren, was sie gesehen und erlebt hatten. Wir veröffentlichen diesen Bericht im Anschluss nahezu ungekürzt ; dies ist auch der Grund dafür, dass der Stil manchmal ein wenig telegraphisch und notizenartig ist.
Freitag 22. Juli : Die ersten Demonstrationsumzüge kommen aus den Arbeitervierteln der Vororte Madrids im Zentrum an. Zahlreichen Zeugenaussagen zufolge haben diese Umzüge wiederum größere Versammlungen ausgelöst, die Leute waren sehr froh, auf andere zu treffen und sich zusammenzuschließen ; man umarmte sich, sang und diskutierte lebhaft.
Samstag, 23. Juli : Der Platz Puerta del Sol war voll, auch die Nebenstraßen. Vielleicht waren ca. 10.000 Leute zusammengekommen ; viel mehr als die Medien geschätzt hatten, die von Hunderten von Empörten sprachen. Wir waren anwesend und haben die Beilage unserer Presse verteilt (1 [9]). Es gab eine große Aufnahmebereitschaft. Um uns bildeten sich kleine Trauben von Menschen. Es fiel sofort ins Auge, wie groß die Lust ist zu reden, dass die Leute sich spontan äußern wollen, gegen den Kapitalismus Stellung beziehen und für die Versammlungen als dem wichtigsten Werkzeug eintreten. Die Vollversammlung fing nach 22.00 h an, sie befasste sich ausschließlich mit der Berichterstattung über die Märsche. Es gab sehr ergreifende Momente, denn die Leute waren sehr enthusiastisch, fast alle sprachen von Revolution, prangerten das System radikal an (um auf die Wurzeln der Dinge zu sprechen zu kommen, wie ein Redner meinte).
Sonntag, 24. Juli : Morgens fanden im Retiro-Park Themenversammlungen statt : internationale Koordination, nationale Koordination, politische Aktion, Kommunikationsmittel… In der internationalen Koordination waren Leute aus Italien, Griechenland, Tunesien, Frankreich und auch junge spanische Migranten erschienen. Man schlug vor, zu einem europäischen Aktionstag der Empörten aufzurufen, aber es gab auch zwei Wortmeldungen, die gleich von einem „Weltaktionstag“ sprachen, in dem man sich „gegen die Kürzungen der Sozialbudgets weltweit“ richten sollte. Einer von uns hat sich zu Wort gemeldet und den gemeinsamen Nenner all der Probleme, vor denen wir stehen, hervorgehoben. Ein anderer stellte die Initiative vor, die in Valencia als ein „internationalistischer Tag der Debatte über die 15M“ ins Auge gefasst wurde, zu dem Kollektive nicht nur aus Spanien, sondern aus anderen Ländern eingeladen werden sollen. (2 [10]). Diese Initiative wurde explizit von dem Moderator der Versammlung unterstützt.
Jedoch wurde in der darauf folgenden Vollversammlung manipuliert. Sie wurde ausschließlich ausgerichtet auf die Berichte jeder „Themenversammlung“, womit freie Wortmeldungen, die sich nicht auf diese Themen beschränkten, verhindert wurden. Zudem waren die Berichte der Berichterstatter viel zu lang. Der Bericht über das Komitee der internationalen Koordination war an den Schluss gesetzt worden, als schon viele Teilnehmer gegangen waren. Der Berichterstatter, den wir zuvor nie im Komitee gesehen hatten, sagte kein Wort von dem Vorschlag eines internationalen Tages. Es war uns nicht möglich dort das Wort zu ergreifen, um dies zu korrigieren.
Nachmittags fand die Demonstration statt, an der sich ca. 100.000 Personen beteiligten. Die Stimmung war sehr lebhaft; wir haben viele Zeitungen verkaufen können und dabei viel diskutiert. Einmal sperrte die Polizei den Paseo de la Castellana ab. Aber die Demonstranten ließen sich in keine Auseinandersetzung mit dieser locken, sondern umzingelten sie stattdessen, indem sie sich in verschiedene Straßen aufteilten und nachher wieder zusammenkamen. Das Polizeiaufgebot erschien als völlig lächerlich, da es von allen Seiten von Demonstranten umzingelt wurde, ohne die Möglichkeit zu reagieren. (3 [11]).
Abends gab es eine große “Themenversammlung” zum Thema “Staat und Wirtschaft”. Ein Katalane, der die Ideologie von ATTAC im Brustton der Überzeugung verbreitete, fiel durch einen sehr langen Redebeitrag von einer halben Stunde auf, in dem er die Notwendigkeit eines „Systems von Kooperativen“ betonte, dass der Staat unter dem Gewicht der „Märkte verschwinden“ werde und dass dabei auch die Nationen „ausradiert“ würden. Er stellte den Staat und die Nation als die heutigen „revolutionären Alternativen“ gegenüber dem Kapitalismus dar. Revolutionär ist, den Staat und die Nation zu verteidigen. Eine Reihe anderer Wortmeldungen, darunter auch wir, haben diese Auffassung heftig verworfen.
Montag, 25. Juli:
Es fand ein Diskussionsforum über verschiedene Themen statt : Ökologie, Feminismus, Politik, Genossenschaften… Wir hatten geplant, einen Verkaufsstand für unsere Presse mitzubringen und an einem Forum teilzunehmen. Wir haben das Forum mit dem Thema „Für oder gegen eine neue Verfassung“ gewählt.
Eine Frau hat eine lange Einleitung gemacht. Sie sprach von der Entwicklung der „repräsentativen“ Demokratie zu einer „partizipierenden“ Demokratie, in welcher die Vollversammlungen die Speerspitze wären. Überall sollte es Vollversammlungen zu allen möglichen Themen geben: um die Kandidaten der politischen Parteien zu wählen, die Gewerkschaftsführer zu wählen, die Gemeindehaushalte… Ihr zufolge würde dies „eine neue Ordnung, die aus Versammlungen besteht, hervorbringen“. All das wurde als ein neuer Beitrag zur „politischen Wissenschaft“ bezeichnet (sic).
Die Versammlung hat sich durch diese “Entdeckung” nicht beeindrucken lassen. Ein junger Mann sagte freimütig, dass das Problem der Kapitalismus sei und dass es unmöglich wäre diesen zu „reformieren“ oder zu „demokratisieren“. Ein anderer sprach von Revolution und forderte dazu auf, auf die Lehren Lenins hinsichtlich des Aufbaus einer revolutionären Partei zurückzukommen. Dies erzürnte einen Anarchisten, der zwar die Notwendigkeit der Zerstörung des Staates und den Aufbau der Macht der Versammlungen (oder der Räte, wie er meinte) betonte, aber auch meinte, Lenin habe eine Partei ohne Arbeiter, nur mit Intellektuellen bilden wollen. In einer anderen Wortmeldung wurde auch hervorgehoben, dass eine revolutionäre Partei nötig sei, die sich aber nicht am Wahlspektakel beteiligen dürfe, sondern „nur das Gesetz der Versammlungen“ akzeptieren dürfe.
Andere Wortmeldungen verwarfen stark den Vorschlag einer neuen Verfassung. „1978 haben sie uns getäuscht. Warum sollten wir heute den gleichen Fehler begehen?“ Ein Jugendlicher aus Ciudad Real sprach von „Doppelmacht“. Die Macht der Versammlungen und die Macht dessen, „was man Demokratie nennt“. Er fügte hinzu, wir bräuchten eine „Strategie um zum Sieg der ersten beizutragen“. Eine junge Frau meinte: „Man versucht Versammlungen und Verfassung unter einen Hut zu bringen, aber das ist unmöglich. Die Versammlungen haben nichts mit der Verfassung zu tun, sie stehen in totalem Gegensatz zu ihnen.“ Manchmal gab es Redebeiträge zur Verteidigung einer neuen Verfassung, aber ein junger Mann, der anfangs einen langen Text zugunsten eines „Projektes einer neuen Verfassung, das von einer Gruppe aus Granada verfasst worden war“, vorlas, revidierte seinen früheren Standpunkt in einem zweien Redebeitrag und meinte, dass er nur der Sprecher der Gruppe gewesen sei, dass er selbst die „Macht der Versammlungen“ bevorzuge. Den Wortmeldungen zur Unmöglichkeit der Reformierung des Kapitalismus spendete man Beifall; auch als betont wurde, dass man nicht von Demokratie im Allgemeinen sprechen sollte, sondern vom Staat. Einer unserer Genossen hatte sich zu Wort gemeldet und präzisiert, dass der Staat das Organ der herrschenden Klasse ist und dessen Unterdrückungsapparat und Bürokratie darstellt, mit seinen Truppen, der Polizei, den Gerichten und Gefängnissen. All dies werde durch seine demokratische Fassade übertüncht: „Wir, die Ausgebeuteten, wir verfügen nur über das Instrument der Versammlungen, um uns zusammenzuschließen, um kollektiv zu denken und gemeinsam zu entscheiden. Die Macht soll in die Hände der Versammlungen gelegt werden, auch wenn es ein langer Kampf sein wird. Dies ist keine Utopie, wenn man diesen Kampf langfristig sieht.“ Mehrere Personen haben diese Wortmeldung begrüßt.
Als er spürte, dass sich der Wind drehte, hat der Katalane, der am Vorabend noch anders argumentiert hatte, eine Kehrtwendung gemacht. Jetzt sprach er sich für „die Macht in den Händen der Versammlungen“ und für eine „Weltregierung“ aus, und dass „wir in diesem Rahmen über genügend Kraft verfügen würden, um eine neue Verfassung zu verabschieden“ (sic). Dies soll ein „marxistischer Diskurs“ sein? Vielleicht, aber wenn dann der „Tendenz Groucho“ (4)!
Nachmittags sind wir nach Móstoles gefahren, einer industrieller Vorort von Madrid, um zur Koordination der Versammlungen des Südens zu gehen, die zur nationalen Demonstration vom 19. Juni aufgerufen hatte. Sie trafen sich in einem Raum eines sehr kämpferischen Kollektivs, das sich am 15M beteiligt und dabei die Interessen der Arbeiterklasse vertreten hatte. Ein Jugendlicher, der daran aktiv mitgewirkt hatte, äußerte gegenüber uns seine große Freude über die Bewegung des 15M und schilderte uns seine Einschätzung: er verwarf die bürgerliche Demokratie, die Manöver der Bewegung DRY, zu der er einige konkrete Beispiele lieferte, er trat für eine revolutionäre Perspektive ein, das Wiedererstarken des Proletariats, warnte vor der Falle des Immediatismus und betonte die Notwendigkeit einer Bewusstseinsentwicklung… Der Punkt, bei dem er mit uns nicht einverstanden war, betraf die Einschätzung Spaniens 1936, welche er als eine Revolution der Selbstverwaltung sah. Er war sehr froh, uns getroffen zu haben. Wir beschlossen, der Gruppe unsere Presse zu schicken, und er wird dem Kollektiv den Vorschlag zur Beteiligung an dem Treffen im Herbst in Valencia machen.
Diese 3 Tage waren eine sehr intensive Erfahrung, sie haben uns eine sehr tiefgreifende Bewegung vor Augen geführt.
Es scheint weiterhin eine sehr große Unzufriedenheit vorzuherrschen, aber auch andere Aspekte sind sehr wichtig: eine Lust zu diskutieren und Klärung herbeizuführen, ein Drängen, zusammen zu sein, eine ständige Suche nach der Aufnahme von Verbindungen…
Von Anfang an haben DRY und ihre Satelliten alles unternommen, um die Bewegung durch eine Reihe von „konkreten Forderungen“ zu fesseln – der berühmte Katalog demokratischer Forderungen. Dagegen regt sich stummer Widerstand unter einer großen Zahl von Leuten und heftiger Widerstand seitens einer kleinen Minderheit.
Seitdem sind zwei Monate vergangen und die « Zusammenstöße zwischen den Klassen » stehen immer noch nicht auf der Tagesordnung5 [12].. Bedeutet dies eine Schwäche? Stellt dies ein Zeichen der Erschöpfung der Bewegung dar? Wenn wir zurück auf die Gründe der Erschöpfung der Klassenbewegung während der letzten Jahrzehnte blicken, kann man sehen, dass einer der Gründe eine physische Niederlage war. Aber die häufigste Niederlage war die ideologische Niederlage. In eine Sackgasse gelockt, wurde die Klasse in einen Kampf getrieben, der zu ihrer Auflösung führte, was wiederum eine tiefgreifende Demoralisierung bewirkte. Aber das Versiegen der Bewegung im Herbst 2010 in Frankreich war genauer gesehen auf keine dieser beiden Ursachen zurückzuführen. Dies ist hauptsächlich auf die Feststellung zurückzuführen, dass die Regierung trotz der massiven Kämpfe nicht nachgab. Die Arbeiterklasse hatte große Schwierigkeiten auch nur ansatzweise die Vollversammlungen zu errichten, in denen man den Gewerkschaften entgegentreten konnte. In Spanien sieht man wiederum etwas „Neues“, das sicherlich einige politisierte Minderheiten verunsichert, aber auch die Herrschenden verwirrt: die Bewegung ist frontalen Zusammenstößen ausgewichen und ist in ein Nachdenken eingetreten, in dem Verbindungen, eine Solidarität aufgebaut werden… Man könnte meinen, die Bewegung zieht es vor, die unvermeidbaren Klassenzusammenstöße vorzubereiten, indem sie „Kräfte sammelt“.
Einerseits entwickelt sich ein gewisses Bewusstsein für das Ausmaß der Aufgaben und was unmittelbar auf dem Spiel steht. (6 [13]). Aber man ist sich auch in einem gewissen Maße der Schwäche der Arbeiterklasse bewusst hinsichtlich ihres mangelnden Selbstvertrauens, der Notwendigkeit ihre Klassenidentität wiederherzustellen, kurzum, hinsichtlich der mangelnden Reife, um eine Antwort auf die eingeleiteten schwerwiegenden Angriffe und Verschlechterungen unserer Lebensbedingungen zu geben.
In diesem Kontext ist diese « Ansammlung der Kräfte » auch ein Ausdruck einer gewissen Hellsichtigkeit. Es handelt sich sicherlich um eine notwendige und unvermeidbare Phase in einer Situation, in der das Potential für gewaltige Zusammenstöße zwischen den Klassen heranwächst. Die Bewegung des 15M greift und entfaltet eine Reihe von Merkmalen auf, die schon in einem embryonalen Zustand bei der Bewegung gegen den CPE 2006 vorhanden waren: Vollversammlungen, das Erscheinen einer neuen Generation, eine erhöhte Sensibilität gegenüber ethischen und subjektiven Fragen, der Wille, miteinander Verbindung aufzunehmen, einen bewussten Kampf zu führen…
Wenn man mit etwas mehr Abstand auf die Tage in Madrid schaut, fallen einem eine Reihe von Tatsachen ins Auge:
- man spricht ganz natürlich von „Revolution“ , weil das Problem, vor dem man steht, „das System“ ist,
- „alle Macht den Versammlungen“ – bleibt nicht mehr eine Forderung einer kleinen Minderheit, sondern wird immer mehr verbreitet und sie gewinnt an Popularität (7 [14]).
- Der Drang hin zur „internationalen Ausdehnung“ der Versammlungen ist spürbar, wie der immer populärer werdende Vorschlag eines „weltweiten Tages der Versammlungen“ beweist.
Es stimmt, dass all das inmitten einer gewaltigen Verwirrung stattfindet. Alles mögliche Gebräu wird in die Flasche „Revolution“ gesteckt: Selbstverwaltung, Genossenschaften, Verstaatlichung der Banken… Hinsichtlich der Frage der Internationalisierung ist ein Gespräch aufschlussreich, das wir mit einem Jugendlichen in Valencia führten. Er warf uns vor, DRY zu hart kritisiert zu haben. Er hielt uns den Vorschlag von DRY eines „europäischen Aktionstages entgegen, der zu einem weltweiten Aktionstag“ werden könnte. Aber gleichzeitig fügte er hinzu: „Worin ich ein Problem sehe, ist die inhaltliche Ausgestaltung dieser Tages. Wenn das Ziel die Demokratie ist, warum gibt es eigentlich kein Land mit einer wirklichen Demokratie?“
Das Proletariat leidet unter dem Gewicht der herrschenden Ideologie. In den Vollversammlungen sind DRY und andere bürgerliche Kräfte vorhanden (8 [15]), die von den Politikern und Medien Rückendeckung erhalten. In der Arbeiterklasse wiederum regen sich kommunistische Minderheiten, der zahlenmäßiger Umfang und Einfluss immer noch schwach sind. Könnte man unter diesen Bedingungen etwas anderes erwarten als eine Debatte inmitten einer großen Verwirrung, um eine Reihe von unterschiedlichsten Theorien und den unmöglichsten Ideen und Vorschlägen….? Das Bewusstsein muss sich seinen Weg bahnen inmitten dieser sehr chaotischen und schwindelerregenden Situation.
In den Versammlungen sehen wir, dass DRY – der Fangarm des Staates in deren Reihen – auf einen schweigenden, stummen Widerstand und eine immer aktiver werdende Minderheit stößt. (9 [16]). Man muss die beiden unterscheiden : die erste Gruppe, die wahrscheinlich größer ist als man denkt, verhält sich passiv gegenüber den Vorschlägen von DRY, man lässt sie walten, wagt nicht, ihnen die Zügel aus der Hand zu reißen, aber es gibt einen diffusen Widerstand gegen deren Vorschläge.
Dagegen führt eine Minderheit einen Kampf gegen die demokratische, bürgerorientierte und reformistische Politik; sie versucht dieser eine auf die Interessen der Arbeiterklasse sich stützende Politik entgegenzusetzen, um sich auf eine revolutionäre Perspektive des Kampfes gegen den Kapitalismus auszurichten und die Macht der Vollversammlungen.
Dieser Minderheit neigt dazu, sich in „Kollektiven“ zu organisieren, die überall entstehen. Man bemüht sich, mehr nachzudenken, insbesondere – soweit wir wissen – in Valencia, Alicante oder Madrid, auch wenn diese „Kollektive“ im Augenblick noch sehr zerstreut und ohne größeren Kontakt untereinander arbeiten und es ihnen noch nicht gelungen ist, den lokalen Rahmen zu sprengen.
IKS, 1. August 2011
1 [17]) Die Beilage stützt sich auf den Artikel in Weltrevolution Nr. 167 – auf unserer Webseite steht er ungekürzt zur Verfügung.
2 [18]) In Valencia gibt es eine « Versammlung der Gleichen », in der 5 Kollektive mit einer deutlichen anarchistischen Zusammensetzung zusammenwirken. Ein Kollektiv von Jugendlichen hat einen Debattentag zum15M für den Herbst vorgeschlagen. Wir haben diesen Vorschlag unterstützt und die Möglichkeit erwogen, dabei auch Leute aus anderen Ländern einzuladen, dies traf auf Zustimmung. Es handelt sich aus unserer Sicht um eine wichtige Initiative.
3 [19]) Die Sensibilität gegenüber der Repression und dem Willen, sich dieser entgegenzusetzen, ist weiterhin stark in der Bewegung vorhanden. Am 27. Juli, als vor dem Parlament demonstriert wurde, hat die Polizei hart zugeschlagen und die Demonstranten gewaltsam angegegriffen. Nachmittags gab es eine Spontandemonstration mit mehr als 2000 Teilnehmern im Stadtzentrum. Der Slogan dieser Demo lautete : « Wenn ihr jemanden von uns angreift, greift ihr uns alle an ! »
4 [20]) Groucho Marx von den Marx Brothers sagte : « Dies sind meine Prinzipien, wenn sie euch nicht gefallen, habe ich noch andere in meiner Tasche »
5 [21]) Wie wir in dem Artikel zur Bewegung in Spanien aus Weltrevolution Nr. 167 erklärten, standen die Zusammenstöße zwischen den Klassen von Anfang an auf der Tagesordnung, jedoch nicht sehr explizit oder direkt auf politischer oder ökonomischer Ebene, sondern eher « subjektiv » : Entwicklung des Bewusstseins, der Solidarität, Aufbau eines kollektiven Gewebes der Aktionen.
6 [22]) Gewaltige Angriffe stehen für diesen Herbst an : insbesondere im Gesundheitswesen, im Bildungsbereich – mit vielen Entlassungen.
7 [23]) In der Alcalá-Straße, ganz in der Nähe des Cortes (des Parlementes) forderte eine Graffiti : “Die ganze Macht den Versammlungen ». Der Versuch, diese Botschaft zu verbreiten, hat die « Respektkommission » - eine Art innere Polizei der DRY – auf den Plan gerufen, sie ist dagegen eingeschritten, weil sie solch eine Forderung zu « gewalttätig » fand. Die drei Jugendlichen, die diese Graffiti anbringen wollten, wurden von ihnen umzingelt, aber eine Gruppe von Demonstranten hat wiederum die Kommission umzingelt und sie aufgefordert, die Jugendlichen ihre Meinung äußern zu lassen.
8 [24]) Neben DRY gibt es IU (Vereinigte Linke- ein von den Stalinisten gebildetes Bündnis) UPYD (eine liberale Zentrumspartei), MPPC (eine republikanische Bewegung) sowie mehrere Gruppen der Extremen Linken, darunter Trotzkisten.
9 [25]) In Valencia sind Graffitis aufgetaucht, « DRY sind nicht unsere Repräsentanten », was eine Verwerfung des sehr weit verbreiteten Spruches gegen die Politiker ist « Sie repräsentieren uns nicht »
Nach mehr als 6 Monaten Kämpfen feiern die libyschen Rebellen ihren Sieg über den einst mächtigen Gaddafi, der 42 Jahre lang die westlichen Demokratien missachtete und mit deren Führern Katz und Maus spielte. Er war auch ein Mitglied der Sozialistischen Internationale. Die Demokratien hatten in fetten und mageren Jahren versucht, sich beim Führer Libyens einzuschmeicheln, aber von dem Zeitpunkt an, als die Volkserhebung sich gegen die Jamahiriya des libyschen Diktators begann und in einen grausamen Machtkampf zwischen verschiedenen Flügeln der Herrschenden umschlug, haben sie den Nationalen Übergangsrat aktiv unterstützt. Nach mehr als 6 Monaten Kämpfen feiern die libyschen Rebellen ihren Sieg über den einst mächtigen Gaddafi, der 42 Jahre lang die westlichen Demokratien missachtete und mit deren Führern Katz und Maus spielte. Er war auch ein Mitglied der Sozialistischen Internationale. Die Demokratien hatten in fetten und mageren Jahren versucht, sich beim Führer Libyens einzuschmeicheln, aber von dem Zeitpunkt an, als die Volkserhebung sich gegen die Jamahiriya des libyschen Diktators begann und in einen grausamen Machtkampf zwischen verschiedenen Flügeln der Herrschenden umschlug, haben sie den Nationalen Übergangsrat aktiv unterstützt.
Die von Frankreich und Großbritannien angeführten westlichen Mächte haben all die Maßnahmen der “Rebellen” orchestriert. Wie viele Tote, Verwundete, für immer Verstümmelte in diesem kapitalistischen Krieg wurden von den unterwürfigen Medien als die Fortsetzung des „arabischen Frühlings“ dargestellt. Monatelang gab es keine eindeutigen Angaben über die Opferzahlen; aber um die NATO-Intervention zu rechtfertigen, haben die Medien uns zahlreiche Details über die Massaker vermittelt, die von den Gaddafi-treuen Kräften verübt wurden. Seit dem Ersten Golfkrieg hat man versucht, die scheußliche Lüge zu verbreiten, man habe „zielgenaue Angriffe“ geflogen, die nur Bösewichte und keine Zivilisten treffen würden, obgleich es Tausende von Gegenbeispielen gibt.
Ihren eigenen Schätzungen zufolge hat die NATO seit dem 31. März 20.000 Luftangriffe und 8000 “humanitäre” Schläge durchgeführt. Und obgleich die NATO Städte bombardierte, um „den Weg für die Rebellen zu ebnen“, wurden offiziell nur neun Tote registriert. Aber ungeachtet dieses Black-outs wurden ganze Dörfer und Stadtviertel in den verschiedenen Kämpfen beschossen. Dies geschah in Tripolis und anderen „befreiten“ Städten, die verantwortlich dafür gehalten wurden, dass sich Gaddafi-treue Truppen oder dieser selbst in diesen aufgehalten habe. Dies ähnelt stark dem Vorgehen der Truppen Assads, die die syrische Bevölkerung nicht weniger brutal angreifen und ein Massaker nach dem anderen verüben. Hinzu kommt, dass in Tripolis ein humanitäres Desaster stattfindet: dort gibt es kein Wasser, keinen Strom, keine Lebensmittel, während gleichzeitig Leichen auf den Straßen verwesen. Das ist das Bild des „befreiten“ Libyens.
Die NATO Kräfte haben sich nicht auf Bombardierungen beschränkt, die den Rebellen “den Rücken freihalten” sollten. Sie haben auch Bodentruppen entsandt: 500 britische und Hunderte französische Spezialkräfte. Und die gegen Gaddafi gerichteten Streitkräfte wurden ebenso ausgerüstet. Frankreich hat zugegeben, „Selbstverteidigungswaffen“ wie Raketenwerfer, Sturmgewehre, Maschinengewehre, Antipanzergeschosse geliefert zu haben. Dabei sind nicht einmal die Leute der CIA mit eingerechnet, obwohl die USA sich angeblich aus der direkten militärischen Intervention zurückgezogen haben.
In diesem Krieg, wo Lügen, allgemeine Irreführung, menschenverachtendes Verhalten und Verachtung gegenüber der Zivilbevölkerung allgegenwärtig waren, werden die mörderische Heuchelei der Stammesführer in Libyen und der Groß- und Mittelmächte ein Merkmal der Ordnung nach Gaddafis Ablösung sein. Natürlich werden wenige den Sturz dieses verhassten und blutigen Diktators bedauern, der monatelang die Bevölkerung dazu aufrief, ihr Leben zu opfern, während er sie gleichzeitig als Schutzschild benutzte. Aber trotz des Diskurses der Opposition und deren internationalen Unterstützern gab es heftige Zusammenstöße unter diesen; diese werden nun immer deutlicher an den Tag treten. Nach dem Irak, dem ehemaligen Jugoslawien, Afghanistan, Elfenbeinküste usw. wird die „internationale Hilfe für die Unterdrückten“ nunmehr als der „Ausweg“ aus dem grenzenlosen Chaos dargestellt. Niemals zuvor in der Geschichte sind so viele Länder und Regionen zur ständigen Beute in Kriegen, Terrorangriffen und menschlicher und materieller Zerstörung geworden. Libyen hat sich gerade in diese Reihe von Ländern eingereiht.
Jetzt wird uns erzählt, dass die „Freiheitskämpfer“ des Nationalen Übergangsrates auf ein „stabiles, demokratisches und die Menschenrechte respektierendes“ Regime hinarbeiten werden. Dabei würden sie unterstützt von der „internationalen Gemeinschaft“, die bereit ist, libysche Vermögen freizugeben, um das neue Regime finanziell zu unterstützen. Die Koalitionsregierung (die Wahlen in 20 Monaten ins Auge fasst) ist ein Mischmasch aus Stammesführern, militanten Islamisten, und früheren berühmten Mitgliedern des Gaddafi Regimes. Der Führer des Militärrates des Übergangsrates ist selbst ein früherer Jihadist, der Al-Qaida nahesteht und eine undurchsichtige Vergangenheit in Afghanistan hat. Der Präsident des Übergangsrates war bis vor kurzem der Justizminister unter dem verhassten Gaddafi-Regime, der gleiche Mann, der die bulgarischen Krankenschwestern zu Tode verurteilte. Der Premierminister war in seiner Kindheit schon ein Freund des gestürzten Diktators…
Dieser kurze Blick auf den Nationalen Übergangsrat wirft schon ein entsprechendes Licht auf die Vergangenheit seiner Mitglieder. Younes, ein Militärchef und Führer eines mächtigen Stammes, wurde Ende Juli unter sehr mysteriösen Umständen getötet. Diese Bestandteile, zu denen seit langem bestehende Stammesfehden hinzukommen, welche zur Zeit Gaddafis von diesem in Schach gehalten wurden, werden dafür sorgen, dass es zu einem jeder gegen jeden kommen wird. Und nicht zu vergessen, das Drängen der europäischen, amerikanischen und arabischen Beutejäger (wie Qatar, Jordanien, Algerien usw.), um ihren Anteil am ölproduzierenden Land zu erhaschen, wird die Instabilität noch erhöhen.
Frankreich, dessen Staatschef überall herumstolziert, nimmt die Pose eines „Retters des libyschen Volkes“ ein. Zusammen mit Großbritannien hat Frankreich am 1. September in Paris eine “internationale Unterstützerkonferenz des neuen Libyens“ organisiert. Ein hübsches, aber enttäuschendes Spektakel: hinter der Fassade der Einheit unter den 60 Delegationen, die sich als die „Freunde Libyens“ darstellten, schimmert eine unsichere, stürmische Zukunft durch. Es geht vor allem um das libysche Öl. Paris und London, die sich auf ihre aktive Unterstützung der Rebellion berufen, verlangen Vorzugsbedingungen von der neuen Regierung. Die USA pochen auf ähnliche Vergünstigungen, zudem sind schon zwei US-Ölfirmen vor Ort aktiv. Sarkozy scheint für den französischen Staat einen Anteil von 35% am libyschen Öl ausgehandelt zu haben, als Belohnung für seine guten und loyalen Dienste gegenüber dem Übergangsrat.
Aber Länder wie Italien, Deutschland und Russland stehen ebenso Schlange. Ob vor oder während des Konfliktes diese Länder haben eine mehr oder weniger offene Opposition gegenüber der militärischen Intervention betrieben. Italien, das bisher einen 21%igen Anteil an Exporten nach Libyen hielt (Frankreich im Vergleich dazu nur 4%), und das besorgt ist über eine Verschlechterung der Öllieferbedingungen, versuchte ständig die militärische Intervention (‚aus humanitären Gründen‘) vor und nach der UN-Resolution 1973 vom 31. März zu blockieren, obgleich es schlussendlich zur Beteiligung gezwungen wurde, anstatt zu riskieren, alles zu verlieren. Wie der Sprecher des Übergangsrates auf der Konferenz meinte: “Die libysche Bevölkerung weiß, wer ihren Freiheitskampf unterstützt hat und wer nicht”. Die Botschaft an Russland und China ist klar, aber das Spiel ist noch nicht vorbei.
Libyen ist nicht nur wichtig wegen seines Öls sondern auch wegen der strategischen Kontrolle der Region. Die NATO-Mission soll Ende September auslaufen, und es ist klar, dass die Ablösung Gaddafis beschleunigt werden muss (oder seine Gefangennahme, ob tot oder lebendig – es gibt schon ein hohes Kopfgeld auf ihn), so dass die militärischen Kräfte der Länder, die sich an der Operation beteiligten, einen Vorwand haben, um im Land zu bleiben – dann wird man wieder hören, es „geht um die Stabilisierung“ des Landes. Ein UN-Dokument fasst dann auch die Entsendung von militärischen und Polizeikräften „zur Entwaffnung der Bevölkerung“ und „zum Aufbau eines Klimas des Vertrauens“ ins Auge. Es ist klar, dass die UN-Mitgliedsländer diesen Bissen nicht loslassen werden: „Das Mandat des Schutzes von Zivilisten, das der Sicherheitsrat erteilt hat und von den NATO-Kräften umgesetzt wird, wird mit dem Sturz der Gaddafi-Regierung nicht beendet sein“. Während der Kampf jeder gegen jeden zwischen den Banditen des Übergangsrates ziemlich sicher ist, wird dies auch die Entwicklung unter den Großmächten sein, die weiter eingreifen und die Spannungen noch mehr schüren werden.
Während der letzten 40 Jahre, insbesondere während der letzten 10 Jahre, wurde klar, was dies bedeutet: Greift nach dem, was ihr ergreifen könnt, treibt die Divergenzen unter den verschiedenen Flügeln auf die Spitze, von denen es in einem Land mit vielen Stämmen ganz viele gibt. Aber die alten imperialistischen Mächte wie Frankreich und Großbritannien und die USA haben eine lange Erfahrung beim Säen von Zwiespalt und der Strategie des teile und herrsche. Nur hier wird man nicht mehr regieren können, sondern es wird ein explosives Gemisch des jeder gegen jeden geben.
Die permanente Instabilität, die in Libyen erkennbar wird, ist das jüngste Beispiel des Wahnsinns des kapitalistischen Systems… Wilma, 3.9.2011 „Mehrere Millionen Ausländer aus Afrika, den Philippinen, Asien und Europa haben bis zum Ausbruch des Kriegs in Libyen gearbeitet. Als Hausangestellte, Müllarbeiter, Krankenschwestern, Ärzte, Techniker und Ingenieure bildeten sie das Rückgrat der libyschen Wirtschaft. Viele sind vor den NATO Luftangriffen und den Kämpfen zwischen dem Regime und den Rebellen geflohen. Anderen halten sich versteckt. Ressentiments gegen die ausländischen Migranten sind groß und Rassismus ist weit verbreitet. Fast jeder Libyer, mit dem man spricht, ist der Meinung, die Ausländer nähmen ihnen die Jobs weg. Schwarze werden in aller Öffentlichkeit als Affen beschimpft.“ (TAZ-Korrespondentin in Libyen, TAZ 9.11.2011)
Dass die Geheimdienste mehrerer Länder – allen voran die CIA und der britische MI5 - ihre Zusammenarbeit so weit trieben, „zu befragende Personen“ nach Libyen zum Foltern zu verschleppen, überrascht nicht – siehe dazu unsere Webseite auf englisch.
Der nachfolgende Artikel wurde wenige Wochen nach den Anschlägen von New York im September 2001 verfasst. Wir veröffentlichen ihn hier erneut als einen historischen Beitrag und Ersteinschätzung der Ereignisse damals.
Vom ersten Augenblick an hat die Propaganda der amerikanischen Bourgeoisie den schrecklichen terroristischen Angriff gegen das World Trade Center in New York am 11.September mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7.Dezember 1941 verglichen. Dieser Vergleich hat ein beträchtliches psychologisches, historisches und politisches Gewicht, denn Pearl Harbor markierte den direkten Eintritt des amerikanischen Imperialismus in den Zweiten Weltkrieg. Geht es nach der gegenwärtigen ideologischen Kampagne, die von der amerikanischen Bourgeoisie, insbesondere von ihren Massenmedien, präsentiert wird, sind die Parallelen einfach, offen und selbstverständlich.
1) In beiden Fällen seien die überrumpelten USA Opfer eines hinterhältigen Überraschungsangriffs gewesen. Im ersten Fall täuschte der japanische Imperialismus heimtückischerweise Verhandlungen mit Washington zur Vermeidung eines Krieges vor, um ohne jegliche Vorwarnung einen Angriff auszuhecken und zu verüben. Im aktuellen Fall seien die USA das Opfer fanatischer, islamistischer Fundamentalisten, die von der Offenheit und Freiheit der amerikanischen Gesellschaft profitierten, um eine Gräueltat von bisher nie gekannten Ausmaßes zu begehen, und deren Schlechtigkeit sie außerhalb der Grenzen einer zivilisierten Gesellschaft stelle.
2) In beiden Fällen waren die von dem Überraschungsangriff verursachten Verluste groß und provozierten Ausschreitungen in der Bevölkerung. Pearl Harbor erforderte 2.043 Todesopfer, zumeist amerikanisches Militärpersonal. In den Twin Towers war der Blutzoll noch höher: nahezu 3.000 unschuldige Zivilisten verloren ihr Leben.
3) In beiden Fällen schlugen die Angriffe auf ihre Täter zurück. Weit entfernt davon, die amerikanische Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen oder sie in den Defätismus und die passive Unterwerfung zu treiben, versetzten Pearl Harbor und die Twin Towers die Bevölkerung, einschließlich des Proletariats, in den größten nationalen Taumel und erlaubten somit die Mobilisierung der Bevölkerung hinter dem Staat und für einen sich lang hinziehenden imperialistischen Krieg.
4) Letztendlich behalte das Gute des demokratischen, amerikanischen Way of Life und seine Militärmacht die Oberhand über das Böse.
Wie alle ideologischen Mythen der Bourgeoisie ist dieses Märchen der beiden, 60 Jahre auseinander liegenden Tragödien, welche Teilwahrheiten auch immer ihm oberflächliche Glaubwürdigkeit verleihen, mit Halbwahrheiten, Lügen und zweckdienlichen Verzerrungen gespickt. Aber dies ist keine Überraschung. Die Politik der bürgerlichen Klasse fußt auf Lügen, Täuschung, Manipulationen und Manövern. Dies trifft besonders zu, wenn es um die schwierige Aufgabe geht, die Gesellschaft für den totalen Krieg moderner Zeiten zu mobilisieren. Die wesentlichen Elemente der ideologischen Kampagne der Bourgeoisie stehen in völligem Gegensatz sowohl zur historischen als auch zur aktuellen Wirklichkeit. Es gibt offenkundige Anzeichen dafür, dass die Bourgeoisie in keinen der beiden Fälle überrascht worden war, dass sie die massiven Todesraten in beiden Fällen für den Zweck politischer Ziele, für die Verwirklichung ihrer imperialistischen Kriegsziele und anderer weitreichender politischer Ziele, willkommen geheißen hat.
Die verschiedenen Merkmale des Krieges in der Aufstiegs- und Dekadenzperiode Da sowohl Pearl Harbor als auch das World Trade Center von der Bourgeoisie dazu benutzt wurden, die US-Bevölkerung auf den Krieg einzustimmen, ist es notwendig, kurz die politischen Aufgaben zu untersuchen, die sich der Bourgeoisie bei der Vorbereitung eines imperialistischen Krieges im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz stellten. In der Dekadenz hat der Krieg im Vergleich zum Krieg in jener Periode, als der Kapitalismus noch ein aufstrebendes, historisch fortschrittliches System gewesen war, unterschiedliche Merkmale angenommen. In der Aufstiegsperiode konnte der Krieg eine fortschrittliche Rolle annehmen in dem Sinne, dass er die Weiterentwicklung der Produktivkräfte ermöglicht hatte. In diesem Sinne können der amerikanische Bürgerkrieg, der der Zerstörung des anachronistischen Sklavensystems in den Südstaaten gedient und die Industrialisierung der USA in vollem Umfang ausgelöst hatte, und die verschiedenen nationalen Kriege in Europa, die in der Schaffung moderner, vereinigter Nationalstaaten in jedem Land mündeten, die ihrerseits den optimalen Rahmen für die Entfaltung des nationalen Kapitals schufen, als historisch fortschrittlich betrachtet werden. Im Allgemeinen beschränkten sich diese Kriege größtenteils auf das im Konflikt verwickelte Militärpersonal und hatten keine massenhafte Zerstörung der Produktionsmittel, der Infrastrukturen, der Bevölkerungen der einzelnen Krieg führenden Mächte zur Folge.
Der imperialistische Krieg in der kapitalistischen Dekadenz zeichnet sich durch völlig andere Züge aus. Während Nationalkriege in der Aufstiegsperiode die Basis für ein qualitatives Voranschreiten bei der Entwicklung der Produktivkräfte schufen, hat in der Dekadenz das kapitalistische System den Zenit seiner historischen Entwicklung längst überschritten, womit dieser fortschrittliche Gesichtspunkt verschwunden ist. Der Kapitalismus hat die Ausweitung des Weltmarkts beendet, d.h. sämtliche außerkapitalistischen Märkte, die die Ausdehnung des globalen Kapitalismus gefördert hatten, sind in das kapitalistische System integriert worden. Für die vielen nationalen Kapitalien gibt es nur eine Möglichkeit der weiteren Ausdehnung, und die geht auf Kosten ihrer Rivalen – indem sie von Territorien oder Märkten Besitz ergreifen, die von ihren Gegnern kontrolliert werden. Die Verstärkung der imperialistischen Rivalitäten führt zur Entwicklung von imperialistischen Bündnissen, die die Bühne des allgemeinen imperialistischen Krieges bereiten. Weit entfernt davon, sich auf eine Auseinandersetzung zwischen Berufsarmeen zu beschränken, erfordert der Krieg in der Dekadenz die totale Mobilisierung der Gesellschaft, was umgekehrt eine neue Form des Staates zum Aufstieg verhilft, den Staatskapitalismus. Dessen Funktion ist es, die totale Kontrolle über die Gesellschaft bis in ihren letzten Winkel auszuüben, um die Klassenkonfrontationen zu zügeln, die die Gesellschaft zum Zerbersten zu bringen drohen, und um gleichzeitig die Mobilisierung der Gesellschaft für einen modernen, totalen Krieg zu koordinieren.
Gleichgültig, wie erfolgreich sie dabei war, die Bevölkerung ideologisch auf den Krieg vorzubereiten – die Bourgeoisie der Dekadenz bemäntelt ihre imperialistischen Kriege stets mit dem Mythos des Opferseins und der Selbstverteidigung gegen Aggression und Tyrannei. Die Realität der modernen Kriegführung, mit ihrer massiven Zerstörung und ihren enormen Opferzahlen, mit all den Facetten der Barbarei, die auf die Menschheit losgelassen wird – all dies ist so entsetzlich, so grauenhaft, dass selbst ein ideologisch geschlagenes Proletariat nicht leichtherzig in das Gemetzel zieht. Die Bourgeoisie ist daher wesentlich auf die Manipulation der Realität angewiesen, um die Illusion zu erzeugen, dass sie Opfer einer Aggression sei, das keine andere Wahl habe, als zu seiner Selbstverteidigung zurückzuschlagen. So wird zur Rechtfertigung des Konflikts die Notwendigkeit, das Vater- oder Mutterland gegen etwaige Aggressoren oder ausländische Tyrannen zu verteidigen, herangezogen, und nicht etwa die wahren imperialistischen Motive, die den Kapitalismus zum Krieg bringen. Denn der Versuch, die Bevölkerung hinter der Parole „Auf zur Unterdrückung der Welt unter unserer Fuchtel und unter allen Umständen“ zu mobilisieren, ist zum Scheitern verurteilt. Die staatliche Kontrolle über die Massenmedien erleichtert mit all ihren Abarten der Propaganda und Lügen die Gehirnwäsche der Bevölkerung.
Die amerikanische Bourgeoisie ist in ihrer ganzen Geschichte, auch vor dem Beginn der kapitalistischen Dekadenz im frühen 20.Jahrhundert, stets ein Experte im Opfersein gewesen. So lautete zum Beispiel im Krieg gegen Mexiko 1845-48 die Parole „Erinnert euch an Alamo“. Dieser Schlachtruf verewigte das ‚Massaker‘ an 136 amerikanischen Rebellen 1836 in San Antonio, Texas, damals Teil Mexikos, durch die von General Santa Ana geführten Streitkräfte. Natürlich hinderte die Tatsache, dass die „blutrünstigen“ Mexikaner wiederholt ihr Entgegenkommen bei der Aufgabe anboten und Frauen und Kindern vor der letzten Schlacht die Evakuierung aus Fort Alamo gestatteten, die herrschende Klasse der USA nicht daran, die Verteidiger Alamos in den Heiligenschein des Märtyrertums zu rücken. Denn der Zwischenfall war gut geeignet, Unterstützung für einen Krieg zu mobilisieren, der in der US-amerikanischen Annexion eines Teils dessen, was heute den Südwesten der USA bildet, seinen Höhepunkt fand.
Ähnlich diente auch die mysteriöse Explosion an Bord des US-Schlachtschiffes Maine 1898 in Havanna als Voraussetzung für den spanisch-amerikanischen Krieg 1989 und rief die Parole „Erinnert euch an Maine“ ins Leben. In jüngerer Zeit (1964) wurde der angebliche Angriff auf zwei US-Kanonenboote außerhalb vietnamesischer Küstengewässer als Grundlage für die Golf von Tonking-Resolution benutzt, die vom amerikanischen Kongress im Sommer 1964 verabschiedet wurde und die, wenngleich sie keine formelle Kriegserklärung war, den legalen Rahmen für die amerikanische Intervention in Vietnam schuf. Ungeachtet der Tatsache, dass die Johnson-Administration binnen Stunden erfuhr, dass die berichteten „Angriffe“ auf die Maddox und die Turner Joy sich nie ereignet hatten, sondern die Folge eines Irrtums nervöser junger Radaroffiziere gewesen waren, wurde das Kriegsermächtigungsverfahren durch den Kongress gepeitscht, um einen legalen Anlass für einen Krieg zu schaffen, der sich bis zum Fall Saigons 1975 an die stalinistischen Streitkräfte hinziehen sollte.
Es ist offensichtlich, dass die Bourgeoisie den Angriff auf Pearl Harbor benutzte, um eine widerstrebende Bevölkerung hinter die Kriegsbemühungen zu sammeln, genauso wie die Bourgeoisie heute die Gräueltat des 11.Septembers dazu benutzt, Unterstützung für ein neues kriegerisches Unternehmen zu mobilisieren. Doch die Frage bleibt, ob die USA in jeder Beziehung „überrascht“ worden ist und inwieweit der Machiavellismus der US-Bourgeoisie, ob durch Provozierung oder durch ihre eigene Erlaubnis, in diese Angriffe verwickelt war, um einen politischen Nutzen aus dem daraus folgenden öffentlichen Zorn zu ziehen.
Der Machiavellismus der Bourgeoisie Allzu oft, wenn die IKS den Machiavellismus der Bourgeoisie enthüllt, beschuldigen unsere Kritiker uns, in eine verschwörerische Sichtweise der Geschichte abzugleiten. Jedoch ist ihr Unverständnis in diesem Zusammenhang nicht einfach ein Missverständnis unserer Analyse, sondern schlimmer noch: Sie fallen dem ideologischen Gewäsch der bürgerlichen Apologeten in den Medien und Akademien zum Opfer, deren Job es ist, diejenigen, die versuchen, die Strickmuster und Prozesse innerhalb des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens der Bourgeoisie zu ermitteln, als irrationale Verschwörungstheoretiker zu verunglimpfen. Doch ist es nicht einmal kontrovers zu behaupten, dass „Lügen, Terror, Zwang, Doppelspiel, Korruption, Komplotte und politische Attentate“ zum Rüstzeug der ausbeuterischen, herrschenden Klassen in der gesamten Geschichte gehören, ob im Altertum, im Feudalismus oder im modernen Kapitalismus. „Der Unterschied liegt darin, dass Patrizier und Aristokraten ‚Machiavellismus praktizierten, ohne es zu wissen‘, während die Bourgeoisie machiavellistisch ist und es auch weiß. Sie verwandelt den Machiavellismus in eine ‚ewige Wahrheit‘, weil dies ihre Art zu leben ist: Sie hält die Ausbeutung für immerwährend.“ („Warum die Bourgeoisie machiavellistisch ist“, International Review, Nr.31, S.10, 1982) In diesem Sinne ist das Lügen und die Manipulation - ein Mechanismus, der von allen vorhergehenden ausbeutenden Klassen bedient worden war - zum zentralen Merkmal der politischen Funktionsweise der Bourgeoisie geworden, die, indem sie unter den Bedingungen des Staatskapitalismus die gewaltigsten, ihr zur Verfügung stehenden Werkzeuge zur gesellschaftlichen Kontrolle verwenden kann, den Machiavellismus auf eine qualitativ höhere Stufe hebt.
Das Auftreten des Staatskapitalismus in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz - einer Staatsform, die die Macht in den Händen der Exekutive, besonders in jenen der permanenten Bürokratie, konzentriert und die dem Staat eine wachsende totalitäre Kontrolle aller Aspekte des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ermöglicht - hat der Bourgeoisie noch wirkungsvollere Mechanismen zur Durchführung ihrer machiavellistischen Schemata verschafft. „Bei der Organisierung ihres eigenen Überlebens, ihrer Selbstverteidigung hat die Bourgeoisie eine immense Fähigkeit an den Tag gelegt, Techniken zur ökonomischen und sozialen Kontrolle zu entwickeln, die weit außerhalb der Vorstellungskraft der Herrscher im 19.Jahrhundert lag. In diesem Sinne ist die Bourgeoisie im Umgang mit der historischen Krise ihres sozio-ökonomischen Systems ‚intelligent‘ geworden.“ („Bemerkungen über das Bewusstsein der dekadenten Bourgeoisie“, International Review, Nr.31, S.14, IV.Quartal 1982) Die Entwicklung der Massenmedien, die vollständig der staatlichen Kontrolle unterworfen sind, ob in Form formaler, juristischer Mittel oder etwas flexiblerer, informeller Methoden, ist ein zentrales Element im machiavellistischen Ränkeschmieden der Bourgeoisie. „Die Propaganda – also die Lüge – ist eine wichtige Waffe der Bourgeoisie. Und die Bourgeoisie ist sehr gewitzt dabei, Ereignisse zu provozieren, die diese Propaganda füttern, wenn es notwendig sein sollte.“ („Warum die Bourgeoisie machiavellistisch ist“, S.11) Die amerikanische Geschichte ist vollgestopft mit einer Unzahl von Beispielen, die von verhältnismäßig prosaischen, alltäglichen Benebelungen bis hin zu historisch bedeutsamerer Manipulationen reichen. Als ein Beispiel für erstgenannten Typus mag ein Vorfall aus dem Jahre 1955 gelten, als der Pressesprecher des Präsidenten, James Haggerty, ein Scheintreffen inszenierte, um die Arbeitsunfähigkeit von Präsident Eisenhower zu verbergen, der nach einer Herzattacke in einem Krankenhaus in Denver, Colorado, lag. Haggerty traf Vorkehrungen für eine 2000 Meilen lange Reise des gesamten Kabinetts von Washington nach Denver, um die Illusion zu nähren, dass es dem Präsidenten gut genug ginge, um eine Kabinettssitzung zu leiten, obwohl solch ein Treffen nie stattfand. Ein Beispiel für letztgenannten Typus ist die Manipulierung Saddam Husseins im Jahre 1990, als die amerikanische Botschafterin im Irak Saddam mitteilte, dass die USA nicht in den Grenzstreitigkeiten zwischen dem Irak und Kuwait eingreifen würden, und sie ihm weismachte, dass er vom US-Imperialismus grünes Licht für eine Invasion Kuwaits erhalten habe. Stattdessen wurde die Invasion von den USA als Vorwand für den Krieg von 1991 am Persischen Golf benutzt, als ein Mittel, um ihren Status als einzig verbliebene Supermacht nach dem stalinistischen Zusammenbruch und der darauffolgenden Auflösung des westlichen Blocks geltend zu machen.
Dies soll nicht heißen, dass alle Ereignisse in der heutigen Gesellschaft notwendigerweise von den geheimen Entscheidungen eines kleinen Kreises kapitalistischer Führer im Voraus bestimmt werden. Natürlich sind die auftretenden fraktionellen Streitigkeiten innerhalb der führenden Kreise der kapitalistischen Staaten und die Folgen solcher Streitigkeiten keine a priori gefassten Schlussfolgerungen. Genauso wenig sind die Folgen der Konfrontationen mit dem Proletariat in der Hitze des Klassenkampfes stets unter der Kontrolle der Bourgeoisie. Und trotz all der Pläne und Manipulationen können sich auch historische Unfälle ereignen. Doch es geht darum zu begreifen, dass, selbst wenn die Bourgeoisie als ausbeutende Klasse unfähig ist zu einem kompletten, kohärenten Bewusstsein und zu einem akkuraten Verständnis der Funktionsweise ihres Systems und der historischen Sackgasse, die sie der Menschheit anbietet, sie sich dennoch über die sich vertiefende gesellschaftliche und ökonomische Krise im Klaren ist. „Für die Spitzen der Staatsmaschinerie, die das Zepter in der Hand halten, ist es durchaus möglich, zu einer Art Gesamtbild der Lage und der Optionen zu gelangen, die ihnen realistischerweise offenstehen, um ihr zu begegnen.“ („Bemerkungen über das Bewusstsein...“, S.14) Selbst mit einem lückenhaften Bewusstsein ist die Bourgeoisie mehr als fähig, Strategien und Taktiken zu entwickeln sowie die totalitären Mechanismen des Staatskapitalismus zu nutzen, um Erstere einzusetzen. Es liegt in der Verantwortung revolutionärer Marxisten, das machiavellistische Manövrieren und Lügen zu entlarven. Die Augen vor diesem Aspekt der Offensive der herrschenden Klasse bei der Kontrolle der Gesellschaft zu verschließen ist unverantwortlich und spielt in die Hände unserer Klassenfeinde.
Der Machiavellismus der herrschenden Klasse Amerikas in Pearl Harbor Pearl Harbor stellt ein exzellentes Beispiel für das Treiben des bürgerlichen Machiavellismus dar. Wir nutznießen dabei von mehr als einem halben Jahrhundert historischer Untersuchungen und einer Reihe von Nachforschungen durch das Militär und oppositionelle Parteien. Gemäß der offiziellen Version der Realität war der 7.Dezember 1941 „ein Tag der Niedertracht“, wie Präsident Roosevelt ihn bezeichnete. Er wurde als Mittel zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung für den Krieg benutzt. Und er wird immer noch auf diese Weise von den kapitalistischen Medien, den Schulbüchern und in der Popkultur dargestellt, trotz beträchtlicher historischer Beweise dafür, dass der japanische Angriff bewusst von der amerikanischen Politik provoziert worden war. Der Angriff kam nicht aus heiterem Himmel über die amerikanische Regierung, ja, es war eine bewusste politische Entscheidung auf höchster Ebene, das Zustandekommen dieses Angriffs zu erlauben und den massiven Verlust an Menschenleben und Marineinventar hinzunehmen, um einen Vorwand zu haben, Amerikas Eintritt in den Zweiten Weltkrieg sicherzustellen. Eine Anzahl von Büchern und enormes Material im Internet ist über diese Geschichte veröffentlicht worden (1). Wir wollen hier einen Überblick über einige Highlights geben, um die operativen Aspekte des Machiavellismus zu veranschaulichen.
Die Ereignisse von Pearl Harbor fanden statt, als die USA immer mehr auf eine Intervention in den II.Weltkrieg auf Seiten der Alliierten zustrebten. Die Roosevelt-Administration war ganz erpicht darauf, in den Krieg gegen Deutschland zu treten, doch trotz der Tatsache, dass die amerikanische Arbeiterklasse fest im Griff des Gewerkschaftsapparates (in dem die stalinistische Partei eine wichtige Rolle spielte) war, der unter Staatsautorität gestellt wurde, um in allen Schlüsselindustrien den Klassenkampf in Schranken zu halten, und dass sie von der Ideologie des Antifaschismus durchdrungen war, sah sich die amerikanische Bourgeoisie immer noch einer starken Anti-Kriegs-Opposition innerhalb der Bevölkerung gegenüber, einschließlich nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch großer Teile der Bourgeoisie selbst. Meinungsumfragen ermittelten, dass 60 Prozent der Befragten vor Pearl Harbor gegen den Kriegseintritt waren. Und die „America First“-Kampagne sowie andere isolationistische Gruppen erhielten beträchtliche Unterstützung innerhalb der Bourgeoisie. Entgegen ihrer demagogischen demokratischen Gelöbnisse, Amerika aus dem Krieg in Europa rauszuhalten, suchte die Roosevelt-Administration heimlich nach einem Vorwand, um in den Kampf zu treten. Die USA verletzten in steigendem Maße ihre eigene, selbsterklärte Neutralität, indem sie den Alliierten Hilfe anboten und riesige Mengen Rüstungsmaterial im Rahmen des Leih-und-Pacht-Programms verschifften. Die Administration hoffte so, die Deutschen dazu zu provozieren, einen Angriff gegen die amerikanischen Streitkräfte im Nordatlantik zu führen, was als Vorwand für Amerikas Kriegseintritt hätte dienen können. Als der deutsche Imperialismus nicht auf den Köder hineinfiel, rückte Japan in den Mittelpunkt des Interesses. Die Entscheidung, ein Ölembargo gegen Japan zu verhängen, und die Verlegung der Pazifikflotte von der Westküste der USA an einer etwas vorgeschobeneren Position in Hawaii diente dazu, Japan ein Motiv und eine Gelegenheit zu verschaffen, den ersten Schuss gegen die USA abzufeuern und so den Vorwand für eine direkte Intervention in den imperialistischen Krieg zu schaffen. Im März 1941 sagte ein Geheimbericht des Marineministeriums voraus, dass, falls Japan sich dazu entschließe, die USA anzugreifen, es zu einem frühmogendlichen Überfall durch Kampfflugzeuge gegen Pearl Harbor kommen werde. Im Juni 1941 skizzierte der Präsidentenberater Harold Ickes dem Präsidenten in einem Memorandum, dass, wenn Deutschland zunächst Russland angreift, „sich aus dem Ölembargo gegen Japan eine Lage entwickeln könnte, die es nicht nur möglich, sondern auch leichter macht, wirksam in diesen Krieg zu gelangen.“ Im Oktober schrieb Ickes: „Seit langem war ich davon überzeugt, dass unser bester Eintritt in den Krieg die Japan-Schiene ist.“ Kriegssekretär Stimson notierte über den Diskussionsstand mit dem Präsidenten in seinem Tagebuch Folgendes: „Die Frage war, wie wir sie in eine Position manövrieren können, wo sie ohne größere Gefahr für uns den ersten Schuss abgeben. Trotz der Risiken, die zweifellos vorhanden sind, wenn wir die Japaner den ersten Schuss abgeben lassen, machten wir uns klar, dass, um die volle Unterstützung des amerikanischen Volkes zu haben, es wünschenswert war, sicher zu stellen, dass die Japaner dies auch tun, so dass kein Zweifel darüber aufkommt, wer der Aggressor war.“
Der Bericht des Pearl Harbor-Ausschusses der Armee (20.Oktober 1944) behandelte ausführlich diese bewusste, machiavellistische Entscheidung, Menschenleben und Ausrüstung in Pearl Harbor zu opfern, und schlussfolgerte, dass während „der verhängnisvollen Zeitspanne zwischen dem 27.November und dem 6.Dezember 1941... zahlreiche Informationen in die Hände der Spitzen des Staates, der Kriegs- und Marineressorts gelangten, die präzise die Absichten der Japaner anzeigten, einschließlich des exakten Zeitpunkts und Datums des Angriffs.“ (Armeeausschussbericht, Pearl Harbor, Teil 39, 221-230 pp.)
- US-Geheimdienstquellen erfuhren am 24.November, dass „offensive Militäroperationen der Japaner“ in Gang gesetzt worden waren.
- Am 26.November erhielten die US-Geheimdienste „definitiven Beweis für die japanischen Absichten, einen offensiven Krieg gegen Großbritannien und die Vereinigten Staaten zu führen.“
- Auch wurde am 26.November von „einer Konzentration von Einheiten der japanischen Flotte in einem unbekannten Hafen, bereit für offensive Aktionen,“ berichtet.
- Am 1.Dezember kamen „von drei unabhängigen Quellen (...) definitive Informationen, dass Japan dabei ist, Großbritannien und die Vereinigten Staaten anzugreifen, und dafür mit Russland Frieden halte“.
- Am 3.Dezember wurde „mit der Nachricht, dass die Japaner ihre Codes löschten und die Kodiermaschinen zerstörten, endgültig Aufschluss über die kriegerischen Angriffsabsichten Japans gegeben. Dies wurde gedeutet... als Anzeichen für einen unmittelbar bevorstehenden Krieg.“
Diese Geheimdienstinformationen wurden an hochrangige Beamte im Kriegsressort und State Department weitergegeben und dem Weißen Haus mitgeteilt, wo Roosevelt persönlich zweimal täglich Briefings über abgefangene japanische Funksprüche erhielt. Trotz des verzweifelten Drängens von Geheimdienstbeamten, eine „Kriegswarnung“ an die militärischen Befehlshaber auf Hawaii zu schicken, um sich auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vorzubereiten, entschieden sich die zivilen und militärischen Spitzen gegen ein solches Vorgehen und schickten ihnen stattdessen das zu, was die Behörden eine „harmlose“ Nachricht nannten. Diese Beweise für das Vorab-Wissen vom japanischen Angriff ist von zahlreichen Quellen bestätigt worden, einschließlich journalistischer Berichte und den Memoiren von Beteiligten. Zum Beispiel beinhaltete ein Bericht der United Press, der am 8.Dezember in der New York Times veröffentlicht wurde, folgenden Untertitel: „Angriff wurde erwartet: Es ist jetzt möglich zu enthüllen, dass die Streitkräfte der Vereinigten Staaten eine Woche zuvor erfahren hatten, dass ein Angriff bevorstand, und dass sie nicht unvorbereitet überrascht wurden“ (New York Times, 8.Dezember 1941, S.13). In einem Interview offenbarte die First Lady, Eleanor Roosevelt, 1941, dass „der 7.Dezember (...) überhaupt nicht der Schock war, als der er sich für das Land im Allgemeinen erwies. Wir hatten etwas in dieser Art schon seit langem erwartet“ (New York Times Magazine, 8.Oktober 1944, S.41). Am 20.Juni 1944 teilte der britische Kabinettsminister Sir Oliver Lyttelton der amerikanischen Handelskammer mit, „Japan wurde zum Angriff gegen die Amerikaner auf Pearl Harbor provoziert. Es spricht der Geschichte Hohn, wenn man sagt, dass die Amerikaner in den Krieg gezwungen wurden. Jeder weiß, wem die amerikanischen Sympathien galten. Es ist unrichtig zu sagen, dass Amerika jemals richtig neutral gewesen war, selbst bevor Amerika mit Kampfmitteln in den Krieg trat“ (Prang, „Pearl Harbor: Verdict of History“, S.39-40). Winston Churchill bestätigte das Doppelspiel der amerikanischen Regierenden beim Angriff gegen Pearl Harbor in folgender Passage seines Buches The Grand Alliance: „1946 veröffentlichte eine erstaunliche Kongressuntersuchung ihre Funde, in denen jedes Detail jener Ereignisse enthüllt wurde, die den Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan und auf das Nichterfolgen einer Alarmierung der Flotte und Garnisonen in exponierten Lagen durch das Militärressort einleiteten. In 40 Bänden wurde jedes Detail, einschließlich der Entschlüsselung geheimer japanischer Depeschen und ihrer aktuellen Nachrichten, der Welt enthüllt. Die Stärke der Vereinigten Staaten reichte aus, um im Geiste der amerikanischen Verfassung diese harte Feuerprobe zu bestehen. Ich habe auf diesen Seiten nicht die Absicht, ein Urteil über diese schreckliche Episode in der amerikanischen Geschichte zu fällen. Wir wissen, dass all die großen Amerikaner um den Präsidenten, die sein Vertrauen genossen, genauso scharfsinnig wie ich die furchtbare Gefahr fühlten, dass Japan britische oder holländische Besitzungen im Fernen Osten attackiert und die Vereinigten Staaten wohlweislich unbehelligt lässt und dass infolgedessen der Kongress eine amerikanische Kriegserklärung nicht sanktioniert (...) Der Präsident und seine vertrauten Freunde waren sich schon seit langem über die schwerwiegenden Risiken der Neutralität der Vereinigten Staaten im Krieg gegen Hitler und wofür er stand im Klaren und haben unter den Einschränkungen eines Kongresses gelitten, dessen Repräsentantenhaus einige Monate zuvor mit nur einer Stimme Mehrheit der Notwendigkeit einer Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zugestimmt hatte, ohne die die Armee sich inmitten weltweiter Erschütterungen nahezu aufgelöst hätte. Roosevelt, Hull, Stimson, Knox, General Marshall, Admiral Stark und, als Verbindungsmann zwischen ihnen, Harry Hopkins waren einer Meinung... Ein japanischer Angriff gegen die Vereinigten Staaten bedeutete eine große Erleichterung ihrer Probleme und ihrer Pflicht. Wie können wir uns darüber wundern, dass sie die tatsächliche Form des Angriffs, ja, sogar sein Ausmaß, als unvergleichlich weniger wichtig betrachteten als die Tatsache, dass die ganze amerikanische Nation wie ein Mann und wie nie zuvor für ihre eigene Sicherheit eintreten würde?“ (Winston Churchill, „The Grand Allianz“, S.603)
Roosevelt mag das Ausmaß und die Verluste, die die Japaner auf Pearl Harbor verursacht hatten, nicht geahnt haben, aber er war offenkundig bereit, Schiffe und Menschenleben zu opfern, um die Bevölkerung zu Wut und Krieg aufzustacheln.
Das Attentat gegen die Twin Towers und der Machiavellismus der Bourgeoisie
Gewiss ist es viel schwieriger, das Ausmass des Machiavellismus der amerikanischen Bourgeoisie im Fall des Attentats gegen das World Trade Center abzuschätzen, das im Augenblick der Abfassung dieses Artikels erst gerade ein wenig mehr als drei Monate zurückliegt. Wir profitieren von keinerlei Ergebnissen von seither geführten Untersuchungen, die allenfalls geheime Beweise enthüllen könnten, dass Elemente der herrschenden Klasse auf welche Art auch immer ihre Finger bei diesem Attentat im Spiel oder zumindest davon Kenntnis oder es sogar provoziert hatten. Wie jedoch die Geschichte der herrschenden Klasse, insbesondere die Ereignisse von Pearl Harbor, aufzeigen, ist eine solche Möglichkeit durchaus vorhanden. Wenn wir die jetzigen Ereignisse einzig auf der Grundlage von Medienberichten überprüfen - die wie zufällig allesamt in der gegenwärtigen politischen und imperialistischen Offensive der Regierung eingespannt sind, und der sie auch ihre volle Unterstützung entbieten - können wir eine solche Vermutung gewiss unterstützen.
Stellen wir uns zuerst einmal die Frage, wer denn auf politischer Ebene von diesem Verbrechen profitiert: Das ist zweifellos die amerikanische Bourgeoisie: Diese Feststellung allein genügt, um einigen Argwohn bezüglich des Attentats auf das World Trade Center zu entwickeln. Die amerikanische Bourgeoisie hat denn auch prompt und ohne das geringste Zögern die Ereignisse vom 11. September zu ihrem eigenen Nutzen verwendet, um ihre Projekte sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene voranzutreiben: Mobilisierung der Bevölkerung hinter dem kriegführenden Staat, Verstärkung des staatlichen Repressionsapparates, Behauptung der amerikanischen Supermacht gegenüber der allgemeinen Tendenz aller gegen alle in der internationalen Arena.
Unmittelbar nach dem Attentat haben der politische Apparat Amerikas und die Medien die Mobilisierung der amerikanischen Bevölkerung für den Krieg begonnen. In einer konzertierten Aktion zielten sie darauf ab, das sog. Vietnam-Syndrom, das seit dreissig Jahren die Kriegführung des amerikanischen Imperialismus beeinträchtigt hatte, zu überwinden. Diese "massenpsychologische Fehlfunktion" beinhaltete in allererster Linie eine Abwehr insbesondere der Arbeiterklasse gegenüber der Mobilisierung hinter dem Staat für einen länger andauernden imperialistischen Krieg und war für ein Grossteil dafür verantwortlich, dass die USA den Konflikt mit dem russischen Imperialismus in den 70er und 80er Jahren mittels zwischengeschalteter Länder in lokalen Kriegen austrugen oder aber eher kurzfristige und begrenzte Interventionen mit Luftschlägen und Raketen bevorzugten als Bodenangriffe. Wir haben diese Methode im Golfkrieg oder im Kosovo mitverfolgen können. Diese Widerspenstigkeit ist sicher keine psychologische Fehlfunktion, sondern widerspiegelt eher die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, dem Proletariat eine ideologische und politische Niederlage beizufügen, die gegenwärtige Arbeitergeneration hinter dem Staat für den imperialistischen Krieg zu mobilisieren, wie dies bei der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs der Fall gewesen war. Das Editorial einer Spezialausgabe des Magazins Time, unmittelbar nach dem Attentat herausgegeben, zeigt sehr gut auf, wie die gegenwärtige Kampagne einer Kriegspsychose orchestriert worden ist. Der Titel dieser Nummer lautete: "Tag der Gemeinheit" und verleitete von Beginn weg zum Vergleich mit Pearl Harbor. Ein Artikel von Lance Morrow mit dem Titel "Zorn und Züchtigung" unterstrich die Einzelheiten der folgenden ideologischen Kampagne. Obwohl dieser Artikel in einer Publikation erschien, die an den Propagandaanstrengungen teilnahm, illustriert Morrow, wie die Propagandisten der herrschenden Klasse alle Vorteile begriffen hatten, die sie aus dem Attentat auf das World Trade Center ziehen konnten. Um die Bevölkerung hinsichtlich des Krieges mit der hohen Anzahl von Opfern und den dramatischen Bildern zu manipulieren: "Wir können keinen weiteren Tag der Gemeinheit mehr leben, ohne dass in uns ein Gefühl des Zorns entsteht. Befreien wir unseren Zorn!
Wir benötigen ein Gefühl der Wut, das derjenigen gleicht, die auf Pearl Harbor folgte! Eine Entrüstung ohne Mitleid, die sich nicht nach ein oder zwei Wochen in Luft auflöst...
Es handelte sich um Terrorismus nahe der dramatischen Perfektion. Niemals wird das Schauspiel des Bösen eine Produktion von einem solchen Wert produziert haben. Normalerweise sieht das Publikum nur die rauchenden Ergebnisse: Die von einer Explosion zerstörte Botschaft, Kasernen in Ruinen, das schwarz klaffende Loch im Bug eines Schiffes. Diesmal hat aber bereits das erste in den einen Turm einschlagende Flugzeug die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es hat die Medien in Alarm versetzt, hat die Kameras in Bereitschaft gebracht, um die zweite Explosion des Surrealismus festzuhalten...
Gleichzeitig hat der politische Apparat der Bourgeoisie seinen Plan zur Verstärkung des staatlichen Repressionsapparats entrollt. Eine neue "Sicherheitsgesetzgebung" stellte die gesetzgeberische Praxis wieder her, die in der Folge des Vietnam-Kriegs und des Watergate-Skandals diskreditiert worden war. Ebenso wurde eine ganze Reihe von repressiven Massnahmen vorbereitet, debattiert, angenommen und vom Präsidenten in Rekordzeit unterschrieben. Wir haben guten Grund anzunehmen, dass diese Gesetzgebung bereits langfristig vorbereitet worden war, um zum gegebenen Zeitpunkt nur noch in Kraft gesetzt zu werden. Mehr als 1000 Verdächtige, die lediglich arabische Namen oder Kleider trugen, wurden ohne genaue Anklage für unbestimmte Zeit verhaftet. Die Guthaben von der Sympathie mit Bin Laden verdächtigten Organisationen wurden ohne gerichtliches Prozedere eingefroren. Die Einwanderung wurde insbesondere aus den islamischen Ländern eingeschränkt. Dies geschah mehr als eine Antwort auf die ständige Sorge der Bourgeoisie über den ununterbrochenen Strom von Immigranten, die den schrecklichen Bedingungen des Zerfalls und der Barbarei in ihren unterentwickelten Nationen entfliehen.
Unvermittelt ist der Terrorismus die Entschuldigung für die Verschärfung der Wirtschaftskrise und eine Rechtfertigung für die Einschnitte in den Budgets der Sozialprogramme geworden. Die verfügbaren Guthaben wurden jetzt in den Krieg und in die nationale Sicherheit umgeleitet. Die Geschwindigkeit, mit der all diese Massnahmen präsentiert wurden, zeigt sehr gut, dass sie nicht auf die Schnelle erstellt worden sind, sondern dass sie vorbereitet, diskutiert und geplant worden sind, um für alle Fälle gerüstet zu sein.
Auf internationaler Ebene ist das Ziel des Kriegs gegen den Terrorismus nicht so sehr dessen Zerstörung, sondern die gewaltsame Unterstreichung der imperialistischen Vorherrschaft durch die USA, die die einzige Supermacht in einer internationalen Arena bleiben, die von einer zunehmenden Herausforderung für die US-Hegemonie geprägt ist. Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 führte zu einer schnellen Auflösung des Westblocks, weil das Kohäsionsmittel für dessen Zusammenhalt durch den Zusammenbruch des imperialistischen Blocks der UdSSR verschwunden war. Der amerikanische Imperialismus sah sich trotz des offensichtlichen Sieges im Kalten Krieg nun plötzlich einer neuen globalen Situation gegenüber: Die Grossmächte, die ihre ehemaligen Alliierten waren, und auch eine Anzahl von Ländern geringerer Bedeutung begannen nun, die Vorherrschaft der USA herauszufordern und die eigenen imperialistischen Ambitionen zu verfolgen. Die USA haben im vergangenen Jahrzehnt drei grossangelegte Militäraktionen unternommen, um ihre ehemaligen Verbündeten wieder auf ihre Ränge zu verweisen und ihre Vorherrschaft anzuerkennen: gegen den Irak, gegen Serbien und jetzt gegen Afghanistan und das Al-Kaida-Netz. In jedem dieser drei Fälle zwang die Entfaltung des US-Militärapparates die "Verbündeten", also Frankreich, Grossbritannien und Deutschland, sich in die Allianzen einzureihen, die die USA lenkten, oder aber vollständig das Gesicht zu verlieren und aus dem globalen imperialistischen Spiel rauszukippen.
Zweitens ist es bereits jetzt, da die offiziell autorisierte Version der Realität behauptet, dass die USA auf keinen Fall auf diese Attentate gefasst waren, möglich, einzig auf die bürgerlichen Medien bezugnehmend Beweiselemente für den Machiavellismus der amerikanischen Bourgeoisie zu sammeln:
- Die Kräfte, die anscheinend das Attentat gegen das World Trade Center verübten, standen vielleicht nicht unter der Kontrolle des amerikanischen Imperialismus, jedoch waren sie den amerikanischen Geheimdiensten gewiss bekannt. Tatsächlich rekrutierte die CIA schon zu Beginn des Konflikts zwischen afghanischen Klicken und dem russischen Imperialismus 1979 Tausende von islamischen Fundamentalisten, bildete sie aus, bewaffnete sie und gebrauchte sie, um einen heiligen Krieg - den Dschihad - gegen die Russen zu führen. Das Konzept des Dschihad ruhte in der islamischen Theologie, bis es der amerikanische Imperialismus vor zwanzig Jahren erweckte, um es seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Militante Islamisten wurden quer durch die ganze islamische Welt rekrutiert, in Pakistan ebenso wie in Saudi-Arabien. Dort hat man erstmals von Bin Ladin als einem Agenten des amerikanischen Imperialismus gehört. Nach dem Rückzug des russischen Imperialismus aus Afghanistan 1989 und dem Zusammenbruch der Regierung in Kabul 1992 hat sich auch der amerikanische Imperialismus zurück gezogen und sich auf den Nahen Osten und den Balkan konzentriert. Als die islamischen Fundamentalisten gegen die Russen kämpften, bezeichnete sie Ronald Reagan als Freiheitskämpfer. Wenn sie heute mit derselben Brutalität gegen den amerikanischen Imperialismus vorgehen, sind sie für den Präsidenten Bush fanatische Barbaren, die ausgelöscht werden müssen. Ganz wie Timothy Mac Veigh, dem fanatischen rechtsextremen, für das Bombenattentat von Oklahoma City 1995 verantwortlichen Amerikaner, der mit der Ideologie des Kalten Kriegs und im Hass gegen die Russen aufgewachsen und von der amerikanischen Armee rekrutiert worden war, genau so haben die von der CIA für den Dschihad angeworbenen jungen Leute niemals in ihrem Leben etwas anderes gekannt als Hass und Krieg. Beide fühlten sich vom amerikanischen Imperialismus nach dem Ende des Kalten Kriegs verraten und richteten ihre Gewalt fortan gegen ihre ehemaligen Lehrmeister.
- - Seit 1996 verfolgte das FBI die Spur einer möglichen Benutzung von amerikanischen Pilotenschulen durch Terroristen, um Jumbo Jets fliegen zu lernen. Die Vorgehensweise der Terroristen war also von Behörden vorweggenommen worden (The Guardian, "FBI failed fo find suspects named before hijackings", 25.9.2001)
- Die deutsche Polizei überwachte das Appartement in Deutschland, in dem das Attentat geplant und koordiniert worden war, während dreier Jahre.
- Das FBI und andere amerikanische Spionageabwehr-Agenturen hatten Warnungen erhalten und Nachrichten abgefangen, gemäss denen am Jahrestag der Zeremonie im Weissen Haus zwischen Clinton, Rabin und Arafat ein Terrorattentat vorgesehen war. Die israelischen und französischen Geheimdienste hatten die Amerikaner gewarnt. Die Amerikaner hatten also gewiss eine Vorstellung über das Bevorstehende. Vielleicht wusste man nicht, dass das World Trade Center das Ziel sein würde, jedoch war es ja bereits 1993 von islamistischen Terroristen als Symbol des amerikanischen Kapitalismus ins Visier genommen worden.
- Das FBI hat im August Zacarias Moussaoui verhaftet, der Verdacht erweckt hatte, weil er in einer Pilotenschule in Minnesota eine Ausbildung beginnen wollte und erklärt hatte, dass er weder am Starten noch am Landen interessiert sei. Anfangs September hatten die französischen Behörden gewarnt, dass Verbindungen zwischen Moussaoui und den Terroristen bestünden. Im November änderte das FBI plötzlich seine Meinung und dementierte eine Verstrickung Moussaouis im Attentat. Auf jeden Fall hat die Tatsache, dass sich die Piloten weder für den Start noch für die Landung interessiert hatten, die Verdachtsmomente erneuert.
- Mohammed Atta, der vermutete Organisator vom 11. September und vermutliche Pilot des ersten in die Zwillingstürme donnernden Flugzeugs, war bei den Behörden wohl bekannt. Er schien aber ein ruhiges Leben geführt zu haben und durfte sich auch frei in den USA bewegen. Obwohl er seit Jahren auf der Liste der durch den Staat zu überwachenden Terroristen figurierte, da der Verstrickung in ein Bombenattentat gegen einen Bus in Israel im Jahr 1986 verdächtigt, war ihm in den letzten zwei Jahren mehrmals die Erlaubnis zur Ein- und Ausreise aus bzw. in Amerika erteilt worden. Von Januar bis Mai 2001 ist er von den Einwanderungsbehörden auf dem internationalen Flughafen in Miami während 57 Minuten festgehalten worden, weil sein Visum abgelaufen und für eine Einreise in die USA nicht mehr gültig gewesen war. Und obwohl er auf der Überwachungsliste der Behörden stand und trotz des Verdachts des FBI, dass Terroristen in den USA Flugschulen besuchen könnten, war es für ihn möglich, in die USA einzureisen und sich in einer Flugschule einzuschreiben. Im April 2001 wurde Atta wegen Fahrens ohne Führerschein angehalten. Da er im Mai nicht vor dem Gericht erschien, ist ein Haftbefehl ausgestellt worden, aber er ist nie ausgeführt worden. Er ist zweimal wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand angehalten worden. Atta ist während seines Aufenthalts in den USA niemals unter einem Pseudonym aufgetreten, er reiste, lebte und studierte das Pilotieren unter seinem wirklichen Namen. War das FBI wirklich so inkompetent oder fehlten ihm das nötige Personal oder die Arabischübersetzer, wie es behauptete, oder gibt es eine mehr machiavellistische Erklärung für dieses Verhalten in die Richtung einer konstanten und ständigen Bewahrung seiner Freiheit? Wurde er "Beschützt" oder diente er als Sündenbock ("Terroristen unter uns", Atlanta Journal Constitution, 16.9.2001; The Guardian, 25.9.2001)
- Am 23. August 2001 liess die CIA eine Liste mit 100 vermutlichen Mitgliedern des Neztes um Bin Ladin auftauchen, unter ihnen auch Khalid Al Midhar und Nawaq Alhamzi, die sich an Bord desjenigen Flugzeuges befanden, das auf das Pentagon stürzte.
Bereits drei Jahre vor den angeblich unerwarteten Attentaten vom 11. September haben die Vereinigten Staaten im Geheimen begonnen, den Boden für einen Krieg in Afghanistan zu ebnen. In der Folge der Attentate auf die amerikanischen Botschaften in Dar-es-Salaam in Tansania und in Nairobi in Kenia 1998 hatte Präsident Clinton die CIA beauftragt, mögliche Aktionen gegen Bin Ladin, der jeglicher Kontrolle entglitten war, vorzubereiten. Deswegen waren auch geheime Verhandlungen mit den ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan und Tadschikistan aufgegleist worden, um dort Militärbasen zu errichten, logistischen Nachschub zu liefern und Informationen zu sammeln. All das hat nicht nur eine militärische Intervention in Afghanistan vorbereitet, sondern erlaubte auch ein beträchtliches Eindringen der USA in die russische Einflusszone in Zentralasien. Deshalb kann man auch sagen, dass die Vereinigten Staaten trotz aller Gegenbeteuerungen nach der durch das Attentat gegen die Twin Towers sich bietende Gelegenheit für eine unverzügliche Intervention bereit waren, eine gewisse Anzahl von strategischen und taktischen Massnahmen umzusetzen, die bereits von langer Hand vorbereitet worden waren.
Es ist durch aus plausibel, dass die USA Bin Ladin quasi dazu gedrängt haben, eine Attacke gegen sie zu lancieren. The Guardian vom 22. September verleitet uns zu dieser Annahme: "Eine Untersuchung unserer Zeitung hat festgestellt, dass Bin Ladin und die Taliban zwei Monate vor den Terrorattentaten gegen New York und Washington Drohungen über eine mögliche militärische Attacke der USA erhalten hatten. Pakistan warnte das Regime in Afghanistan vor dieser Kriegsgefahr, falls sie Bin Ladin nicht ausliefern würden (...) Die Taliban verweigerten eine Unterwerfung, jedoch besteht auf Grund des Ausmasses der Warnungen die Möglichkeit, dass die Attentate Bin Ladins gegen das World Trade Center in New York und gegen das Pentagon in Washington tatsächlich eine präventive Attacke als Antwort auf die angeblichen Drohungen der USA gedacht waren und keinesfalls aus dem Nichts heraus stattfanden. Die Warnungen an die Taliban stammten von einer viertägigen Versammlung von Amerikanern, Russen, Iranern und Pakistani in einem Hotel in Berlin Mitte Juli. Diese Konferenz war die dritte in einer Serie unter dem Titel 'Brainstorming über Afghanistan' und gehört zu einer klassischen diplomatischen Methode unter dem Namen 'Schiene Nr. 2'." Mit anderen Worten ist es durchaus möglich, dass die USA die durch Bin Ladin begangenen Attentate nicht wirklich zu verhindern suchten, sondern sie über diesen halboffiziellen 'diplomatischen Kanal' sogar zu provozieren versuchte, um somit eine Legitimation für die militärische Antwort in die Hände zu bekommen.
- Die gewaltigen Zerstörungen und die Anzahl der Opfer bildeten den Dreh- und Angelpunkt der unmittelbar auf das Desaster folgenden ideologischen Kampagne. Während Wochen haben uns die amerikanische Regierung und die Medien immer wieder eingehämmert, dass die 6000 im World Trade Center umgekommenen Menschen doppelt so viele waren wie in Pearl Harbor. Der Chef des Generalstabs hat diese Zahlen anfangs November in einem Interview mit einer nationalen Fernsehkette wiederholt (NBC am 4.11.2001). Jedoch bestehen berechtigte Zweifel, dass diese wegen ihres emotionalen Gewichts die Propaganda unterstützenden Zahlen masslos übertrieben sind. Zählungen von unabhängigen Presseagenturen haben die Zahl von weniger als 3000 Toten ergeben, was auch den Opfern von Pearl Harbor entspricht. Die New York Times fixiert die Opferzahl bei 2943, die Agentur Associated Press bei 2626 und USA Today bei 2680. Das amerikanische Rote Kreuz, das den Opferfamilien Finanzhilfen entrichtet, hat 2563 Anfragen erhalten. Die Regierung hat dem Roten Kreuz die Herausgabe einer Kopie der offiziellen Opferliste verweigert. Indessen nutzen die Politiker und die Medien aus propagandistischen Zwecken noch immer die Zahl von 5000 bis 6000 Toten oder Vermissten. Diese Zahl ist jetzt auch im öffentlichen Bewusstsein verankert.
- Die amerikanische Regierung hat bis anhin niemals öffentlich die Beweise für die Schuld Bin Ladins an den Attentaten enthüllt. Kürzlich, als die militärischen Operationen noch voll im Gang waren, hat Bush angekündigt, dass Bin Ladin im Falle einer Verhaftung vor ein Militärgericht hinter geschlossenen Türen gestellt würde. So müssen die Ursprünge der Beweise gegen ihn auch nicht veröffentlicht werden. Der Verteidigungsminister Rumsfeld hat klar gesagt, dass er einem toten Bin Ladin den Vorzug vor seiner Verhaftung gebe. So soll ein Prozess verhindert werden. Man muss sich also die Frage stellen, weshalb die USA so sehr darauf bestehen, dass diese sog. offensichtlichen Beweise geheim gehalten werden.
All diese Argumente sind kein Beweis dafür, dass die amerikanische Regierung oder vielleicht die CIA im Voraus über die Attentate auf die Twin Towers auf dem Laufenden waren oder sie gar provoziert haben, jedoch muss man kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um einen solchen Verdacht zu schöpfen. Wir überlassen die Sorge einer vertieften Erforschung den Historikern, jedoch werden wir weder überrascht noch schockiert sein, wenn wir erfahren, dass die amerikanische Bourgeoisie die Opfer des Attentats auf das World Trade Center in Kauf genommen hat, um ihren politischen Interessen gerecht zu werden.
Auf historischer Ebene kann entgegen den Behauptungen der Medien bei der aktuellen Situation kein Vergleich zu Pearl Harbor gezogen werden. Pearl Harbor fand nach zwanzig Jahren politischer Niederlagen des Proletariats statt, die es politisch, ideologisch und selbst physisch besiegt hatten. Somit wurde der historische Kurs in Richtung Krieg eröffnet. Diese Niederlagen drückten mit einem kapitalen historischen Gewicht auf das Proletariat: Die Niederlage der russischen Revolution und der revolutionären Welle; die Degeneration des revolutionären Regimes in Russland und der Triumph des Staatskapitalismus unter Stalin; die Degeneration der Kommunistischen Internationale, die eine Waffe des russischen Staates in der Aussenpolitik wurde, was auch einen beträchtlichen Rückfluss der revolutionären Positionen seit dem Gipfel der revolutionären Welle beinhaltete; die Integration der kommunistischen Parteien in ihren jeweiligen Staatsapparaten; die politische und physische Niederlage der Arbeiterklasse durch den Faschismus in Italien, in Deutschland und in Spanien; der Triumph der antifaschistischen Ideologie in den sog. demokratischen Ländern.
Die Auswirkungen dieser Niederlagen haben die historischen Möglichkeiten der Arbeiterbewegung tiefgreifend beeinträchtigt. Die Revolution, die seit den Jahren nach 1917 auf der Tagesordnung, ist niedergeschlagen worden. Das Kräfteverhältnis hatte sich definitiv zu Gunsten der Bourgeoisie verschoben, die nun ihre "Lösung" für die historische Krise des globalen Kapitalismus - den Weltkrieg - durchsetzen konnten. Indessen bedeutete die Tatsache, dass sich das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verschoben hatte, nicht notwendigerweise, dass die Bourgeoisie nun freie Hand hatte, um ihren politischen Willen durchzusetzen. Selbst wenn der historische Kurs in Richtung Krieg ging, hiess dies nicht, dass die amerikanische Bourgeoisie zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt hätte den Krieg auslösen können. Die Bourgeoisie musste erst noch den Widerstand gegen den Krieg von Seiten des amerikanischen Proletariats in den Jahren 1939-1941 brechen. Dieser Widerstand reflektierte teilweise die zögerliche Haltung der stalinistischen Partei, die insbesondere in den CIO-Gewerkschaften einen beträchtlichen Einfluss ausübte. Diese Haltung war auf die unentschiedene Haltung Moskaus in der Zeit des Nichtangriffspakts mit dem nationalsozialistischen Deutschland zurückzuführen. Die herrschende Fraktion der amerikanischen Bourgeoisie sollte auch auf die aufsässigen Elemente ihrer eigenen Klasse zählen können. Einige hegten Sympathien für die Achsenmächte, andere setzten sich für eine isolationistische Politik ein. Wir haben gesehen, dass der "überraschende" Angriff Japans den Vorwand bot, um die zögernden Elemente hinter dem Staat und den Kriegsanstrengungen zu sammeln. In diesem Sinne kann man sagen, dass Pearl Harbor den letzten Nagel in den politischen und ideologischen Sarg trieb.
Heute ist die Situation ganz anders. Es ist wahr, dass das Desaster mit den Twin Towers nach mehr als einem Jahrzehnt politischer Orientierungslosigkeit und Verwirrung geschehen ist, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und den ideologischen Kampagnen der Bourgeoisie über den Tod des Kommunismus breit gemacht haben. Diese Verwirrungen bergen jedoch nicht dasselbe politische Gewicht in sich, wie die Niederlagen der 20er und 30er Jahre, und beeinträchtigen also auch das politische Bewusstsein des Proletariats auf historischer Ebene nicht dermassen. Auch haben sie den historischen Kurs in Richtung zunehmender Klassenkonfrontationen nicht geändert. Die Arbeiterklasse hat trotz dieser Desorientierung für die Rückeroberung ihres Terrrains gekämpft. Auch fehlen nicht Zeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins. Desweiteren tauchen Elemente auf der Suche nach politischer Klärung auf, die das proletarische Milieu um die bestehenden revolutionären Gruppen anwachsen lassen. Wir wollen hier keineswegs die seit 1989 in der Arbeiterklasse herrschende politische Orientierungslosigkeit verharmlosen, die durch den Zerfall, der für das vollständige Abgleiten in die Barbarei nicht mehr notwendigerweise einen neuen Weltkrieg benötigt, zusätzlich verschärft wird. Auch wenn die amerikanische Bourgeoisie mit ihrer ideologischen Offensive einen beträchtlichen Erfolg einheimst, auch wenn die Arbeiter in einer kriegerischen Psychose von alarmierendem Ausmass gefangen sind, so wird das globale Kräfteverhältnis nicht von der Situation in einem Land bestimmt, selbst wenn es von der Bedeutung der USA ist. Auf internationaler Ebene ist das Proletariat noch nicht besiegt worden und die Perspektive in Richtung Klassenkonfrontation ist offen. Selbst der zweiwöchige Streik von 23`000 Arbeitern des öffentlichen Sektors in Minnesota in den USA vom Oktober ist Ausdruck der Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihren Kampf fortzuführen. Obwohl diese Arbeiter als Vaterlandsverräter hingestellt worden waren, weil sie diesen Streik in einer nationalen Krisensituation begonnen hatten, haben diese Arbeiter ihr Terrain nicht verlassen und haben für Verbesserungen bei den Löhnen und Gratifikationen gekämpft. Während also Pearl Harbor den Abschluss eines Prozesses hin zum imperialistischen Krieg bedeutete, stellt das Attentat auf das World Trade Center für die insbesondere amerikanische Arbeiterklasse lediglich einen Schritt zurück dar. Dieser Rückschritt steht aber im Kontext einer historischen Situation, die nach wie vor günstig für die Klasse ist.
JG
Erstveröffentlichung in Internationale Revue Nr.
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