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Februar 2012

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Demokratisierung oder Zerstörung des Kapitalismus?

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Die Losung „Den Kapitalismus demokratisieren“, die bei der Besetzung von St. Paul auf dem Gelände der Universität von Tent City aufkam, löste scharfe Debatten aus, die letztendlich dazu führten, dass das Banner mit dieser Losung entfernt wurde.

Dieser Ausgang zeigt, dass die Besetzungen von St. Paul, UBS und anderswo den Boden für sehr fruchtbare Diskussionen unter all jenen geschaffen haben, die mit dem gegenwärtigen gesellschaftlichen System unzufrieden sind und nach einer Alternative Ausschau halten. „Den Kapitalismus demokratisieren“ ist keine wirkliche Option, spiegelt aber die Auffassung vieler Menschen wider, die sich an den Besetzungen und Treffen beteiligten, die sie generiert haben. Immer wieder wird der Gedanke verbreitet, dass der Kapitalismus menschlicher gestaltet werden könnte, wenn die Reichen mehr Steuern zahlen, wenn die Banker ihre Boni verlieren, wenn die Finanzmärkte besser kontrolliert werden oder wenn der Staat die Wirtschaft mehr in die eigenen Hände nehmen würde.

Selbst Spitzenpolitiker springen auf diesen Zug auf. Cameron will den Kapitalismus moralischer machen, Clegg möchte, dass die ArbeiterInnen sich mehr Aktien aneignen können, Miliband ist gegen den „Raubtierkapitalismus“ und will mehr staatliche Regulierung.

Doch all das, was da von den Politikern des Kapitals kommt, ist nur leeres Geschwätz, eine Nebelkerze, die uns daran hindern soll zu sehen, was Kapitalismus ist und was nicht.

Der Kapitalismus ist ein ganz eigenes Stadium in der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Er ist die letzte in einer Reihe von Gesellschaften, die auf der Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit fußen. Er ist die erste menschliche Gesellschaft, in der die gesamte Produktion von dem Bedürfnis angetrieben wird, einen Profit auf dem Markt zu erzielen. Er ist daher die erste Klassengesellschaft, in der all die Ausgebeuteten ihre Fähigkeit zu arbeiten, ihre „Arbeitskraft“, an die Ausbeuter verkaufen müssen. Während also im Feudalismus die Leibeigenen mit Gewalt dazu gezwungen wurden, ihre Arbeit bzw. ihre Produkte direkt an den Fronherrn abzuliefern, wird uns im Kapitalismus die Arbeitszeit auf subtilere Weise, durch das Lohnsystem, genommen.

Es macht daher keinen Unterschied, ob die Ausbeuter in Gestalt privater Bosse oder als Funktionäre der „Kommunistischen Partei“ wie in China oder Nordkorea organisiert sind. Solange Lohnarbeit existiert, herrscht der Kapitalismus. Wie Marx es formuliert hatte: „Das Kapital setzt also die Lohnarbeit, die Lohnarbeit setzt das Kapital voraus“ (Lohnarbeit und Kapital).

Der Kapitalismus ist in seinem Innersten das gesellschaftliche Verhältnis zwischen der Klasse der LohnarbeiterInnen (die die Arbeitslosen miteinschließt, da die Arbeitslosigkeit Teil der Bedingungen jener Klasse ist) und der ausbeutenden Klasse. Der Kapitalismus ist der entfremdete Reichtum, der von den ArbeiterInnen produziert wird – einer Kraft, die von ihm selbst geschaffen wurde, die ihm aber als unerbittlicher Feind gegenübersteht.

Kapitalismus ist Krise

Doch auch wenn die Kapitalisten von diesem Arrangement profitieren, können sie es nicht wirklich kontrollieren. Das Kapital ist eine unpersönliche Kraft, die sich letztendlich ihrem Zugriff entzieht und sie gar beherrscht. Daher ist die Geschichte des Kapitalismus eine Geschichte der wirtschaftlichen Krisen. Und seitdem der Kapitalismus zu einem globalen System geworden ist, rund um den Beginn des 20. Jahrhunderts, ist die Krise mehr oder weniger permanent geworden, ob sie nun die Form eines Weltkriegs oder einer weltweiten Depressionen annimmt.

Und gleich welche Wirtschaftspolitik, die die herrschende Klasse und ihre Staaten ausprobieren, ob Keynesianismus, Stalinismus oder staatlich gestützter „Neoliberalismus“, die Krise wurde nur tiefer und unlösbarer. Verzweifelt ob der ökonomischen Sackgasse, verfangen sich die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse und die mannigfaltigen Nationalstaaten, in denen sie organisiert ist, in einer Spirale der gnadenlosen Konkurrenz, militärischen Konflikten und ökologischen Verwüstungen, die sie zwingen, immer „unmoralischer“ und „räuberischer“ auf ihrer Jagd nach Profiten und strategischen Vorteilen zu werden.

Die kapitalistische Klasse ist der Kapitän eines sinkenden Schiffs. Niemals war die Notwendigkeit, sie ihres Kommandos über den Planeten zu entheben, drängender wie heute.

Doch dieses System, der extremste Ausdruck der Entfremdung des Menschen, hat auch die Möglichkeit einer neuen und wahrhaft menschlichen Gesellschaft geschaffen. Es hat Wissenschaften und Technologien in Bewegung gesetzt, die zum Nutzen aller umgewandelt und verwendet werden könnten. Es hat daher die Möglichkeit eröffnet, dass die Produktion direkt auf den Konsum ausgerichtet werden kann, ohne die Vermittlung durch das Geld oder den Markt. Es hat den Globus vereint oder zumindest die Voraussetzungen für seine wahre Vereinigung geschaffen. Es hat es somit plausibel gemacht, das gesamte System der Nationalstaaten mit ihren pausenlosen Kriegen abzuschaffen. Zusammengefasst hat es den alten Traum einer menschlichen Weltgemeinschaft sowohl notwendig als auch möglich gemacht. Wir nennen diese Gesellschaft Kommunismus.

Für die ausgebeutete Klasse, die Klasse der Lohnarbeit, gibt es kein Interesse daran, Illusionen über das System zu hegen, mit dem sie konfrontiert ist. Sie ist der potenzielle Totengräber dieser Gesellschaft und der Erbauer einer neuen. Doch um dieses Potenzial zu realisieren, muss sie sich vollkommen im Klaren darüber sein, für und gegen was sie kämpft. Die Ideen über die Reformierung oder „Demokratisierung“ des Kapitals sind so viele Hindernisse auf dem Weg zu dieser Klarheit.

Kapitalismus und Demokratie

Als könne man den Kapitalismus menschlicher gestalten, behauptet heutzutage jedermann für die Demokratie zu sein, möchte jedermann eine demokratischere Gesellschaft. Und deshalb können wir die Idee der Demokratie nicht für bare Münze nehmen, wie irgendeine abstrakte Idee, dem wir alle zustimmen können. Wie der Kapitalismus hat die Demokratie eine Geschichte. Als ein politisches System konnte die Demokratie im antiken Athen mit der Sklaverei und unter Ausschluss der Frauen koexistieren. Unter dem Kapitalismus kann die parlamentarische Demokratie mit dem Machtmonopol einer kleinen Minderheit koexistieren, die sich nicht nur den wirtschaftlichen Reichtum, sondern auch die ideologischen Mittel angeeignet hat, um das Denken (und das Abstimmungsverhalten) der Menschen zu beeinflussen.

Die kapitalistische Demokratie hält der kapitalistischen Gesellschaft den Spiegel vor, die uns alle in isolierte wirtschaftliche Einheiten umwandelt, die gegeneinander auf dem Markt konkurrieren. Theoretisch konkurrieren wir unter gleichen Bedingungen, doch die Realität ist, dass der Reichtum sich in immer weniger Händen konzentriert. Wir sind gleichfalls isoliert, wenn wir als individuelle Bürger die Wahlkabine betreten, und genauso fern von der Ausübung jeglicher realen Macht.

In den Diskussionen, die die vielen Besetzungen und Bewegungen der öffentlichen Versammlungen von Tunesien und Ägypten bis Spanien, Griechenland und den USA angeregt haben, hat es eine mehr oder weniger kontinuierliche Konfrontation zwischen zwei Flügeln gegeben: auf der einen Seite gab es jene, die nicht weitergehen wollen, als das herrschende Regime demokratischer zu machen, die dabei stehenbleiben, Tyrannen wie Mubarak loszuwerden und ein parlamentarisches System einzuführen oder Druck auf die etablierten politischen Parteien auszuüben, so dass diese den Forderungen der Straße mehr Gehör zu schenken. Und auf der anderen Seite haben wir jene, die, auch wenn sie noch eine kleine Minderheit sind, zu sagen beginnen: Wozu brauchen wir ein Parlament, wenn wir uns selbst in Versammlungen organisieren können? Können parlamentarische Wahlen etwas ändern? Können wir Formen wie die Versammlungen benutzen, um die Kontrolle über unser eigenes Leben zu übernehmen – nicht nur auf den öffentlichen Plätzen, sondern auch auf den Baustellen, in den Fabriken und Werkstätten?

Diese Diskussionen sind nicht neu. Sie sind ein Nachhall jener Debatten, die in der Zeit der Russischen und Deutschen Revolution am Ende des I. Weltkrieges stattgefunden haben. Millionen waren gegen ein kapitalistisches System in Bewegung geraten, das durch das Abschlachten von Millionen an den Kriegsfronten bereits gezeigt hat, dass es aufgehört hat, eine nützliche Rolle für das menschliche Geschlecht zu spielen. Doch während manche sagten, dass die Revolutionen nicht über die Installierung eines „bürgerlich-demokratischen“ Regimes hinausgehen dürfen, gab es andererseits auch jene – damals recht beträchtlich an Anzahl -, die sagten: Das Parlament gehört der herrschenden Klasse. Wir haben unsere eigenen Versammlungen gebildet, Fabrikkomitees, Sowjets (Organisationen, die auf allgemeinen Versammlungen mit gewählten und jederzeit abwählbaren Delegierten basierten). Diese Organisationen sollten die Macht übernehmen, die dann in unseren Händen bleibt – der erste Schritt zu einer Umorganisierung der Gesellschaft von unten nach oben. Und für einen kurzen Augenblick, ehe ihre Revolution durch Isolation, Bürgerkrieg und innere Degeneration zerstört wurde, übernahmen die Sowjets, die Organe der Arbeiterklasse, die Macht in Russland.

Es war ein Moment einer unerhörten Hoffnung für die Menschheit. Die Tatsache, dass sie sich zerschlagen hatte, sollte uns nicht davon abhalten: Wir müssen aus unseren Niederlagen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir können den Kapitalismus nicht demokratisieren, weil er mehr denn je eine monströse und zerstörerische Kraft ist, die die Welt in den Ruin stürzen wird, es sei denn, wir zerstören ihn. Und wir werden dieses Monster nicht los, indem wir die Institutionen des Kapitalismus nutzen. Wir benötigen Organisationen, die wir kontrollieren und mit denen wir den revolutionären Wandel einleiten können, der unsere einzige Hoffnung verbleibt.

Amos, 25.1.2012

Noch mehr Blutbäder im Nahen und Mittleren Osten

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Oberflächlich betrachtet, ist - falls es überhaupt möglich ist, die gegenwärtigen Kriege gegeneinander abzuwägen - der aktuelle Konflikt zwischen der Hamas und Israel um den Gazastreifen nicht einmal das schlimmste Gemetzel, das derzeit stattfindet. Ruandische „Rebellen“, die von Großbritannien gestützt werden, töteten und vergewaltigten sich ihren Weg tief in das Kernland der so genannten Demokratischen Republik Kongo, die selbst ein breites Betätigungsfeld für Massaker, Kinder-Soldaten, Vergewaltigungen und Terror darstellt. All dies wird, wenngleich nicht direkt inszeniert, so doch geduldet von den Großmächten, während die Vereinten Nationen zuschauen. Auch weiter nördlich, in der Sahel-Zone, Massentötungen von Zivilisten, Vergewaltigungen, Kinder-Soldaten, Großmachtmanöver und –rivalitäten neben der elenden Barbarei des religiösen Fundamentalismus. Im Schatten der jüngsten israelischen Operation „Säule der Verteidigung“ ging unterdessen das Gemetzel in Syrien weiter. Doch der Konflikt zwischen Israel und Palästina löst ein besonderes Echo unter den Revolutionären  aus, weil in ihm die permanente Militarisierung zum Ausdruck kommt, die das Kennzeichen eines zerfallenden Systems ist. Was immer seine Besonderheiten, Strategien und „Begründungen“ sind - der israelisch-palästinensische Konflikt ist vor allen Dingen der Ausdruck eines zerfallenden Kapitalismus, der eine enorme Bedrohung für die Arbeiterklasse und für die gesamte Menschheit darstellt. Seine Absurdität und Irrationalität fasst perfekt die Zukunft zusammen, die dieses krisengeschüttelte System für uns und den kommenden Generationen in petto hält. Es kann hier keinen Frieden geben, keine substanziellen Verhandlungen, und jegliche mögliche israelisch-palästinensische „Zwei-Staaten-Lösung“, wenn sie denn jemals das Tageslicht erblickt, würde nur ein weiterer Faktor zu noch größerer Instabilität und zu noch mehr  Kriegen sein. Der Nahe Osten zeigt heute, wie die Nationen und Cliquen unvermeidlich auf wachsende Spannungen, Rivalitäten und militärische Konkurrenz zusteuern. Jede größere Nation ist zu einem militärischen Monster geworden, und sämtliche nationalstaatliche Kreationen sind nach ihrem eigenen Bilde geschaffen worden, wobei jede aufstrebende Clique bzw. „nationale Befreiungskraft“ ebenfalls monströser Ausdruck des universellen Zerfalls ist. Israel und die „palästinensische Frage“ zeigen dies in höchstem Maße.

„Neue“ Staaten und die Verbreitung von Krieg und Militarismus

2009 ist Professor Havard Hegre vom Fachbereich für Politwissenschaften an der Osloer Universität zusammen mit dem Friedensforschungsinstitut zu dem Schluss gekommen, dass „die Anzahl bewaffneter Konflikte zurückgeht“ und „der Rückgang anhalten wird“. (1) Es ist die imperialistische Version der Leugnung der Wirtschaftskrise und der Vorstellung eines immerwährenden mehr oder weniger friedlichen Kapitalismus. Es ist pure Fiktion! Wir haben oben bereits die Kriege in Afrika und Nahost erwähnt, Kriege, die alle Anzeichen der Ausbreitung und Verschärfung in sich tragen. Wir können ferner den Krieg in Libyen hinzufügen, den der gute Mann zusammen mit dem Krieg in Syrien als „Demokratisierungsprozess“ etikettiert, als ob dies irgendeine Art von Entschuldigung ist; aus seinem Blickwinkel und nach Auffassung vieler bürgerlicher Akademiker kann der Kapitalismus ein Gleichgewicht aufrechterhalten, wird er immer humaner, ja schreitet zum ewigen Leben fort. Zu den Kriegen oben können wir den anhaltenden Krieg im Irak hinzufügen, der mehr und mehr droht, sich mit einem Krieg in Syrien zu verbinden, oder die „kurdische Frage“, die ein Krieg für sich und ein potenzieller Krieg über etliche Ländergrenzen hinweg ist, auch hier mit der Gefahr, sich mit dem syrischen Krieg zu verbinden. Dann gibt es den Krieg in Afghanistan und Pakistan und die De-facto-Kriegserklärung der westlichen Mächte gegen ein von Russland und China gestütztes Iran (in einer Konstellation ähnlich der Syriens); nicht zu vergessen die unzähligen Spannungen und Rivalitäten, die von einem aggressiven und heißhungrigen chinesischen Imperialismus ausgehen. Und wir müssen die fragilen und militarisierten Verwerfungslinien auf dem Balkan, dem Kaukasus und in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in Afrika (Somalia, die Sahel-Zone, der Kongo) hinzufügen. Wo wir auch hinschauen, erblicken wir immer mächtigere Tendenzen nicht in Richtung Frieden, Vernunft und Kohärenz, sondern in Richtung Zusammenhanglosigkeit, Fragmentierung, sehen wir zentrifugale, separatistische Tendenzen, die in den ökonomisch verhältnismäßig schwächeren Gebieten der Welt einen Rutsch in die permanente Militarisierung und den Krieg anzeigen. Dies ist eine direkte Konsequenz aus einem Wirtschaftssystem, das nach all seinem früheren Ruhmes nun auf dem letzten Loch pfeift.
Der Nahe Osten setzt sich aus ökonomisch zusammenhangslosen Territorien zusammen, wo ethnische und religiöse Spaltungen von allen wichtigen imperialistischen Mächten zum Gegenstand ihrer Manipulationen und Manöver gemacht werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als das kapitalistische System sich über den Globus ausgebreitet hatte, gab es keinen Platz mehr für irgendwelche neu expandierenden, realen Nationen. Länder wie der Irak, der Jemen, Jordanien, Syrien, der Libanon, Israel und die palästinensischen „Territorien“ waren durchweg Kreationen, oder besser: Missgeburten, des Imperialismus im Allgemeinen und des britischen und französischen Imperialismus (2) im Besonderen, der die willkürlich erzwungenen Grenzen dieser neu geschaffenen Länder benutzte, um „zu spalten und zu herrschen“ und so seine eigenen imperialistischen Interessen durchzusetzen. Später nutzten die USA die terroristischen Fraktionen des Zionismus, um die Briten zu verdrängen, und noch später, während des Kalten Krieges, nutzte Russland die gesamte Region als einen seiner Tummelplätze, um den USA die Stirn zu bieten. Wie all die oben erwähnten arabischen Staaten, die übrigens mehr Palästinenser auf dem Gewissen haben als die Israelis, ist der israelische Staat ein Ausdruck des Militarismus und Krieges, der mit der Vertiefung der Wirtschaftskrise immer instabiler werden wird.
Als der Kapitalismus noch ein pulsierendes, fortschrittliches und expandierendes System gewesen war, waren Krieg und Spaltungen zwar ebenfalls Bestandteil von ihm, doch im Allgemeinen tendierte das System zu einer gewissen Kohärenz hinsichtlich des Aufbaus und der Vereinheitlichung des Nationalstaates. Auch religiöse, ethnische und andere Faktoren neigten dazu, sich für das übergeordnete Wohl einer effektiveren kapitalistischen Akkumulation in einer Nation zu verschmelzen. Dies geschah nicht aufgrund der „moralischen Überlegenheit“ des Kapitalismus, sondern entsprang seinem fundamentalen Bedürfnis nach erfolgreicher Ausbeutung und Expansion. In der Dekadenz sehen wir jedoch, dass die Bildung neuer Staaten nicht zur Integration unterschiedlicher Gruppierungen der Gesellschaft in eine höhere kapitalistische Einheit führt, sondern oft in ethnischen „Säuberungen“, in der Stärkung rassischer, religiöser und ethnischer Spaltungen, in der Vertreibung oder Ghettoisierung verschiedener Gruppen mündet. Wir haben oben bereits den Balkan, den Kaukasus, die ehemaligen Sowjetrepubliken erwähnt, und wir können den indischen Subkontinent hinzufügen – Regionen, in denen viele dieser „Nationen“ aus imperialistischem Kalkül geschaffen wurden und deren eigentliche Existenz sich auf ethnischen und religiösen Spannungen, auf Zentrifugalkräften und dem Jeder-für- sich gründet. Genau dasselbe trifft auf die „Nationen“ des Nahen Ostens zu: Jordanien, Syrien, etc. und besonders Israel, dessen Besonderheit und Existenz als Bollwerk exakt den allgemeinen Niedergang des Kapitalismus widerspiegelt. Viele dieser Nationen sind keine lebensfähigen Wirtschaftseinheiten; sie hängen zumeist von einem größeren imperialistischen Hai (oder von mehreren Haien) ab und geraten in den Fokus größerer Spannungen. Sie drücken nicht ein positives Vorwärtsstreben aus, sondern sind vielmehr eine Fessel für die Produktivkräfte.
Doch bedeutet dies, dass es in Nahost keine „Begründungen“ in dieser Gleichung gibt, dass keine strategischen und wirtschaftlichen Motive am Werk sind (Ölförderung und –verkauf zum Beispiel, wahltaktische Motive, andere taktische Erwägungen usw.)? Nein, es gibt ganze Knäuel von ihnen. Im Nahen Osten kommen sie dick und verworren daher, doch der Punkt ist, dass sie alle zusammen gegenüber der überwältigenden Tendenz zum Zusammenbruch zweitrangig sind. In der Absurdität der Verteidigung von Grenzen, der willkürlichen Spaltungen und im Rahmen einer unüberwindbaren Ausweglosigkeit, die von einer sich vertiefenden Krise noch verschlimmert wird, können sie faktisch nur zu eben jenem Zusammenbruch beitragen. Diese teuflische Spirale der Zerstörung wird nicht stoppen und kann nicht abgeschwächt oder wegverhandelt werden. Was immer die Bourgeoisie anzustellen versucht, um die Lage zu „regeln“, es macht die Lage nur noch zerbrechlicher, und dies wird in Nahost veranschaulicht. Hier konnte man zuerst die klarsten Anzeichen einer Schwächung des Weltgendarmen, den USA, sehen, deren Einflussbereich überspannt und beeinträchtigt wird, was wiederum noch zentrifugaleren Tendenzen Tür und Tor öffnet. Dieses Phänomen einer Gesellschaft, die zerrissen wird in einer Reihe von Kriegen mit unterschiedlichen ethnischen, religiösen und rassischen Gruppen, von denen eine jede für verborgene imperialistische Interessen steht, ist ein typischer Ausdruck der dekadenten Gesellschaft – eine Wiederauflage dessen, was das römische Imperium und das feudale Europa in der Epoche ihres Niedergangs erlebt hatten.

Über den jüngsten Israel-Gaza-Konflikt

Wenn es denn je Präsident Netanjahus Absicht war, seine politische Stellung zu stärken, indem er Mitte November, nach den US-Wahlen und noch vor den israelischen Wahlen im kommenden Januar, die Operation „Säule der Verteidigung“ in Gang setzte, so hat er sich gründlich verrechnet. Hamas, die in den letzten Jahren erheblich an Glaubwürdigkeit im Gaza-Streifen eingebüßt hatte, ist enorm gestärkt aus dem Acht-Tage-Krieg hervorgegangen. Die Brutalität der israelischen Antwort, die Geschützfeuer durch Panzer und Marine, Attacken von Hubschraubern und Kampfjets gegen den schmalen, dicht besiedelten Gaza-Streifen umfasste, hat sich als eine politische Fehlzündung erwiesen. Hamas, die zusammen mit ihren noch fundamentalistischeren „Verbündeten“ von eben jenen dicht besiedelten Gebieten aus monatelang Raketen auf Israel abgefeuert hatte, ist durch die Unterzeichnung einer Waffenruhe mit Israel und durch weitere Gespräche über „Erleichterungen“ im Transport von Menschen und Waren in den und aus dem Gaza-Streifen aufgewertet worden. Umgekehrt hat Hamas zugesagt, dass es die Raketenangriffe gegen Israel  stoppen wird, und sich zu diesem Zweck auch gegenüber den militanteren Gruppen wie den Islamischen Dschihad gewappnet. Hamas ging auch gegenüber den palästinensischen Autonomiebehörden des Mahmoud Abbas in der Westbank gestärkt hervor, wo die Aktien von Hamas zum Nachteil Ersterer stiegen. Dies ist der Grund für die Warnung, die Abbas in dieser Woche an Europa und die USA richtete (The Guardian, 28.11.12), dass die palästinensische Autonomiebehörde ein paar Krümel von „Eigenstaatlichkeit“ (die den Palästinensern eine Art von Vatikan-Status in der UN verleihen soll) erhalten müsse, oder Hamas werde weiter gestärkt. Zur Enttäuschung der USA und des Restes des Nahost-Quartetts (der Sondergesandte Tony Blair) ist Hamas mehr in den ganzen Prozess eingebunden worden; ihre Isolation ist mit Unterstützung nicht nur des Iran, sondern auch Katars, Tunesiens, Ägyptens (Offizielle aus allen drei genannten Ländern haben kürzlich Gaza besucht) und anderer durchbrochen worden. Der britische Außenminister Hague hat die von Ägypten vermittelte Waffenruhe als „einen wichtigen Schritt zu einem dauerhaften Frieden“ begrüßt. Natürlich ist nichts dergleichen wahr, aber es zeigt, wie Hamas und die kleineren Gruppierungen nun von all jenen mit berücksichtigt werden müssen, die sie einst zu isolieren versuchten. Die US-Administration wusste, dass eine israelische Invasion in Gaza angesichts der geopolitischen Aspekte eine Katastrophe wäre und gab dem Abkommen von Ägypten und Hamas bezüglich eines Waffenstillstandes zähneknirschend ihren Segen.
Ein anderer Gewinner in dem heiklen Prozess ist der Führer der Muslimbruderschaft und ägyptische Präsident, Mohammed Mursi, der sich zusammen mit seinem Spionagechef Mohammed Shehata mit dem Hamas-Führer Khaled Mashaal und dem Führer des Islamischen Dschihad, Ramadam Shalah, getroffen hat (Christian Science Monitor, 22. November), um den Deal auszuhandeln, den Hillary Clinton höchstpersönlich im Namen der US-Administration begrüßen musste. Nur ein paar Monate zuvor hatten die USA noch versucht, Mursis wachsenden Einfluss zu untergraben, und im Moment prangern die USA, wie um die Unbeständigkeit und Zerbrechlichkeit der gesamten Region zu unterstreichen, Mursi und seine Muslimbruderschaft an, nur wenige Tage nach dem Waffenstillstands-„Triumph“ diktatorisch und im Stile Mubaraks die ganze Macht zu ergreifen. (3)

Weitergehende imperialistische Faktoren

Ein weiterer Faktor in dieser imperialistischen Jauchegrube ist, dass, ginge es nach Israel, Ägypten mehr Verantwortung für die Hamas übernimmt; entsprechend dieser Sichtweise könnten die Westbank und Gaza – an beiden Enden Israels – weiter voneinander isoliert werden, wenn Ägyptens „Kontrolle“ über den Gazastreifen verstärkt werden könnte. Mursi hat solch ein Ansinnen von sich gewiesen und möchte nicht, dass Israel das Gaza-Problem auf Ägypten abwälzt. Zwar hat es Spannungen und eine gewisse Distanzierung zwischen der Hamas und ihrem früheren Sponsor, den Iran, in der Frage des Krieges in Syrien gegeben (ein Vakuum, das sogleich Katar füllte), doch hat es angesichts der vermeintlichen Rolle, dass die iranische Waffen (insbesondere panzerbrechende Waffen) die Hamas in die Lage versetzten, die Israelis von einer Bodenoffensive gegen den Gaza-Streifen abzubringen, den Anschein einer Wiederaufwärmung dieser Beziehungen. Es ist keine Überraschung, dass es Risse in der Hamas bezüglich ihrer Beziehungen zum Iran gibt, was ein weiterer komplizierender Faktor ist. Es gibt Misstrauen zumindest seitens Saudi-Arabiens wie auch der Vereinten Arabischen Emirate, einem Hauptinvestor in Ägypten, gegenüber der Muslimbruderschaft in Ägypten. Dann gibt es das zweideutige Verhalten der Bruderschaft gegenüber dem Iran, typisch für die seit jeher verwickelten Beziehungen in Nahost. Der Aufstieg der Muslimbruderschaft ist ein weiterer unkalkulierbarer Faktor; ihre wachsenden Aktivitäten in Jordanien tragen dazu bei, dass auch dieses Land immer instabiler wird. All dies schafft neben den Hauptbrennpunkten Syrien und Iran weitere Probleme für den US-Imperialismus und seine Strategie des „Light Footprint“ (etwa: Leichter Fußabdruck) für den Nahen Osten (da er seine Hauptprioritäten für den pazifischen Raum und angesichts der wachsenden Bedrohung seiner Vorherrschaft in dieser Region, die von China ausgeht „neu gewichtet“ und „austariert“).
Hingegen herrschte 2008/09, zurzeit des letzten Einfalls Israels in den Gaza-Streifen, eine verhältnismäßige „Ruhe“ an den Grenzen zu Syrien und dem Libanon, während die Türkei noch freundschaftliche Beziehungen zu Israel unterhielt, auf Mubarak in Ägypten Verlass war und die Spannungen zwischen den USA und dem Iran noch nicht so ausgeprägt waren. Nun ist die Situation weitaus unkalkulierbarer, weil etliche dieser Nationen ihr eigenes Spiel spielen und so die Tendenzen zu einem Jeder-Für-sich-selbst vertiefen.
Die „Führer“ der staatenlosen palästinensischen Bourgeoisie, Fatah, Islamischer Dschihad und Hamas, haben ihrer Bevölkerung nichts anzubieten außer wachsendes Elend und „Märtyrertum“. Sie sind nichts anderes als ein Ausdruck der Verzweiflung und des Hasses; ihr Ziel ist es, so viele israelische Zivilisten wie  möglich zu töten. Sie können keine konstruktive Alternative anbieten, sondern – ähnlich den Warlords in Afrika, deren Kinderarmeen, ein weiteres Phänomen des zerfallenden Kapitalismus, töten, vergewaltigen und plündern – stiften lediglich verzweifelte junge Palästinenser im Namen ihrer leeren nationalistischen Projekte zur Rache und zu rasender Zerstörungswut an. Und der israelische Staat treibt mit täglichen Demütigungen, „Kollektivbestrafungen“, Landnahmen, ungezielten Schießereien und Raketenangriffen, bei denen Zivilisten, die sich zufällig in der Nähe von palästinensischen Gangstern befinden, in die Luft gejagt werden, die Spirale von Terror und Gewalt weiter an.
Trotz aller Repression und permanenter Kriegsatmosphäre gibt es im Nahen Osten viele Anzeichen des sozialen Protestes gegen die Krise des Kapitalismus und die Führer aller Seiten: In den letzten paar Jahren erlebten wir sozialen Proteste in Israel, im Gaza-Streifen, in der Westbank und erst kürzlich in Jordanien; und diese Bewegungen richteten sich hauptsächlich gegen grundlegende Dinge wie Preiserhöhungen bei den Nahrungsmitteln, der Stromversorgung, etc. wie auch gegen alle Regimes, die zu solchen Maßnahmen greifen. Solche Bewegungen müssen, auch wenn sie nicht revolutionär an sich sind, von der Arbeiterklasse begrüßt werden, da sie zeigen, dass selbst unter diesen militarisierten und brutalen Regimes und trotz des Hasses und der Feindseligkeiten, die von den herrschenden Cliquen erzeugt werden, es immer noch den Willen und die Bereitschaft gibt, zurückzuschlagen. Wenn viele ArbeiterInnen in diesen Regionen an den Protesten teilgenommen hatten, so taten sie dies größtenteils als Individuen und nicht als eine eigene, unabhängige Kraft. Der nächste Ausdruck hierfür ist Ägypten, wo die organisierte Arbeiterklasse als realer Faktor im Klassenkampf auftrat und auftritt. Doch die Realität der Arbeiterklasse in diesen Gebieten rund um Israel ist, dass sie zu schwach ist und ohne ihre Brüder und Schwestern in den zentraleren kapitalistischen Nationen nur schwerlich einen Ausweg aus der Barbarei ihrer Umgebung finden wird.
Die sozialen Bewegungen in der Region um Israel, in denen sich die Arbeiterklasse engagiert, sind wichtig, aber sie sind, auch wenn sie die Bourgeoisie destabilisieren oder ihr Probleme bereiten können, nicht stark genug, um die herrschende Klasse auf Dauer zurückzudrängen – sie können es wegen ihrer eigenen Begrenztheit schlicht und einfach nicht. Als Aufschrei der Unterdrückten und Unterdrückten waren die sozialen Bewegungen in Nahost Teil einer internationalen Welle von Protesten, die immer noch nachhallen. Doch der Widerspruch hier ist, dass die Schwäche dieser positiven Bewegung so etwas wie ein Vakuum zurückgelassen hat, in das der Imperialismus eindrang, was zum Teil in den Kriegen in Libyen und Syrien mündete. Es hat ebenfalls zur weitergehenden Destabilisierung der Regimes beigetragen, was umgekehrt dazu tendierte, die Kontrolle der USA über die Region zu schwächen und zentrifugalere, „unabhängige“ Tendenzen in den Bourgeoisien vor Ort zu fördern. Selbst im Falle einer stärkeren Entwicklung des Klassenkampfes erwarten wir keine linear aufwärtsstrebende Bewegung der Kräfte gegen den Kapitalismus. Die Region des Nahen Ostens wird für die dort lebenden Ausgebeuteten und Unterdrückten besonders schwer sein, und dem Klassenkampf stehen angesichts eines ständig existenten, bedrohlichen Imperialismus harte Zeiten bevor. Allein signifikante Bewegungen des Klassenkampfes in den kapitalistischen Zentren können den Imperialismus zurückdrängen und die von ihm aufgezwungenen Fragmentierungen und Kriege in Frage stellen.

Baboon, 29.11.2012

(1) https://www-independent.co.uk/news/world/politics/the-future-of-war-is-l... [1].
(2) Siehe die drei Teile von „Bemerkungen über die Geschichte des Konfliktes im Nahen Osten“ in: Internationale Revue, Nr. 115, 117 und 118 (engl., franz. und span. Ausgabe).
(3) Die britische Bourgeoisie und Geheimdienste waren der Muslimbruderschaft wohlgesonnener gewesen. Sie haben sie in den 1940er und 1950er Jahren unterstützt, und es hat Berichte über ihre Unterstützung der Muslimbruderschaft in ihrer Funktion als Streitkräfte in Syrien im vergangenen Jahr gegeben. Wie im Falle Mubaraks und seines Spionagechefs Suleiman, die von den Briten voll und ganz gestützt wurden, liegt eine ähnliche Unterstützung für Mursi und seine üble Crew im Bereich des Vorstellbaren. Eine vom März 2012 datierte Pressemitteilung für die aktualisierte Version des Buchs von Mark Curtis, Secret Affairs: Britain’s Collusion with Radical Islam („Geheimsache: Großbritanniens Absprachen mit dem radikalen Islam“) stellt fest: „Offizielle des Außenministeriums hielten kürzlich etliche Treffen mit der Muslimbruderschaft ab, die in den britischen Medien unerwähnt blieben. Die Politik besteht darin, Großbritannien im Fall, dass die Bruderschaft eine Schlüsselrolle bei Ägyptens Übergang spielt, ‚abzusichern‘ und eine elf Milliarden Pfund teure Investition von BP zu schützen. Anfragen des Autors im Rahmen des Freedom of Information Act, um mehr Details zu diesen Treffen zu erhalten, wurden vom Außenministerium aus Gründen des ‚öffentlichen Interesses‘ nicht beantwortet.“

Aktuelles und Laufendes: 

  • Syrien [2]
  • Repression Syrien [3]
  • Konflikt Iran [4]
  • Straße von Hormus [5]

Leute: 

  • Assad [6]

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Links
[1] https://www-independent.co.uk/news/world/politics/the-future-of-war-is-looking-bleak-8344462.html [2] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/syrien [3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/repression-syrien [4] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/konflikt-iran [5] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/strasse-von-hormus [6] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/assad