Nach dem Zusammenbruch der DDR im Zuge des Kollapses der Sowjetunion hat sich für die deutsche Bourgeoisie eine historische Chance ergeben, die die Bourgeoisie tief zusammengeschweißt und vereint hat. Sechs Pfeiler (die Wiedervereinigung, die Osterweiterung der EU und die besonderen Beziehungen zu Frankreich, Russland, USA und China) wollen wir in Erinnerung rufen:
Die sogenannte Wiedervereinigung ermöglichte die Vergrößerung des Staatsgebietes und der Bevölkerung (ganz ohne Krieg!), welches dem Streben nach höheren politischen Weihen z.B. (ständiger Sitz im UN – Sicherheitsrat) und insgesamt dem Anspruch auf eine größere Bedeutung im imperialistischen Gerangel im Zeitalter des Zerfalls und damit der allgemeinen Tendenz des Jeder-für-sich-selbst Vorschub gab. Deutschland war plötzlich (wieder) größer als sein historischer Rivale Frankreich, der ja zum größten Freund mutiert war. Doch die deutsch-französische Achse war schon zuvor als alternativlose Stütze des europäischen Marktes (und weiterer Ambitionen, auf die wir später eingehen werden) herausgearbeitet worden. Die Achse Kohl-Mitterrand stellte schnell die Weichen für die Stärkung Europas als ökonomische und imperialistische Macht.
Die Osterweiterung der EU, die sich immer weiter Richtung des imperialistisch gewissermaßen verzwergten Russlands ausdehnte, war ein Eldorado insbesondere für das deutsche Kapital. Mit riesigen Direktinvestitionen wurde eine Zulieferindustrie aufgebaut, ohne die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Autoindustrie kaum vorzustellen wäre. Gleichzeitig öffnete sich ein riesiges Arbeitskräftereservoir für den europäischen (insbesondere britischen und deutschen) Arbeitsmarkt, ohne welches die Gesundheits-, Pflege- und Transportsektoren, aber auch viele industrielle Kernbereiche kaum den Output geliefert hätten, der in den letzten 30 Jahren gebracht wurde.
Schon vor dem Eintritt in den Zerfall hatte die BRD (die DDR eher aus Blockzwängen) eine strategische ökonomische Beziehung zur Sowjetunion aufgebaut (Brandts neue Ostpolitik!), der Ausbau dieser besonderen Beziehung war insbesondere im Rohstoff- und Energiesektor eine bewusste Entscheidung, die sich mit der imperialistischen Schwächung der Führungsrolle der USA und der imperialistischen Verzwergung Russlands erklärt.
Der Ausbau der EU war ein strategisches Projekt der Achse Frankreich-Deutschland, die die historische Chance erkannt hatten. Beide allein waren zu schwach; Deutschland militärisch ein Zwerg, Frankreich ökonomisch zu schwach, doch mit der französischen Atombewaffnung (unabhängig von der NATO!) und der deutschen Industrie konnte man sich der Illusion höherer imperialistischer Gelüste hingeben.
Doch die zerstörerische Kraft des Jeder-für-sich-selbst machte auch vor Europas Türen nicht halt und mit dem Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien und der Bombardierung durch NATO-Truppen machte die USA deutlich, dass trotz ihrer Schwächung die militärische Dominanz über die NATO auch in Europa nicht aus den Augen gelassen würde. Insbesondere die neuen ost-europäischen Länder („neu“ insofern als durch den Kollaps des Ost-Blocks von der Dominanz der Sowjetunion „befreit“) waren offen für die militärische Zusammenarbeit mit den USA.
Gemeinsam mit der Euphorie in den USA hat auch Deutschland massiv in China investiert[1], Produktion ausgelagert, Zulieferung und Vorproduktion aufgebaut und seine eigene Wirtschaft eng mit der chinesischen Werkbank, die zum Fließband und Markt wurde, ausgebaut.
Zusammengefasst kann man feststellen, dass mit dem Eintritt in den Zerfall das imperialistische Gewicht Deutschland zugenommen hat, und dafür zentral waren die ökonomische Stärkung und Ausweitung der EU, der Ausbau einer besonderen Beziehung zu Russland und der Aufbau einer speziellen Beziehung zu China.
Auf allen oben skizzierten Ebenen erzielte die deutsche Bourgeoisie eine tiefe Einigkeit. Auch wenn man sich ideologisch und politisch weiterhin als Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“ sah, war die langfristige Entwicklung eher darauf ausgerichtet, die transatlantische Beziehung zu den USA auf den langen Arm zu halten, eine vorsichtige Absetzbewegung, die Raum für den Ausbau des europäischen Projektes schaffen sollte. Deutschland lehnte beispielsweise den Irak-Krieg ab und verweigerte sich der militärischen Unterstützung; der militärischen Ausdehnung der NATO im Osten wurden politische Fesseln angelegt und immer wieder neue europäische Militärprojekte aufgesetzt (dies eher damit die US-dominierte NATO sich nicht weiter ausbreitete). Auch bei den „alten“ Transatlantikern in der CDU (und teilweise SPD) wurde diese Ausrichtung geteilt.
Die engen Beziehungen zu Frankreich wurden vertieft, gemeinsame Regierungsgipfel, der traditionelle gegenseitige Antrittsbesuch, die sogenannte Achse (oder der Motor) der EU verstärkt.
Der Ausbau der strategischen Beziehung zum russischen Rohstoff- und Energiesektor war ein staatlich orchestriertes Projekt, welches aus historischen Gründen (Brandt) von der SPD dominiert wurde[2], welches jedoch von Kohl (CDU) und seiner „Saunadiplomatie“ mit Jelzin[3] ausgebaut und von seinem Ziehkind Merkel vertieft wurde.
Die ökonomischen Investitionen in China wurden von der deutschen Bourgeoisie unter dem Slogan „Wandel durch Handel“ vorangetrieben und legitimiert. Die Möglichkeiten, neue Produktionskapazitäten in China aufzubauen, waren auch ein beliebtes Mittel, um den deutschen Arbeitsmarkt unter Druck zu setzen und die eigene Produktivität auszubauen. Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre war die deutsche Arbeiterklasse mit vielen Werksschließungen und hilflosen Verteidigungskämpfen konfrontiert, da die Produktion verlagert wurde. Dies schuf dann mit der SPD-Grünen-Regierung unter Schröder ab 1998 auch endlich den politischen Raum, um ein lange ersehntes Projekt der deutschen Bourgeoisie umzusetzen, den Umbau des deutschen Sozialstaats, die Etablierung von Hartz IV und die Politik des „Förderns und Forderns“, wie es scheinheilig hieß. Die deutsche Bourgeoisie war mit Eintritt in das neue Jahrhundert in Hochstimmung: Mit den Folgen des Zerfalls war die deutsche Arbeiterklasse politisch geschwächt. Hunderttausende Ost-Deutsche überschwemmten den Arbeitsmarkt, dem folgten Millionen Arbeiter aus Osteuropa, Fabriken wurden geschlossen, ganze ehemalige Staatsbranchen (Post, Bahn …) privatisiert und die soziale Absicherung wurde immer weiter ausgehöhlt. Gleichzeitig taten sich neue Märkte (China, Russland, Osteuropa …) und Produktionsgebiete auf, und der Arbeitsmarkt war in Bewegung gekommen – was in harter Realität bedeutete, dass Millionen von Proletariern und ihre Familien gezwungen waren, für schlechte Löhne irgendwo hinzuziehen, wo sie dann noch mit Ausländerhass konfrontiert wurden. Diese Hochstimmung in der deutschen Bourgeoisie verstärkte trotz der allgemeinen Tendenzen des Zerfalls die Homogenität in der deutschen Bourgeoisie. Die deutsche Bourgeoisie sammelt sich noch konsequenter als eher politisch geprägte nationale Bourgeoisien um die ökonomische Potenz, und der Duft der Akkumulation lässt sie geradezu emotional werden. Dies ist der Hintergrund für die Fähigkeit der langen Perioden der Großen Koalitionen (GROKO) zwischen CDU und SPD, die ab 2005 möglich (aber auch notwendig) wurden.
Dennoch blieben große Herausforderungen bestehen, die nicht konsequent angegangen wurden:
Auch wenn die oben beschriebene massenhafte Zuwanderung von Arbeitskräften ein Segen für die deutsche Bourgeoisie war, konnte diese den demographischen Knick nicht nachhaltig abfedern und der Arbeitskräftemangel bleibt ein strukturelles Kernproblem der deutschen Wirtschaft[4]. Hinzu kommt der notwendige strukturelle Umbau der deutschen Industrie, der durch die speziellen Beziehungen zu Russland und China nur herausgezögert wurde. Die Infrastruktur hinkt den Erfordernissen einer modernen Industrie und der Mobilität und Ausbeutung der Arbeiter hinterher (Gleise, Brücken, Autobahnen, Glasfaser). Die EU wird zwar als politischer Resonanzraum für die imperialistischen Gelüste Deutschlands und Frankreich benötigt, aber es war nicht möglich eine starke europäisch koordinierte Wirtschaftspolitik zu etablieren, trotz großer Geldumverteilungstöpfe scheiterte bisher der Aufbau einer eigenen Halbleiter-, Batterietechnologie- bzw. Wasserstoffindustrie. Die EU ist trotz der historischen Tendenz zur Verstärkung der staatskapitalistischen Maßnahmen von den historischen Widersprüchen des kapitalistischen Zentrums geprägt, eine Dynamik, die durch die wachsenden Widersprüche und Tendenzen des Jeder-für-sich-selbst verstärkt wird.
Bevor wir uns anschauen, wie die deutsche Bourgeoisie mit den aktuellen Herausforderungen der Zeitenwende umgeht, werfen wir noch einen Blick auf die Instrumente, die der deutschen Bourgeoisie zur Verfügung stehen. Die Parteienlandschaft hat sich über Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg stabilisiert und ausgeformt: die CDU, SPD und FDP. Doch die Etablierung der Grünen Partei zeigt, wie vital und intelligent die deutsche Bourgeoisie ist. Von einer Protestpartei, die in der Lage war, große Kräfte der politischen Alternativbewegungen der 70er und 80er aufzunehmen (durch viele ehemaligen Kader der maoistischen K-Gruppen, Trittin, Kretschmann bzw. Spontis wie Fischer) entwickelten sich die Grünen relativ schnell zu einer modernisierenden Kraft innerhalb der deutschen Bourgeoisie. Die Grünen waren in der Lage, die Kriegsbeteiligung in Jugoslawien zu legitimieren, die Hartz-Gesetze mit umzusetzen, und gelten derzeit als die treibende Kraft im strukturellen Umbau der deutschen Industrie. Die Partei Die Linke hat die Reste der ostdeutschen Staatspartei SED ruhig gestellt, die Bewegungen gegen den Umbau des Sozialstaats und die Werksschließungen neutralisiert und an den neuen Staat herangeführt; sie musste bisher jedoch zu keinem Zeitpunkt als „linke Alternative“ aufgebaut werden, während die AfD (nach der sogenannten Finanzkrise 2007/08) hauptsächlich die verrotteten Elemente, geprägt von Hass und Neid vertritt und keine reale Perspektive, sondern eher das Gewicht des Zerfalls und der Zerstörung ausdrückt. Die Bourgeoisie hat also nach wie vor ein ausreichendes Instrumentarium zur Verfügung, dennoch liegt der Vertrauensverlust weiter Teile der Bevölkerung wie ein Alp auf ihr. Die große Homogenität innerhalb der deutschen Bourgeoisie und die langen Phasen der Großen Koalitionen haben diesen Vertrauensverlust intensiviert. Es gibt bereits erste Zeichen dafür, dass die relativ neue Partei der Grünen nun auch in diesen Sog gezogen wird, nicht nur Teile der alten Umweltbewegung, sondern insbesondere viele junge Umweltbewegte werfen den Grünen vor, ihre Ziele zu verleugnen. Wir werden darauf in einem späteren Artikel näher eingehen.
In unseren Artikeln zu dem Chaos angesichts der Corona-Pandemie haben wir ausführlich aufgezeigt, dass auch die deutsche Bourgeoisie von dem allgemeinen Trend zum wachsenden Kontrollverlust über den eigenen Apparat erschüttert wurde.
„Somit belegen die Entwicklung der Pandemie, das Wuchern der Corona-Proteste, das Wuchern der Rechten im Staat, die Zerstrittenheit und der Grabenkrieg der bürgerlichen Parteien, einen tiefergreifenden Fäulnisprozess..., der sich auch in Deutschland nur noch beschleunigen kann. Dies bedeutet für die deutsche Wirtschaft auf mittlere Sicht enorme Schwierigkeiten und Unsicherheiten. Es erhöht die Notwendigkeit, durch weitere starke staatskapitalistische Maßnahmen stützend und schützend einzugreifen, doch schwindet ebenso die Fähigkeit der Bourgeoisie den Staat unter voller Kontrolle zu halten. Der ehemalige „sichere Hafen“ muss sich auf weitere Zerfallserscheinungen einstellen.“[5]
Die ausgeprägte Fähigkeit, die Wirtschaft von den zerstörerischen Einflüssen des Zerfalls abzuschirmen, war erschüttert worden.[6] Die deutsche Bourgeoisie, die alles tut und jede Chance nutzt, um die Potenz der deutschen Industrie auszuweiten, und hierüber eine möglichst große Homogenität herstellt, hat einen tiefgreifenden Schock erfahren und sich zerrissen und zersplittert erlebt. Doch die wirkliche Herausforderung stand noch bevor.
Der Krieg in der Ukraine hat die materiellen Pfeiler der ökonomischen Potenz Deutschlands zutiefst erschüttert, und dennoch (oder gerade deswegen!) war die deutsche Bourgeoisie geeint in der Lage, eine politische Kehrtwende hinzulegen: Die „Zeitenwende“ einte die SPD-FDP-Grünen-Regierung, die zuvor noch von Partikularinteressen zerrüttet war mit der CDU/CSU bis weit in die Institutionen hinein. Bevor wir uns mit der derzeitigen Lage der deutschen Bourgeoisie näher beschäftigen, müssen wir unterstreichen, dass die anfangs angesprochenen Grundpfeiler, die den Höhenflug der deutschen Bourgeoisie ermöglichten, teilweise weggeschlagen, teilweise am wackeln sind.
Die jahrzehntealte spezielle Beziehung zu Russland, die immer ein Pfeiler und ein Ausdruck der Tendenz der Unabhängigkeit von den USA waren, ist nachhaltig zerstört.
Jede Illusion über eine militärische Option neben der NATO ist zerstört.[7]
Die besondere Beziehung zu China wird nun als Abhängigkeit von China begriffen und ist unter Bombardement der USA, für die China der Hauptfeind bleibt.[8]
Die USA nutzen die nationalen Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland aus, um die Widersprüche innerhalb der europäischen Achse zu eskalieren.
Die militärische Dominanz der USA verschärft die Widersprüche innerhalb der EU und stärkt die Bedeutung der USA.
Ökonomisch versucht China immer größeren Einfluss in Osteuropa zu erhalten und hier Deutschland in „seinem Hinterhof“ herauszufordern.
Hinzu kommen die im dritten Punkt angesprochenen strukturellen Herausforderungen, die nun massiv zum Tragen kommen.
Bisher müssen wir feststellen, dass die deutsche Bourgeoisie weiterhin in der Lage ist, ihre Kräfte weitestgehend zu organisieren. Die Beziehung zu Russland ist – spätestens nach der Geheimdienstsabotage von Nord Stream 2 – abgeschrieben. Doch dies ändert nichts daran, dass in weiten Teilen der Bourgeoisie Einigkeit darüber besteht, dass ein eigenes „stärker europäisches Profil“ notwendig ist, was nichts anderes bedeutet, als dass nach einer größtmöglichen Unabhängigkeit von den USA gerungen wird. Dies ist angesichts der Energie- und Rüstungslieferungen, die die USA erpresst haben, ein mittelfristiges Projekt. Die jüngste gemeinsame Erklärung von Macron und Scholz angesichts des 60-jährigen Abschlusses des Elysee-Abkommen formuliert diese imperialistischen Ambitionen trotz des enormen Druckes der USA erneut.[9] Es gibt eine Minderheit in der deutschen Bourgeoisie, ausgedrückt durch die offen-aggressive Pro-Waffen-Fraktion („Falkenfraktion“) von Strack-Zimmermann (FDP), Teilen der CDU und einigen führenden Grünen (Hofreiter), die eine stärkere Anlehnung an die USA befürworten. Doch es muss darauf hingewiesen werden, dass diese Fraktion nicht in Kontinuität mit den „alten Transatlantikern“ in der CDU steht.[10]
Die spezielle Beziehung zu China ist eine Frage des Überlebens für die deutsche Wirtschaft. Auch wenn alle von notwendigen Rückverlagerungen und alternativen Märkten reden, ändert dies nichts an der Zentralität dieser Beziehung[11], die von der deutschen Bourgeoisie auch entsprechend verteidigt wird. Die Investition Chinas in einen Teil des Hamburger Hafens war ein deutliches Zeichen von Scholz, dem Druck stand zu halten. Die Parole „Wandel durch Handel“ nimmt angesichts des staatskapitalistischen Monsters China niemand mehr in den Mund und die Grünen machen mit ihrer Menschenrechte-Ideologie klar Opposition gegen die Kontinuität der deutschen China-Politik. Sie mögen damit ein moderner Ausdruck der deutschen Bourgeoisie sein, aber realistisch betrachtet, dürfte dies eher ein Ausgangspunkt zukünftiger Spannungen sein.
So müssen wir auch die gegenwärtigen Spannungen im deutsch-französischen Verhältnis verstehen. Die Achse Frankreich-Deutschland ist alternativlos, aber es fällt sowohl der deutschen als auch der französischen Bourgeoisie derzeit immer schwerer, den widersprüchlichen Tendenzen, der Verfolgung eigener Partikularinteressen, allgemein der Jeder-für-sich-selbst-Dynamik zu widerstehen. Noch ausgeprägter ist diese Tendenz für die EU als ganzer.
Die Grünen zeigen sich bezogen auf die Umstrukturierung der deutschen Industrie als die modernisierende Kraft der deutschen Bourgeoisie und haben mittlerweile den Großteil des deutschen Kapitals auf ihrer Seite (auch wenn sich angesichts der China-Politik erste Risse aufmachen). Der strukturelle Umbau der deutschen Industrie ist im vollen Gange. Doch das sogenannte Anti-Inflations-Gesetz der USA ist eine offene Kriegserklärung an Europa. Zu diesem komplexen und widersprüchlichen Szenario gehört auch, dass Investitionen nicht nur Kapital benötigen, sondern auch eine gewisse Infrastruktur, qualifizierte Arbeiter, wissenschaftliche Strukturen usw. Es gibt Beobachter[12], die hier hauptsächlich den Pluspunkt für Europa sehen und davon ausgehen, dass ein neuer Innovationsschub nur von Europa ausgehen kann, da sich hier eine einzigartige kulturelle Konzentration und Flexibilität herausgebildet hat. Doch diese Beobachter ignorieren die enorme Destruktivität, die ein zerfallendes Produktionsverhältnis entwickelt.
Zusammengefasst können wir feststellen, dass die deutsche Bourgeoisie im Unterschied zu der Bourgeoisie in vielen anderen Ländern im Augenblick noch die Fähigkeit hat, sich um die nationalen Interessen zu vereinen. Doch es tun sich erste Risse auf; während die SPD weiterhin in der Lage ist, die langfristigen Interessen strategisch auszurichten, damit aber immer mehr in offene Konflikte mit anderen imperialistischen Mächten gerät, droht die neue Kraft der Grünen angesichts ihrer historischen Unerfahrenheit nicht nur neue imperialistische Konflikte anzuheizen, sondern auch die Bourgeoisie selbst zu spalten. Die FDP hat schon während der Pandemie-Krise gezeigt, dass sie stark von den Fliehkräften des Zerfalls unterminiert ist. Die CDU scheint weiterhin ein verlässlicher Faktor zu sein, auch wenn sie kein eigenes Profil gewonnen hat und hauptsächlich von Kritik an der Regierung lebt, ist sie nicht in dem Maße in eine Zerfallsdynamik wie die US-Konservativen eingetreten. Die staatseigene KfW-Bank hat in einer aktuellen Studie vor „andauernden Wohlstandsverlusten“ und „Verteilungskonflikten“ gewarnt und weist neben den oben entfalteten Herausforderungen auf eine drohende soziale Krise hin. Die Rückkehr des Klassenkampfes in Deutschland wird zeigen, wie weit die deutsche Bourgeoisie in der Lage ist, mit den enormen Herausforderungen und ihrer Wechselwirkung umzugehen!
Gerald, 27. Januar 2023
[1] In den 1980ern wird noch hauptsächlich exil-chinesisches (Taiwan, Hong Kong) und süd-koreanisches Kapital im Textilsektor investiert, Anfang der 90er steigen jedoch die USA, Japan und Deutschland massiv ein. Der XIV. Parteikongress im Oktober 1992 hat das Motto: „Reform, Öffnung und Modernisierung beschleunigen und noch größere Siege für den Sozialismus chinesischer Prägung erringen!“
[2] Der erste Politiker, der Verhandlungen über russische Erdgaslieferungen mit Moskau führte, war in den 1960ern der bayerische Wirtschaftsminister Otto Schedl (CSU), der das agrarische Bayern industrialisieren wollte.
[3] Der deutsche Kanzler Helmut Kohl (CDU) entwickelte mit Boris Jelzin eine enge politisch-persönliche Beziehung, 1992 verkündete Jelzin vor der UNO, dass „der Westen“ ein „Verbündeter“, nicht mehr der „Feind“ sei. 1994 schlossen die EU und Russland das Russland-Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) ab.
[4] Die „Nettozuwanderung müsste von 330.000 im Jahr 2021 auf 1,8 Millionen Zuwanderer im erwerbsfähigen Alter je Jahr steigen“, KfW-Studie, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kfw-warnt-vor-schrumpfendem-wohlstand-fachkraefte-dringend-benoetigt-18620926.html [1], 22.02.2023
[5] Pandemie in Deutschland [2], Mai 2021, IKSonline
[6] Die Weltwirtschaft wird von der Beschleunigung des Zerfalls erfasst [3], Oktober 2022, Weltrevolution Nr. 185
[7] Siehe die gemeinsame Erklärung der NATO und der EU vom 10. Januar 2023
[8] Achtet auf unsere kommenden Artikel, die unsere Berichte vom letzten Kongress aktualisieren: Bericht über die imperialistischen Spannungen (Mai 2022): Bedeutung und Auswirkungen des Krieges in der Ukraine [4], Juni 2022, Internationale Revue Nr. 58
[9] „Die erste große Herausforderung ist für uns, zu gewährleisten, dass Europa noch souveräner wird und über die geopolitischen Kapazitäten verfügt, die internationale Ordnung zu gestalten. Für ein starkes Europa von morgen müssen wir jetzt stärker in unsere Streitkräfte und in die Grundlagen unserer Rüstungsindustrie in Europa investieren ...“, FAZ 20.01.2023.
[10] Hier sieht man das Walten der Zerfallskräfte deutlich, spätestens seit den Wirren, Irrationalitäten und wachsenden Unzuverlässigkeit der US-Bourgeoisie unter Trump ist die historische Fraktion der Transatlantiker in der deutschen Bourgeoisie nachhaltig irritiert und geschwächt. Die neuen Kräfte verfügen über keine starken Kontakte in den USA selbst, sondern sind eher wankelmütige Kandidaten offen für Manipulationen.
[11] So weisen beispielsweise Ökonomen aus dem Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) und seinem Umfeld darauf hin, dass die Bundesrepublik annähernd die Hälfte aller strategisch wichtigen Güter, die sie importieren muss, aus China bezieht – 45,1 Prozent. Der Chipproduzent Infineon etwa erwirtschaftete zuletzt 37,9 Prozent seines Umsatzes in der Volksrepublik. Deutschlands drei große Kfz-Konzerne erzielten in China zwischen 31,7 (BMW) und 37,2 Prozent (VW) ihres Gesamtumsatzes. Während letztere darauf angewiesen sind, zunehmend Forschung und Entwicklung in der Elektromobilität in den Branchenleitmarkt China zu verlegen, weist die Chemieindustrie darauf hin, dass sich in dem Land bald die Hälfte des globalen Chemikalienmarktes bündeln wird.
[12] „Aber Europa verfügt über ein hohes Maß an Innovationskraft. Industrietechnik wir unglaublich wichtig sein, und darin ist Deutschland Weltmeister. […] Ich bin optimistisch, weil ich glaube, dass in diesem Geschäft Innovation, Größe, Technologie und Talent die Zukunft bestimmen werden. Und Europa hat das in Hülle und Fülle.“
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/varo-chef-dev-sanyal-europa-wird-die-vorreiterrolle-uebernehmen-18576463.html [5], 03.01.2023
In letzter Zeit machen Klimaaktivisten mit den verschiedensten Aktionen in mehreren Ländern auf die längst eingesetzte Klimakatastrophe aufmerksam. Sei es indem man Farbbeutel auf wertvolle Gemälde oder andere Kunstgegenstände in Museen wirft, sich an zentralen Straßen- oder Kreuzungen festklebt und lange Staus verursacht, Flughafenteile besetzt oder wie in Frankreich eine Zementfabrik beschädigt. In Deutschland stand Mitte Januar tagelang die Räumung des besetzten Dorfes Lützerath im rheinischen Braunkohlegebiet im Vordergrund.
Wir wollen direkt unterstreichen: Ja – der Kapitalismus hat eine Spirale der Zerstörung in Gang gesetzt. Es stimmt, dass die kombinierten und kumulierten Auswirkungen der Umweltzerstörung die Luft, die Böden, die Meere vergiften und nicht nur Millionen von Menschen jedes Jahr als Umweltflüchtlinge vertreiben. Jedes Jahr sterben laut WHO ca. 13.7 Millionen Menschen durch Umweltverschmutzung frühzeitig und die Zahl der Erkrankten durch alle Generationen hinweg ist gar nicht ermittelbar.
Wir dürfen keine Illusion haben, der Kapitalismus wird den ganzen Planeten zerstören, die Menschheit ausrotten, so wie er jetzt schon unzählige Tier- und Pflanzenarten ausgerottet hat, wenn er weiter so wütet wie bislang.
Aber bleibt die Spirale der Zerstörung auf die Umweltzerstörung begrenzt? In Wirklichkeit tobt doch gleichzeitig neben vielen anderen Kriegen vor allem in Europa der Ukraine-Krieg und sät seit einem Jahr Tod, hat Millionen von Menschen in die Flucht getrieben, diente den Herrschenden aller Länder als Vorwand, um weiter Atomkraft, Gas- und Kohlekraftwerke zu benutzen, weil alles dem Diktat des Militarismus, der angeblichen Energiesicherheit eines Landes untergeordnet wird. Nicht nur wurden infolgedessen die Rüstungsausgaben enorm gesteigert – in Deutschland und Japan gar verdoppelt, sondern man nimmt billigend die weitere dramatische Zerstörung der Natur in Kauf.
Die Herrschenden gehen nicht nur in der Ukraine über Leichen. Sie scheren sich auch einen Dreck um die ungeheure Zahl an Hungernden, deren Leben jetzt durch Klimakatastrophe und den Ukraine-Krieg noch mehr bedroht ist. Werden nicht Milliarden Menschen durch die Wirtschaftskrise und die damit verbundene Inflation in die Verarmung und Verzweiflung getrieben? Gewalt und Armut z.B. in Latein- und Mittelamerika bewirken, dass in der US-amerikanischen-mexikanischen Grenzstadt El Paso allein jeden Tag 2.500 Flüchtlinge ankommen, die vor den Mauern der Festung USA stranden. Wie viel Flüchtlinge ertrinken jedes Jahr im Mittelmeer bei dem verzweifelten Versuch Europa zu erreichen? Wie viel Tausende hängen auf der Balkanflüchtlingsroute fest und werden von den Schergen des Systems misshandelt?
Können wir also nur auf die Umweltzerstörung schauen und uns darauf beschränken, hier nach Lösungen zu suchen? In Wirklichkeit müssen wir laut und deutlich aussprechen, dass der Kapitalismus dabei ist, die Natur - unsere Natur - die Zivilisation auf dem ganzen Erdball durch eine ganze Spirale der Zerstörung zu vernichten, wenn diesem kein Einhalt geboten wird.
Heute die Illusionen zu haben, man könnte nur an einem Punkt ansetzen und dann das Schlimmste verhindern, ist reine Augenwischerei.
Zu glauben, dass die Menschheit unter diesem kapitalistischen System überleben könnte, ist aber nicht nur irreführend, demoralisierend sondern auch entwaffnend. Deshalb ist der Ausgangs- und Ansatzpunkt der Klimaaktivisten ein völlig falscher.
Sie werfen den Machthabern vor, die Politik ignoriere die drohende Klimakatastrophe. Sie appellieren an deren Gewissen, deren Handlungswillen, als ob sich die Herrschenden einen freien Entscheidungsspielraum schaffen könnten. Tatsache ist, dass die Gesetze der Marktwirtschaft, das Profitstreben, die Konkurrenz, es unmöglich machen, sich dem Zwang zur gnadenlosen und zerstörerischen Ausbeutung der Natur zu entziehen. Weil sich alle Vertreter des Kapitals trotz ihrer nationalen und ideologischen Gegensätzen den kapitalistischen Verwertungsgesetzen unterwerfen und diese auf irgendeine Form rechtfertigen müssen, drehen sie alle an der Spirale der Zerstörung mit.
Können wir Hoffnung haben auf Einsicht der Herrschenden bei der Klimafrage? Welche Prioritäten haben sie? Mit welchen Lügen wollen sie uns hinters Licht führen?
Vor wenigen Jahren hieß es im Wahlkampf: „wir müssen Arbeitsplätze in der Braunkohleindustrie im Rheinland und in Ostdeutschland retten, deshalb muss die Kohleförderung noch jahrelang weitergehen“. Heuchelei und Zynismus: Wählerstimmen wollten sie erhaschen und die Kohleindustrie unterstützen – auf Kosten der Gesundheit der Weltbevölkerung. Welch eine Herrscherklasse, die vorgibt ein paar Tausend Arbeitsplätze sichern zu wollen und gleichzeitig mit dafür sorgt, dass die Zahl der Umwelttoten weltweit über 13 Millionen gesprungen ist. Wo sind die Arbeitsplätze der Millionen Umweltflüchtlinge, die jedes Jahr die Zahl der weltweiten Flüchtlinge ansteigen lässt (mittlerweile über 110 Mio.). Schutz der Arbeitsplätze durch die Herrschenden? Im Gesundheitswesen sind seit Jahren Tausende Stellen gestrichen, viele Krankenhausbetten abgeschafft worden, die Arbeitsbedingungen für die meisten Beschäftigten zu einer wahren Hölle geworden, nur weil alles einer „Ökonomisierung“ des Gesundheitswesens (sprich Profitprinzip) weichen soll.
Wenn in Deutschland die Grünen nicht nur mit am lautstärksten Waffenlieferungen aller Art an die Ukraine fordern, wenn sie im Bündnis mit FDP und SPD eine Verdoppelung des Militärhaushaltes rechtfertigen, wenn sie viel vehementer als irgendeine andere Partei die Umstellung auf mehr Gaslieferungen infolge der Sanktionen gegen Russland begründen, ist dies kein Verrat an irgendwelchen ursprünglich hehren Absichten. Nein, sie drehen mit am kapitalistischen Räderwerk und liefern ideologische Rechtfertigungen, damit alles dem obersten Prinzip Profit, Konkurrenz und deren Folgen - Krieg und Zerstörung - geopfert wird. Und wenn nun die Parteibasis bei den Grünen oder auch bei der SPD unter dem Namen „SPD.Klima.Gerecht“ spürt, dass das Ansehen der Grünen und der SPD durch deren Politik beschädigt wird, versuchen diese lediglich, die Glaubwürdigkeit dieser zutiefst kapitalistischen Parteien zu retten.
Alle diese symbolischen Protestaktionen, die die Aufmerksamkeit auf die Klimakatastrophe lenken sollen, sind nichts als ein Akt der Verzweiflung, der Hilflosigkeit und letzten Endes Schwindelei.
Die Forderungen von Gruppen wie extinction rebellion sind nicht weniger irreführend. „Unsere Forderungen: Wir verlangen einen ehrlichen Umgang mit der ökologischen Krise, sofortiges Umlenken und die Einbeziehung von Bürger:innen.“
Wie kann man von einer herrschenden Klasse deren System auf Ausbeutung, auf Profit, auf Mystifizierung, auf Lügen fußt, „einen ehrlichen Umgang mit der ökologischen Krise“ verlangen? Die Herrschenden streiten bei allen Konferenzen mit Hauen und Stechen (wie Sharm el Sheikh), wie sie am besten ihre materiellen Interessen verteidigen können. Seit Jahrzehnten findet ein Umweltgipfel nach dem anderen statt, von sofortigem Umlenken keine Spur! Im Gegenteil: Die Herrschenden verteidigen ihre Profitinteressen mit größter Brutalität und Grausamkeit mit der Folge, dass die Walze der Umweltzerstörung seit dem Beginn der Konferenzen nur noch verheerender wirkt.
Von diesen Heuchlern der herrschenden Klasse einen respektvollen, schonenden Umgang mit der Natur zu erwarten, ist mehr als nur Naivität. Es bedeutet die eigentlichen Mechanismen des Kapitalismus und das Verhalten der Verteidiger des Systems zu verschleiern. In Anbetracht des ekelerregenden Zynismus und des Machtinstinkts der Herrschenden, deren wesentliche Sorge darin besteht, alle Ressourcen der Gesellschaft für den Krieg und Konkurrenzkampf bereitzustellen, ist der Medienhype um die Aktionen der Klimaaktivisten selbst schon Teil einer ganzen Kampagne zur Verhüllung der tieferen Ursachen und zur Irreführung derjenigen geworden, die gegen die auf uns zurollende Katastrophe protestieren wollen. Wer sich aber mit solchen Aktionen an irgendwelche Gegenstände festklebt, reißt keinesfalls den Schleier des Zynismus der Herrschenden herunter, sondern verklebt sich und anderen noch mehr den Augen vor den wirklich notwendigen Schritten. Diese Aktionen lenken davon ab, dass es darum geht, den wirklichen Hebelpunkt zu finden, der das System aus den Angeln heben und überwinden kann.
Diese Lösung – Überwindung des Systems – Zerschlagung aller Mechanismen der Konkurrenz, des Profitprinzips, der Unterordnung unter die blinden Gesetze der Akkumulation von Wert, der Abschaffung aller Staaten, Kriege an der Wurzel zu packen usw.- all das kann nur von der Arbeiterklasse angegangen werden, die kein Interesse an Ausbeutung und der Aufrechterhaltung dieser Gesellschaft hat. Weil aber die Arbeiterklasse große Schwierigkeiten hat, ihre eigenen Stellung und Stärke zu erkennen, können viele deren Rolle nicht erkennen, und werden vereinnahmt durch solche demoralisierenden Aktionen des „Klimaaktivismus“. Aber es gibt keinen anderen Weg: Anstatt sich durch diesen Klimaaktivismus benebeln und demoralisieren zu lassen, sagen wir: es führt kein Weg daran vorbei, sich mit der zentralen Rolle der Arbeiterklasse auseinanderzusetzen. Wir verweisen an dieser Stelle dazu auf andere Artikel in unserer Presse. Wilfr., 19.01.2023
Es dauerte nur eine Nacht, bis der Donner der Kanonen und der Bombenlärm wieder in der Ukraine ertönte, vor den Toren der historischen Wiege eines mittlerweile verrottenden Kapitalismus. Innerhalb weniger Wochen hat dieser Krieg von unerhörtem Ausmaß und Brutalität ganze Städte verwüstet, Millionen von Frauen, Kindern und alten Menschen auf die eisigen Straßen des Winters geworfen und unzählige Menschenleben auf dem Altar des Vaterlandes geopfert. Charkiw, Sumy oder Irpin sind heute nur noch Ruinenfelder. Im völlig dem Erdboden gleichgemachten Industriehafen von Mariupol hat der Konflikt nicht weniger als 5000 Menschen das Leben gekostet, wahrscheinlich sogar noch mehr. Die Verwüstungen und Schrecken dieses Krieges erinnern an die schrecklichen Bilder aus Grosny, Falludscha oder dem zerstörten Aleppo. Doch wo es Monate, manchmal sogar Jahre gedauert hat, bis es zu solchen Verwüstungen kam, gab es in der Ukraine keine "mörderische Eskalation": In nur einem Monat haben die Kriegsparteien all ihre Kräfte in das Gemetzel geworfen und eines der größten Länder Europas verwüstet!
Der Krieg ist ein erschreckender Moment der Wahrheit für den dekadenten Kapitalismus: Indem die Bourgeoisie ihre Todesmaschinen zur Schau stellt, legt sie plötzlich die heuchlerische Maske der Zivilisation, des Friedens und des Mitgefühls ab, die sie mit der unerträglichen Arroganz, die den anachronistisch gewordenen herrschenden Klassen eigen ist, zur Schau zu tragen vorgibt. Sie kämpft sich durch einen wütenden Strom von Propaganda, um ihr hässliches Gesicht als Mörderin besser zu verbergen. Wie kann man nicht erschrecken, wenn man diese armen russischen Jungen, 19- oder 20-jährige Wehrpflichtige, mit ihren pubertären Gesichtern sieht, die wie in Butscha und anderen kürzlich verlassenen Orten zu Mördern gemacht werden? Wie kann man sich nicht empören, wenn Selenskyj, der "Diener des Volkes", schamlos eine ganze Bevölkerung als Geisel nimmt, indem er die "Generalmobilmachung" aller gesunden Männer zwischen 18 und 60 Jahren anordnet, denen es von nun an verboten ist, das Land zu verlassen? Wie kann man nicht entsetzt sein über die bombardierten Krankenhäuser, die verängstigten und hungernden Zivilpersonen, die Massenhinrichtungen, die in Kindergärten vergrabenen Leichen und das herzzerreißende Weinen der Waisenkinder?
Der Krieg in der Ukraine ist eine abscheuliche Manifestation des schwindelerregenden Abstiegs des Kapitalismus in Chaos und Barbarei. Seit zwei Jahren hat die Covid-Pandemie diesen Prozess erheblich beschleunigt, dessen monströses Produkt sie selbst ist.[1] Der IPCC kündigt unumkehrbare Kataklysmen und Klimaveränderungen an, die die Menschheit und die Artenvielfalt auf globaler Ebene direkt bedrohen. Doch aufgrund von Militärausgaben und Umstrukturierungen im Energiesektor hat die europäische Bourgeoisie beschlossen, die Schließung von Kohlekraftwerken zu verschieben. Inzwischen häufen sich die großen politischen Krisen, wie man nach Trumps Niederlage in den USA sehen konnte; das Gespenst des Terrorismus schwebt über der Gesellschaft, ebenso wie das nukleare Risiko, das der Krieg wieder in den Vordergrund gerückt hat. Unaufhörliche Massaker und kriegerisches Chaos, unaufhaltsame wirtschaftliche Angriffe, explodierendes soziales Elend, Klimakatastrophen großen Ausmaßes... Die Gleichzeitigkeit und Häufung all dieser Phänomene ist kein unglücklicher Zufall, sondern zeugt im Gegenteil davon, dass der mörderische Kapitalismus durch die Geschichte verurteilt ist.
Wenn die russische Armee die Grenze überschritten hat, dann sicherlich nicht, um das "russische Volk" zu verteidigen, das "vom Westen belagert" wird, oder um den russischsprachigen Ukrainer:innen, die Opfer der "Nazifizierung" der Kiewer Regierung seien, "Hilfe zu leisten". Die Angriffe aller Art gegen die Ukraine sind auch nicht das Produkt der "Wahnvorstellungen" eines "verrückten Autokraten", wie die Presse in allen Tonlagen wiederholt, wann immer es gilt, ein Massaker zu rechtfertigen[2] und zu verschleiern, dass dieser Konflikt, wie alle anderen, in erster Linie die Erscheinungsform einer dekadenten und militarisierten bürgerlichen Gesellschaft ist, die der Menschheit nichts mehr zu bieten hat außer ihrer eigenen Vernichtung!
Die Toten und die Zerstörungen, das Chaos und die Instabilität an ihrer Grenze waren ihnen egal: Für Putin und seine Clique galt es, die Interessen des russischen Kapitals und seinen Platz in der Welt zu verteidigen, die beide durch die zunehmende Verankerung seiner traditionellen Einflusssphäre im Westen geschwächt wurden. Die russische Bourgeoisie kann sich noch so sehr als "Opfer" der NATO darstellen, Putin hat angesichts des Scheiterns seiner Offensive nie gezögert, eine entsetzliche Kampagne der verbrannten Erde und der Massaker zu führen und alles auf seinem Weg auszurotten, einschließlich der russischsprachigen Bevölkerung, die er angeblich zu schützen gekommen war!
Auch von Selenskyj und seinem Gefolge aus korrupten Politikern und Oligarchen ist nichts zu erwarten. Der ehemalige Komiker spielt nun perfekt seine Rolle als skrupelloser Hetzer für die Interessen der ukrainischen Bourgeoisie. Durch eine intensive nationalistische Kampagne gelang es ihm, die Bevölkerung zu bewaffnen und eine ganze Meute von Söldnern und Schießwütigen zu rekrutieren, die als "Helden der Nation" gefeiert wurden. Selenskyj tourt nun mit seinen Videoauftritten durch die westlichen Hauptstädte und wendet sich an alle Parlamente, um wie ein Aasgeier um die Lieferung von immer mehr Waffen und Munition zu betteln. Der "heldenhafte ukrainische Widerstand" tut das, was alle Armeen der Welt tun: Er schießt, massakriert, plündert und scheut sich nicht, Gefangene zu verprügeln oder gar hinzurichten.
Alle demokratischen Mächte geben vor, sich über die von der russischen Armee begangenen "Kriegsverbrechen" zu empören. Was für eine Heuchelei! Im Laufe der Geschichte haben sie immer wieder Leichen und Ruinen in allen Teilen der Welt angehäuft. Während die westlichen Mächte das Schicksal der Bevölkerung beklagen, die dem "russischen Unhold" zum Opfer gefallen ist, liefern sie gleichzeitig Unmengen an Kriegswaffen, sorgen für die Ausbildung und liefern alle Informationen, die für die Angriffe und Bombardierungen der ukrainischen Armee, einschließlich des Neonazi-Regiments Asow, notwendig sind!
Vor allem aber hat die US-Bourgeoisie durch eine Vielzahl von Provokationen alles getan, um Moskau in einen von vornherein verlorenen Krieg zu treiben. Für die USA ist es am wichtigsten, Russland auszubluten und freie Hand zu haben, um die hegemonialen Ansprüche Chinas, das Hauptziel der amerikanischen Macht, zu brechen. Dieser Krieg ermöglicht es den USA auch, das große imperialistische chinesische Projekt der "Seidenstraßen" einzudämmen und zu durchkreuzen. Um ihre Ziele zu erreichen, hat die "große Demokratie" der USA nicht gezögert, ein völlig irrationales und barbarisches militärisches Abenteuer zu fördern, das die globale Destabilisierung und das Chaos in der Nähe Westeuropas verstärkt.
Das Proletariat hat also nicht die Aufgabe, eine Seite gegen eine andere zu wählen! Es hat kein Vaterland zu verteidigen und muss überall den Nationalismus und die chauvinistische Hysterie der Bourgeoisie bekämpfen! Er muss mit seinen eigenen Waffen und Mitteln gegen den Krieg kämpfen!
Heute hat das Proletariat in der Ukraine, das von mehr als 60 Jahren Stalinismus überrollt wurde, eine schwere Niederlage erlitten und sich vom Nationalismus betören lassen. In Russland hat sich das Proletariat zwar etwas widerspenstiger gezeigt, aber seine Unfähigkeit, die Kriegsgelüste seiner Bourgeoisie zu bremsen, erklärt, warum die herrschende Clique 200.000 Soldaten an die Front schicken konnte, ohne eine Reaktion der Arbeiterschaft befürchten zu müssen.
In den kapitalistischen Hauptmächten, in Westeuropa und den USA, hat das Proletariat heute weder die Kraft noch die politische Fähigkeit, sich diesem Konflikt durch internationale Solidarität und den Kampf gegen die Bourgeoisie in allen Ländern direkt entgegenzustellen. Es ist derzeit nicht in der Lage, sich zu verbrüdern und massenhaft in den Kampf einzutreten, um das Massaker zu stoppen.
Doch obwohl die Gefahren der Propaganda und Demonstrationen aller Art es in die Sackgasse der Verteidigung des pro-ukrainischen Nationalismus oder in die falsche Alternative des Pazifismus zu treiben drohen, bleibt das Proletariat der westlichen Länder aufgrund seiner Erfahrung mit Klassenkämpfen und den Machenschaften der Bourgeoisie immer noch das wichtigste Gegenmittel gegen die zerstörerische Spirale und Todesspirale des kapitalistischen Systems. Die westliche Bourgeoisie hat sich übrigens davor gehütet, direkt in der Ukraine zu intervenieren, weil sie weiß, dass die Arbeiterklasse das tägliche Opfer von Tausenden von Soldaten, die in kriegerische Auseinandersetzungen eingezogen werden, nicht akzeptieren wird.
Obwohl die Arbeiterklasse in den westlichen Ländern durch diesen Krieg desorientiert und noch immer geschwächt ist, behält sie ihr Potenzial intakt, ihre Fähigkeit, ihre Kämpfe auf dem Gebiet des Widerstands gegen neue Opfer zu entwickeln, die durch die Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und die kolossale Erhöhung der Militärhaushalte verursacht werden: die galoppierende Inflation, die dadurch bedingte Verteuerung der meisten Produkte des täglichen Lebens und die Beschleunigung der Angriffe auf ihre Lebens- und Ausbeutungsbedingungen.
Schon jetzt können und müssen sich die Proletarier:innen allen Opfern, die die Bourgeoisie fordert, widersetzen. Durch ihre Kämpfe kann das Proletariat ein Kräfteverhältnis mit der herrschenden Klasse herstellen, um ihren mörderischen Arm zurückzuhalten! Denn die Arbeiterklasse, die den gesamten Reichtum produziert, ist auf lange Sicht die einzige Kraft in der Gesellschaft, die den Krieg beenden kann, indem sie den Weg zum Umsturz des Kapitalismus beschreitet.
Das hat uns die Geschichte gezeigt, als sich das Proletariat 1917 in Russland und ein Jahr später in Deutschland erhob und den Krieg durch einen gewaltigen revolutionären Aufschwung beendete. Während der Weltkrieg tobte, hatten die Revolutionäre den Kurs gehalten, indem sie das elementare Prinzip des proletarischen Internationalismus kompromisslos verteidigten. Heute ist es die Aufgabe der Revolutionäre, die Erfahrungen der Arbeiterbewegung weiter zu vermitteln. Angesichts des Krieges besteht ihre erste Verantwortung darin, mit einer Stimme zu sprechen und die Fahne des Internationalismus fest zu schwenken – die einzige Fahne, die die Bourgeoisie wieder zum Zittern bringen kann!
IKS, 4. April 2022
[1] In China ist die Pandemie wieder auf dem Vormarsch (erneuter Lockdown in Shanghai). In der übrigen Welt ist die Pandemie noch lange nicht unter Kontrolle.
[2] Von Hitler bis Assad, über Hussein, Milosevic, Gaddafi oder Kim Jong-un ... der Feind leidet überraschenderweise immer an schweren psychologischen Störungen.
Die bis auf die Knochen verrottete, an sich selbst kranke bürgerliche Gesellschaft spuckt wieder Feuer und Stahl. Das ukrainische Gemetzel zeigt jeden Tag massive Bombardements, Hinterhalte, Belagerungen und Flüchtlingskolonnen, die zu Millionen vor dem Dauerfeuer der Kriegsparteien fliehen.
Inmitten der Propagandaflut, die von den Regierungen aller Länder ausgeschüttet wird, stechen zwei Lügen hervor: Die eine stellt Putin als einen "verrückten Autokraten" dar, der alles tun würde, um der neue Zar eines wiedererrichteten Reiches zu werden und sich die "Reichtümer" der Ukraine unter den Nagel zu reißen; die andere gibt den "Völkermördern" an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass, welche die "heldenhaften" russischen Soldaten unter Einsatz ihres Lebens schützen müssten, die Hauptschuld an dem Konflikt. Die Bourgeoisie hat stets besondere Sorgfalt darauf verwendet, die tatsächlichen Kriegsursachen zu verschleiern, indem sie sie mit dem ideologischen Schleier der "Zivilisation", der "Demokratie", der "Menschenrechte" und des "Völkerrechts" verhüllte. Doch der wahre Kriegsgrund ist der Kapitalismus!
Seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000 hat Russland große Anstrengungen unternommen, um eine modernere Armee aufzubauen und im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, aber auch in Afrika durch die Entsendung von Söldnern nach Libyen, Zentralafrika und Mali wieder Einfluss zu gewinnen und immer mehr Chaos zu stiften. In den letzten Jahren hat es auch nicht gezögert, direkte Offensiven zu starten – 2008 in Georgien und 2014 durch die Besetzung der Krim und des Donbass –, um den Rückgang seiner Einflusssphäre aufzuhalten, wobei es Gefahr lief, an seinen eigenen Grenzen große Instabilität zu schaffen. Nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan glaubte Russland, die Schwächung der USA nutzen zu können, um zu versuchen, die Ukraine wieder in seine Einflusssphäre zu holen, ein Gebiet, das für seine Position in Europa und der Welt von entscheidender Bedeutung ist, zumal Kiew drohte, an die NATO anzudocken.
Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks ist dies sicherlich nicht das erste Mal, dass auf dem europäischen Kontinent ein Krieg tobt. Die Balkankriege in den 1990er Jahren und der Konflikt im Donbass im Jahr 2014 hatten bereits Unglück und Verwüstung über den Kontinent gebracht. Doch der Krieg in der Ukraine hat schon jetzt viel schwerwiegendere Auswirkungen als frühere Konflikte und veranschaulicht, wie das Chaos immer näher an die Hauptzentren des Kapitalismus heranrückt.
Russland, eine der führenden Militärmächte, ist in der Tat direkt und massiv an der Invasion eines Landes beteiligt, das eine strategische Position in Europa, an den Grenzen der Europäischen Union, einnimmt. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen soll Russland bereits 10.000 Soldaten verloren haben und noch viel mehr Verwundete und Deserteure. Ganze Städte wurden durch einen Bombenhagel dem Erdboden gleichgemacht. Die Zahl der zivilen Opfer dürfte beträchtlich sein. Und das alles in nur einem Monat des Krieges![1]
In der Region gibt es nun eine enorme Konzentration von Truppen und modernster militärischer Ausrüstung, nicht nur in der Ukraine, wo Waffen, Soldaten und Söldner von allen Seiten herangekarrt werden, sondern auch in ganz Osteuropa, wo Tausende von NATO-Soldaten stationiert und Putins einziger Verbündeter Weißrussland mobilisiert wurde. Mehrere europäische Staaten haben ebenfalls beschlossen, ihre Rüstungsanstrengungen erheblich zu erhöhen, allen voran die baltischen Staaten, aber auch Deutschland, das kürzlich eine Verdoppelung der Ausgaben für seine "Verteidigung" angekündigt hat.
Russland droht regelmäßig mit militärischen Vergeltungsschlägen und stellt schamlos sein Atomwaffenarsenal zur Schau. Auch der französische Verteidigungsminister erinnerte Putin daran, dass er es mit "Atommächten" zu tun habe, bevor er die Wogen glättete und nun einen "diplomatischeren" Ton anschlug. Ohne auch nur von einem Atomkonflikt zu sprechen, besteht die Gefahr eines schweren Störfalls in der Industrie. An den Atomanlagen von Tschernobyl und Saporischschja, wo nach Bombenangriffen (zum Glück nur Verwaltungsgebäude) in Brand gerieten, kam es bereits zu erbitterten Kämpfen.
Hinzu kommt eine große Flüchtlingskrise in Europa selbst. Millionen von Ukrainer:innen fliehen vor dem Krieg und der Zwangsrekrutierung in Selenskyjs Armee in die Nachbarländer. Doch angesichts des Gewichts des Populismus in Europa und des manchmal expliziten Willens mehrerer Staaten, Migrant:innen zynisch für imperialistische Zwecke zu instrumentalisieren (wie man kürzlich an der weißrussischen Grenze oder durch die regelmäßigen Drohungen der Türkei gegenüber der Europäischen Union sehen konnte), könnte diese Massenflucht auf lange Sicht zu ernsten Spannungen und Instabilität führen.
Alles in allem birgt der Krieg in der Ukraine ein großes Risiko für Chaos, Destabilisierung und Zerstörung auf internationaler Ebene. Wenn dieser Konflikt nicht selbst in einen noch tödlicheren Flächenbrand mündet, erhöht er diese Gefahren beträchtlich, mit Spannungen und der Gefahr einer unkontrollierten "Eskalation", die zu unvorstellbaren Folgen führen kann.
Obwohl die russische Bourgeoisie die Feindseligkeiten eröffnet hat, um ihre schmutzigen imperialistischen Interessen zu verteidigen, ist die Propaganda, die die Ukraine und die westlichen Länder als Opfer eines „verrückten Diktators“ darstellt, nur eine scheinheilige Maskerade. Seit Monaten warnte die US-Regierung immer wieder provokativ vor einem bevorstehenden russischen Angriff, verkündete aber gleichzeitig, dass sie keinen Fuß auf ukrainischen Boden setzen würde.
Seit dem Zerfall der UdSSR wurde Russland an seinen Grenzen kontinuierlich bedroht, sowohl in Osteuropa als auch im Kaukasus und in Zentralasien. Die USA und die europäischen Mächte haben die russische Einflusssphäre systematisch zurückgedrängt, indem sie viele osteuropäische Länder in die Europäische Union und die NATO aufgenommen haben. In diesem Sinne ist auch die Vertreibung des ehemaligen georgischen Präsidenten Schewardnadse im Jahr 2003 während der "Rosenrevolution" zu verstehen, die eine pro-amerikanische Clique an die Macht brachte, ebenso wie die "orangefarbene Revolution" in der Ukraine 2004 und alle nachfolgenden Konflikte zwischen den verschiedenen Fraktionen der dortigen Bourgeoisie. Die aktive Unterstützung der proeuropäischen Opposition in Weißrussland durch die Westmächte, der Krieg in Bergkarabach unter dem Druck des NATO-Mitglieds Türkei und die Abrechnungen auf der höchsten Ebene des kasachischen Staates haben das Gefühl der Not in der russischen Bourgeoisie nur noch verstärkt.
Sowohl für das zaristische als auch für das "sowjetische" Russland war die Ukraine schon immer ein zentrales Thema seiner Außenpolitik. In der Tat ist die Ukraine für Moskau der einzige und letzte direkte Zugang zum Mittelmeer. Die Annexion der Krim im Jahr 2014 folgte bereits diesem Imperativ des russischen Imperialismus, der direkt von der Einkreisung durch zumeist pro-amerikanische Regime bedroht war. Der erklärte Wille der USA, Kiew an den Westen anzugliedern, wird von Putin und seiner Clique daher als echte Provokation empfunden. In diesem Sinne ist die Offensive der russischen Armee, auch wenn sie völlig irrational und von Anfang an zum Scheitern verurteilt zu sein scheint, für Moskau ein verzweifelter "Kraftakt", mit dem es seinen Rang als Weltmacht aufrechterhalten will.
Die amerikanische Bourgeoisie, die sich der Lage in Russland sehr wohl bewusst ist, war in dieser Frage zwar gespalten, ließ es sich aber nicht nehmen, Putin durch eine Vielzahl von Provokationen in die Enge zu treiben. Als Biden ausdrücklich versicherte, er werde nicht direkt in der Ukraine intervenieren, hinterließ er absichtlich ein Vakuum, das Russland sofort nutzte, in der Hoffnung, seinen Niedergang auf der internationalen Bühne zu bremsen. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA einen eiskalten Machiavellismus anwenden, um ihre Ziele zu erreichen: Bereits 1990 hatte Bush Senior Saddam Hussein in eine Falle gelockt, indem er vorgab, nicht zur Verteidigung Kuwaits eingreifen zu wollen. Der Rest ist bekannt...
Es ist noch zu früh, um die Dauer und das Ausmaß der bereits enormen Zerstörungen in der Ukraine vorherzusagen, aber seit den 1990er Jahren haben wir die Massaker von Srebrenica, Grozny, Sarajevo, Falludscha oder Aleppo erlebt. Jeder, der einen Krieg beginnt, ist sehr oft dazu verurteilt, sich festzubeißen und in einem Stellungskrieg zu versinken. In den 1980er Jahren zahlte Russland einen hohen Preis für die Invasion in Afghanistan, die zur Implosion der UdSSR führte. Die USA erlebten ihre eigenen Fiaskos, die sie sowohl militärisch als auch wirtschaftlich schwächten. All diese Abenteuer endeten trotz anfänglicher scheinbarer Siege letztlich in bitteren Rückschlägen und schwächten die Kriegsparteien erheblich. Putins Russland wird, wenn es sich nach einer demütigenden Niederlage nicht gleich ganz zurückziehen sollte, einen Stellungskrieg nicht vermeiden können, selbst wenn es ihm gelingt, die großen ukrainischen Städte einzunehmen.
"Ein neuer Imperialismus bedroht den Weltfrieden", [2] "Die Ukrainer bekämpfen den russischen Imperialismus seit Hunderten von Jahren" ... [3]
"Der russische Imperialismus" – die Bourgeoisie hat nur diese Worte auf den Lippen, als wäre Russland der Inbegriff des Imperialismus angesichts des "wehrlosen Kükens" der Ukraine. In Wirklichkeit sind Krieg und Militarismus seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase zu grundlegenden Merkmalen dieses Systems geworden. Alle Staaten, ob groß oder klein, sind imperialistisch; alle Kriege, ob sie sich nun als "humanitär", "befreiend" oder "demokratisch" bezeichnen, sind imperialistische Kriege. Das hatten die Revolutionäre bereits während des Ersten Weltkriegs erkannt: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Weltmarkt vollständig in die Jagdreviere der führenden kapitalistischen Nationen aufgeteilt. Angesichts des verschärften Wettbewerbs und der Unmöglichkeit, die Widersprüche des Kapitalismus durch neue koloniale oder kommerzielle Eroberungen zu lockern, bauten die Staaten gigantische Waffenarsenale auf und unterwarfen das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben den Imperativen des Krieges. Vor diesem Hintergrund brach im August 1914 der Weltkrieg aus, ein in der Geschichte der Menschheit bis dahin unerreichtes Gemetzel, das ein neues "Zeitalter der Kriege und Revolutionen" einläutete.
Angesichts des harten Wettbewerbs und der Allgegenwart des Krieges entwickelten sich in jeder Nation, ob groß oder klein, zwei Phänomene, die die Hauptmerkmale der Dekadenzperiode darstellten: der Staatskapitalismus und die imperialistischen Blöcke. "Der Staatskapitalismus [...] antwortet auf das Bedürfnis eines jeden Landes, angesichts der Konfrontation mit den anderen Nationen ein Höchstmaß an Disziplin seitens der verschiedenen Teile der Gesellschaft anzustreben, die Zusammenstöße zwischen den Klassen, aber auch zwischen rivalisierenden Fraktionen der herrschenden Klasse so stark wie möglich zu reduzieren, um insbesondere das gesamte ökonomische Potential zu mobilisieren und zu kontrollieren. Gleichermaßen entspricht die Formierung von imperialistischen Blöcken der Notwendigkeit, eine solche Disziplin auch den verschiedenen nationalen Bourgeoisien aufzuzwingen, um ihre wechselseitigen Antagonismen einzuhegen und sie für die Hauptkonfrontation, nämlich die zwischen den beiden militärischen Lagern, zusammenzuschließen.“[4] So teilte sich die kapitalistische Welt während des gesamten 20. Jahrhunderts in rivalisierende Blö name="_ftnref5" title="">[5], die durch das Verschwinden der imperialistischen Blöcke seit über 30 Jahren gekennzeichnet ist. Der Abstieg des russischen "Gendarmen" und de facto der Zerfall des amerikanischen Blocks machten den Weg frei für eine ganze Reihe von lokalen Rivalitäten und Konflikten, die zuvor durch die eiserne Disziplin der Blöcke unterdrückt worden waren. Diese Tendenz, dass jeder auf sich selbst gestellt ist und das Chaos immer größer wird, hat sich seitdem voll und ganz bestätigt.
Die einzige "Supermacht" USA versuchte ab 1990, ein Mindestmaß an Ordnung in der Welt zu schaffen und den unaufhaltsamen Niedergang ihrer eigenen Führungsrolle zu bremsen – indem sie auf Krieg zurückgriff. Da die Welt nicht mehr in zwei disziplinierte imperialistische Lager aufgeteilt war, hielt es ein Land wie der Irak für möglich, sich einen ehemaligen Verbündeten desselben Blocks, Kuwait, unter den Nagel zu reißen. Die USA starteten an der Spitze einer Koalition aus 35 Ländern eine mörderische Offensive, die jede künftige Versuchung, Saddam Husseins Vorgehen nachzuahmen, entmutigen sollte.
Die Operation konnte jedoch das imperialistische Prinzip des "Jeder-gegen-Jeden", das typisch für den Zerfallsprozess der Gesellschaft ist, nicht beenden. In den Balkankriegen traten bereits die schlimmsten Rivalitäten zwischen den Mächten des ehemaligen Westblocks offen zutage, insbesondere zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland, die neben den mörderischen Interventionen der USA und Russlands über die verschiedenen Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien praktisch Krieg gegeneinander führten. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 wiederum markierte einen weiteren bedeutenden Schritt in Richtung Chaos und traf das Herz des globalen Kapitalismus. Im Gegensatz zu den linken Theorien über den angeblichen Ölhunger der USA, die durch die astronomischen Kosten des Krieges als Unsinn entlarvt wurden, mussten die USA vor diesem Hintergrund 2001 in Afghanistan und 2003 im Namen des "Krieges gegen den Terrorismus" erneut im Irak einmarschieren.
Amerika befand sich auf einer regelrechten Flucht nach vorn: Im zweiten Golfkrieg schlichen Deutschland, Frankreich und Russland nicht nur hinter Onkel Sam her, sondern weigerten sich regelrecht, ihre Soldaten einzusetzen. Vor allem aber führte jede dieser Operationen nur zu Chaos und Instabilität, so dass die USA sich schließlich so weit verrannten, dass sie 20 Jahre später Afghanistan gedemütigt verlassen mussten und ein Trümmerfeld in den Händen der Taliban zurückließen, die sie eigentlich bekämpfen wollten, so wie sie bereits den Irak verlassen mussten, in dem eine gewaltige Anarchie herrschte, die die gesamte Region und insbesondere das benachbarte Syrien destabilisierte. Um ihren Rang als führende Weltmacht zu verteidigen, wurden die USA daher zum Hauptverbreiter des Chaos in der Zeit des Zerfalls.
Heute haben die USA unbestreitbar imperialistisch gepunktet, ohne auch nur direkt eingreifen zu müssen. Russland, ein langjähriger Gegner, ist in einen nicht zu gewinnenden Krieg verwickelt, der unabhängig vom Ausgang zu einer erheblichen militärischen und wirtschaftlichen Schwächung führen wird. Die Europäische Union und die USA haben bereits Farbe bekannt: Es geht darum, so die EU-Chefdiplomatin, "die russische Wirtschaft zu verwüsten" – und Pech für das Proletariat in Russland, das für all diese Vergeltungsmaßnahmen bezahlen wird, wie auch für das ukrainische Proletariat, das das erste Opfer und die Geisel der entfesselten Kriegsbarbarei ist!
Die Amerikaner haben auch die NATO wieder unter ihre Kontrolle gebracht, die der französische Präsident als "hirntot" bezeichnet hatte. Sie haben ihre Präsenz in Osteuropa erheblich verstärkt und die europäischen Hauptmächte (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) gezwungen, die wirtschaftliche Last des Militarismus zur Verteidigung der Ostgrenzen Europas stärker zu übernehmen – eine Politik, die die USA seit mehreren Jahren, insbesondere unter Präsident Trump und fortgeführt von Biden, umzusetzen versuchen, um ihre Kraft gegen ihren Hauptfeind China zu bündeln.
Für die Europäer bedeutet die Situation eine große diplomatische Niederlage und einen erheblichen Verlust an Einfluss. Der von den USA angeheizte Konflikt war von Frankreich und Deutschland nicht gewollt, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit von russischem Gas und dem Markt, den das Land für ihre eigenen Waren darstellt, absolut nichts von diesem Konflikt zu gewinnen haben. Im Gegenteil, Europa wird unter den Auswirkungen des Krieges und der verhängten Sanktionen eine weitere Beschleunigung der Wirtschaftskrise erleben. Die Europäer mussten sich also hinter den amerikanischen Schutzschild stellen, obwohl die diplomatische Schwächung, die durch Trumps ‚Gleichgültigkeit’ ausgelöst wurde, sie auf eine starke Rückkehr des alten Kontinents auf die internationale Bühne hatte hoffen lassen.
Ist die Tatsache, dass die wichtigsten europäischen Mächte gezwungen sind, sich hinter die USA zu stellen, der Beginn der Bildung eines neuen imperialistischen Blocks? Die Periode des Zerfalls schließt nicht per se die Bildung neuer Blöcke aus, obwohl das Gewicht des Jeder-für-sich-selbst diese Möglichkeit erheblich behindert. Nichtsdestotrotz wird in der Situation der irrationale Wille jedes Staates, seine eigenen imperialistischen Interessen zu verteidigen, weitgehend gestärkt. Deutschland hat die Umsetzung der Sanktionen etwas verschleppt und bewegt sich weiterhin auf dünnem Eis, wenn es darum geht, die russischen Gasexporte, von denen es stark abhängig ist, nicht zu sanktionieren. Außerdem hat es zusammen mit Frankreich immer wieder interveniert, um Russland einen diplomatischen Ausweg anzubieten, was Washington natürlich zu verzögern versucht. Selbst die Türkei und Israel versuchen, ihre "guten Dienste" als Vermittler anzubieten. Langfristig könnten die europäischen Großmächte mit steigenden Militärausgaben sogar versuchen, sich von der amerikanischen Vormundschaft zu emanzipieren, ein Bestreben, das Macron regelmäßig durch sein Projekt einer "europäischen Verteidigung" vorantreibt. Auch wenn die USA unbestreitbar unmittelbar gepunktet haben, versucht jedes Land also auch, seine eigene Karte zu spielen, wodurch die Bildung eines Blocks umso leichter gefährdet wird, als China seinerseits keine Großmacht hinter sich vereinen kann und bei der Verteidigung seiner eigenen Ziele sogar gebremst und geschwächt wird.
Mit diesem Manöver zielte die US-Bourgeoisie jedoch nicht nur und nicht vorrangig auf Russland. Die Konfrontation zwischen den USA und China bestimmt heute die globalen imperialistischen Beziehungen. Durch die Schaffung chaotischer Zustände in der Ukraine versuchte Washington vor allem, Chinas Vorstoß nach Europa zu behindern, indem es die "Seidenstraßen", die durch die osteuropäischen Länder führen sollten, für einen noch unbestimmten Zeitraum blockierte. Nachdem Biden Chinas Seewege im indopazifischen Raum bedroht hatte, unter anderem mit der Gründung der AUKUS-Allianz[6] im Jahr 2021, hat Biden nun einen riesigen Graben in Europa geschaffen, die China daran hindert, seine Waren auf dem Landweg zu transportieren.
Den USA ist es auch gelungen, die Ohnmacht Chinas aufzuzeigen, auf der internationalen Bühne die Rolle eines verlässlichen Partners zu spielen, da China keine andere Wahl hat, als Russland auf sehr weiche Weise zu unterstützen. In diesem Sinne ist die Offensive der USA, die wir gerade erleben, Teil des umfassenderen Rahmens ihrer Strategie, China einzuengen.
Seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und im Nahen Osten sind die USA, wie wir gesehen haben, zum Hauptfaktor für das Chaos in der Welt geworden. Bisher war dieser Trend zunächst in den kapitalistischen Randstaaten zu beobachten, obwohl auch die Kernstaaten die Folgen zu spüren bekamen (Terrorismus, Migrationskrisen usw.). Doch nun entfacht die größte Weltmacht das Chaos vor den Toren eines der wichtigsten Zentren des Kapitalismus. Diese kriminelle Strategie wird von dem "Demokraten" und "gemäßigten" Joe Biden angeführt. Sein Vorgänger Donald Trump hatte einen nachvollziehbaren Ruf als Hitzkopf, aber jetzt wird klar, dass sich bei der Neutralisierung Chinas nur die Strategie unterscheidet: Trump wollte Abkommen mit Russland aushandeln, Biden und die Mehrheit der amerikanischen Bourgeoisie wollen das Land ausbluten lassen. Putin und seine Mörderclique sind nicht besser, ebenso wenig wie Selenskyj, der nicht davor zurückschreckt, eine ganze Bevölkerung als Geiseln zu nehmen und sie im Namen der Verteidigung des Vaterlandes als Kanonenfutter zu opfern. Und was ist mit den scheinheiligen europäischen Demokratien, die zwar Krokodilstränen über die Opfer des Krieges vergießen, aber gleichzeitig phänomenale Mengen an militärischer Ausrüstung liefern?
Ob links oder rechts, demokratisch oder diktatorisch, alle Länder, alle Bourgeoisien führen uns mit Gewalt ins Chaos und in die Barbarei! Mehr denn je lautet die einzige Alternative, die sich der Menschheit bietet: Sozialismus oder Barbarei!
EG, 21. März 2022
[1] Zum Vergleich: Die UdSSR verlor in den neun Jahren des schrecklichen Krieges, der Afghanistan verwüstet hatte, 25.000 Soldaten.
[2] Contre l'impérialisme russe, pour un sursaut internationaliste (Gegen den russischen Imperialismus, für einen internationalistischen Aufbruch), Mediapart (2. März 2022). Dieser Artikel mit dem vielsagenden Titel grenzt an eine Farce, vor allem seitens seines Autors Edwy Plenel, eines ausgewiesenen Kriegstreibers und großen Verteidigers des französischen Imperialismus.
[3] To understand the Ukraine-Russia conflict, look to colonialism, The Washington Post (24. Februar 2022).
[4] Militarismus und Zerfall, International Review Nr. 13 (1. Quartal 1991), https://de.internationalism.org/content/758/orientierungstext-militarismus-und-zerfall [7]
[5] Zerfall – die letzte Phase der kapitalistischen Dekadenz, Internationale Revue Nr. 13 (4. Quartal 2001), https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus [8]
[6] Alliance militaire AUKUS : L’exacerbation chaotique des rivalités impérialistes [9] (AUKUS-Militärbündnis: Die chaotische Zuspitzung imperialistischer Rivalitäten), Révolution internationale Nr. 491 (November/Dezember 2021)
Wir erleben derzeit die intensivste Kriegspropaganda-Kampagne seit dem Zweiten Weltkrieg – nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt. Deshalb ist es für alle, die auf die Kriegstrommeln mit der Botschaft des proletarischen Internationalismus antworten wollen, unerlässlich, jede Gelegenheit zu nutzen, um zur Diskussion und Klärung, zur gegenseitigen Solidarität und Unterstützung und zur bestmöglichen Festlegung der Methode der Revolutionäre gegen die militaristische Kampagne der Bourgeoisie zusammenzukommen. Aus diesem Grund hat die IKS eine Reihe von öffentlichen Online- und physischen Treffen in einer Reihe von Sprachen abgehalten – Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Italienisch, Portugiesisch, Türkisch – und beabsichtigt, in naher Zukunft weitere Treffen zu organisieren.
Im Rahmen dieses kurzen Artikels können wir nicht den Anspruch haben, alle Diskussionen zusammenzufassen, die auf diesen Treffen stattfanden, die von einer ernsthaften und brüderlichen Atmosphäre und einem echten Wunsch, die Geschehnisse zu verstehen, geprägt waren. Stattdessen wollen wir uns auf einige der wichtigsten Fragen und Themen konzentrieren, die sich herauskristallisiert haben. Wir werden gleichzeitig einige Beiträge von Sympathisant:innen auf unserer Website veröffentlichen, die ihre eigene Sicht der Diskussionen und ihrer Dynamik wiedergeben.
Das erste und wahrscheinlich wichtigste Thema der Treffen war die breite Übereinstimmung, dass die Grundprinzipien des Internationalismus – keine Unterstützung für eines der beiden imperialistischen Lager, Ablehnung aller pazifistischen Illusionen, Bejahung des internationalen Klassenkampfes als einzige Kraft, die sich dem Krieg wirklich entgegenstellen kann – trotz des enormen ideologischen Drucks, vor allem in den westlichen Ländern, sich zur Verteidigung der "tapferen kleinen Ukraine" gegen den russischen Bären zu versammeln, nach wie vor gültig sind. Manch eine:r mag entgegnen, dass dies nur banale Allgemeinheiten seien, aber sie sollten keineswegs als selbstverständlich hingenommen werden, und sie sind sicherlich nicht leicht vorzubringen in dem gegenwärtigen Klima, in dem es nur sehr wenige Anzeichen für eine Klassenopposition gegen den Krieg gibt. Die Internationalist:innen müssen erkennen, dass sie im Moment gegen den Strom schwimmen. In diesem Sinne befinden sie sich in einer ähnlichen Situation wie die Revolutionäre, die 1914 die Aufgabe hatten, angesichts der Kriegshysterie, die die ersten Tage und Monate des Krieges begleitete, an ihren Prinzipien festzuhalten. Aber wir können uns auch von der Tatsache inspirieren lassen, dass die schließliche Reaktion der Arbeiterklasse gegen den Krieg die allgemeinen Losungen der Internationalist:innen in einen Leitfaden für die Aktionen verwandelten, die den Sturz der kapitalistischen Weltordnung zum Ziel hatten.
Ein zweites Schlüsselelement der Diskussion – das weniger breit geteilt wurde – war die Notwendigkeit, die Bedeutung des gegenwärtigen Krieges zu verstehen, der nach der Covid-Pandemie einen weiteren Beweis dafür liefert, dass der Kapitalismus in seiner Zerfallsepoche eine wachsende Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt. Auch wenn der Krieg in der Ukraine nicht den Boden für die Bildung neuer imperialistischer Blöcke bereitet, die die Menschheit in einen dritten – und zweifellos endgültigen – Weltkrieg führen werden, so ist er doch Ausdruck der Verschärfung und Ausweitung der militärischen Barbarei, die in Verbindung mit der Zerstörung der Natur und anderen Erscheinungsformen eines in Agonie befindlichen Systems am Ende das gleiche Ergebnis wie ein Weltkrieg hätte. Unserer Ansicht nach stellt der gegenwärtige Krieg einen bedeutenden Schritt in der Beschleunigung des Zerfalls des Kapitalismus dar, in einem Prozess, der die Gefahr in sich birgt, das Proletariat zu überwältigen, bevor es seine Kräfte für einen bewussten Kampf gegen das Kapital aufbringen kann.
Wir wollen an dieser Stelle nicht näher begründen, warum wir die These von der Wiederherstellung stabiler militärischer Blöcke ablehnen. Wir möchten lediglich darauf hinweisen, dass wir trotz der realen Tendenzen zu einer "Bipolarisierung" der imperialistischen Gegensätze der Ansicht sind, dass diese durch die entgegengesetzte Tendenz jeder imperialistischen Macht, ihre eigenen Interessen zu verteidigen und sich nicht einer bestimmten Weltmacht unterzuordnen, überwogen werden. Diese letztgenannte Tendenz ist jedoch gleichbedeutend mit einem zunehmenden Kontrollverlust durch die herrschende Klasse, einem Abgleiten ins Chaos, das in vielerlei Hinsicht zu einer gefährlicheren Situation führt als diejenige, in der der Planet von rivalisierenden imperialistischen Blöcken während des Kalten Krieges "verwaltet" wurde.
Mehrere Genossinnen und Genossen, die bei den Treffen anwesend waren, stellten Fragen zu dieser Analyse; und einige, zum Beispiel Mitglieder der Communist Workers Organisation bei den englischsprachigen Treffen, waren eindeutig gegen unser Konzept des Zerfalls des Systems. Aber es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass ein zentraler Bestandteil einer konsequent internationalistischen Position die Fähigkeit ist, eine kohärente Analyse der Situation zu entwickeln, andernfalls besteht die Gefahr, durch das Tempo und die Unvorhersehbarkeit der unmittelbaren Ereignisse desorientiert zu werden. Und im Gegensatz zur Interpretation des Krieges durch die Genossinnen und Genossen der Cahiers du Marxisme Vivant auf einer der Versammlungen in Frankreich glauben wir nicht, dass einfache ökonomische Erklärungen, die Jagd nach kurzfristigem Profit, den wirklichen Ursprung und die Dynamik des imperialistischen Konflikts in einer historischen Epoche erklären können, in der ökonomische Motive zunehmend von militärischen und strategischen Notwendigkeiten dominiert werden. Die ruinösen Kosten dieses Krieges werden zusätzliche Beweise für diese Behauptung liefern.
Ebenso wichtig wie das Verständnis über Ursprung und Richtung des imperialistischen Konflikts ist eine nüchterne Analyse der Lage der Weltarbeiterklasse. Während allgemeines Einvernehmen darüber herrschte, dass die Kriegskampagne dem Bewusstsein einer Arbeiterklasse, die bereits unter einem tiefen Vertrauens- und Selbstbewusstseinsverlust gelitten hatte, schwere Schläge versetzt, neigten einige Teilnehmer:innen des Treffens zu der Ansicht, dass die Arbeiterklasse kein Hindernis mehr für den Krieg sei. Unsere Antwort war, dass die Arbeiterklasse nicht als homogene Masse behandelt werden kann. Es ist offensichtlich, dass die Arbeiterklasse in der Ukraine, die von der Mobilisierung für die "Verteidigung der Nation" faktisch ertränkt wurde, eine echte Niederlage erlitten hat. Anders sieht es in Russland aus, wo es trotz der brutalen Unterdrückung jeglicher Meinungsverschiedenheiten eindeutig eine verallgemeinerte Opposition gegen den Krieg gibt, und in der russischen Armee, wo es Anzeichen von Demoralisierung und sogar Rebellion gibt. Das Wichtigste ist jedoch, dass man beim Proletariat in den westlichen Ländern weder auf wirtschaftlicher noch auf militärischer Ebene auf Opferbereitschaft zählen kann, und dass die herrschende Klasse seit langem nicht in der Lage ist, für ihre militärischen Abenteuer etwas anderes als Berufssoldaten einzusetzen. Im Gefolge der Massenstreiks in Polen 1980 entwickelte die IKS ihre Kritik an Lenins Theorie, dass die Kette des Weltkapitalismus an ihrem "schwächsten Glied" brechen würde – in weniger entwickelten Ländern nach dem Vorbild Russlands 1917. Stattdessen bestanden wir darauf, dass die politisch weiter entwickelte Arbeiterklasse Westeuropas der Schlüssel für die Generalisierung des Klassenkampfes sein würde. In einem späteren Artikel werden wir erläutern, warum wir glauben, dass diese Ansicht auch heute noch gültig ist, trotz der Veränderungen in der Zusammensetzung des Weltproletariats, die in der Folge stattgefunden haben.[1]
Die Teilnehmer des Treffens teilten die berechtigte Sorge über die besondere Verantwortung der Revolutionäre angesichts dieses Krieges. Auf dem französischen und dem spanischen Treffen stand diese Frage im Mittelpunkt der Diskussion, aber unserer Meinung nach tendierten einige Genossen zu einem aktivistischen Ansatz und überschätzten die Möglichkeit, dass unsere internationalistischen Losungen einen unmittelbaren Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse haben. Um das Beispiel des Aufrufs zur Verbrüderung zwischen Proletarier:innen in Uniform zu nehmen: Während er als allgemeine Perspektive vollkommen gültig bleibt, gibt es ohne die Entwicklung einer allgemeineren Klassenbewegung, wie wir sie in den Fabriken und auf den Straßen in Russland und Deutschland 1917-18 gesehen haben, kaum eine Chance, dass die Kämpfer:innen auf beiden Seiten dieses gegenwärtigen Krieges sich gegenseitig als Klassenbrüder und -schwestern sehen. Und natürlich sind die echten Internationalist:innen heute eine so kleine Minderheit, dass sie keinen unmittelbaren Einfluss auf den Verlauf des Klassenkampfes im Allgemeinen zu haben erwarten können.
Dennoch glauben wir nicht, dass dies bedeutet, dass Revolutionäre dazu verdammt sind, eine Stimme in der Wildnis zu sein. Auch hier müssen wir uns von Persönlichkeiten wie Lenin und Luxemburg im Jahr 1914 inspirieren lassen, die die Notwendigkeit verstanden, die Fahne des Internationalismus zu hissen, auch wenn sie von der Masse ihrer Klasse isoliert waren, und angesichts des Verrats früherer Arbeiterorganisationen weiter für Prinzipien zu kämpfen und angesichts der Alibis der herrschenden Klasse eine tiefgreifende Analyse der wahren Kriegsursachen zu entwickeln. Ebenso müssen wir dem Beispiel der Zimmerwalder und anderer Konferenzen folgen, die die Entschlossenheit der Internationalist:innen zum Ausdruck brachten, zusammenzukommen und ein gemeinsames Manifest gegen den Krieg herauszugeben, obwohl sie je an unterschiedlichen Analysen und Perspektiven festhielten. In diesem Sinne begrüßen wir die Teilnahme anderer revolutionärer Organisationen an diesen Treffen, ihren Beitrag zur Debatte und ihre Bereitschaft, unseren Vorschlag für eine gemeinsame Erklärung der Kommunistischen Linken gegen den Krieg zu prüfen.[2] Wir können die spätere Entscheidung der CWO/IKT, unseren Vorschlag abzulehnen, nur bedauern, ein Problem, auf das wir in einem späteren Artikel zurückkommen müssen.
Es war auch wichtig, dass die IKS auf die Fragen von Genoss:innen, was in ihrem jeweiligen Ort oder Land getan werden kann, betonte, dass der Aufbau und die Entwicklung von internationalen Kontakten und Aktivitäten, die Integration lokaler und nationaler Besonderheiten in einen globaleren Analyserahmen von größter Bedeutung sind. Die Arbeit auf internationaler Ebene gibt Revolutionären ein Mittel an die Hand, um gegen Isolation und die daraus resultierende Demoralisierung zu kämpfen.
Ein großer imperialistischer Krieg kann nur die Realität unterstreichen, dass revolutionäre Aktivität einzig in Verbindung mit revolutionären politischen Organisationen Sinn macht. Wie wir in unserem Bericht über die Struktur und die Funktionsweise der revolutionären Organisation geschrieben haben: "Die Arbeiterklasse bringt keine revolutionären Militanten hervor, sondern nur revolutionäre Organisationen: Es gibt keine direkte Beziehung zwischen Militanten und der Klasse".[3] Dies unterstreicht die Verantwortung der Organisationen der Kommunistischen Linken für die Bereitstellung eines Rahmens, eines militanten Bezugspunkts, an dem sich die einzelnen Genoss:innen orientieren können. Die Organisationen wiederum können nur durch die Beiträge und die aktive Unterstützung, die sie von diesen Genoss:innen erhalten, gestärkt werden.
Amos, 8. April 2022
[1] Das Proletariat von Westeuropa im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes [10], International Review Nr. 31 (engl./frz./span. Ausgabe)
[2] Gemeinsame Erklärung von Gruppen der internationalen Kommunistischen Linken zum Krieg in der Ukraine [11]
[3] Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre [12], Internationale Revue Nr. 22
Angesichts der Barbarei des Krieges hat die Bourgeoisie immer versucht, ihre mörderische Verantwortung und die ihres Systems hinter zynischen Lügen zu verbergen. Den Krieg in der Ukraine begleitet eine Flut von Propaganda und eine schmutzige Instrumentalisierung des Leids, die er erzeugt. Es vergeht kein Tag, an dem nicht auf allen Fernsehkanälen und auf den Titelseiten der Zeitungen, die sonst so diskret über das Unglück berichten, das der Kapitalismus über die Menschheit bringt, die Massenflucht und die Not der ukrainischen Familien gezeigt wird, die vor den Bombenangriffen fliehen. Die Medien zeigen Bilder von den traumatisierten ukrainischen Kindern die Opfer des Krieges geworden sind.
Mit der propagandistischen Ausnutzung des Schocks, der durch die Verbreitung grausamer Bilder von Übergriffen, Flucht, Schrecken und Bombardierungen ausgelöst wurde, hat der Krieg in der Ukraine es der Bourgeoisie in den demokratischen Ländern ermöglicht, die spontane Welle der Sympathie und des Mitgefühls zu benutzen, um eine gigantische „humanitäre“ Kampagne rund um „Bürgerinitiativen“ für ukrainische Flüchtlinge (und sogar rund um die grausame Unterdrückung russischer Demonstranten und Kriegsgegner duch die russische Polizei) zu inszenieren und die Not und Verzweiflung der Opfer des größten Massenexodus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zynisch zu instrumentalisieren.1 Überall werden „humanitäre Korridore“ und „Bürgernetzwerke“ zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge organisiert, um die Bereitstellung eines riesigen tödlichen Arsenals an Waffen zur „Verteidigung eines Märtyrervolkes“ vor dem „russischen Unhold“ zu rechtfertigen. Selbst in kleinen Dörfern werden von den Behörden Sammlungen, Spenden und alle Arten von „Initiativen“ oder Ausdrücke von Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen organisiert und gefördert.
Hinter den Huldigungen des Märtyrertums des „ukrainischen Volkes“ verbirgt sich die schmutzige Realität einer schamlosen Ausbeutung von Großzügigkeit durch die Staaten, die allesamt Kriegstreiber sind und sich nicht um das tragische Schicksal einer Bevölkerung scheren, die zwischen russischen Bombenangriffen und der erzwungenen „Generalmobilmachung“ der Regierung Selenskyi als Geiseln gehalten wird. Für die Bourgeoisie dient das „ukrainische Volk“ vor allem als Kanonenfutter in einem „patriotischen Kampf“ gegen „die Invasoren“. Der gleiche Zynismus erklärt, warum die westliche Bourgeoisie die Massaker, die die ukrainische Regierung seit 2014 in den russischsprachigen Regionen Luhansk und Donezk verübte, wo in acht Jahren fast 14.000 Menschen getötet wurden, verschleiert hat.
Der angebliche Humanismus der europäischen Staaten ist eine große Lüge und reine Mystifikation. Die Bemühungen, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen, sind größtenteils auf die Initiative der Bevölkerung zurückzuführen und keineswegs das Verdienst der Staaten. Es ist unbestreitbar, dass es seit Ausbruch des Krieges und seit Beginn des Exodus der Familien eine enorme spontane Welle der Solidarität gegeben hat. Diese unmittelbare und zutiefst menschliche Reaktion, allen Hilfe, Beistand und Unterstützung zukommen zu lassen, indem man denjenigen, die brutal in Not und Verzweiflung geraten sind, ein Dach über dem Kopf anbietet und ihnen Mahlzeiten bringt, ist bemerkenswert.
Aber diese grundlegende Solidarität reicht nicht aus. Sie ist nicht das Produkt einer kollektiven Mobilisierung der ArbeiterInnen auf ihrem Klassenboden. Sie entspringt einer Summe von Einzelinitiativen, die die Bourgeoisie immer wieder vereinnahmt, ausnutzt und für ihre Zwecke instrumentalisiert, so auch heute. Im Übrigen wurden diese Reaktionen sofort auf das Feld der bürgerlichen Propaganda gelenkt, um den Krieg zu rechtfertigen, das tödliche Gift des Nationalismus zu verherrlichen und zu versuchen, wieder ein Klima der heiligen Einigkeit gegen den „berüchtigten russischen Eindringling“ zu schaffen.
Die demokratischen Mächte Westeuropas konnten gar nicht anders, als ihre Grenzen für ukrainische Flüchtlinge zu öffnen, es sei denn, sie würden Hunderttausende von ihnen innerhalb der ukrainischen Grenze unter Zwang blockieren. Damit wäre ihre gesamte antirussische Kriegspropaganda in sich zusammengebrochen. Denn wenn sie sich bereit erklären, Ukrainer aufzunehmen, dann dient dies lediglich der ideologischen Rechtfertigung einer Mobilisierung und vor allem von Waffenlieferungen an die Ukraine gegen „Putins Ungeheuerlichkeiten“ und zur Verteidigung ihrer eigenen nationalen imperialistischen Interessen.
Gleichzeitig dienen diese Kampagnen dazu, zu verschleiern, dass die Verantwortung für diese dramatische Situation bei allen Staaten liegt, bei der Logik der imperialistischen Konkurrenz und Rivalität des Systems selbst, die die Vervielfachung der Kriegsherde, die Ausbreitung des Elends, die Massenflucht der Bevölkerung, Chaos und Barbarei erzeugt.
Alle Staaten vergießen heute Krokodilstränen über die ukrainischen Flüchtlinge, die sie angeblich im Namen des sogenannten „Rechts auf Asyl“ mit offenen Armen empfangen. Diese schönen Versprechungen zur Aufnahme von Flüchtlingen sind nichts als Augenwischerei. Überall haben die westeuropäischen Staaten Quoten für die Aufnahme von Migranten eingeführt, die vor Elend, Chaos und Krieg flüchten. Diese umherirrenden Flüchtlinge sind nicht wie die Mehrheit der Ukrainer blonde, blauäugige Europäer; sie sind nicht christlichen Glaubens, sondern häufig Muslime. Sie werden wie Vieh zwischen den völlig unerwünschten „Wirtschaftsflüchtlingen“ und den „Kriegsflüchtlingen“ oder „politischen Flüchtlingen“ sortiert. Man müsse also zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen sortieren... All das mit dem Blankoscheck der Europäischen Union und ihrer großen Demokratien. Eine solche Selektion, eine solche Ungleichbehandlung ist völlig abstoßend. In Frankreich beispielsweise schickte die Macron-Regierung vor weniger als zwei Jahren ihre Polizisten los, um Migrantenfamilien, die ihre Zelte auf dem Place de la République in Paris aufgestellt hatten, mit harter Hand zu vertreiben; die Polizisten verprügelten die unerwünschten Personen und zerschnitten ihre Zelte mit Messerstichen. Erst kürzlich, als irakische Flüchtlinge an die Tür Europas klopften und vom weißrussischen Staat als Druckmittel missbraucht wurden, stießen sie an der polnischen Grenze auf Stacheldraht und wurden von den bis an die Zähne bewaffneten Robocops der Europäischen Union geschlagen. Die „großen Demokratien“ waren damals weit weniger gastfreundlich, trotz des dennoch deutlich sichtbaren Leidens der Menschen, die froren und hungerten.
Welche Realität verbirgt sich hinter der variablen Geometrie des heuchlerischen Mitgefühls, dieser sogenannten Solidarität der Staaten? Die Bourgeoisie hat in den meisten „Gastländern“ darauf geachtet, einen „Sonderstatus“ für Ukrainer zu schaffen, der sich völlig von dem anderer Flüchtlinge unterscheidet, um Gegensätze und Spaltungen in der Bevölkerung und der Arbeiterklasse zu schaffen. In Belgien zum Beispiel hat die Regierung beschlossen, Ukrainern einen ganz anderen Status als anderen Kriegsflüchtlingen zu gewähren. Während Letztere in der Regel erst eine strenge Kontrolle durchlaufen müssen, um eine mögliche Arbeitserlaubnis im „Gastland“ zu erhalten, wird diese Erlaubnis ukrainischen Staatsangehörigen von vornherein gewährt, die außerdem eine weitaus höhere Beihilfe als andere erhalten. Selbst die Höhe ihres Unterhalts ist höher als der Mindestlohn der „einheimischen“ Arbeitnehmer … Dieses schmutzige Manöver im Dienste der imperialistischen Propaganda ermöglicht es der Regierung, nicht nur einen Antagonismus zwischen Ukrainern und anderen Flüchtlingen zu schaffen, sondern auch einen zusätzlichen Faktor der Spaltung und ein Klima der Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse heraufzubeschwören.
Eine Minderheit der hochqualifizierten ukrainischen Flüchtlinge wird zur Freude der Bourgeoisie in einigen Ländern wie Deutschland, in denen ein großer Mangel an solchen Arbeitskräften herrscht, integriert. Bei den anderen, der überwiegenden Mehrheit, wird der Massenzustrom zu großen Problemen für die europäische Bourgeoisie führen, die nicht in der Lage ist, sie zu absorbieren. Früher oder später werden sie ohnehin in ihrer großen Mehrheit der populistischen Ideologie ausgeliefert sein und als Sündenböcke für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme herhalten müssen, die die gesamte Bourgeoisie dann gerne hervorheben wird.
Vor allem dürfen die ArbeiterInnen um keinen Preis den Heucheleien dieser humanitären Kampagnen auf den Leim kriechen, die ideologischen Fallstricke erkennen, und den heiligen Schulterschluss mit ihren Ausbeutern im Angesicht des Krieges kategorisch ablehnen. Wir müssen gleichzeitig kämpfen, unsere eigenen Klasseninteressen gegen die Verschärfung der Angriffe im Zusammenhang mit der Krise und dem Krieg zu verteidigen. Nur durch die internationale Entwicklung dieses Kampfes, über die von der herrschenden Klasse errichteten Grenzen und Konflikte hinweg, können wir unsere Klassensolidarität mit den Flüchtlingen und allen Opfern der zunehmenden Barbarei des Kapitalismus voll zum Ausdruck bringen und ihnen eine Perspektive bieten: die Perspektive einer Gesellschaft, die vom Gesetz des Profits und der tödlichen Dynamik des Systems befreit ist.
Wim, 3. April 2022
1 Allein in den ersten 10 Tagen wurden 1,5 Millionen Flüchtlingen registriert, heute über 4 Millionen, wobei das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) davon ausgeht, dass diese Zahl auf 5 bis 10 Millionen Menschen ansteigen wird.
Der Kampf gegen den Krieg kann von der Arbeiterklasse nur durch den Kampf auf ihrem eigenen Klassenterrain und durch ihre internationale Vereinigung in die Hand genommen werden. Revolutionäre Organisationen können nicht passiv auf eine massive Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Krieg warten: Sie müssen als entschlossene Speerspitze bei der Verteidigung des Internationalismus auftreten und auf die Notwendigkeit des Sturzes des kapitalistischen Systems hinweisen. Dies erfordert, dass sich die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Organisationen die Lehren und die Haltung früherer Kämpfe gegen den Krieg wieder zu eigen machen. Die Erfahrung der Konferenz von Zimmerwald ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich.
Zimmerwald ist ein kleines Dorf in der Schweiz, und im September 1915 fand dort eine kleine Konferenz statt: 38 Delegierte aus 12 Ländern – alle Internationalistinnen und Internationalisten, die in ein paar Taxis anreisten, wie Trotzki scherzte. Und selbst von diesen wenigen vertrat nur eine kleine Minderheit eine wirklich revolutionäre Position gegen den Krieg. Nur die Bolschewiki um Lenin und einige der deutschen Gruppen standen für revolutionäre Methoden und revolutionäre Ziele: die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg, die Zerstörung des Kapitalismus als Quelle aller Kriege. Die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer vertraten eine zentristische Position oder neigten sich sogar stark nach rechts.
Das Ergebnis der heftigen Debatten in Zimmerwald war ein Manifest an die Arbeiterinnen und Arbeiter der Welt, das in vielerlei Hinsicht ein Kompromiss zwischen der revolutionären Linken und der Mitte war, da es die revolutionären Losungen der Bolschewiki nicht aufgriff. Dennoch konnte es mit seiner deutlichen Anprangerung des Krieges und seinem Aufruf zum Klassenkampf gegen den Krieg die Antikriegsstimmung, die in der Masse der Arbeiterklasse wuchs, artikulieren und politisieren.
Das Beispiel von Zimmerwald zeigt, dass der Kampf der Revolutionäre gegen den Krieg auf drei verschiedenen, aber miteinander verbundenen Ebenen stattfindet:
- Propaganda und Agitation: Die Revolutionäre warteten nicht, bis sich die Klasse in Bewegung setzte: Sie begannen mit der Agitation gegen den Krieg am ersten Tag der Feindseligkeiten, lange bevor die Klasse in der Lage war zu reagieren. Der Zusammenschluss der Revolutionäre in politischen Organisationen ermöglichte es ihnen, ihre Propaganda und Agitation über eine regelmäßige Presse und massenhaft produzierte Flugblätter zu entfalten und in den Arbeiterversammlungen und -räten, die später entstanden, nicht als Einzelpersonen zu sprechen, die nur sich selbst vertraten, sondern im Namen einer bestimmten politischen Tendenz innerhalb der Klassenbewegung.
- Organisatorisch: Der Verrat der Mehrheit der alten Parteien verlangte, dass die Minderheit der Internationalistinnen und Internationalisten als organisierte Fraktion arbeiten musste, um entweder für den Ausschluss der Verräter zu arbeiten oder, wenn sich dies als unmöglich erwies, was meistens der Fall war, um die Gewinnung einer maximalen Anzahl politisch klarer Elemente zu kämpfen und den Boden für eine neue Partei, eine neue Internationale vorzubereiten. Dies erforderte einen unerbittlichen Kampf gegen Zentrismus und Opportunismus, gegen den ideologischen Einfluss der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums. So war vor allem die Zimmerwalder Linke die treibende Kraft bei der Gründung der Dritten Internationale im Jahr 1919. In einer Situation des Krieges oder der bevorstehenden Revolution, war der Heroismus einzelner Kämpferinnen und Kämpfer wie Luxemburg, Liebknecht, John Mclean oder Sylvia Pankhurst sicherlich von entscheidender Bedeutung, konnte aber für sich allein niemals ausreichen. Er konnte nur im Rahmen einer kollektiven Organisation mit einem klaren politischen Programm eine wirkliche Bedeutung entfalten.
- Theoretisch: Die Notwendigkeit, die Merkmale der neuen Epoche zu verstehen, erfordert eine geduldige Arbeit der theoretischen Ausarbeitung und die Fähigkeit, einen Schritt zurückzutreten, um die gesamte Situation im Lichte der Vergangenheit und der Zukunftsaussichten neu zu bewerten. Die Arbeit von Lenin, Bucharin, Luxemburg, Pannekoek und anderen ermöglichte es der wiedererstehenden politischen Bewegung der Arbeiterklasse zu verstehen, dass eine neue Epoche angebrochen war, eine Epoche, in der der Klassenkampf neue Formen und neue Methoden annahm, um direkt revolutionäre Ziele zu erreichen. In einer Reihe von Fragen gab es beträchtliche Divergenzen, zum Beispiel zwischen Lenin und Luxemburg in der Frage der nationalen Selbstbestimmung, was sie jedoch nicht daran hinderte, eine gemeinsame Position gegen den Krieg einzunehmen, während sie weiterhin so leidenschaftlich und intensiv wie zuvor diskutierten.
Wir können hier nicht näher darauf eingehen, empfehlen unseren Leserinnen und Lesern aber die Lektüre der folgenden Artikel:
https://en.internationalism.org/content/3154/zimmerwald-1915-1917-war-revolution [13] (International Review Nr. 44 [engl/frz./span. Ausgabe], 1986)
https://de.internationalism.org/content/2665/konferenz-von-zimmerwald-die-zentristischen-stroemungen-innerhalb-der-organisationen [14] (IKSonline Februar 2016)
https://de.internationalism.org/content/1177/die-konferenz-von-zimmerwald [15] (Weltrevolution Nr. 72, 1995)
Die Entfesselung der Barbarei des Krieges in der Ukraine bedroht uns mit immer mehr "Kollateralschäden", darunter vor allem mehr Elend in der Welt, einer erhebliche Verschärfung der wirtschaftlichen Angriffe auf die Arbeiterklasse: Intensivierung der Ausbeutung, steigende Arbeitslosigkeit, Inflation.
Zusammen mit den Drohungen Russlands mit möglichen Atomschlägen und der Gefahr radioaktiver Wolken, die aus den durch die Kämpfe beschädigten ukrainischen Atomkraftwerken entweichen könnten, bergen die von einer Reihe von Ländern ergriffenen oder geplanten Maßnahmen, um die russische Wirtschaft in die Knie zu zwingen, das Risiko einer Destabilisierung der Weltwirtschaft. Ein weiteres tragisches Beispiel für die derzeitige kriegerische Eskalation ist die starke Tendenz zur Erhöhung der Militärbudgets (insbesondere durch die plötzliche Entscheidung Deutschlands, das Militärbudget zu verdoppeln), die die wirtschaftliche Lage der betroffenen Länder weiter schwächen wird.
Die wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen gegen Russland werden in einem Großteil der europäischen Länder zu Rohstoffengpässen führen und für eine Reihe von ihnen den Verlust von Märkten in Russland bedeuten. Die Rohstoffpreise werden dauerhaft in die Höhe schnellen und damit auch die Preise für viele Waren. Die Rezession wird sich auf die ganze Welt ausdehnen, und in diesem Maßstab wird das Elend zunehmen und die Ausbeutung der Arbeiterklasse sich verstärken.
Wir sind weit davon entfernt, zu übertreiben, wie die folgenden Erklärungen deutscher Experten für ein "sachkundiges Publikum" zeigen, das die Zukunft vorhersagen will, um die Interessen der Bourgeoisie bestmöglich zu verteidigen: "Wir sprechen dann von einer schweren Wirtschaftskrise in Deutschland und damit in Europa". „Firmenzusammenbrüche und Arbeitslosigkeit" stünden dann am Horizont - für lange Zeit: "Wir reden hier nicht von drei Tagen oder drei Wochen", sondern eher von "drei Jahren"[1]. In diesem Zusammenhang hätten dauerhaft historisch hohe Energiepreise Folgen, die weit über Deutschland und Europa hinausreichen und vor allem die ärmeren Länder treffen würden. Letztendlich könnte ein solcher Anstieg der Energiepreise, so hieß es vor wenigen Tagen, "zum Zusammenbruch ganzer Staaten in Asien, Afrika und Südamerika führen".[2]
Das Ausmaß und die Tiefe der gegen Russland ergriffenen Maßnahmen erklären jedoch trotz ihrer unbestreitbaren Härte nicht allein den wirtschaftlichen Tsunami, der die Welt treffen wird. Hier muss der aktuelle Grad der Verschlechterung der Weltwirtschaft ins Spiel gebracht werden, der das Produkt eines langen Prozesses der Verschärfung der weltweiten Krise des Kapitalismus ist. Aber zu dieser Frage mussten die "Experten" schweigen, um nicht zugeben zu müssen, dass die Ursache für den Verfall des Weltkapitalismus in seiner historischen und unüberwindbaren Krise liegt, genauso wie sie sich hüten, diesen Krieg, wie alle anderen seit dem Ersten Weltkrieg, als ein Produkt des dekadenten Kapitalismus zu identifizieren. Ebenso wenig gehen sie auf bestimmte Folgen eines weiteren Abgleitens der Wirtschaft in die Krise und der damit untrennbar verbundenen Verschärfung des Handelskriegs ein: eine weitere Verschärfung der imperialistischen Spannungen und eine weitere Flucht in den Krieg der Waffen[3]. In einer ähnlichen Art der Verteidigung des Kapitalismus sorgen sich einige um die sehr wahrscheinlichen Folgen einer schweren Verknappung von Grundnahrungsmitteln, die bislang in der Ukraine produziert werden, nämlich soziale Unruhen in einer Reihe von Ländern, ohne sich offensichtlich um das Leid der hungernden Bevölkerung zu kümmern.
Die Covid-Pandemie hatte bereits eine zunehmende Verwundbarkeit der Wirtschaft angesichts des Zusammentreffens einer Reihe von Faktoren gezeigt, die für die Zeit seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der anschließenden Auflösung der Blöcke typisch sind.
Eine zunehmend kurzfristige Sichtweise hat den Kapitalismus dazu veranlasst, für die Erfordernisse der Krise und des globalen wirtschaftlichen Wettbewerbs eine Reihe von zwingenden Notwendigkeiten eines jeden Ausbeutungssystems zu opfern, wie etwa die Notwendigkeit, seinen Ausgebeuteten ausreichende medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen. So hat der Kapitalismus nichts unternommen, um den Ausbruch der Covid-19-Pandemie zu verhindern, die selbst ein reines gesellschaftliches Produkt ist, was ihre Übertragung vom Tier auf den Menschen und ihre Ausbreitung über den Globus betrifft, obwohl Wissenschaftler vor ihrer Gefahr gewarnt hatten. Darüber hinaus hat die Verschlechterung des Gesundheitssystems in den letzten dreißig Jahren dazu beigetragen, dass die Pandemie viel tödlicher geworden ist. Das Ausmaß der Katastrophe und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft wurden auch dadurch begünstigt, dass auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens jeder für sich selbst kämpft (ein Merkmal der gegenwärtigen Zerfallsphase des Kapitalismus), was die klassischen Erscheinungsformen des Wettbewerbs verschärft und zu unglaublichen Entwicklungen wie dem Krieg um Masken, Beatmungsgeräte, Impfstoffe usw. zwischen Ländern, aber auch zwischen staatlichen oder privaten Stellen innerhalb eines Landes führt. Millionen von Menschen starben weltweit, und die teilweise Lähmung der Wirtschaftstätigkeit und ihre Desorganisation führten 2020 zur schlimmsten Depression seit dem Zweiten Weltkrieg.
Indem die Pandemie die Wirtschaft weltweit beeinträchtigte, deckte sie auch neue Hindernisse für die kapitalistische Produktion auf, wie die erhöhte Anfälligkeit der Lieferketten für verschiedene Faktoren. Wenn nur ein Glied der Kette aufgrund von Krankheit, politischer Instabilität oder Klimakatastrophen defekt oder funktionsunfähig ist, kann es zu erheblichen Verzögerungen beim Endprodukt kommen, die mit den Anforderungen für die Belieferung der Märkte nicht vereinbar sind. So kam es, dass in einigen Ländern eine beträchtliche Anzahl von Autos wegen Lieferschwierigkeiten von bestimmten Bauteilen nicht fertiggestellt werden konnte, die namentlich aus Russland geliefert wurden. Der Kapitalismus ist somit mit dem Bumerang-Effekt der ins Extrem gesteigerten ‚Globalisierung‘ der Wirtschaft konfrontiert, die die Bourgeoisie seit den 1980er Jahren schrittweise entwickelt hatte, um die Kapitalrentabilität durch die Auslagerung eines Teils der Produktion, die von viel billigeren Arbeitskräften durchgeführt wird, zu verbessern.
Darüber hinaus sieht sich der Kapitalismus zunehmend mit Katastrophen konfrontiert, die aus den Auswirkungen der globalen Erwärmung resultieren (extrem verheerende Brände, gewaltsam über die Ufer tretende Flüsse, ausgedehnte Überschwemmungen ...) und die nicht mehr nur die landwirtschaftliche Produktion, sondern die gesamte Produktion in immer stärkerem Maße beeinträchtigen. Der Kapitalismus zahlt somit seinen Tribut an die seit 1945 forcierte (und seit den 1970er Jahren in ihren Auswirkungen immer deutlicher spürbare) Ausbeutung und Zerstörung der Natur durch die verschiedenen Kapitale, die auf der Suche nach neuen und immer kleineren Profitquellen miteinander konkurrieren.
Das Bild, das wir gerade gezeichnet haben, kommt nicht von ungefähr, sondern ist das Ergebnis von mehr als 100 Jahren kapitalistischer Dekadenz, die mit dem Ersten Weltkrieg begann und in denen das System ständig mit den Auswirkungen der Überproduktionskrise konfrontiert war, die den Kern aller Widersprüche des Kapitalismus bildet. Die Überproduktionskrise war die Ursache für alle Rezessionen dieser Periode: die große Depression der 1930er Jahre und nach einer scheinbaren wirtschaftlichen Erholung in den 1950/60er Jahren, die manche als "Goldene Dreißiger" (Wirtschaftswunder) bezeichneten, trat die offene Krise des Kapitalismus in den späten 1960er Jahren erneut auf. Jede ihrer Ausprägungen führte zu einer Rezession, die schwerer war als die vorherige: 1967, 1970, 1975, 1982, 1991, 2001, 2009. Jedes Mal musste die Wirtschaft mit Schulden angekurbelt werden, die in immer größerem Umfang nur mit neuen Schulden zurückgezahlt werden können, und so weiter... So ist jede neue offene Ausprägung der Krise verheerender, während das Mittel, mit dem sie bewältigt wird, nämlich die Verschuldung, eine zunehmende Bedrohung für die wirtschaftliche Stabilität darstellt.
Eine Verlangsamung des Wachstums zehn Jahre nach dem Finanzcrash von 2008 erforderte eine erneute Ankurbelung der Verschuldung, während der Produktionsrückgang im Jahr 2020, der, wie wir gesehen haben, die Wirtschaft angesichts einer Reihe "neuer" Faktoren (Pandemie, globale Erwärmung, Störungsanfälligkeit der Lieferketten usw.) stützen sollte, einen neuen Rekord der weltweiten Verschuldung bedeutete, der dazu führte, dass sie sich noch weiter von der Realwirtschaft abkoppelte (sie stieg auf 256% des Wertes des weltweiten BIP). Dies hat schwerwiegende Auswirkungen: Sie führt zur Abwertung der Währungen und heizt damit die Inflation an. Ein dauerhafter Preisanstieg birgt die Gefahr sozialer Unruhen verschiedener Art (klassenübergreifende Bewegungen, Klassenkampf) und behindert den Welthandel. Deshalb wird die Bourgeoisie zunehmend gezwungen sein, einen Balanceakt zu vollführen - der ihr zwar vertraut ist, aber immer gefährlicher wird -, um zwei antagonistische Notwendigkeiten zu bewältigen:
- Die Zinssätze erhöhen, um den Inflationsanstieg zu bremsen, was jedoch zur Folge hat, dass der Kredithahn nicht mehr so stark sprudelt;
- die Wirtschaft zu stützen, da sie ohne ständige Kreditspritzen nicht in der Lage ist, sich selbst zu erhalten.
Und das in einem Umfeld, in dem die Wirtschaft tendenziell stagniert und die Inflation hoch ist.
Außerdem ist eine solche Situation günstig für das Platzen von Spekulationsblasen, die zur Destabilisierung der Weltwirtschaft und des Welthandels beitragen können (wie im Immobiliensektor in den USA 2008 und in China 2021).
Angesichts all dieser Erscheinungen (Krieg oder Wirtschaftskrise) bringt die Bourgeoisie immer eine ganze Reihe von falschen Erklärungen in Umlauf, denen allen gemeinsam ist, dass sie den Kapitalismus von den Übeln, die die Menschheit bedrängen, freisprechen.
Im Jahr 1973 (das nur ein Moment in der Vertiefung der offenen Krise war, die seitdem zu einer mehr oder weniger permanenten Krise geworden ist) wurde die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Inflation mit dem Anstieg des Ölpreises erklärt. Der Anstieg des Ölpreises ist jedoch eine Begleiterscheinung des kapitalistischen Handels und nicht einer Kraft, die außerhalb dieses Systems liegt.[4]
Die aktuelle Situation ist eine weitere Illustration dieser Regel. Der Krieg in der Ukraine wird auf das Konto des totalitären Russlands und nicht des krisengeschüttelten Kapitalismus geschrieben, als ob dieses Land nicht ein vollwertiger Teil des globalen Kapitalismus wäre.
Angesichts der Aussichten auf eine erhebliche Verschärfung der Wirtschaftskrise bereitet die Bourgeoisie den Boden vor, um die Proletarier dazu zu bringen, die schrecklichen Opfer zu akzeptieren, die ihnen auferlegt und als Folge der Vergeltungsmaßnahmen gegen Russland dargestellt werden sollen. Ihre Rhetorik lautet bereits: "Die Bevölkerung kann durchaus akzeptieren, dass sie aus Solidarität mit dem ukrainischen Volk etwas weniger heizen oder essen muss, denn das sind die Kosten der Anstrengungen, die notwendig sind, um Russland zu schwächen".
Seit 1914 ist die Arbeiterklasse durch die Hölle gegangen: mal Kanonenfutter in zwei Weltkriegen und unaufhörlichen, tödlichen regionalen Konflikten; mal Opfer der Massenarbeitslosigkeit während der großen Depression in den 1930er Jahren; mal gezwungen, die Ärmel hochzukrempeln, um die von zwei Weltkriegen zerstörten Länder und Volkswirtschaften wieder aufzubauen; mal seit der Rückkehr der Weltwirtschaftskrise Ende der 1960er Jahre, bei jeder neuen Rezession in Unsicherheit oder Armut gestürzt.
Angesichts eines erneuten Abrutschens in die Wirtschaftskrise und immer stärkerer Kriegsdrohungen würde sie in ihr Verderben laufen, wenn sie auf die Bourgeoisie hören würde, die von ihr verlangt, immer mehr Opfer zu bringen. Stattdessen muss sie die Widersprüche des Kapitalismus, die sich in Krieg und wirtschaftlichen Angriffen ausdrücken, nutzen, um ihren Klassenkampf für den Sturz des Kapitalismus soweit und so bewusst wie möglich voranzutreiben.
Silvio (26. März 2022)
[1] "Habeck: Mittel zur Dämpfung der Energiepreise prüfen", Süddeutsche Zeitung (8. März 2022)
[2] "USA setzen Ölembargo auf die Tagesordnung", Frankfurter Allgemeine Zeitung (8. März 2022)
[3] "Resolution zur internationalen Lage", International Review (engl. Ausgabe) Nr. 63 (Juni 1990)
[4] Lest unseren Artikel, Der Anstieg des Ölpreises: Eine Folge und nicht die Ursache der Krise, International Review Nr. 19 (engl./frz./span. Ausgabe).
Seit seinem Wechsel ins bürgerliche Lager hat der Trotzkismus keine Gelegenheit ausgelassen, das Bewusstsein der Arbeiterklasse anzugreifen, indem er die Proletarier in den seit dem Zweiten Weltkrieg aufeinanderfolgenden Konflikten auf die Seite eines imperialistischen Lagers gegen ein anderes drängte. Seine Positionierung angesichts des kriegerischen Chaos in der Ukraine bestätigt dies einmal mehr. Diese Wachhunde des Kapitalismus schwanken also zwischen offen kriegstreibenden Stellungnahmen, in denen sie dazu aufrufen, sich auf die Seite einer der kriegführenden Seiten zu stellen, und anderen, scheinbar "subtileren" und "radikaleren" Stellungnahmen, die aber genauso die Fortsetzung der kriegerischen Barbarei rechtfertigen. Die Lügen und Mystifikationen des Trotzkismus sind ein wahres Gift gegen die Arbeiterklasse und sollen sie mit den Posen eines Marxismus, der nur dem Namen nach einer ist, verwirren.
Die Position der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich gehört in die Kategorie der Kriegstreiber: "Nein zum Krieg! Solidarität mit dem Widerstand des ukrainischen Volkes! [...] In Situationen wie der gegenwärtigen in der Ukraine, solange die Bombardierungen weitergehen und russische Truppen vor Ort sind, bringt jede abstrakte "pazifistische" Position wie der Aufruf zu "Ruhe", "Einstellung der Gewalt" oder "Feuerpause" die Parteien de facto in Gegensatz zueinander und kommt einer Verneinung des Rechts der Ukrainer gleich, sich selbst zu verteidigen, auch militärisch". Deutlicher kann man sich nicht ausdrücken! Diese bürgerliche Kraft ruft die Proletarier:innen offen dazu auf, als Märtyrer:innen der Verteidigung des Vaterlandes zu dienen. Mit anderen Worten: der Verteidigung des nationalen Kapitals, das sich selbst von seiner Ausbeutung ernährt. Mit der gleichen Verachtung, aber mit größerer Subtilität und der Perfidie ihrer Doppelzüngigkeit, tut Lutte Ouvrière (LO) im Namen der Verteidigung des "Internationalismus" so, als würde sie einen Krieg verurteilen, der "auf dem Rücken der Völker ausgetragen würde", um letztlich die Proletarier:innen dazu aufzurufen, sich im Namen des "Widerstands gegen den Imperialismus" und des "Rechts der Völker auf Selbstbestimmung" die Haut durchlöchern zu lassen und als Kanonenfutter zu dienen – hinter ihrer nationalen Bourgeoisie. Ihre französische Präsidentschaftskandidatin Nathalie Arthaud zögerte übrigens nicht, "die Arbeiter" zur Verteidigung des armen kleinen ukrainischen Staates gegen das "bürokratische" Russland und das "imperialistische" Amerika zu drängen: "Putin, Biden und die anderen Führer der NATO-Länder führen einen Krieg gegen die Völker, für die sie alle die gleiche Verachtung teilen".
Als ob Selenskij und seine korrupte Oligarchenclique nicht selbst für die Zerschlagung der ukrainischen Bevölkerung und insbesondere der Arbeiterklasse verantwortlich wären, deren Männer gezwungen sind, für Interessen, die nicht die ihren sind, in den Kampf zu ziehen. Das Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST), ein südamerikanisches Mitglied der sogenannten Vierten Internationale, prangert sowohl die russische Invasion der Ukraine als auch die Einmischung der NATO an. Doch hinter dieser angeblich internationalistischen Stellungnahme verbirgt sich diesmal die Wiederanerkennung des "Rechts auf Selbstbestimmung des Donbass-Volkes", das genau das Alibi ist, das Putin für seine Invasion der Ukraine vorgebracht hat! In Großbritannien und den USA entwickelt die Internationalist Bolshevic Tendency (IBT) eine noch geschicktere Position: In einem Artikel mit dem Titel "Revolutionärer Defätismus und proletarischer Internationalismus" erinnert die IBT an Lenins bereits zweideutige Position, dass "in allen imperialistischen Ländern das Proletariat jetzt die Niederlage seiner eigenen Regierung wünschen muss" (was er als "doppelten Defätismus" bezeichnete), und fügt hinzu: "der doppelte Defätismus gilt nicht, wenn ein imperialistisches Land ein nicht-imperialistisches Land in etwas angreift, was tatsächlich ein Eroberungskrieg ist. In solchen Fällen beschränken sich Marxisten nicht darauf, die Niederlage ihrer eigenen imperialistischen Regierung herbeizuwünschen, sondern sie favorisieren aktiv den militärischen Sieg des nicht-imperialistischen Staates" (aus dem Englischen von uns übersetzt – und unterstrichen). Es reicht also, die Ukraine als nicht-imperialistischen Staat zu definieren, und die Wahl ist schnell getroffen, um die Proletarier:innen ins Schlachthaus zu treiben! Es stimmt zwar, dass die IBT eine Schwäche in Lenins Position zum Imperialismus bis ins Absurde ausnutzt.[1] Der Irrtum der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale, die den Übergang von der aufsteigenden Phase des Kapitalismus in seine Dekadenz zwar direkt erlebten, ohne aber alle Schlussfolgerungen daraus gezogen zu haben, ist verständlich. Aber nach einem Jahrhundert der Angriffskriege jedes Landes gegen jedes andere (Irak gegen Kuwait, Iran gegen Irak usw.) mit derselben Position hausieren zu gehen, ist reine Mystifikation!
Diese ganze Mystifizierung basiert auf der bürgerlichen Parole vom "Selbstbestimmungsrecht der Völker", die den Imperialismus zu einem Kampf zwischen den "Großmächten" allein macht. Doch wie Rosa Luxemburg bereits 1916 in Die Krise der Sozial-Demokratie feststellte: "Die imperialistische Politik ist nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Weltentwicklung des Kapitals, eine von Hause aus internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag." Die Kämpfe der sogenannten nationalen Verteidigung können nicht mehr Teil der Forderungen der Arbeiterklasse sein, sondern stellen im Gegenteil ein wahres Gift für ihren revolutionären Kampf dar, eine Mystifizierung, die darauf abzielt, unter revolutionärem Geschwätz die Proletarier:innen unter den Fahnen des Imperialismus zu vereinigen, egal, welche Seite sie wählen!
H., 27. März 2022
[1] Da Lenin den Imperialismus als die Politik der kapitalistischen Großmächte begriff, war er in dessen Charakterisierung nicht immer klar, im Gegensatz zu Rosa Luxemburg.
Seit drei Jahren erleben wir eine Gleichzeitigkeit und Verschärfung von Krisen und Katastrophen die den Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft beschleunigen: Krieg, Wirtschaftskrise, ökologische Krise, Pandemie... Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Gefahr der Auslöschung der Menschheit ernster und konkreter denn je geworden ist
Die Covid-19-Pandemie, deren achte Welle derzeit im Gange ist, stellte ab Anfang 2020 eine neue Etappe des Versinkens der Gesellschaft in die letzte Phase ihrer Dekadenz, d.h. ihres Zerfalls dar. Sie kristallisiert in der Tat eine ganze Reihe von Chaosfaktoren heraus, die bis dahin nicht miteinander verbunden zu sein schienen[1]. Die Rücksichtslosigkeit der herrschenden Klasse trat überall deutlicher zutage, wobei der Zusammenbruch der Gesundheitssysteme (Mangel an Masken, Betten und Pflegepersonal) maßgeblich für die weltweite Zahl der Todesopfer verantwortlich war, die zwischen 15 und 20 Millionen lag. Die Pandemie wirkte sich auch nachhaltig auf die globalen Produktionsketten aus und führte zu Engpässen und Inflation. Sie hat auch die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie offenbart, eine koordinierte Reaktion sowohl auf die Pandemie als auch auf die Krise zu organisieren.
Der Krieg in der Ukraine tobt vor den Toren Europas und ist ein weiterer Schritt im beschleunigten Zerfall der Gesellschaft, vor allem durch die Verschärfung des Militarismus im globalen Maßstab. Die zunehmende Instabilität in den Ländern der ehemaligen UdSSR, die Luftangriffe welche das Atomkraftwerk Saporischschja zu beschädigen drohen, die wiederholten Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen[2], das verheerende Leck der Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee als Folge wahrscheinlicher Kriegshandlungen, Putins abenteuerliche "Teil"-Mobilisierung, die sich zu einem Fiasko entwickelt, die erschreckenden Eskalationsrisiken eines verzweifelten russischen Regimes - all das weist auf eine apokalyptische kapitalistische Zukunft in der ganzen Welt hin. Die Spirale der Militärausgaben, die schon vor dem Krieg in der Ukraine und den Spannungen im Pazifik einsetzte und weiter anhält, sowie die tiefe Verschuldung von Staaten, die unter der Last der Kriegswirtschaft zusammenbrechen, beschleunigen den Sturz in die globale Wirtschaftskrise.
Die Krise in Verbindung mit der globalen Erwärmung führt bereits dazu, dass Millionen von Menschen unterernährt sind, nicht nur in der Ukraine, sondern in vielen Teilen der Welt. Die Knappheit nimmt zu und die Inflation verdammt einen großen Teil der Arbeiterklasse zur Armut. Die von der Bourgeoisie geforderten "Opfer" lassen bereits Schlimmeres ahnen. Der vor unseren Augen wuchernde Militarismus verkörpert die Irrationalität eines Kapitalismus, der nur in den Ruin und ins blutige Chaos führen kann. Dies wird vor allem bei den USA deutlich, deren Wunsch, ihren Rang als führende Weltmacht zu erhalten, die ständige Verstärkung ihrer militärischen Überlegenheit erfordert. Dieses Projekt kann jedoch nur um den Preis von immer mehr Chaos und Destabilisierung verwirklicht werden. Unzählige Katastrophen aller Art, die sich immer häufiger ereignen, wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig, so dass eine regelrechte Zerstörungsspirale entsteht. Die letzten Monate haben diese Entwicklung noch erheblich verstärkt, sowohl durch die Intensivierung der Kriege und ihrer Verwüstungen, als auch durch die spektakuläre Entwicklung der Erscheinungsformen des Klimawandels[3]. Neben der Zerstörung, der Politik der „verbrannten Erde“, den Massakern und der Vertreibung von Millionen von Menschen, wird die landwirtschaftliche Produktion weltweit eingeschränkt und der Zugang zu Wasser wird knapp. Engpässe und Hungersnöte nehmen zu, und weite Teile der Welt werden aufgrund von Verschmutzungen aller Art unbewohnbar. Der Wert abnehmender Ressourcen, wie Gas oder Weizen, wird fast ausschließlich und skrupellos in strategische Waffen umgewandelt und einem regelrechten Raubbau und hemmungslosen Schacher überlassen, dessen Ergebnis nach wie vor militärische Auseinandersetzungen und menschliches Leid sind. Diese Tragödie ist nicht zufällig entstanden. Sie ist das Ergebnis des irreversiblen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise und des blinden Handelns einer Bourgeoisie, die keine Zukunft zu bieten hat. Eine Produktionsweise, die seit mehr als hundert Jahren an ihren Widersprüchen und historischen Grenzen scheitert und seit dreißig Jahren in ihrer eigenen Zersetzung versinkt. Die Welt rutscht jetzt noch schneller in einen Prozess der Zerstörung und Zersplitterung, in ein riesiges Chaos. Die Bourgeoisie ist nicht in der Lage, eine tragfähige Perspektive zu bieten, sie ist zunehmend gespalten und nicht in der Lage, auf einem minimalen Niveau zu kooperieren, wie sie es noch vor einem Jahrzehnt auf ihren globalen Anti-Krisen-Gipfeln getan hat. Sie bleibt einfallslos, gefangen in ihren eigenen Scheuklappen und ihrer Gier, unterminiert von den Fliehkräften eines wachsenden Jeder-für-sich. Der Sieg der "post-faschistischen" rechtsextremen Partei von Georgia Meloni in Italien ist ein weiteres Beispiel für die sich verschärfende Tendenz der Bourgeoisie, die Kontrolle über ihren politischen Apparat zu verlieren. Die herrschende Klasse sieht sich zunehmend von Cliquen skrupelloser Schläger regiert, die gefährlicher und unverantwortlicher denn je sind.
Die Bourgeoisie ist weiterhin entschlossen, die Ausbeutung zu verschärfen und das Proletariat für ihre unlösbare Krise und ihre Kriege zahlen zu lassen. Allerdings wird sie nun den Klassenkampf stärker berücksichtigen müssen. Die Beschleunigung des Zerfalls durch die Pandemie war zwar eine Bremse für die Entwicklung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse, die kurz zuvor u.a. in Frankreich im Winter 2019-2020 zum Ausdruck kam. Obwohl die Streiks und Demonstrationen nach Beginn der Invasion in der Ukraine im Februar 2022 stark zurückgingen, verschwanden sie nie ganz. Im vergangenen Winter kam es zu Streiks in Spanien und den USA. In diesem Sommer gab es auch in Deutschland Arbeitsniederlegungen. Vor allem aber stellt das Ausmaß der Arbeitermobilisierung in Großbritannien angesichts der Krise, der Arbeitslosigkeit und der Rückkehr der Inflation einen echten Bruch mit der früheren sozialen Situation in Großbritannien dar - eine Rückkehr der Kampfbereitschaft auf internationaler Ebene. Sie hat einen Mentalitätswandel eingeleitet. Diese Streiks stellen ein neues Ereignis von historischem Ausmaß dar. Nach fast vierzig Jahren faktischer Stagnation in Großbritannien vervielfachten sich dort ab Juni 2022 die Streiks mit hohem Symbolwert und setzten neue Generationen von Arbeitern und Arbeiterinnen in Bewegung, die bereit waren, ihren Kopf zu erheben und für ihre Würde zu kämpfen. Eine Ermutigung für andere zukünftige Bewegungen. Trotz der internationalen ideologischen Kampagne, die das Begräbnis der englischen Königin in den Vordergrund stellte, kündigten die Hafenarbeiter von Liverpool, die in den 1990er Jahren eine Niederlage erlitten hatten, neue Mobilisierungen an. Die Gewerkschaften aber übernehmen bereits die Führung und radikalisieren sich, indem sie ihre Rolle als Saboteure und Spalter spielen. Auch wenn diese Bewegung in Großbritannien zwangsläufig einen Niedergang erleben wird, ist sie aufgrund ihres Vorbildcharakters bereits ein Schritt vorwärts. Natürlich hat der internationale Kampf der Arbeiterklasse noch einen langen Weg vor sich, bevor das Proletariat seine Klassenidentität wiedererlangen und seine eigene revolutionäre Perspektive entschlossen verteidigen kann. Doch der Weg dorthin ist mit Fallen gepflastert. Die Risiken, vom eigenen Klassenterrain abzuweichen, indem sich die Arbeiterklasse in klassenübergreifenden Mobilisierungen mit dem angeschlagenen Kleinbürgertum, in kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Bewegungen wie denen des Feminismus oder des Antirassismus verliert, sind nicht ohne ernste Gefahren - insbesondere in den Ländern der Peripherie. So wurde nach der Ermordung von Mahsa Amini im Iran ein immenser Aufschwung der Wut gegen das Regime der Mullahs auf das bürgerliche Terrain der demokratischen Forderungen getrieben, wo die Arbeiterklasse zum "iranischen Volk" herabgestuft und mit ihm auf eine Stufe gestellt wird, anstatt für ihre eigenen Klassenforderungen zu kämpfen. In Russland bleibt die Situation trotz der zunehmenden Demonstrationen mit dem Ruf "Nein zum Krieg" und der Wut der Wehrpflichtigen, die ohne Waffen und Verpflegung an die Front geschickt werden, verworren, wobei der Widerstand gegen die militärische Mobilisierung mehr individuelle als kollektive Formen annimmt. Ein negativer Beweis dafür, dass nur die Arbeiterklasse allen Unterdrückten eine Perspektive bieten kann und dass die Bourgeoisie in Ermangelung einer Klassenreaktion in der Lage sein wird, das soziale Terrain zu besetzen.
Auf globalerer Ebene eröffnen die Bedingungen für eine Entwicklung der internationalen Klassenkämpfe angesichts der kommenden Angriffe, insbesondere aufgrund der Entwicklung der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der extremen Prekarität, die Möglichkeit, die notwendigen Bedingungen für die Bestätigung der kommunistischen Perspektive zu schaffen. Dies insbesondere in den zentralen Ländern des Kapitalismus, wo das Proletariat am erfahrensten ist und seit langem mit den raffiniertesten Fallen der Bourgeoisie konfrontiert war.
Das neue Jahrzehnt lässt die Möglichkeit einer solchen historischen Bekräftigung der Rolle des Proletariats offen, auch wenn die Zeit angesichts der vom Kapitalismus verursachten Verwüstungen nicht mehr auf seiner Seite ist. Dieses Jahrzehnt, das sowohl mit den Kämpfen der Arbeiter und Arbeiterinnen als auch mit der Beschleunigung der Barbarei und des Chaos begann, soll die Arbeiterklasse noch tiefer davon überzeugen, dass die einzige historische Alternative „Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit“ bleibt!
WH, 28. September 2022
[1] „Bericht über die Pandemie und die Entwicklung des Zerfalls“, Internationale Revue Nr. 57
[2] Der Einsatz von Atomwaffen ist nicht, wie die Bourgeoisie behauptet, lediglich eine Frage des Willens eines "verrückten Diktators", um die Bevölkerung zu erschrecken und zu "notwendigen Opfern" zu zwingen. Er erfordert einen gewissen Konsens innerhalb der nationalen Bourgeoisie. Doch auch wenn ein solcher Einsatz einem freiwilligen Selbstmord der russischen Bourgeoisie gleichkäme, macht der Grad an Irrationalität und Unberechenbarkeit, in den der Kapitalismus versinkt, den Einsatz von Atomwaffen nicht völlig unmöglich. Darüber hinaus sind die alternden ukrainischen Atomkraftwerke, die ein wahres Finanzloch darstellen, auch mehrere Jahrzehnte nach der Katastrophe von Tschernobyl noch immer beängstigende Zeitbomben.
[3] Brände von noch nie dagewesenem Ausmaß haben den Planeten im Sommer heimgesucht, Dürren und Hitzerekorde mit Temperaturen von bis zu 50°C (wie in Indien), gepaart mit schrecklichen Überschwemmungen wie der, die Pakistans Anbauflächen fast zerstört hat.
"Enough is enough", "Zu viel ist zu viel". Das ist der Ruf, der sich in den letzten Wochen in Grossbritannien wie ein Echo von Streik zu Streik verbreitet hat. Diese massive Bewegung, die in Anlehnung an den "Winter des Zorns" von 1979 "Sommer des Zorns" genannt wird, betrifft jeden Tag Arbeiter in immer mehr Bereichen: Eisenbahnen, dann die Londoner U-Bahn, British Telecom, die Post, die Hafenarbeiter in Felixstowe (ein lebenswichtiger Hafen in Großbritannien), Müllabfuhr und Bus-Fahrpersonal in verschiedenen Teilen des Landes, Amazon, usw. Heute sind es die Beschäftigten im Transportwesen, morgen die Beschäftigten im Gesundheitswesen und die Lehrer und Lehrerinnen.
Alle Journalisten und Kommentatoren stellen fest, dass es sich um die größte Bewegung der Arbeiterklasse in diesem Land seit Jahrzehnten handelt; man muss bis zu den riesigen Streiks von 1979 zurückgehen, um eine größere und massivere Bewegung zu finden. Eine Bewegung dieser Größenordnung in einem Land wie Grossbritannien ist kein "lokales" Ereignis. Es ist ein Ereignis von internationaler Bedeutung, eine Botschaft an die Ausgebeuteten aller Länder.
Jahrzehnt für Jahrzehnt, wie und noch mehr als in anderen entwickelten Ländern, haben die aufeinanderfolgenden britischen Regierungen die Lebens- und Arbeitsbedingungen unerbittlich angegriffen, mit einem einzigen Leitmotiv: Prekarisierung und Flexibilisierung im Namen der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und des Profits. Die Angriffe haben in den letzten Jahren ein solches Ausmaß erreicht, dass die Kindersterblichkeit in diesem Land seit 2014 "einen beispiellosen Anstieg" erlebt (laut der medizinischen Fachzeitschrift BJM Open).
Aus diesem Grund stellt die derzeitige Explosion der Inflation einen solchen Tsunami dar. Mit einem Preisanstieg von 10,1% im Juli im Jahresvergleich, 13% erwartet im Oktober, 18% im Januar, ist das Ausmaß verheerend. "Viele Menschen könnten gezwungen sein, sich zu entscheiden, ob sie Mahlzeiten auslassen, um ihre Wohnungen zu heizen, oder ob sie in Kälte und Feuchtigkeit leben wollen", warnte der Nationale Gesundheitsdienst (NHS). Da die Gas- und Strompreise am 1. April um 54% und am 1. Oktober um 78% gestiegen sind, ist die Situation in der Tat unhaltbar.
Das Mobilisierungsniveau der britischen Arbeiter entspricht also endlich den Angriffen, die sie erleiden, während sie in den letzten Jahrzehnten nicht die Kraft gefunden hatten, darauf zu reagieren, da sie seit den Thatcher-Jahren sozusagen noch stehend k.o. waren.
In der Vergangenheit gehörten die englischen Arbeiter zu den kämpferischsten der Welt. Wenn man die Anzahl der Streiktage betrachtet, war der "Winter des Zorns" von 1979 nach dem Mai 1968 in Frankreich die massivste Bewegung aller Länder, sogar noch vor dem "Heißen Herbst" 1969 in Italien. Es war diese enorme Kampfbereitschaft, die die Regierung von Margaret Thatcher dauerhaft unterdrücken konnte, indem sie den Arbeitern eine ganze Reihe von bitteren Niederlagen zufügte, insbesondere beim Bergarbeiterstreik 1985. Diese Niederlage markierte einen Wendepunkt, nämlich den lang anhaltenden Rückgang des Kampfgeistes der Arbeiter in Großbritannien; sie kündigte sogar den allgemeinen Rückgang des Kampfgeistes der Arbeiter in der Welt an. Fünf Jahre später, 1990, beendete der Zusammenbruch der UdSSR, die in betrügerischer Absicht als "sozialistisches" Regime dargestellt wurde, und die ebenso verlogene Ankündigung des "Todes des Kommunismus" und des "endgültigen Triumpfes des Kapitalismus" den Kampf der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt. Seitdem hat die Arbeiterklasse, ihrer Perspektive beraubt, in ihrem Selbstvertrauen und ihrer Klassenidentität angegriffen, immer mehr - in Großbritannien noch mehr als anderswo - die Angriffe aller Regierungen über sich ergehen lassen müssen, ohne wirklich in der Lage zu sein, zurückzuschlagen.
Aber die Wut hat sich aufgestaut, und heute, angesichts der Angriffe der Bourgeoisie, zeigt die Arbeiterklasse in Großbritannien, dass sie wieder bereit ist, für ihre Würde zu kämpfen und die Opfer abzulehnen, die ihr das Kapital immer wieder auferlegt. Und wieder einmal spiegelt sie am deutlichsten die internationale Dynamik wider: Letzten Winter brachen in Spanien und den USA Streiks aus; diesen Sommer kam es auch in Deutschland und Belgien zu Arbeitsniederlegungen; für die kommenden Monate sagen alle Kommentatoren eine "explosive soziale Situation" in Frankreich und Italien voraus. Es ist unmöglich vorherzusagen, wo und wann sich die Kampfbereitschaft in naher Zukunft wieder massiv manifestieren wird, aber eines ist sicher: Das Ausmaß der derzeitigen Mobilisierungen der Arbeiterklasse in Grossbritannien stellt eine wichtige historische Tatsache dar. Es ist vorbei mit der Passivität, mit der Unterwerfung. Die neue Generation von Arbeitern und Arbeiterinnen erwacht.
Die Bedeutung dieser Bewegung beschränkt sich nicht nur auf die Tatsache, dass sie eine lange Periode der Passivität beendet. Diese Kämpfe entwickeln sich zu einer Zeit, in der die Welt mit einem imperialistischen Krieg großen Ausmaßes konfrontiert ist, einem Krieg, der vor Ort zwischen Russland und der Ukraine geführt wird, der aber eine globale Reichweite hat, wobei insbesondere die NATO-Mitgliedsländer mobilisiert werden. Eine Mobilisierung in Form von Waffen, aber auch in wirtschaftlicher, diplomatischer und ideologischer Hinsicht. In den westlichen Ländern wird in den Reden der Regierungen zu Opfern aufgerufen, um "Freiheit und Demokratie zu verteidigen". Konkret heißt das, dass das Proletariat in diesen Ländern den Gürtel noch enger schnallen sollen, um "ihre Solidarität mit der Ukraine zu bezeugen", in Wirklichkeit mit der ukrainischen Bourgeoisie und der Bourgeoisie der westlichen Länder.
Die Regierungen rechtfertigen ihre Angriffe ohne jede Scham, indem sie sowohl die Katastrophe der globalen Erwärmung als auch die Gefahr von Energie- und Nahrungsmittelknappheit (laut UN-Generalsekretär "die schlimmste Nahrungsmittelkrise, die es je gab") instrumentalisieren. Sie rufen zu "Nüchternheit" auf und kündigen das Ende des "Überflusses" an (um die infamen Worte des französischen Präsidenten Macron zu zitieren). Aber gleichzeitig forcieren sie ihre Kriegswirtschaft: Die weltweiten Militärausgaben sind bis 2021 auf 2.113 Billionen US-Dollar gestiegen! Zwar gehört Großbritannien zu den fünf Staaten mit den höchsten Militärausgaben, doch seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben alle Länder der Welt ihr Wettrüsten beschleunigt, auch Deutschland - zum ersten Mal seit 1945!
Die Regierungen rufen nach "Opfern, um die Inflation zu bekämpfen". Das ist eine finstere Farce, während sie diese durch die Explosion der Kriegsausgaben nur noch verschlimmern. Das ist die Zukunft, die der Kapitalismus und seine konkurrierenden nationalen Bourgeoisien versprechen: mehr Kriege, mehr Ausbeutung, mehr Zerstörung, mehr Elend.
Das ist auch das, was die Streiks des Proletariats in Großbritannien im Keim tragen, auch wenn die Arbeiter sich dessen nicht immer voll bewusst sind: die Weigerung, sich immer und immer mehr für die Interessen der herrschenden Klasse zu opfern, die Weigerung, Opfer für die nationale Wirtschaft und für die Kriegsanstrengungen zu bringen, die Weigerung, die Logik dieses Systems zu akzeptieren, das die Menschheit in die Katastrophe und schließlich in ihre Vernichtung treibt. Das ist die einzige Alternative: Sozialismus oder Vernichtung der Menschheit.
Diese Fähigkeit, den Kopf wieder aufzurichten, ist umso bemerkenswerter, als die Arbeiterklasse in Großbritannien in den letzten Jahren die Knüppel der populistischen Ideologie zu spüren bekommen hat, die die Ausgebeuteten gegeneinander ausspielt, sie in "Einheimische" und "Ausländer", in Weiße und Schwarze, in Männer und Frauen spaltet, bis hin zu dem Glauben, dass der Brexit für die Insel die Lösung sein könnte.
Aber es gibt noch andere, viel tückischere und gefährlichere Fallen, die die Bourgeoisie auf dem Weg der Kämpfe des Proletariats aufgestellt hat.
Die große Mehrheit der aktuellen Streiks wurde von den Gewerkschaften ausgerufen, die sich damit als unverzichtbare Organisation zur Organisation des Kampfes und zur Verteidigung der Ausgebeuteten darstellen. Die Gewerkschaften sind unverzichtbar, ja, aber um die Bourgeoisie zu verteidigen und die Niederlage der Arbeiterklasse zu organisieren.
Man muss sich nur daran erinnern, wie sehr Thatchers Sieg durch die Untergrabungsarbeit der Gewerkschaften ermöglicht wurde. Als im März 1984 im Kohlebergbau brutal 20.000 Stellenstreichungen angekündigt wurden, reagierten die Bergarbeiter blitzschnell. Schon am ersten Streiktag wurden 100 von 184 Schächten geschlossen. Daraufhin umgab die Streikenden sofort ein eisernes Korsett der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften der Eisenbahner und der Seeleute unterstützten die Bewegung platonisch. Die mächtige Gewerkschaft der Hafenarbeiter begnügte sich mit zwei späten Streikaufrufen. Der TUC (der nationale Gewerkschaftsbund) weigerte sich, den Streik zu unterstützen. Die Gewerkschaften der Elektriker und der Stahlarbeiter lehnten den Streik ab. Kurzum, die Gewerkschaften sabotierten aktiv jede Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes. Vor allem aber vollendete die Bergarbeitergewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) diese schmutzige Arbeit, indem sie die Bergarbeiter in sterile und endlose (über ein Jahr!) Besetzungen der Kohleschächte einspannte. Dank dieser gewerkschaftlichen Sabotage, dieser unfruchtbaren und endlosen Besetzungen konnte die Polizeirepression umso heftiger zuschlagen. Diese Niederlage würde die Niederlage der gesamten Arbeiterklasse sein.
Wenn dieselben Gewerkschaften heute eine radikale Sprache sprechen und so tun, als würden sie Solidarität zwischen den Sektoren propagieren und sogar mit einem Generalstreik drohen, dann deshalb, weil sie sich an die Sorgen der Arbeiterklasse dranhängen, weil sie versuchen, das einzufangen, was die Arbeiter bewegt, ihre Wut, ihre Kampfbereitschaft und ihr Gefühl, dass man gemeinsam kämpfen muss, um diese Dynamik besser sterilisieren und in die Irre führen zu können. In Wirklichkeit orchestrieren sie vor Ort separate Streiks; hinter der einheitlichen Losung, die Löhne für alle zu erhöhen, grenzen sie die Beschäftigten voneinander ab und spalten in branchenspezifische Verhandlungen; vor allem achten sie sehr darauf, alle wirklichen Diskussionen zwischen den Arbeitern der verschiedenen Sparten zu vermeiden. Nirgendwo gibt es echte branchenübergreifende Vollversammlungen. Deshalb sollte man sich nicht täuschen lassen, wenn Lizz Truss, die Favoritin für die Nachfolge von Boris Jonson, erklärt, sie werde "nicht zulassen", dass Grossbritannien "von militanten Gewerkschaftern erpresst wird", wenn sie Premierministerin wird. Damit tritt sie nur in die Fußstapfen ihres Vorbilds Margaret Thatcher; sie will das Ansehen der Gewerkschaften als die kämpferischsten Vertreter der Arbeiter erhöhen, um gemeinsam die Arbeiterklasse besser in die Niederlage führen zu können.
In Frankreich hatten die Gewerkschaften 2018 angesichts des steigenden Kampfgeistes und der Solidaritätswelle zwischen den Generationen bereits denselben Trick angewandt, indem sie die "Konvergenz der Kämpfe" propagierten, einen Ersatz für eine einheitliche Bewegung, bei der die Demonstranten, die auf der Straße zusammenkamen, nach Branchen und Unternehmen getrennt aufgeteilt wurden.
Um in Großbritannien wie überall sonst ein Kräfteverhältnis aufzubauen, das es uns ermöglicht, den unaufhörlichen Angriffen auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu widerstehen, die sich morgen noch gewaltsam verschärfen werden, müssen wir, wo immer wir können, zusammenkommen, um die Kampfmethoden zu diskutieren und hervorzuheben, die die Stärke der Arbeiterklasse ausgemacht haben und ihr in bestimmten Momenten ihrer Geschichte ermöglicht haben, die Bourgeoisie und ihr System ins Wanken zu bringen:
- die Suche nach Unterstützung und Solidarität über "seine" Zunft, "sein" Unternehmen, "seine" Branche, "seine" Stadt, "seine" Region, "sein" Land hinaus;
- die autonome Organisation des Arbeiterkampfes, insbesondere durch Generalversammlungen, ohne die Kontrolle darüber den Gewerkschaften zu überlassen, diesen sogenannten "Spezialisten" für Kämpfe und ihre Organisation;
- eine möglichst breite Diskussion über die allgemeinen Bedürfnisse des Kampfes, über die Lehren, die aus den Kämpfen und auch aus den Niederlagen zu ziehen sind, denn es wird Niederlagen geben, aber die größte Niederlage ist es, die Angriffe ohne Reaktion zu erdulden, der Eintritt in den Kampf ist der erste Sieg der Ausgebeuteten.
Während die Rückkehr der Massenstreiks in Großbritannien die Rückkehr der Kampfbereitschaft des Weltproletariats markiert, ist es auch von entscheidender Bedeutung, dass die Schwächen überwunden werden, die 1985 seine Niederlage besiegelten: Korporatismus und Gewerkschaftsillusion. Die Autonomie des Kampfes, Einheit und Solidarität sind die unerlässlichen Meilensteine für die Vorbereitung der Kämpfe von morgen!
Und dafür muss man sich als Teil derselben Klasse begreifen, einer Klasse, die durch Solidarität im Kampf vereint ist: das Proletariat. Die Kämpfe von heute sind nicht nur unerlässlich, um sich Stück für Stück gegen Angriffe zu verteidigen, sondern auch, um diese Klassenidentität auf globaler Ebene zurückzuerobern und den Sturz dieses Systems vorzubereiten, das Elend und Katastrophen aller Art mit sich bringt.
Im Kapitalismus gibt es keine Lösung: weder für die Zerstörung des Planeten, noch für Kriege, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit oder Elend. Nur der Kampf des Weltproletariats mit allen Unterdrückten und Ausgebeuteten der Welt kann den Weg zu einer Alternative ebnen.
Die Massenstreiks in Großbritannien sind eine Aufforderung zum Kampf an die Proletarier aller Länder.
Internationale Kommunistische Strömung 27.08.2022
Manche Ereignisse haben eine Bedeutung, die sich nicht auf die lokale oder unmittelbare Ebene beschränkt, sondern von internationaler Tragweite ist. Die Streikwelle, die sich in diesem Sommer in ganz Großbritannien ausgebreitet hat, ist aufgrund der Anzahl der betroffenen Sektoren, der Kampfbereitschaft der am Kampf beteiligten Arbeiter:innen und der breiten Unterstützung für die Aktion in der arbeitenden Bevölkerung ein Ereignis von unbestreitbarer Bedeutung auf nationaler Ebene. Aber wir müssen auch verstehen, dass die historische Bedeutung dieser Kämpfe weit über ihre lokale Dimension oder ihr noch einmaliges Auftreten hinausgeht.
Seit Jahrzehnten ist die Arbeiterklasse in den europäischen Staaten dem enormen Druck des Zerfalls des Kapitalismus ausgesetzt. Konkret hat sie seit 2020 eine Reihe von Covid-Wellen und dann den Schrecken des barbarischen Krieges in Europa mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine erlebt. Diese Ereignisse haben die Kampfbereitschaft der Arbeiter:innen zwar beeinträchtigt, aber nicht zum Verschwinden gebracht, wie die Kämpfe in den Vereinigten Staaten, Spanien, Italien, Frankreich, Korea und im Iran Ende 2021 und Anfang 2022 noch unterstrichen haben.
Die Streikwelle in Großbritannien als Reaktion auf die Angriffe auf ihren Lebensstandard durch die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die durch die Folgen der Gesundheitskrise und vor allem durch den Krieg in der Ukraine noch verschärft wurde, hat jedoch ein anderes Ausmaß. Unter schwierigen Umständen senden die britischen Arbeiter:innen ein klares Signal an diejenigen in der ganzen Welt: Wir müssen kämpfen, auch wenn wir Angriffe erlitten und Opfer in Kauf genommen haben, ohne reagieren zu können; aber „genug ist genug": Wir nehmen das nicht länger hin, wir müssen kämpfen. Dies ist die Botschaft an die Arbeiter:innen in anderen Ländern.
In diesem Zusammenhang ist der Eintritt des britischen Proletariats in den Kampf ein Ereignis von historischer Bedeutung auf mehreren Ebenen
Diese Welle des Kampfes wird von einem Teil des europäischen Proletariats angeführt, der mehr als die meisten anderen unter dem allgemeinen Rückzug des Klassenkampfes seit 1990 gelitten hat. Wenn die britischen Arbeiter in den 1970er Jahren, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich, Italien oder Polen, sehr wichtige Kämpfe entwickelten, die in der Streikwelle von 1979 ("Winter der Unzufriedenheit") gipfelten, war das Vereinigte Königreich das europäische Land, in dem der Rückgang der Kampfkraft in den letzten 40 Jahren am deutlichsten war.
In den 1980er Jahren sah sich die britische Arbeiterklasse einer wirksamen Gegenoffensive der Bourgeoisie ausgesetzt, die in der Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks 1985 durch Thatcher, der "Eisernen Lady" der britischen Bourgeoisie, gipfelte. Darüber hinaus war Großbritannien besonders von der Deindustrialisierung und der Verlagerung von Industrien nach China, Indien oder Osteuropa betroffen. Als die Arbeiterklasse 1989 einen allgemeinen, weltweiten Niedergang erlebte, war dieser in Großbritannien besonders ausgeprägt.
Darüber hinaus haben die britischen Arbeiter:innen in den letzten Jahren unter dem Ansturm der populistischen Bewegungen und vor allem unter der ohrenbetäubenden Brexit-Kampagne gelitten, die die Spaltung in ihren Reihen zwischen "Remainers" und "Leavers" gefördert hat, und dann unter der Covid-Krise, die die Arbeiterklasse, insbesondere in Großbritannien, schwer belastet hat. In jüngster Zeit schließlich wurde sie mit einem intensiven pro-ukrainischen Demokratisierungshype und einer besonders abscheulichen Kriegstreiberei im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine konfrontiert.
Die "Thatcher-Generation" hat eine schwere Niederlage erlitten, aber heute tritt eine neue Generation von Proletarier:innen auf den Plan, die nicht mehr so sehr wie die Älteren unter der Last dieser Niederlagen leidet und sich erhebt, um zu zeigen, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, auf diese schweren Angriffe mit Kampf zu reagieren. Wenn wir die unterschiedlichen Dimensionen im Auge behalten, erleben wir ein Phänomen, das mit dem der französischen Arbeiterklasse von 1968 durchaus vergleichbar (aber nicht identisch) ist: das Auftauchen einer jungen Generation, die von der Last der Konterrevolution weniger betroffen ist als die Älteren.
Der "Sommer des Zorns" kann nur eine Ermutigung für alle Arbeiter:innen weltweit sein, und das aus mehreren Gründen: Es ist die Arbeiterklasse der fünften Weltwirtschaftsmacht und ein englischsprachiges Proletariat, dessen Kämpfe einen wichtigen Einfluss in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada oder in anderen Regionen der Welt wie Indien oder Südafrika haben können. Da Englisch die Sprache der Weltkommunikation ist, übersteigt der Einfluss dieser Bewegungen notwendigerweise den der Kämpfe in Frankreich oder Deutschland. In diesem Sinne weist das englische Proletariat nicht nur den europäischen Arbeiter:innen den Weg, die an der Spitze des ansteigenden Klassenkampfes stehen müssen, sondern auch dem Weltproletariat, und insbesondere dem amerikanischen Proletariat. Im Hinblick auf künftige Kämpfe kann die britische Arbeiterklasse somit als Bindeglied zwischen dem westeuropäischen und dem amerikanischen Proletariat dienen.
Diese Bedeutung lässt sich auch an der besorgten Reaktion der Bourgeoisie, insbesondere in Westeuropa, auf die Gefahr einer Ausweitung der "Verschlechterung der sozialen Lage" ablesen. Dies ist vor allem in Frankreich, Belgien oder Deutschland der Fall, wo die Bourgeoisie im Gegensatz zur britischen Bourgeoisie energischere Maßnahmen ergriffen hat, um die Erhöhungen der Öl-, Gas- und Strompreise zu begrenzen oder die Auswirkungen der Inflation und der Preissteigerungen durch Subventionen oder Steuersenkungen auszugleichen, wobei sie lautstark verkündet, dass sie die Kaufkraft der Arbeitnehmer schützen wolle. Andererseits sollte die umfangreiche Medienberichterstattung über den Tod von Königin Elizabeth und die Beerdigungszeremonien die Bilder des Klassenkampfes konterkarieren und stattdessen das Bild einer geeinten britischen Bevölkerung zeigen, die von nationalistischem Eifer erfüllt ist und die bürgerliche Verfassungsordnung respektiert. Seitdem haben die bürgerlichen Medien die Fortsetzung der Streikbewegungen weitgehend verdunkelt.
Die Bourgeoisie weiß sehr wohl, dass die Verschärfung der Krise und die Folgen des Krieges immer weitergehen werden. Die Tatsache jedoch, dass sich bereits angesichts der ersten Angriffe, die für alle Teile des Proletariats nicht nur in England, sondern in Europa und sogar in der Welt ähnlich sind, eine massive Bewegung entwickelt, Angriffe, die die Bourgeoisie in der gegenwärtigen Situation auferlegen muss, kann die Bourgeoisie nur tief beunruhigen.
Auch wenn das westeuropäische Proletariat in den letzten vierzig Jahren, anders als vor den beiden Weltkriegen, nicht besiegt wurde, so war der Rückgang seines Klassenbewusstseins nach 1989 (unterstrichen durch die Kampagne über den "Tod des Kommunismus") dennoch äußerst wichtig. Zweitens hatte die Vertiefung des Zerfalls ab den 1990er Jahren ihre Klassenidentität zunehmend beeinträchtigt, und diese Tendenz konnte durch bestimmte Kampfbewegungen oder Ausdrucksformen des Nachdenkens bei Minderheiten der Klasse in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts nicht umgekehrt werden, wie der Kampf gegen das Gesetz über den Erstanstellungsvertrag (CPE) in Frankreich 2006, die Bewegung der "Indignados" in Spanien 2011, die Kämpfe bei SNCF und Air France 2014 und die Bewegung gegen die Rentenreform 2019 in Frankreich oder der "Striketober" in den USA 2021.
Darüber hinaus war die globale Arbeiterklasse in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts in ihren Kämpfen mit der Gefahr klassenübergreifender Bewegungen konfrontiert, wie in Frankreich mit den Aktionen der "Gilet Jaunes", dem Gewicht populistischer Mobilisierungen wie der MAGA-Bewegung ("Make America Great Again") in den USA oder bürgerlichen Kampagnen wie den "Märschen für das Klima" oder der "Black Lives Matter"-Bewegung und Mobilisierungen für Abtreibungsrechte in den USA und anderswo. In jüngster Zeit sind angesichts der ersten Folgen der Krise in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern zahlreiche Volksaufstände gegen den Anstieg der Preise für Treibstoff und andere Grunderzeugnisse ausgebrochen. All diese Bewegungen stellen eine Gefahr für die Arbeiter:innen dar, da sie sie auf ein klassenübergreifendes Terrain ziehen, wo sie von der Masse der "Bürger" übertönt werden oder auf ein völlig bürgerliches Terrain gezogen werden.
Aber nur das Proletariat bietet eine Alternative zu den Katastrophen, die unsere Gesellschaft kennzeichnen. Und im Gegensatz zu diesen Bewegungen, die die Arbeiter:innen auf falsche Fährten führen, besteht der grundlegende Beitrag der Streikwelle der britischen Arbeiter:innen darin, zu bekräftigen, dass der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung auf einer klaren Klassenbasis geführt werden muss und klare Forderungen der Arbeiter:innen gegen die Angriffe auf ihren Lebensstandard aufstellen muss: "Darüber hinaus, und das ist das Element, das letztendlich den Ausgang der Weltlage bestimmen wird, stellt die unaufhaltsame Verschärfung der kapitalistischen Krise den wesentlichen Stimulus für den Klassenkampf und die Entwicklung des Bewusstseins dar, die Voraussetzung für ihre Fähigkeit, dem Gift der sozialen Fäulnis zu widerstehen. Denn wenn es auch in den partiellen Kämpfen gegen die Auswirkungen des Zerfalls keine Grundlage für die Vereinigung der Klasse gibt, so bildet doch ihr Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Entwicklung ihrer Klassenstärke und Einheit." (Thesen zum Zerfall, 1991)[1]. Die Entwicklung dieser massiven Kampfbereitschaft in den Kämpfen um die Verteidigung der Kaufkraft ist für das Weltproletariat eine unausweichliche Voraussetzung, um den tiefen Rückschlag zu überwinden, den es seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regime erlitten hat, und um seine Klassenidentität und seine revolutionäre Perspektive wiederzuerlangen.
Kurzum, sowohl aus historischer Sicht als auch im aktuellen Kontext, in dem sich die Arbeiterklasse befindet, stellt diese Streikwelle in Großbritannien eine Zäsur in der Dynamik des Klassenkampfes dar, die in der Lage ist, einen "Wandel der gesellschaftlichen Stimmung" in Gang zu setzen.
Die Bedeutung dieser Bewegung besteht nicht nur darin, dass sie eine lange Periode relativer Passivität beendet. Diese Kämpfe entwickeln sich in einer Zeit, in der die Welt mit einem imperialistischen Krieg großen Ausmaßes konfrontiert ist, einem Krieg, in dem sich Russland und die Ukraine auf europäischem Boden gegenüberstehen, der aber eine globale Reichweite hat, insbesondere mit einer Mobilisierung der NATO-Mitgliedsländer, die nicht nur eine Mobilisierung mit Waffen ist, sondern auch auf wirtschaftlicher, diplomatischer und ideologischer Ebene: In den westlichen Ländern rufen die Regierungen zu Opfern auf, um "Freiheit und Demokratie zu verteidigen". Konkret bedeutet dies, dass die Proletarier dieser Länder den Gürtel noch enger schnallen müssen, um "ihre Solidarität mit der Ukraine" zu zeigen, d.h. mit der ukrainischen herrschenden Klasse und den Herrschern der westlichen Länder.
Angesichts des Konflikts in der Ukraine ist der Aufruf zu einer direkten Mobilisierung der Arbeiter:innen gegen den Krieg in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten illusorisch; seit Februar 2022 hat die IKS jedoch hervorgehoben, dass die Reaktion der Arbeiter:innen auf der Grundlage der Angriffe auf ihren Lohn erfolgen werden, welche Folgen der Kapitalakkumulation und der Verknüpfung der Krisen und Katastrophen der vergangenen Zeit sind. Solche Kämpfe richten sich auch gegen die Kampagne, die zur Hinnahme von Opfern zur Unterstützung des "heldenhaften Widerstands des ukrainischen Volkes" aufruft.
Außerdem beinhaltet die Mobilisierung gegen die kapitalistische Sparpolitik letztlich auch eine Opposition gegen den Krieg. Das ist es auch, was die Streiks der Arbeiterklasse im Vereinigten Königreich in sich tragen, auch wenn sich die Arbeiter:innen dessen nicht immer voll bewusst sind: die Weigerung, immer mehr Opfer für die Interessen der herrschenden Klasse zu bringen, die Weigerung, Opfer für die nationale Wirtschaft und für die Kriegsanstrengungen zu bringen, und die Weigerung, die Logik dieses Systems zu akzeptieren, das die Menschheit in die Katastrophe und schließlich in ihre Zerstörung führt.
Kurz gesagt, auch wenn sich die Kämpfe im Moment auf ein Land beschränken, auch wenn ihnen die Luft ausgeht und auch wenn wir in naher Zukunft wahrscheinlich nicht mit einer Reihe von ähnlichen großen Entwicklungen in verschiedenen Ländern rechnen können, ist ein Meilenstein erreicht. Die wesentliche Errungenschaft des Kampfes der Arbeiter:innen in Großbritannien ist es, aufzustehen und zu kämpfen, denn die schlimmste Niederlage ist es, kampflos zu verarmen. Auf dieser Grundlage können Lehren gezogen werden, und der Kampf kann weitergehen. Unter diesem Gesichtspunkt stellen die Streiks einen qualitativen Wandel dar und kündigen eine Veränderung der Situation der Arbeiterklasse gegenüber der Bourgeoisie an: Sie markieren eine Entwicklung der Kampfbereitschaft auf einem Klassenterrain, das der Beginn einer neuen Episode des Kampfes sein kann, weil die Arbeiterklasse durch ihre massiven wirtschaftlichen Kämpfe in der Lage sein wird, ihre Klassenidentität schrittweise wiederzuerlangen, die durch den Druck von 40 Jahren Zerfall, durch die Ebbe der Kämpfe und des Bewusstseins, durch die Sirenen der klassenübergreifenden Bewegungen, des Populismus und der Umweltkampagnen ausgehöhlt wurde. Auf dieser Grundlage wird die Arbeiterklasse in der Lage sein, eine Perspektive für die gesamte Gesellschaft zu eröffnen. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es ein "Vorher" und ein "Nachher" des Sommers 2022.
R. Havanais / 22.09.2022
[1]Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [8], in Internationale Revue Nr. 13
In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde der Planet wie in so vielen Jahren zuvor von zahlreichen Waldbränden in Frankreich, Marokko, Südkorea, der Türkei und Argentinien heimgesucht; von katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan, Indien, Südafrika, Madagaskar und Brasilien; von tropischen Stürmen auf den Philippinen und in Mosambik, auf Kuba und in Florida sowie von nie dagewesenen Hitzewellen in Indien und Pakistan. Durch den Temperaturanstieg hat sich das Risiko extremer Wetterkatastrophen erheblich verschärft. Das damit verbundene Ausmaß der Zerstörung ist erschreckend: Es offenbart die Beschleunigung des Zerfalls des Kapitalismus. Eine der verheerendsten Naturkatastrophen des Jahres 2022 ereignete sich in Pakistan. In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde das Land von einer beispiellosen Hitzewelle mit Temperaturen von mehr als 50°C heimgesucht, während in der zweiten Jahreshälfte 2022, nur einige Monate später, ein Drittel des Landes überschwemmt wurde und die Situation in einer totalen Katastrophe endete. In Jacobabad, einer Stadt mit 200 000 Einwohnern, erreichten die Temperaturen zunächst mehr als 49 °C, und dann wurden alle Straßen überflutet. Pakistan ist bekannt für seine Anfälligkeit für die Folgen des Klimawandels und extremer Wetterereignisse. In diesem Jahr sind in Pakistan bereits Tausende von Menschen ums Leben gekommen, 1.400 allein durch die Überschwemmungen. Viele der von den Überschwemmungen betroffenen Gebiete erhalten von den Behörden nur das absolute Minimum an Unterstützung. Doch der Kapitalismus ist nicht daran interessiert, Menschenleben zu retten.
Der Planet war noch nie so heiß wie heute. Seit 1880 ist die Temperatur der Erde um 0,08 °C pro Jahrzehnt gestiegen, aber seit 1981 ist die Erwärmung mehr als doppelt so schnell: 0,18 °C pro Jahrzehnt. Über Land und Ozean gemittelt war die Oberflächentemperatur 2021 um 1,04 °C wärmer als in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Nach Angaben der Nationalen Zentren für Umweltinformationen (NCEI) sind neun der zehn wärmsten Jahre seit 2005 gemessen worden, und die fünf wärmsten Jahre wurden alle seit 2015 registriert. Die NASA bestätigte diese Beobachtung und stellte fest, dass die Jahre 2010-2019 das wärmste jemals aufgezeichnete Jahrzehnt waren. Die US-amerikanische National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) fand heraus, dass die Verschmutzung durch Treibhausgase im Jahr 2021 49 % mehr Wärme in der Atmosphäre gebunden hat als im Jahr 1990. Doch welcher Zusammenhang besteht zwischen den steigenden Temperaturen und den immer häufiger auftretenden Störungen und Extremen des Wetters? Es gibt keinen unwiderlegbaren Beweis dafür, dass ein Tornado oder eine Überschwemmung in einem bestimmten Teil der Welt durch steigende Temperaturen verursacht wird. Aber in den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl der klimabedingten Katastrophen verdreifacht, und diese quantitative Zunahme ist ein Indiz für die Hypothese, dass der größte Teil der Wetterkatastrophen durch die globale Erwärmung – und in letzter Instanz durch unverantwortliche und zerstörerische "menschliche Eingriffe" – verursacht wird. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit können die WissenschaftlerInnen also feststellen, dass die Erwärmung der Atmosphäre, der Ozeane und des Landes die Ursache für die Mehrzahl der immer verheerenderen "Naturkatastrophen" ist. Der Anstieg der Luft- und Wassertemperaturen führt zum Anstieg des Meeresspiegels und zum massiven Abschmelzen der Eiskappen, zu gewaltigen Stürmen und höheren Windgeschwindigkeiten, zu lang anhaltenden Hitzewellen und intensiveren Dürren, zu heftigen Regenfällen und massiven Überschwemmungen, die immer mehr Teile des Planeten unbewohnbar machen. Und als unmittelbare Folgen dieser krisenhaften Zustände haben wir gesehen:
∗ Zwischen 2011 und 2020 beliefen sich die damit verbundenen Zerstörungen auf der ganzen Welt auf rund 2,5 Billionen US-Dollar, was einem Anstieg von fast 50 Prozent gegenüber den Jahren 2001 bis 2010 entspricht;
∗ seit 2008 wurden jedes Jahr mehr als 20 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben, eine Zahl, die von Jahr zu Jahr anstieg und allein im Jahr 2020 30,7 Millionen erreichen wird;
∗ von 1970 bis 2019 gab es weltweit mehr als 11.000 gemeldete Katastrophen, die auf Naturgefahren zurückzuführen sind, mit mehr als zwei Millionen registrierten Todesfällen.
Die Zerstörung der Natur durch den Menschen hat eine sehr lange Geschichte, aber in früheren Gesellschaften war diese Zerstörung so begrenzt, dass sich die Natur davon erholen konnte. Doch im Kapitalismus änderte sich das dramatisch: Er entwickelte Produktivkräfte, die in der Lage waren, das Gesicht der Natur in ganzen Regionen in relativ kurzer Zeit zu verändern. Während der industriellen Revolution führte beispielsweise die Ausbeutung von Kupfer- und Kohleminen zur Zerstörung großer Wälder in Südwales (Großbritannien) innerhalb weniger Jahrzehnte und veränderte die Landschaft für immer. Aber der Mensch kann nicht ungestraft so tiefgreifende Veränderungen an der Natur vornehmen. „Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht (...) Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns"[1]. Heute, oder besser gesagt in den letzten Jahrzehnten, können wir beobachten, wie die Natur nach 140 Jahren rücksichtsloser Ausplünderung durch das Kapital beginnt, sich im globalen Maßstab zu "rächen".
Die durch die Zerstörung der Natur in Gang gesetzten Prozesse treffen die Gesellschaft wie ein Bumerang in Form einer raschen Zunahme von Naturkatastrophen mit lang anhaltenden und immer verheerenderen Auswirkungen.
Unter kapitalistischen Bedingungen muss jede Kapitaleinheit unter dem Druck der Konkurrenz mit anderen Kapitalien akkumulieren und expandieren. Es muss so effizient wie möglich produzieren, mit der höchsten Produktivität und den geringstmöglichen Kosten. Jede Tätigkeit des Kapitals ist ständig auf die Steigerung des Profits und die Erhöhung der Ausbeutung der Natur ausgerichtet: Arbeitskraft, Boden, Rohstoffe usw. Die Rentabilität ist der Anfang und das Ende jeder kapitalistischen Unternehmung. Im Kapitalismus geht es nicht um die Schaffung von mehr nützlichen Produkten ("Gebrauchswerte"), sondern um die Ausweitung der Warenproduktion um des Profits willen. Das Kapital hat die Steigerung des Produktionsvolumens, die Ausdehnung des Marktes und die Reproduktion des Wertes auf erweiterter Stufenleiter zum Selbstzweck gemacht. Und je mehr das Kapital akkumuliert hat, desto mehr kann es akkumulieren. Akkumulation um der Akkumulation willen, Produktion um der Produktion willen, das ist es, was den Kapitalismus kennzeichnet. Die ewige Fortsetzung eines jeden Produktionszyklus in immer größerem Maßstab wird schließlich in der Dekadenz des Kapitalismus zu einer völlig irrationalen und sogar zerstörerischen Logik.
Für das Kapital ist die Natur ein "kostenloses Geschenk", sie hat keinen Preis, sie dient nur der Entdeckung und Förderung von Rohstoffen, sie hat keine Kosten. Aus kapitalistischer Sicht ist die Natur ein Rohstofflager, das nach Herzenslust geplündert werden kann. Deshalb werden in den Bilanzen der kapitalistischen Unternehmen alle Kosten genau aufgeführt (Transport, Maschinen, Arbeit usw.), nicht aber die Schäden, die der Natur durch den kapitalistischen Produktionsprozess zugefügt werden. Manchmal werden Schäden an der Natur repariert, aber meistens nicht von der Firma, die sie verursacht hat.
In der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus und insbesondere aufgrund der Erfordernisse der Kriegswirtschaft ist jeder Nationalstaat gezwungen, seinen Griff auf die Gesellschaft zu verstärken und immer mehr Bereiche des Wirtschaftslebens seiner direkten Kontrolle zu unterwerfen. Der Staatskapitalismus wurde zum vorherrschenden Charakteristikum und hat das Privatkapital mehr und mehr in seine Zwangsjacke gesperrt. Heute ist das gesamte Kapital einer Nation um den Staatsapparat konzentriert. Auf diese Weise wird der gnadenlose Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen zum großen Teil vom Verdrängungswettbewerb zwischen den Nationalstaaten absorbiert und in einen solchen umgewandelt.
Was hat das mit dem Problem der globalen Erwärmung zu tun? Es bedeutet, dass die wichtigsten Entscheidungen im Kampf gegen die globale Erwärmung nicht von den Entscheidungen des privaten Kapitals abhängen, sondern von der Politik der Nationalstaaten. Und die Bilanz der Politik der Nationalstaaten zum Schutz des Klimas ist nicht positiv. Im Gegenteil: Schon in der Zeit der imperialistischen Blöcke bis 1989, als die Nationen unter dem Joch des Blockführers standen und zur Zusammenarbeit gezwungen waren, erwies sich die Bourgeoisie als unfähig, etwas Substanzielles zu tun, um die weitere Zerstörung der Natur zu verhindern. Aber in der gegenwärtigen Phase des Zerfalls des Kapitalismus, in der der Zusammenhalt der Blöcke nicht mehr existiert und die Beziehungen zwischen den Nationen von "Jedem für sich", zunehmenden Fliehkräften und wachsendem militärischen Chaos beherrscht werden, ist es nur noch schlimmer geworden: Alle Bemühungen, eine gemeinsame Politik zum Schutz des Klimas vor der Erwärmung und zur Verhinderung immer dramatischerer Wetterkatastrophen zu beschließen, sind illusorisch geworden. Heute deuten alle Tendenzen auf ein zunehmendes politisches Chaos hin, in dem jeder Versuch, einen globalen Konsens zwischen den Nationalstaaten herzustellen, auch wenn sie sich als "sozialistisch" präsentieren, der Traum der linken Fraktionen der Bourgeoisie, zum Scheitern verurteilt ist. Und alle internationalen Konferenzen zum "Schutz" der Natur in den letzten dreißig Jahren zeugen von diesem Scheitern.
Die Zerstörung der Natur bis zu dem Punkt, an dem sie sich nicht mehr wirklich erholen kann, ist direkt mit dem Kapitalismus verbunden. Der Kapitalismus ist absolut unfähig, die ökonomischen Gesetze (Expansions-, Konzentrations- und Profitstreben) zu ändern, die für die immer größere Naturzerstörung verantwortlich sind. Die bürgerliche Gesellschaft "gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor"[2]. Der Temperaturanstieg und die globale Erwärmung sind der kapitalistischen Produktionsweise inhärent. Das bedeutet, dass die kapitalistische Produktionsweise abgeschafft werden muss, um diese katastrophale Dynamik zu stoppen. Es ist nicht nötig, sich hier mit den zahlreichen düsteren, aber realistischen Prognosen oder den verschiedenen Untergangsszenarien zu befassen, die uns erwarten, wenn der Temperaturanstieg nicht gestoppt wird.
Es gibt viel Material im Internet, in Zeitschriften und Büchern und natürlich auf unserer Website, z. B. den Artikel "Die Welt am Rande einer Umweltkatastrophe [17]" (IKSonline November 2008). Eines sollte jedoch erwähnt werden, nämlich die Tatsache, dass wir uns schnell dem Punkt nähern, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wir stehen gefährlich kurz vor dem Auftreten von "Rückkopplungseffekten", bei denen die Kohlenstoff- und Methanemissionen aus auftauenden Torfgebieten und dem arktischen Permafrost, die die Atmosphäre 20-mal stärker erwärmen können als Kohlenstoff, so schnell ansteigen, dass sie nicht mehr aufzuhalten sind und die globale Erwärmung selbst dann weitergehen würde, wenn alle menschlichen Emissionen gestoppt würden.
Die Kriegsindustrie verursacht hohe Umweltbelastungen. Man schätzt, dass die Emissionen der Armeen und der sie beliefernden Industrien für etwa 5 % der weltweiten Emissionen verantwortlich sind, mehr als der Luft- und Schiffsverkehr zusammen. Allein das US-Militär stößt pro Jahr mehr Treibhausgase aus als Länder wie Spanien, Portugal oder Schweden und so viel wie die jährlichen Emissionen von 257 Millionen Autos. Das Cost of War Research Project in Boston hat errechnet, dass sich die Emissionen aller US-Militäroperationen von 2001 bis 2017 auf etwa 766 Millionen Tonnen CO2 belaufen. Im Februar 2022 veröffentlichte die US-Armee ihre erste Klimastrategie (ACS), die darauf abzielt, ihre Emissionen bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren, beispielsweise durch die Elektrifizierung ihrer Kampffahrzeuge und nicht-taktischen Fahrzeuge, durch die Versorgung ihrer Stützpunkte mit kohlenstofffreiem Strom und durch die Entwicklung sauberer globaler Lieferketten. Für eine Institution, die regelmäßig Zehntausende von Kilotonnen Kohlendioxid pro Jahr freisetzt und die durch Stoffe wie Agent Orange, Raketentreibstoff und giftigen Feuerlöschschaum für die giftigste Umweltverschmutzung verantwortlich ist, ist dieser Plan absolut heuchlerisch. Er ist ein perfektes Beispiel für die Greenwashing-Kampagne der US-Armee: völlig unzureichend und ein Ablenkungsmanöver.
Der Militarismus vergiftet weiterhin den Planeten und trägt zur globalen Erwärmung bei. Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Umwelt sind bereits katastrophal. Es gibt Hinweise auf eine starke Luftverschmutzung und Treibhausgasemissionen, die auf die intensiven und andauernden Kämpfe zurückzuführen sind. Russische Raketen griffen eine Reihe von Öl- und Gasanlagen in der Ukraine an. Die daraus resultierenden Brände führten zu starken Emissionen. Allein in den ersten fünf Wochen des Krieges wurden 36 russische Angriffe auf die Infrastruktur für fossile Brennstoffe registriert, die zu lang anhaltenden Bränden führten, bei denen Rußpartikel, Methan und Kohlenstoff in die Atmosphäre gelangten. Die ukrainische Armee schlug zurück und setzte die Ölinfrastruktur auf russischer Seite in Brand.
Und das ist noch nicht alles. Beide Seiten schrecken nicht davor zurück, das Kernkraftwerk von Saporischschja, das größte in Europa, als Ziel ihrer militärischen Auseinandersetzungen zu nutzen. Die vier Hochspannungsleitungen, die das Kraftwerk mit Strom aus dem Ausland versorgen müssen, um das Sicherheits- und Kühlsystem usw. zu betreiben, werden systematisch mit Granaten beschossen. So sagte der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde am 9. September, dass das Risiko eines nuklearen Unfalls im Kraftwerk "erheblich gestiegen" sei. Jede weitere Zerstörung der Infrastruktur rund um das Kraftwerk könnte bereits immense Folgen haben, bis hin zu einer nuklearen Katastrophe vom Ausmaß von Fukushima.
Die westeuropäischen Länder haben sich darauf geeinigt, keine fossilen Brennstoffe mehr aus Russland zu beziehen. Wouter De Vriendt von der Grünen Partei sprach im belgischen Parlament von einer großen Chance, "sich von fossilen Brennstoffen zu befreien". Doch die Realität sieht ganz anders aus. Der Krieg in der Ukraine wird keinen Durchbruch bei der Umstellung auf sauberere Energie bedeuten. Russisches Gas und Öl werden durch fossile Brennstoffe ersetzt, von denen einige sogar noch umweltschädlicher sind, wie die Förderung von Schiefergas und Braunkohle.
Deutschland, Österreich und die Niederlande haben scheinheilig die Aufhebung von Beschränkungen für fossile Kraftwerke angekündigt und die Laufzeit von einem Dutzend Kohlekraftwerken verlängert, die bis 2030 geschlossen werden sollten. In Wirklichkeit nutzen die westlichen Länder den Krieg in der Ukraine als Alibi, um ihre eigene fossile Energiewirtschaft zu stärken.
Der Begriff Degrowth wurde erstmals 1972 formuliert, als André Gorz die Frage nach dem Verhältnis von Wachstum und Kapitalismus stellte. Die Degrowth-Bewegung selbst entstand etwa 30 Jahre später. Im Jahr 2002 veröffentlichte die französische Zeitschrift "Silence" eine Sonderausgabe zum Thema Degrowth, die in der Öffentlichkeit große Beachtung fand. Im Jahr 2008 fand in Paris die erste internationale Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit statt. Dies gab der Bewegung einen echten Impuls, und in der Folge wurden mehrere wichtige Publikationen veröffentlicht. Es gibt keine klar definierte Degrowth-Ideologie. Ein Punkt, der von der gesamten Bewegung unterstützt wird, ist die Tatsache, dass dem Wachstum Grenzen gesetzt sind, und daher das Ziel, quantitatives Wachstum durch qualitatives Wachstum oder Entwicklung zu ersetzen. Degrowth, so heißt es, könne auf vielerlei Weisen erreicht werden, aber gängige Vorschläge sind die Einstellung der Produktion von nutzlosen Konsumgütern, von Gütern mit eingebauter Obsoleszenz oder von Gütern, die nicht repariert werden können, der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, die Ersetzung des Individualverkehrs durch öffentliche Verkehrsmittel, die Demontage der Rüstungsindustrie und des militärisch-industriellen Komplexes, usw. Diese Vorschläge sind an sich sehr sinnvoll. Die Frage ist, ob sie jemals im Rahmen des Kapitalismus umgesetzt werden können. Sie "beruhen auf einer sehr zutreffenden Beobachtung: Im kapitalistischen System wird nicht für die Bedürfnisse der Menschheit produziert, sondern für den Profit, und dabei wird nicht nur kein Wohlstand geschaffen (ganz im Gegenteil), sondern auch der Planet zerstört. Die Lösung besteht für die Befürworter des Degrowth daher darin, besser und weniger zu konsumieren. (...) Aber die Degrowth-Theorie berührt nur einen Teil des Problems und das auch nur oberflächlich; sie trifft nicht den Kern der Sache"[3].
Auch innerhalb der ökologischen Bewegung gibt es Strömungen, die dies verstanden haben und argumentieren, dass der Kapitalismus die Klimakrise verursacht und dass "jede echte Alternative zu dieser perversen und zerstörerischen Dynamik radikal sein muss – das heißt, sie muss sich mit den Wurzeln des Problems befassen: dem kapitalistischen System. (...) Ökosozialistisches Degrowth ist eine solche Alternative“[4]. Natürlich stimmen wir zu, dass der Kapitalismus das Problem der globalen Erwärmung nicht lösen kann, weil es in der Logik seines Systems liegt. Daher muss der Kapitalismus selbst abgeschafft werden.
Aber die tatsächlichen Vorschläge dieser "Ökosozialisten" zur Schaffung der notwendigen Bedingungen für die Abschaffung des Kapitalismus sind alles andere als radikal. Während sie für die "soziale Aneignung der wichtigsten (Re-)Produktionsmittel"[5] plädieren, bleibt völlig im Dunkeln, wer sich diese (Re-)Produktionsmittel aneignen soll. Das Volk, wie es vorgeschlagen wird? Aber in der Klassengesellschaft gibt es das "Volk" als Kategorie nicht oder nur als Abstraktion. Und es ist unmöglich, die Produktionsmittel einem Abstraktum zuzuschreiben. Die einzige Schlussfolgerung, die bleibt, ist, dass sie vom Staat übernommen werden sollen, dessen Zerstörung die "Ökosozialisten" nicht vorsehen.
So ist die Formulierung, dass "die Hauptentscheidungen über die Prioritäten von Produktion und Konsum von den Menschen selbst getroffen werden", vor allem ein Deckmantel für die grundsätzliche demokratische Gesinnung der Autoren, die nicht über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinausgeht. Trotz ihrer "radikalen" Sprache ist die Ideologie des Ökosozialismus ein hervorragendes Instrument, um echte Besorgnis über die Klimakrise von der Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse weg in die Sackgasse der unmöglichen Reform der bestehenden Ordnung zu führen.
Aber schlimmer noch, die Idee des "Degrowth" unter einem staatskapitalistischen Regime kann auch als ideologische Rechtfertigung für weitere Angriffe auf die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen dienen. Sie könnte benutzt werden, um an die Lohnabhängigen zu appellieren, ihren Konsum im Namen einer staatlichen "Pro-Umwelt"-Politik zu reduzieren. Letztlich würde dies nur zu noch mehr Sparpolitik führen. Der Kapitalismus kann nicht reformiert werden. Er ist ein moribundes Ausbeutungssystem, das die Menschheit mit in den Abgrund reißt. Daher wird jeder echte Kampf gegen die weitere Zerstörung der Natur unmöglich sein, solange der Kapitalismus den Planeten beherrscht. Die wirkliche Veränderung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur kann nur unter der Diktatur des Proletariats in Angriff genommen werden. Das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur "kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln"[6].
Dennis, Oktober 2022
[1] Friedrich Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, MEW Bd. 20 S. 452 f.
[2] Karl Marx, Friedrich Engels, Kommunistisches Manifest
[3] Journée de discussion à Marseille: un débat ouvert et fraternel sur “un autre monde est-il possible ?” [18], ICConline 2008 (fr.internationalism.org)
[4] For an Ecosocialist Degrowth [19], Michael Löwy, Bengi Akbulut, Sabrina Fernandes and Giorgos Kallis (Monthly Review, 01.04.2022)
[5] Ibid.
[6] Karl Marx, Das Kapital, Band 3, Kapitel „Die trinitarische Formel“ (MEW Bd. 25 S. 828)
Als russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, erklärte Präsident Biden in seiner Rede am 24. Februar: "Putin hat einen Angriff auf die Grundsätze begangen, die den Weltfrieden schützen". Die Welt sei also mit der Tragödie eines neuen Krieges konfrontiert, der auf den Wahnsinn eines einzelnen Mannes zurückzuführen sei. Diese Propaganda, die die Ukraine und den "Westen" als Opfer darstellt, die nur für den "Frieden" arbeiteten, ist eine Lüge.
In Tat und Wahrheit ist dieser mörderische Konflikt ein reines Produkt der Widersprüche einer krisengeschüttelten kapitalistischen Welt, einer Gesellschaft, die am Boden liegt und unter der Herrschaft des Militarismus steht. Der gegenwärtige Krieg ist, wie alle Kriege in der Dekadenz des Kapitalismus, das Ergebnis eines dauernden imperialistischen Kräftemessens, das alle Protagonisten betrifft, ob klein oder groß, ob sie nun direkt oder indirekt in diesen Konflikt verwickelt sind[1]. In dem zynischen Kampf innerhalb dieses weltweit bestehenden Krabbenkäfigs stehen die Vereinigten Staaten als einzige Supermacht an der Spitze der Barbarei und zögern nicht, Chaos und Elend zu verbreiten, um ihre schäbigen Interessen zu verteidigen und den unvermeidlichen Niedergang ihrer Führung zu verlangsamen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die Vereinigten Staaten parallel zu ihrem Bestreben, ihre ehemaligen Verbündeten im westlichen Block zu halten, nie ihre Strategie aufgegeben, die Länder zu absorbieren, die Teil des von der UdSSR geführten Blocks gewesen waren. So wurde bereits am 15. Februar 1991 die Visegrad-Gruppe gegründet, die sich aus ehemaligen osteuropäischen Ländern (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) zusammensetzt, um deren Integration in die NATO und Europa zu fördern. Dieser Druck veranlasste die europäischen Mächte, ihre große Sorge zum Ausdruck zu bringen, Russland nicht zu "demütigen". Dieser Ton verriet bereits eine latente Herausforderung gegenüber den Vereinigten Staaten.
Während der Fall der Berliner Mauer symbolisch das Ende des Kalten Krieges ankündigte, sollte ein neuer Krieg, der erste Golfkrieg, der von den Vereinigten Staaten initiiert wurde[2], einen Vorgeschmack auf das Chaos des kommenden Jahrhunderts geben. Es handelte sich keineswegs um einen "Krieg um Öl", sondern darum, dass die amerikanische Macht nach dem Bankrott des gemeinsamen Feindes (der UdSSR) direkten Druck auf ihre mächtigsten ehemaligen Verbündeten ausübte, um sie unter ihrem Joch zu halten, indem sie sie in dieses barbarische militärische Abenteuer verwickelte.
Da die Welt nicht mehr in zwei disziplinierte imperialistische Lager geteilt war, hielt ein Land wie der Irak es für möglich, einen ehemaligen Verbündeten desselben Blocks, Kuwait, zu übernehmen. Die Vereinigten Staaten starteten an der Spitze einer Koalition von 35 Ländern eine tödliche Offensive, die darauf abzielte, jede künftige Versuchung zur Nachahmung der Handlungen von Saddam Hussein zu unterbinden.
So war die Operation "Wüstensturm", die von einer "internationalen Koalition" gegen den Irak durchgeführt wurde, in Wirklichkeit eine Operation des amerikanischen Imperialismus, die darauf abzielte, seine ehemaligen Verbündeten, die seine Führung in Frage stellen könnten, "zur Strecke zu bringen", indem er sich als einziger "Weltpolizist" behauptete. All dies um den Preis von mehreren hunderttausend Toten.
Der Sieg von Präsident Bush senior, der "Frieden, Wohlstand und Demokratie" versprach, konnte diese Illusion natürlich nicht lange aufrechterhalten. Die scheinbare Stabilität, die um den Preis von Eisen und Blut errungen wurde, war nur vorübergehend und bestätigte die Vereinigten Staaten als "Weltpolizisten", doch sie enthielt den Keim für wachsende Widersprüche und Spannungen.
Hatte der Golfkrieg die ersten Versuche einer offenen Opposition gegen die amerikanische Politik vorübergehend im Keim erstickt, so kamen sie bald darauf zum Ausdruck, insbesondere im Konflikt im ehemaligen Jugoslawien (von 1991 bis 2001). Anfang der 1990er Jahre stand die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl, die die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens vorantrieb und unterstützte, um Deutschland Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen, in direkter Opposition zur amerikanischen Macht, aber auch zu den Interessen Frankreichs und des Vereinigten Königreichs. Durch seine mutigen Initiativen leitete Deutschland den Prozess ein, der zur Explosion Jugoslawiens führen sollte.
Angesichts der offenen Herausforderung ihrer Autorität waren die Vereinigten Staaten nicht untätig. Bereits im Sommer 1995 starteten sie eine umfassende Gegenoffensive, wobei sie sich auf ihr wichtigstes Kapital stützten: ihre militärische Macht. Die Vereinigten Staaten stellten ihre eigene bewaffnete Truppe, die Implementation Force (IFOR), auf, wobei sie die UNO und die europäischen Truppen verdrängten und damit ihre überwältigende Überlegenheit und ihre beeindruckende Logistik unter Beweis stellten. Diese Demonstration der Stärke, diplomatisch gesteuert unter der Autorität von Bill Clinton, zwang die Europäer im November 1995, das Dayton-Abkommen zu unterzeichnen. Auch hier hinterließ der Konflikt Tausende von Opfern.
Natürlich wurden diese Abkommen, die unter den von den Vereinigten Staaten auferlegten Bedingungen unterzeichnet wurden, durch den Druck von Waffen und einer aggressiven Diplomatie, die vor allem die Spaltungen zwischen den europäischen Staaten ausnutzte, von denselben Staaten weiter sabotiert. So hat Deutschland auf dem Balkan, vor allem in Bosnien, immer wieder auf die Bremse getreten und diplomatische Annäherungen begünstigt, die Washington verärgerten, insbesondere durch seine Verbindungen zur türkischen und zur iranischen Regierung.
Selbst im Nahen Osten, einer traditionellen Domäne von Uncle Sam, konnten die europäischen Rivalen die amerikanische Politik allmählich behindern. Eine solche Herausforderung hat auch die treuesten Gefolgsleute der Vereinigten Staaten erreicht, angefangen bei Israel, vor allem nach der Machtübernahme von Netanjahu im Jahr 1996, als das Weiße Haus auf den Labour-Politiker Schimon Peres setzte. Auch Saudi-Arabien zeigte immer offener seinen Widerstand gegen das amerikanische Diktat in der Region.
Nur wenige Monate nach der erfolgreichen Gegenoffensive im ehemaligen Jugoslawien musste Uncle Sam eine Reihe von Rückschlägen hinnehmen. In allen strategischen Zonen des Planeten wurden die amerikanischen Interessen mehr und mehr durchkreuzt. Angesichts der zunehmenden Entwicklung des Jeder-gegen-jeden schrieb die IKS:
"Auch wenn die Vereinigten Staaten dank ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Macht eine Stärke haben, die der Führer des Ostblocks nie hatte, kann in gewisser Hinsicht eine Parallele zwischen der gegenwärtigen Situation der Vereinigten Staaten und der Situation der untergegangenen UdSSR in den Tagen des Ostblocks gezogen werden. Wie die UdSSR können sie ihre Vorherrschaft nur durch die wiederholte Anwendung roher Gewalt aufrechterhalten, was immer Ausdruck einer historischen Schwäche ist. Diese Verschärfung des "Jeder für sich" und die Sackgasse, in der sich der "Weltpolizist" befindet, ist lediglich ein Spiegelbild der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise. In diesem Zusammenhang können die imperialistischen Spannungen zwischen den Großmächten nur eskalieren, Zerstörung und Tod über immer größere Gebiete des Planeten bringen und das entsetzliche Chaos, das bereits das Los ganzer Kontinente ist, noch weiter verschlimmern"[3].
Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hatte sich das, was wir Mitte der 1990er Jahre erklärt hatten, weitgehend bestätigt. Mit den tödlichen Anschlägen vom 11. September 2001 in New York wurden die Vereinigten Staaten sogar zum ersten Mal in ihrer Geschichte auf eigenem Boden getroffen. Der schreckliche und symbolträchtige Einsturz der Zwillingstürme markierte eine neue Dimension in der Entwicklung des kapitalistischen Schreckens und Chaos. Aber diese Anschläge waren für die Vereinigten Staaten auch eine hervorragende Gelegenheit, ihre imperialistischen Interessen durch einen überstürzten Kriegseintritt zu verteidigen. Auch hier sollte sich die amerikanische Politik immer mehr auf massive Vergeltungsmaßnahmen und mörderische Militäroperationen einlassen, um im Namen des "Kampfes gegen den Terrorismus" zu versuchen, ihre Autorität aufrechtzuerhalten. Die Regierung von George W. Bush Junior begann mit ihren Streitkräften rasch mit Luftangriffen gegen Al-Qaida und die Taliban in Afghanistan, ein Unterfangen, das damals von den ehemaligen Verbündeten unterstützt wurde.
Doch schon bald wurde der von Washington geplante neue Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen" im Irak zum Gegenstand heftiger und wachsender Kritik. Indem sie 2003 die Verbreitung falscher Informationen über Saddam Husseins "Massenvernichtungswaffen" förderten, um die Unterstützung der Bevölkerung und der ehemaligen Partner zu gewinnen, sahen sich die Vereinigten Staaten bei ihrer neuen Kriegsoperation zunehmend isoliert[4]. Frankreich stellte sich diesmal offen gegen die Vereinigten Staaten und machte sogar von seinem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat Gebrauch.
Mit dieser neuen Machtdemonstration der USA, die den Terrorismus beseitigen und den Niedergang ihrer Führungsrolle aufhalten sollte, wurde die Büchse der Pandora geöffnet, und die darauf folgenden Anschläge in der ganzen Welt konnten nur die Irrationalität dieser militärischen Unternehmungen unterstreichen, die in Wirklichkeit dieselbe infernalische Spirale anheizten und den Widerstand, das Chaos und die Barbarei verstärkten.
Die Vereinigten Staaten setzten auch ihre entschlossene Politik gegenüber dem Osten mit den Reisen von Außenministerin Condoleezza Rice zur Förderung von "Wandel" und "Demokratie" fort. Ihre Arbeit sollte Früchte tragen. Im Jahr 2003 setzte der amerikanische Imperialismus seine Marionetten im Kaukasus ein, indem er die "Rosenrevolution" in Georgien unterstützte, die zum Sturz des pro-russischen Schewardnadse führte und ihn durch eine pro-amerikanische Clique ersetzte. Auch die "Tulpenrevolution" in Kirgisistan im Jahr 2005 war Teil dieser Strategie. Russlands Herzstück, die Ukraine, befand sich bereits im Griff der politischen Spannungen. Bei der "Orangenen Revolution" von 2004 wie auch bei der von 2014 ging es nicht um einen sogenannten "Kampf für Demokratie", sondern um ein strategisches Ziel im Spiel der NATO und der Großmächte, um Einfluss zu gewinnen[5].
Doch selbst mit massivem militärischem Druck und dem zunehmenden Einsatz von Waffen war der amerikanische Imperialismus nicht in der Lage, die Herausforderung seiner Führungsrolle zu beseitigen. Die Vereinigten Staaten sind weit davon entfernt, "Frieden und Wohlstand" zu sichern, und haben sich in allen wichtigen strategischen Punkten, die sie zu ihrem eigenen Vorteil stabilisieren und verteidigen wollten, festgefahren.
Der Rückzug der Amerikaner aus dem Irak im Jahr 2011 hat die Entwicklung des "Jeder für sich" noch verstärkt, während der Bürgerkrieg in Syrien zur Explosion des Chaos in einer völlig unkontrollierbar gewordenen Region der Welt beigetragen hat. Auch der Abzug aus Afghanistan im Jahr 2021 wurde von einer unüberwindbaren Unordnung begleitet, die die Taliban an die Macht brachte. Jede dieser Operationen, die darauf abzielen, die "Ordnung" der Pax Americana durchzusetzen, hat das Chaos und die Barbarei nur noch verstärkt und die Vereinigten Staaten dazu gezwungen, ihre Militäraktionen fortzusetzen.
Diese Misserfolge allein sind nicht der Grund für den Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak und Afghanistan[6]. Vielmehr kündigte Außenministerin Hillary Clinton 2011 einen "strategischen Schwenk nach Asien" an, welchen Worten Taten folgen sollten. Weit entfernt von einem vermeintlichen "Rückzug" aus dem Weltgeschehen wurde diese politische Ausrichtung des Mandats von Barack Obama von Donald Trump mit dem Slogan "America First" weitergeführt. Während China in der Vergangenheit eine zweitrangige Position in der Weltarena einnahm, hat es allmählich den Charakter eines echten Herausforderers angenommen, der eine amerikanische Bourgeoisie, die entschlossen ist, ihren Status als Weltmarktführer aufrechtzuerhalten, immer offener beunruhigt und bedroht. Angesichts des Machtzuwachses Chinas wurde das Ziel klar formuliert: "Asien in den Mittelpunkt der amerikanischen Politik zu stellen", was die Fraktion um Joe Biden weiterverfolgen und verstärken musste. Doch diese Neupositionierung hat die anderen großen Krisenherde keineswegs "im Stich gelassen", sondern dem amerikanischen Imperialismus neuen Schwung verliehen. Der Eindruck des "Rückzugs" veranlasste einige der Rivalen der USA dazu, eigene imperialistische Unternehmungen zu starten, bei denen Uncle Sam nicht mehr präsent war. Viele, wie Russland, zahlen einen hohen Preis für diese Unterschätzung! Mit der Entsendung seiner Truppen zu einer lächerlichen militärischen Invasion in der Ukraine wollte Russland den Würgegriff schwächen, in dem es nun mehr und mehr erstickt. Damit tappte es in eine von der amerikanischen Bourgeoisie aufgestellte Falle[7]. In Wirklichkeit entspricht der amerikanische Rückzug aus Afghanistan einer globalen Vision, einer längerfristigen Sichtweise, die von dem Wunsch diktiert wird, China einzudämmen, das sich zu einer imperialistischen Großmacht entwickelt hat, die seine vitalen Interessen bedroht. Die gegenwärtige Offensive der Vereinigten Staaten, der Druck, den sie auf die europäischen Länder ausüben, die spektakuläre Gegenoffensive der Ukraine, die auf die ausgeklügelte logistische und materielle Unterstützung zurückzuführen ist, oder die Aufrechterhaltung des diplomatischen Drucks auf den Iran (in Bezug auf das Atomprogramm) und auf den afrikanischen Kontinent mit den Reisen ihres Chefdiplomaten Antony Blinken angesichts der Begehrlichkeiten Russlands und Chinas sind daher alle Teil des Kampfes der USA gegen den historischen Niedergang ihrer Führung.
Indem sie Chinas "Seidenstraßen" nach Europa durch den Krieg in der Ukraine und durch die weitere Kontrolle der Seewege im Südpazifik vereitelt haben, ist es den Vereinigten Staaten vorläufig gelungen, China zu zwingen, seine Ambitionen nur auf dem Landweg und in einem begrenzten Gebiet auszuweiten. In dem Bewusstsein, dass China bei weitem nicht in der Lage ist, mit seiner militärischen Macht mitzuhalten, versuchen die Vereinigten Staaten, aus dieser Schwäche Kapital zu schlagen, den Druck aufrechtzuerhalten und sich sogar Provokationen wie die sehr politische und symbolische Reise der Demokratin Nancy Pelosi nach Taiwan zu erlauben. Dieser beispiellose Affront, der die relative Ohnmacht Chinas offenbart, könnte sich in Zukunft wiederholen und Peking vielleicht zu gefährlichen militärischen Abenteuern treiben.
Aus diesen Entwicklungen, die mit den Bemühungen des amerikanischen Imperialismus zusammenhängen, können wir einige Lehren ziehen:
- Das Motiv für das Handeln des amerikanischen Imperialismus, wie auch das aller anderen Großmächte, beruht keineswegs auf rationalen Erwägungen oder gar auf der bloßen Suche nach unmittelbarem wirtschaftlichem Gewinn, sondern auf der Verteidigung seiner Position in einer Welt, die immer chaotischer wird und damit den Griff nach Chaos und Zerstörung verstärkt.
- Um dieses zunehmend irrationale Ziel zu erreichen, zögern die Vereinigten Staaten nicht, Chaos in Europa zu säen, wie man an der Falle sehen kann, die sie Russland gestellt haben, an den hochentwickelten Waffen und der militärischen Hilfe, die sie der Ukraine geben, um den Krieg aufrechtzuerhalten, um ihren russischen Rivalen zu erschöpfen.
- Um seine Position zu verteidigen, ist die einzige verlässliche Kraft offensichtlich: diejenige der Waffen. Das zeigt der gesamte Weg von Uncle Sam in den letzten Jahrzehnten, in denen er zur Speerspitze des Militarismus, des Alleingangs und des Kriegschaos geworden ist. Schon jetzt erleben wir das größte Chaos in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften.
In seiner letzten Phase des Zerfalls stürzt der Kapitalismus die Welt in die Barbarei und führt unaufhaltsam in die Massenverwüstung. Diese schreckliche Situation und der Schrecken des Alltags zeigen uns, wie viel auf dem Spiel steht und wie viel Verantwortung die Arbeiterklasse der Welt trägt. Heute steht das Überleben der menschlichen Gattung auf dem Spiel.
WH, 15. September 2022
[1] Für weitere Erklärungen siehe Militarismus und Zerfall (Mai 2022) [20], in Internationale Revue Nr. 58
[2] Siehe Krieg am Golf: Kapitalistische Massaker und Chaos, in International Review Nr. 65 (1992, engl./frz./span. Ausgabe)
[3] Imperialistische Konflikte: "Jeder für sich" und die Krise der amerikanischen Führung, in International Review Nr. 87 (1996, engl./frz./span. Ausgabe)
[4] Abgesehen von der Unterstützung Großbritanniens war keine größere Militärmacht an der Seite der amerikanischen Truppen an diesem Konflikt beteiligt.
[5] Die Massen, die Viktor Juschtschenko unterstützten oder sich hinter Viktor Janukowitsch stellten, waren nur Spielfiguren, die manipuliert wurden und sich im Namen dieser oder jener imperialistischen Ausrichtung hinter die eine oder andere rivalisierende bürgerliche Fraktion stellten.
[6] Wie die Ermordung des Al-Qaida-Führers Ayman Al-Zawahiri am 31. Juli 2022 zeigt, haben die Vereinigten Staaten zudem keineswegs aufgegeben, die Lage in diesem Land zu beeinflussen. Die Behauptungen der USA, sie seien der Bannerträger des Friedens und einer regelbasierten Weltordnung, sind nichts als Lügen, um ihre wahren imperialistischen Pläne zu verbergen.
[7] Siehe Die Bedeutung und die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine [4], in Internationale Revue Nr. 58
Der Kapitalismus wird mehr und mehr durch eine ganze Reihe von Widersprüchen, die seiner Existenzweise inhärent sind, erdrosselt, die nun ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken und die Gesellschaft in nie gekanntem Ausmaß und mit nie gekannter Häufigkeit bedrohen.
Angesichts dieser Katastrophen war die Bourgeoisie stets darauf bedacht, alle Erklärungen, die die Frage nach der Verantwortung des Systems selbst aufwerfen, zu verwerfen und zu diskreditieren. Das Ziel der herrschenden Klasse ist es, der Arbeiterklasse die wahre Ursache von Kriegen, Weltunruhen, Klimawandel, Pandemien und der Weltwirtschaftskrise zu verheimlichen.
Die Überproduktion wurde von Marx als Ursache der zyklischen Krisen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert identifiziert[1]. Das Kommunistische Manifest verkündete bereits 1848, "In der Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Ueberproduktion.“ In der Periode des aufsteigenden Kapitalismus wirkte dieser Widerspruch jedoch als Faktor für die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus durch die Suche nach Märkten, die als Absatzmärkte für die Produktion der industrialisierten Mächte dienen sollten.
In der Periode der Dekadenz hingegen ist die Überproduktion die Ursache für die wirtschaftliche Sackgasse, die durch die große Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, die immer tieferen Rezessionen, die seit Ende der 1960er Jahre aufeinander folgten, aber auch durch die schwindelerregende Entwicklung des Militarismus gekennzeichnet ist, denn "angesichts der totalen wirtschaftlichen Sackgasse und des Scheiterns der brutalsten wirtschaftlichen 'Heilmittel' bleibt der Bourgeoisie nur die Flucht nach vorn mit anderen Mitteln, die immer illusorischer werden und die nur militärische Mittel sein können."[2]
Tragische Beispiele für diese Sackgasse: zwei Weltkriege und seit dem Ersten eine fast ununterbrochene Reihe von lokalen Kriegen zwischen Staaten.
Die Ursache der Überproduktion wurde von Marx im Kommunistischen Manifest aufgezeigt. Angetrieben von der Konkurrenz, die sich unter Androhung des Untergangs immer weiter ausdehnt, neigt die Produktion ständig dazu, sich auszudehnen, überschüssig zu werden, und zwar nicht im Verhältnis zu den wirklichen Bedürfnissen der Menschen, sondern im Verhältnis zur Kaufkraft der lohnabhängigen oder arbeitslosen Proletarisierten. Die ProletarierInnen bilden nur so lange einen Absatzmarkt für die kapitalistische Produktion, wie die Reproduktion ihrer Arbeitskraft dies notwendig macht[3]. Die Bezahlung der Arbeiter über diese Notwendigkeit hinaus würde zwar die Überproduktion verringern, aber auch der Akkumulation des aus der Lohnarbeit gewonnenen Mehrwerts im Wege stehen.
Es gibt keine Lösung für die Überproduktion im Kapitalismus. Sie kann nur durch die Abschaffung der Lohnarbeit beseitigt werden, was die Errichtung einer Gesellschaft ohne Ausbeutung bedeutet. In unseren öffentlichen Veranstaltungen und in Diskussionen mit Kontakten wurden Fragen und Missverständnisse zu diesem Thema geäußert. Ein Genosse meinte, dass die Überproduktion unter dem Einfluss anderer "umgekehrter" Widersprüche, die zu einer Verknappung bestimmter Waren führen, verringert oder sogar beseitigt werden könnte. In Wirklichkeit sind zwar bestimmte Sektoren der Weltproduktion von Knappheit betroffen, z. B. aufgrund von Lücken in den Lieferketten, andere Sektoren sind jedoch im Wesentlichen weiterhin von Überproduktion betroffen.
Wenn das Räderwerk der Weltwirtschaft nicht ständig von der permanenten und wachsenden Tendenz zur Überproduktion beherrscht wird, dann deshalb, weil die Bourgeoisie massiv auf nicht zurückgezahlte Schulden zurückgegriffen hat, um Nachfrage zu schaffen, was zur Anhäufung einer kolossalen globalen Verschuldung geführt hat, die wie ein Damoklesschwert über der Weltwirtschaft hängt. Die ebenfalls von Marx festgestellte Tendenz zu sinkenden Profitraten stellt ein zusätzliches Hindernis für die Akkumulation dar. Angesichts der Verschärfung der Konkurrenz und um ihre Unternehmen am Leben zu erhalten, sind die Kapitalisten gezwungen, immer billiger zu produzieren. Zu diesem Zweck müssen sie die Produktivität steigern, indem sie immer mehr Maschinen im Produktionsprozess einsetzen (Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals). Das Ergebnis ist, dass jede auf diese Weise produzierte Ware verhältnismäßig weniger lebendige Arbeit (der Teil der Arbeit der ArbeiterInnen, der nicht vom Kapitalisten bezahlt wird) und damit weniger Mehrwert enthält. Dennoch können die Auswirkungen der sinkenden Profitrate durch verschiedene Faktoren kompensiert werden, insbesondere durch die Erhöhung des Produktionsvolumens[4]. Dies stößt aber wiederum, wie bei der Überproduktion, auf die Unzulänglichkeit der Märkte. Wenn die sinkende Profitrate im Leben des Kapitalismus nicht sofort als absolutes Hindernis für die Akkumulation auftrat, so deshalb, weil es in der Gesellschaft immer noch Absatzmärkte gab, zunächst reale und später zunehmend auf dem Wachstum der Weltverschuldung beruhende, die es ermöglichten, sie auszugleichen. Im gegenwärtigen Kontext ist sie in gefährlicher Weise mit der Überproduktion verbunden.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs trat der Kapitalismus in eine neue Phase ein, in seine Dekadenz, in der die gesellschaftlichen Widersprüche die Einrichtung eines Staatskapitalismus erzwangen, dessen Aufgabe es war, den Zusammenhalt der Gesellschaft angesichts dieser Widersprüche zu erhalten:
- Krieg oder Kriegsdrohung, was die Entwicklung des Militarismus und damit der Militärausgaben impliziert;
- die Entwicklung des Klassenkampfes, aber auch die Zunahme der Kriminalität und des Gangstertums, was die Einrichtung verschiedener Repressionsorgane (Polizei, Gerichte usw.) erforderlich macht.
Diese Arten von staatskapitalistischen Ausgaben sind völlig unproduktiv und tragen keineswegs zur Akkumulation bei, sondern stellen eine Sterilisierung des Kapitals dar. Auch hier wurde Unverständnis über die Produktion und den Verkauf von Waffen geäußert, die als Teil des Akkumulationsprozesses angesehen werden und somit dem Krieg eine gewisse Rationalität verleihen. Tatsächlich wird die Vorstellung, dass der Verkauf solcher Waren die Realisierung von Mehrwert impliziert, vom Marxismus abgelehnt. Um sich davon zu überzeugen, muss man sich nur auf Marx berufen: "Ein großer Teil des jährlichen Produkts, das als Revenue verzehrt wird und nicht mehr als Produktionsmittel von neuem in die Produktion eingeht, besteht aus den fatalsten, die jämmerlichsten Gelüste, fancies usw. befriedigenden Produkten (Gebrauchswert) [...] Diese Sorte produktiver Arbeit produziert Gebrauchswerte, vergegenständlicht sich in Produkten, die nur für den unproduktiven Konsum bestimmt, in ihrer Realität, als Artikel, keinen Gebrauchswert für den Reproduktionsprozess haben"[5]. In diese Kategorie fallen alle Luxusartikel, die für die Bourgeoisie bestimmt sind, sowie die Waffen, da die Waffen offensichtlich nicht als Produktionsmittel in den Produktionsprozess zurückkehren. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind die unproduktiven Ausgaben, insbesondere die Militärausgaben, weiter angestiegen, und der gegenwärtige Krieg in der Ukraine hat ihnen einen weiteren Auftrieb gegeben.
Die Inflation ist nicht zu verwechseln mit einem anderen Phänomen im Leben des Kapitalismus, nämlich dem Anstieg der Preise für bestimmte Waren aufgrund eines Mangels an Angebot. Das letztgenannte Phänomen hat aufgrund des Krieges in der Ukraine, der die Versorgung mit einer großen Menge landwirtschaftlicher Erzeugnisse beeinträchtigt hat, eine besondere Bedeutung erlangt. Dies führt bereits zu einer Verschärfung der Armut und des Hungers in der Welt.
Die Inflation gehört nicht zu den der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden Widersprüchen, wie dies beispielsweise bei der Überproduktion der Fall ist. Dennoch ist sie ein ständiges Element in der Periode der kapitalistischen Dekadenz und hat erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft. Wie der Angebotsmangel äußert sie sich in steigenden Preisen, aber sie ist die Folge des Gewichts der unproduktiven Ausgaben in der Gesellschaft, deren Kosten sich auf die produzierten Waren auswirken: "In den Preis jeder Ware fließen heute neben den Gewinnen und den Kosten für die Arbeitskraft und das konstante Kapital, das in der Produktion eingesetzt wird, immer mehr Ausgaben ein, die für den Verkauf auf einem immer mehr gesättigten Markt unerlässlich sind (von den Gehältern der in der Vermarktung Tätigen bis hin zu dem Betrag, der für die Bezahlung der Polizei, der Funktionäre und der Soldaten des Erzeugerlandes zurückgelegt wird). Im Wert eines jeden Gegenstandes wird der Teil, der die für seine Herstellung notwendige Arbeitszeit verkörpert, immer kleiner im Verhältnis zu dem Teil, der die menschliche Arbeit verkörpert, die für das Überleben des Systems notwendig ist. Die Tendenz, dass das Gewicht dieser unproduktiven Ausgaben die Gewinne der Arbeitsproduktivität zunichte macht, manifestiert sich im ständigen Anstieg der Warenpreise"[6].
Ein weiterer Faktor für die Inflation ist schließlich die Geldentwertung, die mit der unkontrollierten Ausweitung der weltweiten Verschuldung einhergeht, die sich heute 260 % der Weltproduktion nähert.
Wenn sich die Bourgeoisie so eifrig auf die natürlichen Ressourcen stürzt, indem sie sie in die Produktivkräfte einbezieht, dann deshalb, weil sie die Besonderheit aufweisen, für den Kapitalismus "kostenlos" zu sein.
So umweltverschmutzend, mörderisch und ausbeuterisch der Kapitalismus in seiner Blütezeit bei der Eroberung der Welt auch war, so war dies doch nichts im Vergleich zu der teuflischen Spirale der Naturzerstörung seit dem Ersten Weltkrieg, die eine Folge des grausamen wirtschaftlichen und militärischen Wettbewerbs ist. Die Umweltzerstörung hat ein neues Niveau erreicht, da die kapitalistischen Unternehmen, ob privat oder öffentlich, die Umweltverschmutzung und die Plünderung der Ressourcen des Planeten auf ein noch nie dagewesenes Maß gesteigert haben. Darüber hinaus haben Kriege und Militarismus ihren eigenen Beitrag zur Verschmutzung und Zerstörung der natürlichen Umwelt geleistet[7]. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Katastrophe, die der Kapitalismus für die Menschheit bereithält, eine neue Dimension erreicht: die Entwicklung des Klimawandels, der die Existenz unserer Gattung bedroht. Seine Ursachen sind wirtschaftlicher Natur, und das gilt auch für seine Folgen.
Der Klimawandel wirkt sich immer stärker auf das Leben der Menschen und die Wirtschaft aus: Ungeheure Brände, heftige und großflächige Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren, heftige Stürme usw. beeinträchtigen zunehmend nicht nur die landwirtschaftliche, sondern auch die industrielle Produktion und den Lebensraum der Menschen, wodurch die kapitalistische Wirtschaft immer mehr in Mitleidenschaft gezogen wird.
Eine solche Bedrohung kann nur durch die Überwindung des Kapitalismus beseitigt werden. Aber in diesem Punkt gibt es die Idee, dass man nicht ausschließen könne, dass die Bourgeoisie in der Lage sei, die Klimakatastrophe durch den Einsatz neuer "sauberer" Technologien zu vermeiden. Zweifellos ist die Bourgeoisie noch in der Lage, in diesem Bereich erhebliche, ja sogar entscheidende Fortschritte zu machen. Dagegen ist sie völlig unfähig, sich im Weltmaßstab zu vereinigen, um solche technologischen Fortschritte in die Praxis umzusetzen.
Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass solche Illusionen in der Bourgeoisie geäußert werden. In gewisser Weise nahmen sie die Form der Theorie des "Superimperialismus" an, die insbesondere von Kautsky am Vorabend des Ersten Weltkriegs entwickelt wurde und die zeigen sollte, dass sich die Großmächte untereinander einigen könnten, um eine gemeinsame, friedliche Herrschaft über die Welt zu errichten. Eine solche Vorstellung war offensichtlich eine der Speerspitzen der pazifistischen Lüge, die darauf abzielte, die Arbeiter glauben zu machen, dass man Kriege beenden könne, ohne den Kapitalismus zerstören zu müssen. Kautskys Sichtweise ignorierte die tödliche Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Mächten. Sie ignorierte auch die Tatsache, dass die höchstmögliche Vereinheitlichung zwischen den verschiedenen nationalen Fraktionen der Weltbourgeoisie gerade die der Nation ist, was sie unfähig macht, eine wirklich supranationale politische Autorität und Organisation der Gesellschaft zu schaffen.
Die Realität ist das genaue Gegenteil der Illusion einer Bourgeoisie, die in der Lage ist, die Klimakatastrophe zu vermeiden. Was wir erleben, ist das Fortbestehen und sogar die Verschärfung der totalen Irrationalität und Verantwortungslosigkeit angesichts des Klimawandels, die sich nicht nur in der Entfesselung neuer imperialistischer Konflikte wie dem Krieg in der Ukraine (katastrophal für die Menschen, aber auch für den Planeten) ausdrückt, sondern auch in kleineren, aber dennoch bedeutsamen „Entgleisungen“ wie dem Betrieb von Bitcoin, der einen Energieverbrauch erfordert, der dem aller Energie verbrauchenden Aktivitäten der Schweiz entspricht[8].
Der Zerfall entspricht der letzten Phase im Leben des Kapitalismus, die durch die Blockade zwischen den beiden antagonistischen Hauptklassen eingeleitet wird, die beide nicht in der Lage sind, eine eigene Lösung für die historische Krise des Kapitalismus zu finden. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise bestimmt somit das Phänomen der Verrottung der Gesellschaft. Dies wirkt sich auf das gesamte soziale Leben aus, insbesondere durch die Entwicklung der Tendenz zum "Jeder für sich" in allen sozialen Beziehungen und vor allem innerhalb der Bourgeoisie. Dies hat sich während der Covid-Epidemie sehr deutlich gezeigt, insbesondere an zwei Beispielen:
- Die Unfähigkeit, die Forschung für einen Impfstoff zu koordinieren und zu zentralisieren und die geplante Produktion und Verteilung von Impfstoffen für den gesamten Planeten zu etablieren;
- das Gangsterverhalten bestimmter Industrieländer, die auf dem Rollfeld eines Flughafens für ein Nachbarland bestimmtes medizinisches Material stehlen.
Während also die Wurzeln des Zerfalls in der Wirtschaftskrise liegen, haben wir seit 2020 gesehen, dass diese selbst immer stärker von den schwersten Zerfallserscheinungen betroffen ist. So wurde der Verlauf der Wirtschaftskrise durch die Entwicklung eines "Jeder für sich" in allen Bereichen, insbesondere aber in den Beziehungen zwischen den Großmächten, noch verschärft. Eine solche Situation kann nur ein großes Hindernis für die Entwicklung einer konzertierten Wirtschaftspolitik als Antwort auf die nächste Rezession darstellen.
Die Realität solcher Bedrohungen spiegelt sich in den Erklärungen des Chefökonomen des IWF vom Juli 2022 wider, der wohl kaum im Verdacht steht, Öl ins Feuer gießen zu wollen: "Es kann gut sein, dass wir uns nur zwei Jahre nach der letzten Rezession am Vorabend einer weltweiten Rezession befinden"[9] (unsere Hervorhebung).
In der Tat ist es "sicher", dass die Situation viel alarmierender ist als noch vor zwei Jahren. Das Zusammentreffen einer ganzen Reihe von Phänomenen spricht für die Vorhersage größerer Störungen auf wirtschaftlicher Ebene und infolgedessen auch weit darüber hinaus:
- Alle in diesem Artikel untersuchten Widersprüche des Kapitalismus – Rückgang der zahlungsfähigen Märkte, rasender Wettlauf um Produktivitätssteigerungen, Verschärfung des globalen Handelskriegs – werden verschärft.
- Der Kapitalismus steht vor der fast sicheren Tatsache, neue große Ausgaben tätigen zu müssen: Überall auf der Welt, insbesondere in Westeuropa, führt die Beschleunigung des Militarismus zu einem starken Anstieg der unproduktiven Ausgaben. Auch die Überalterung der Infrastrukturen wurde jahrzehntelang in den Staatshaushalten vernachlässigt, was die Gesellschaft noch anfälliger macht und enorme Ausgaben erfordert, um mit vollkommen vorhersehbaren Phänomenen fertig zu werden, wie wir bei der Covid-Pandemie gesehen haben.
- Es gibt verschiedene mögliche Auslöser für eine wirtschaftliche Katastrophe, wie die Krise des Immobiliensektors in China (die die Ursache für das Nullwachstum dieser Wirtschaft im zweiten Trimester 2022 ist[10]), wo Konkurse wie der von Evergrande nicht auf dieses Land beschränkt bleiben, sondern schwere internationale Auswirkungen haben könnten, so zerbrechlich ist die Weltwirtschaft; der Anstieg der Inflation wirkt sich nicht nur stark auf das Leben der Ausgebeuteten und damit insbesondere der Arbeiterklasse aus, sondern stellt die Bourgeoisie vor weitere politische Probleme. Eine unkontrollierte Inflation ist ein Hemmschuh für den Welthandel, der bereits von imperialistischen Spannungen betroffen ist. Das geht so weit, dass angesichts der scheinbar unausweichlichen Aussicht auf einen Anstieg der Zinssätze in einer Reihe von Industrieländern eine Rezession unvermeidlich scheint. Eine Bedrohung, deren Ausmaß die Bourgeoisie nicht wahrhaben will, da sie im Rahmen einer sich bereits verschlechternden Wirtschaftslage auftritt und damit die Tendenz zu einem "Jeder für sich" und in einigen Fällen zu einer offenen Feindseligkeit zwischen den wichtigsten Mächten noch verschärft.
Heute, nach mehr als einem Jahrhundert kapitalistischer Dekadenz, können wir sehen, wie visionär die Worte der Kommunistischen Internationale über den "inneren Zerfall" des Weltkapitalismus waren, der nicht von selbst verschwinden wird, sondern die Menschheit in die Barbarei ziehen wird, wenn das Proletariat ihm nicht ein Ende setzt. Die Stunde des Proletariats ist gekommen, um wieder als Klasse auf die Apokalypse zu reagieren, die das Kapital für uns vorbereitet. Noch ist Zeit dafür da.
Silvio 5.10.22
[1] Siehe Marxismus und Krisentheorie, in International Review Nr. 13 (engl./frz./span. Ausgabe)
[2] Siehe Krieg, Militarismus und imperialistische Blöcke in der Dekadenz des Kapitalismus, Teil 2, International Review Nr. 53 (engl./frz./span. Ausgabe)
[3] "Wie aber die Dinge liegen, hängt der Ersatz der in der Produktion angelegten Kapitale großenteils ab von der Konsumtionsfähigkeit der nicht produktiven Klassen; während die Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter teils durch die Gesetze des Arbeitslohns, teils dadurch beschränkt ist, daß sie nur solange angewandt werden, als sie mit Profit für die Kapitalistenklasse angewandt werden können. Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde." Marx, Das Kapital, Band 3, Teil V, Kapitel 30, S. 500
[4] Es gibt auch andere Gegentendenzen zur sinkenden Profitrate, insbesondere die Intensivierung der Ausbeutung
[5] Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt 1969 (Verlag Neue Kritik), S. 71 (Kapitel: „Produktive und Unproduktive Arbeit“)
[6] World Revolution Nr. 2, "Überproduktion und Inflation"
[7] Der Kapitalismus vergiftet die Erde, International Review Nr. 63 (engl./frz./span. Ausgabe); Die Welt am Vorabend einer Umweltkatastrophe, International Review Nr. 135 (engl./frz./span. Ausgabe); Die Welt am Vorabend einer Umweltkatastrophe: Wer ist verantwortlich?, Internationale Revue Nr. 139 (engl./frz./span. Ausgabe)
[8] Le Monde, 24. September 2022 über die Produktion von Bitcoin
[9] Les Echos, 27. Juli 2022
[10] “L'immobilier, maillon faible de l'économie chinoise”, Le Monde, 17. August 2022
Mit dem Ukrainekrieg haben in Deutschland mehr als 3 Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 tiefgreifende Umwälzungen eingesetzt. So muss das deutsche Kapital seine imperialistischen Karten neu legen.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks im Herbst 1989 setzte für die gesamte Welt eine tiefgreifende Umwälzung auf verschiedenen Ebenen ein. Deutschland war in Europa der große Nutznießer nach mehr als vier Jahrzehnten der Spaltung in zwei Staaten und Besatzung durch die damaligen Blockführer USA und Sowjetunion. Mit der Wiedervereinigung konnte Deutschland ein neues Gewicht erlangen, während die USA wiederum mit Ausnahme von Osteuropa weltweit überall an Einfluss verloren und sich immer mehr in ihrer jahrzehntelangen Vormachtstellung bedroht sehen. Zudem konnten sie den Aufstieg Chinas nicht verhindern.
Insbesondere in Osteuropa und gegenüber Russland hatte Deutschland nach 1989 seine Position ausbauen können. Gegenüber Russland hatten die deutschen Regierungen in bemerkenswerter Kontinuität von Kohl über Schröder, Merkel bis Scholz in engster Partnerschaft mit der Wirtschaft eine besondere Beziehung zu Russland aufgebaut. Günstige Gas- und Öllieferungen waren im Interesse der deutschen Konkurrenzfähigkeit, zudem konnte das deutsche Kapital umfangreich in Russland investieren. Auch hatte man gehofft, durch die umfangreichen ökonomischen Beziehungen mit Russland dessen imperialistischen Gelüste zu besänftigen. Am liebsten hätte man diese privilegierte Beziehung ungestört weiter aufrechterhalten…. Wenn da nicht die imperialistischen Triebkräfte dazwischen gekommen wären.
Die USA sind wild entschlossen, ihre Weltmachtstellung gegenüber China nicht aufzugeben. Wie sie im jüngst veröffentlichen Strategiepapier gegenüber China kundtun, wollen sie China in den nächsten 10 Jahren niederringen und es seiner Möglichkeit berauben, die USA zu übertrumpfen. Solch ein Kampf um die Vormachtstellung muss notwendigerweise alle Bereich der Gesellschaft erfassen und auch die Wirtschaft „infizieren“ und die imperialistische Konstellation in Europa mit prägen.
Russlands Widerstand gegen eine von den USA vorangetriebene NATO-Osterweiterung, seine Beanspruchung der Ukraine als Teil des russischen Kerngebiets sowie die Politik der USA, Russland auf die Knie zu zwingen, um damit auch zu einem Schlag gegen China auszuholen, hat die Bedingungen für das deutsche Kapital gründlich umgewälzt.
Mit Händen und Füßen wehrte man sich anfangs gegen das von den USA geforderte Ende von Nordstream, dann wollte man lange Zeit nur zögernd die Ukraine nach Beginn der russischen Invasion militärisch unterstützen. In der Zwischenzeit haben die USA Deutschland zur Finanzierung des Ukraine-Krieges gezwungen. Zwar hat die deutsche Regierung das geschickterweise als eine Art Befreiungsschlag ausgenutzt, um die Rüstungsausgaben über Nacht zu verdoppeln, denn solch eine Gelegenheit, als Reaktion auf die russische Ukrainebesatzung und ebenso mit amerikanischer Rückendeckung die Militärausgaben derart zu steigern, kommt nicht alle Tage. Ein solcher Schritt spiegelt natürlich den unumgänglichen Zwang, sich Hals über Kopf in die Militarisierung zu stürzen. Auch wenn die Rüstungsausgaben riesige Geldsummen in die Kassen der Rüstungskonzerne spülen, wirken sie gesamtwirtschaftlich als ein mächtiger Klotz am Bein, schmälern die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und treiben die Inflation mit an.1 Nichtsdestotrotz hat der deutsche Imperialismus die Gelegenheit beim Schopf gefasst, um möglichst schnell neue Vorreiterrollen zu beanspruchen, was wiederum neue Konfliktfelder mit allen möglichen Rivalen verstärkt.
Indem die USA Russland ins blutige und irrationale Abenteuer einer Besatzung der Ukraine lockten, haben die USA nicht nur Russland in Zugzwang gebracht. Das erklärte Ziel der USA ist Russland auf die Knie zu zwingen. Gleichzeitig wollen sie nicht nur die europäischen Alliierten im Rahmen der NATO mehr an die Kandare nehmen, sondern sie nehmen auch die Europäer ökonomisch viel stärker in den „Schwitzkasten“. Viel gewiefter als das grobschlächtige Vorgehen von Trump treten die USA unter dem Demokraten Biden mit dem Anspruch auf, Dienste für das NATO Bündnis zu leisten und dafür von Europäern „Gegenleistungen“ zu verlangen. Tatsächlich pressen die USA ihre Alliierten ebenso wie Zitronen aus. Deutschland ist durch die Sanktionen Russlands (Unterbrechung der Gas- und Ölimporte) nicht nur mit einer explosiven Energiepreisentwicklung konfrontiert, sondern auch in neue Abhängigkeiten bei Energieimporten geraten. War Deutschland jahrelang gegenüber Russland blauäugig gewesen und hatte eine fatale Abhängigkeit von Gas- und Ölimporten gegenüber Russland entstehen lassen, sind in der Zwischenzeit andere Staaten als Hauptlieferanten an russische Stelle gerückt und die Abhängigkeiten haben sich umgeschichtet. Mittlerweile konnten die USA ihre Energielieferungen nach Europa massiv ausbauen und Europa spült somit mächtig Geld in US-Kassen. Die USA sind momentaner Nutznießer der Sanktionen gegen Russland.
Auf militärischer Ebene ist Deutschland nach den USA und Großbritannien zum drittgrößten Waffenlieferanten in die Ukraine avanciert. Auch wenn man bei besonders schwerem Gerät wie Panzern immer noch Zurückhaltung übt, wurden alle bisherigen Tabus gebrochen. Mittlerweile ist Deutschland, neben z.B. Großbritannien, zum Großausbilder für tausende ukrainische Soldaten in der Handhabung der vom Westen gelieferten Waffensysteme geworden.
Weil die Bundeswehr ihre Ausgaben verdoppeln soll, muss man natürlich auch im Ausland einkaufen gehen und neueste Militärtechnik erwerben. Hier sind schon neue Reibereien entstanden. So ist Streit entbrannt zwischen Deutschland und Frankreich über die Anschaffung neuer Flugzeuge. Deutschland hat in den USA Phantom-Flugzeuge gegen den Willen Frankreichs bestellt, das Deutschland zum Kauf von französischen Flugzeugen bewegen will.2 Allzugern treiben die USA einen Keil zwischen die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, Frankreich und Italien.
Die Dissonanzen zwischen Deutschland und Frankreich gibt es nicht nur bei der Energiefrage (Frankreich will weiter an seinen AKWs festhalten),3 während Deutschland ab Frühjahr 2023 den Atomausstieg plant. Da Frankreich eine Nuklearmacht ist, hat sich Macron in Anbetracht der Drohungen Putins mit dem Einsatz von Atomwaffen dahingehend geäußert, dass Frankreich kein Frontstaat sei und man somit im Falle eines russischen Atomwaffeneinsatzes auch nicht automatisch französische Atomwaffen einsetzen werde. Frankreich will nicht nur Deutschland militärtechnisch stärker an sich binden, es will auch gegenüber dem sich militärisch hochrüstenden Deutschland nicht an Gewicht verlieren.
Nach 1989 war es zu einem neuen Schub der Globalisierung gekommen, wo viele Produktionsstätten in Billiglohnländer verlegt wurden und neue Lieferketten und somit neue Abhängigkeiten entstanden sind. Durch diese neu entstandenen ökonomischen Abhängigkeiten werden aber strategische Interesse getroffen, was wiederum aus globaler strategischer und militärischer Sicht nicht länger hingenommen werden kann, wie man bei der Produktion von Impfstoffen, medizinischem Material während der Pandemie, der Lieferung von seltenen Erden und dem ganzen Nachschub an Halbleitern und anderen elektronischen Komponenten feststellen musste. Deshalb ist es schon zu einer Art Umkehrbewegung der jahrelangen Globalisierungstendenzen gekommen, die einzig den imperialistischen Verhältnissen geschuldet sind.
Deutschland, das als größte Exportnation in Europa besonders anfällig für solche Abhängigkeiten geworden ist, muss sich diesen neuen Gegebenheiten ebenso beugen. Nachdem die Gefahren durch eine zu große Abhängigkeit (z.B. Energielieferungen oder Rohstoffe, oder von Absatzmärkten wie z.B. VW, das allein 40% in China umsetzt) offensichtlich geworden sind, und man im Falle Russlands eine Kehrtwende vollzogen hat, drängen bedeutende Teile des deutschen Kapitals auf ähnliche Konsequenzen gegenüber China. Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in China dienten deshalb vor allem den Grünen als willkommener Vorwand, sich aus chinesischen Abhängigkeiten zu lösen zu versuchen bzw. chinesische Versuche, mehr Einfluss in Europa zu gewinnen, abzuwehren. So ist innerhalb der deutschen Bourgeoisie ein Streit um die Teilübernahme des Hamburger Hafens durch die chinesische Reederei Cosco entflammt. Dieser Riss zieht sich bis in die Regierung hinein. Wer hier das letzte Wort haben wird, lässt sich heute noch nicht sagen. 4
Während Scholz schon bei Nordstream den „kühlen“ Staatsmann mimte und so tat, als ob es nur kommerzielle Interessen von russischen Firmen und keine nennenswerten russischen Staatsinteressen gäbe, bis dann einige Monate später das ganze Projekt (ob nach russischer Sabotage oder von den USA und deren Verbündeten) durch Anschläge zerstört wurde, ist die Auseinandersetzung um die Hamburger chinesische Beteiligung auch mehr als eine rein kommerzielle Frage. Denn während die Rivalitäten zwischen den USA und China an Schärfe zunehmen und die USA China niederringen wollen, ist das deutsche Kapital nicht bereit, sich den den US-amerikanischen Interessen willenlos zu unterwerfen. Man möchte eine eigenständige Politik gegenüber China betreiben. Offenbar darüber gibt es Divergenzen innerhalb des Regierungslagers. Inwiefern diese Divergenzen Verwerfungen innerhalb der deutschen Bourgeoisie und gar Neuaufstellungen der Parteienbündnisse bewirken können, ist zur Zeit noch nicht zu bewerten. Die USA werden jedenfalls mit allen Tricks und Schachzügen weiterhin Druck auf das deutsche Kapital ausüben.
Nach der Verschärfung der US-Sanktionen gegen alle Firmen und Personen die mit China in High-Tech-Branchen arbeiten wollen, wie es im US-Beschluss der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ heißt, bedeutet dies auch eine Gefahr für Chip-Lieferketten sowie ggf. für deutsche Investitionen in China. Dieser US-amerikanischen „Enthauptungsschlag“ gegen die chinesische Spitzentechnologie wird vermutlich gravierende Folgen auch für deutsche und europäische Firmen haben, die dringend auf staatliche Gelder angewiesen sind. VW hat im Oktober informiert, man werde ca. 2,4 Milliarden Euro investieren, um bei der Entwicklung von Software für seine E-Autos in China (wo VW ca. 40 Prozent seines Gesamtumsatzes erzielt) mit dem chinesischen Unternehmen Horizon Robotics zusammenzuarbeiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch deutsche Firmen in China unter den US-Bannstrahl fallen. Deshalb ringt das deutsche Kapital zur Zeit um den besten Ausweg aus dem Dilemma des Drucks der USA gegenüber China und Russland. Diese Anpassungsprozesse sind keineswegs vorübergehender Natur, sie werden von Dauer sein, da der Druck, der durch die weltweite Verschärfung der imperialistischen Rivaliten und vor allem durch die Zwangsmaßnahmen der USA entstanden ist, nicht nachlassen wird.
Unterdessen hat das Krebsgeschwür des Militarismus im Landesinnern weiter um sich gegriffen. Denn die jüngste Entwicklung des Ukrainekrieges lässt gerade Deutschland zu einem wichtigen möglichen Angriffsziel von Terrorakten werden. Die Angriffe auf Nordstream und Bahnkabel lassen erahnen, welche Eskalationen möglich sind. So stellen sich die Sicherheitskräfte auf „hybride Bedrohungen“ und mögliche Angriffe auf Kraftwerke oder Umspannstationen, also auf die Stromversorgung oder andere neuralgische Punkte der Infrastruktur, ein. Zu den militärischen Erschütterungen kommen die schwerwiegenden ökonomischen Verwerfungen hinzu.
Nachdem das deutsche Kapital als erste Reaktion auf die Pandemie auch anfangs schwerwiegende Einschnitte im Handel mit medizinischem Gerät und Stoffen veranlasst hatte, hatte man sich nach einer Zeit auf EU-Ebene auf gemeinsame Rettungspakete verständigt (der deutsche Anteil betrug ca. 100 Mrd Euro). Die Devise war: der Staat kommt für die größten Rettungspakete auf, damit die Wirtschaft nicht absäuft. Gegenüber den Kriegsfolgekosten hat man im Oktober 2022 nach einem Hickhack einen nationalen Alleingang beschlossen, um eine Gaspreisbremse für Deutschland allein zu beschließen. Somit kommen nochmal zu den Pandemiekosten die Verdoppelung des Rüstungshaushaltes und der Gaspreisdeckel im Umfang von ca 200 Mrd. Euro hinzu. Somit steigt der Prozentsatz der Kosten der „Rettungsprogramme“ von nahezu 3% des BIP auf über 8% des BIP. Damit übertrifft Deutschland um das 2-3 fache die bisherigen Höchstwerte von den am meist verschuldeten EU-Staaten. D.h. Deutschland setzt sich an die Spitze der verschuldeten Staaten – alles im Namen der Abfederung der Kriegsfolgekosten.
In der Zwischenzeit sind die Wachstumsprognosen von zuvor noch ca. 2% für 2023 auf -0,3% (d.h. schrumpfend und bevorstehende Rezession) revidiert worden. Auch hier liege Deutschland mit den Negativwerten an der Spitze. Deutschland, das alleine genommen mehr Geld locker machen kann für seine Programme, kann sich somit gegenüber den anderen EU-Staaten große Wettbewerbsvorteile verschaffen.
Welche besondere Rolle die Sozialdemokratie und die Grünen, vormals als „pazifistische Strömung“ ein Sammelbecken gewesen, mittlerweile spielen und wie sich die ganze Entwicklung auf das Leben der deutschen Bourgeoisie auswirkt, und welche Konsequenzen für die Arbeiterklasse entstehen, werden wir in einem späteren Artikel beleuchten.
Wt. 25.10.2022
1 Jahrelang hatte man beobachtet, wie die USA in Afghanistan und im Irak in ein Fiasko nach dem anderen schlitterten. Man rieb sich schadenfroh die Hände, dass man sich selbst große Rüstungskosten vom Hals halten konnte. Dies ist nun passé.
2 Während Scholz auf den Bau eines europäischen Luftkampfsystems FCAS (Kostenpunkt mindestens 100 Mrd Euro) drängt, an der sich 15 Staaten beteiligen sollen,(ESSI) habe man das als eine Abkehr Deutschlands von Frankreich und Italien verstanden, die zusammen ein eigenes System entwickeln. Auch die Entwicklung des neuen Kampfpanzers MGCS ist ungewiss.
3 Frankreich blockierte bis vor kurzem den Bau einer Midcat-Pipeline von Spanien über Frankreich nach Deutschland.
4 Nach Warnung durch den Verfassungsschutz wird die Übernahme des Chiphersteller Elmos in Dortmund vom Bundeswirtschaftsministerium geprüft.
«Direkte Aktion», die Zeitschrift der Freien Arbeiter Union FAU im deutschsprachigen Raum, veröffentlichte im März 2022 die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU zur russischen Invasion in der Ukraine, welche mit den Satz «Keinen Handschlag für den Krieg und alle seine Profiteure – alles für die globale Solidarität» endet.[1]
Lehnt die FAU damit strikt jegliche Parteinahme in diesem Krieg ab und bekämpft sie ihn auch konsequent? Nein, denn die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU enthält eine ganze Serie politischer Positionen, die mit einer internationalistischen Haltung gegen den Krieg ganz und gar nichts zu tun haben. Sie gehen bei genauerem Hinschauen weit über harmlose Konfusionen hinaus und führen geradeaus aufs Terrain der Bourgeoise und in die Hände der Kriegspolitik der herrschenden Klasse. In Wirklichkeit steckt hinter dieser Erklärung die findige Verteidigung der kapitalistischen Demokratie und ihrer typischen Argumente für den Krieg. Anstatt sich vehement und ohne Unterschied gegen alle Lager im Krieg in der Ukraine zu wenden und sie offen zu entblößen, stellt sich die FAU tatsächlich auf die eine Seite, die der Ukraine und ihrer Verbündeten.
Die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU ist sehr kurz und einiges ist lediglich angedeutet, so ihre Haltung zur Politik des deutschen Imperialismus gegenüber dem Krieg in der Ukraine, der abstrakte Slogan der FAU nach „globaler Solidarität“. Die FAU scheint auch davon auszugehen, dass „humanitäre Krisen“ im Kapitalismus (welcher als Ganzes nicht anderes als eine permanente humanitäre Katastrophe darstellt!) überwunden werden können. Zentral ist jedoch ihre unter dem Strich demokratische und linksbürgerliche Rechtfertigung des Krieges. Inwieweit alle Teile, Mitglieder oder Sympahisanten der enorm heterogenen anarchosyndikalistischen Bewegung mit dieser Erklärung einverstanden sind, ist unklar, doch wir müssen sie beim Wort nehmen, vor allem weil es kein Artikel eines einzigen Mitglieds ist, sondern die Erklärung eines Komitees, das sich als offizieller Vertreter des Anarchosyndikalismus präsentiert.
Die Arbeiterbewegung hat eine lange Erfahrung mit dem Krieg und hat ihre schmerzhaften Lehren daraus ziehen müssen. Die entscheidende ist dabei die Position des revolutionären Internationalismus, welcher die einzig gültige Antwort der Arbeiterklasse auf den Krieg sein kann und es in der Geschichte auch konkret war. All dies scheint die FAU nicht zu kennen, geschweige denn verstanden zu haben.
Die zwei zentralen Lehren aus der Konfrontation der Arbeiterbewegung mit dem Krieg seien hier unterstrichen: Im Gegenteil zu den Auffassungen des Pazifismus, der von einem möglichen Frieden im Kapitalismus ausgeht und gerade angesichts des Ersten Weltkrieges erbärmlich zusammenbrach, ist die Auslöschung des Krebsgeschwürs des Krieges einzig und allein durch die Überwindung des Kapitalismus als historisch überfälliges, dekadentes und sich heute in einem irrationalen Zerfallsprozess befindliches System möglich. Nicht Friedensverhandlungen und der Waffenstillstand zwischen Kriegsparteien, der nur eine Pause im permanenten Krieg darstellt, nicht Friedensversprechungen linker Regierungen, nicht die militärische Besetzung von Kriegsgebieten durch „Friedenstruppen“ können ein Problem lösen, das dem Kapitalismus immanent ist und sich permanent verstärkt. Auch wenn der Krieg in der Ukraine, wie viele schon zuvor, einmal beendet ist, wird die kriegerische Spirale nicht abbrechen. Nur durch eine weltweite proletarische Revolution ist dies möglich, auch wenn dies weit weg zu scheint. Die Arbeiterklasse musste, nachdem die Russische Revolution von 1917 und die revolutionären Erhebungen in anderen kriegführenden Ländern zeitweilig den Krieg stoppen konnten, die schmerzvolle Lehre „Krieg oder Revolution“ ziehen. Wie Lenin es 1918 formulierte: „Internationalismus bedeutet Bruch mit den eigenen Sozialchauvinisten (d.h. den Vaterlandsverteidigern) und mit der eigenen imperialistischen Regierung, bedeutet revolutionären Kampf gegen diese Regierung, bedeutet ihren Sturz, (...)“[2]. “Es gibt nur einen wirklichen Internationalismus: die hingebungsvolle Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein in ausnahmslos allen Ländern.”[3]
Der Internationalismus besteht nicht lediglich aus einer Ablehnung des Krieges, sondern geht davon aus, dass nur eine Kraft in der Gesellschaft, nur der Klassenkampf des Proletariats, das Potential hat dem Krieg zu stoppen und zu beseitigen. Ein Kampf der Arbeiterklasse, der in allen Ländern denselben Charakter hat und der sich auch international zusammenschliessen muss. Der Pazifismus, die Friedensbewegungen, Aufrufe zur Verweigerung sind nicht Ausdruck eines revolutionären Kampfes und auch nicht ein „erster Schritt in die richtige Richtung“. Im Gegenteil verdecken sie die Tatsache, dass der Kampf gegen den Krieg zwischen den zweit zentralen Klassen in der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, ausgefochten wird. Sie sind ein Schmelztiegel aller Art von demokratischen Illusionen. Deshalb stützt sich eine internationalistische Haltung auf den Kassenkampf des Proletariats und auf nichts anderes.
Diese Pfeiler des Internationalismus waren die wichtigsten Streitpunkte auf den Konferenzen von Zimmerwald 1915 und Kienthal 1916 gegen den Krieg. Nicht die offenen Kriegsbefürworter waren die grösste Gefahr für die Arbeiterklasse, sondern die verdeckten, jene die sich in eine Arbeiter-Terminologie hüllten, den Krieg vordergründig ablehnten aber schwer zu durchschauen waren. Das gilt auch heute noch. Die FAU hätte mit ihrer schnell sichtbaren Unterstützung für die eine Seite im Krieg in der Ukraine nicht einmal in diesen Reihen der Schein-Internationalisten einen Platz gefunden!
„Die militärische Aggression der russischen Regierung fordert aktuell Tote und Verletzte, zerstörte Städte, Gemeinschaften und Existenzen, sie verfolgt die Macht und Wirtschaftsinteressen weniger, bezahlt mit dem Blut und dem Leben von Tausenden. Langfristig droht sie die – auch heute schon begrenzten – Freiheitsrechte der ukrainischen Bevölkerung völlig zugunsten der politischen Diktatur auszulöschen“. Von welchen „Freiheitsrechten“ spricht die FAU, welche der ukrainische Staat der Arbeiterklasse offenbar noch teilweise garantiert? Die Arbeiterklasse in der Ukraine wird auf genauso rücksichtslose Weise wie in Russland vom "ihrem" kapitalistischen Staat, an dessen Spitze heute die Selensky-Regierung steht, als Kanonenfutter an die Front gezwungen und als Schutzschild verwendet. Alles unter Androhungen, Repression und dem strikten Verbot das Land zu verlassen. Beide Seiten in diesem Krieg zeichnen sich unterschiedslos durch militärische Brutalität in unvorstellbarer Dimension aus. Anstatt den rücksichtslosen Charakter der beiden Regime – in Russland unter Putins Clique als auch in der Ukraine unter dem vom «Komiker» zum Militärchef mutierten Selenksy – an den Pranger zu stellen und zu betonen, dass die Arbeiterklasse keine der beiden Seiten zu verteidigen sondern zu bekämpfen hat, verharmlost die FAU die wirkliche Lage, indem sie von der Gefahr eines Verlusts von bestehenden "Freiheitsrechten" der ukrainischen Bevölkerung spricht. Für die FAU ein erstes Argument die ukrainische Demokratie zu verteidigen. Ist das nicht blanker Hohn?
Wenn der Krieg immer den Charakter des kapitalistischen Staates und seine Politik gegenüber der Arbeiterklasse offen zutage bringt, entlarvt er auch die speziell auf das Proletariat gezielten Lügen und Vernebelungsmanöver der Politik des Staatskapitalismus, wie „demokratische Wahlen auch in Kriegszeiten“ oder „Gewerkschaftsfreiheit auch in Kriegszeiten“. Letzteres wird speziell von anarchosyndikalisten Organisationen für ihre sogenannte „transnationale und basisdemokratische Gewerkschaftsbewegung“ als wunderbares Geschenk für die Arbeiterklasse betrachtet. Gewerkschaften, gleichfalls wie der Parlamentarismus, mit dem sie Hand in Hand gehen, sind zentrale und unverzichtbare Aspekte der bürgerlichen Demokratie, der intelligentesten Form der Diktatur des Kapitalismus. Im Staat mitbestimmen und damit angeblich die Freiheit und Gerechtigkeit der Demokratie für die Arbeiterklasse zu erreichen. All dies reiht sich gegenwärtig direkt in die Kriegspropaganda des ukrainischen Staates und ihrer Verbündeten wie der USA ein, denn diese basiert im gegenwärtigen Krieg gezielt auf dieser hochgelobten „Verteidigung der Demokratie“. Die Gewerkschaften in der Ukraine, von links nach rechts, sind Teil der Kriegsanstrengungen, um eine noch möglichst kriegsfähige Industrie aufrechtzuerhalten und ihre routinierte Kontrollfunktion innerhalb der Arbeiterklasse auszuüben.
Das unterschiedslos brutale, kaltblütige aber einfacher durchschaubare kapitalistische Regime in Russland unter der Fuchtel der Putin-Regierung versucht den Krieg als „Entnazifizierung“ zu verkaufen. Der russische Staat stellt seine Kriegspropaganda aus historischen Gründen (Krieg zwischen Russland und Deutschland zwischen 1942-45) ähnlich auf den Boden der angeblichen Verteidigung der „Freiheitsrechte" gegen den Faschismus. Der Antifaschismus war gerade im Zweiten Weltkrieg im Vergleich zum unverblümt blutdürstigen Faschismus die siegreiche Ideologie, um die Arbeiterklasse auf die Schlachtbank zu zwingen, geschickt eingesetzt vom Stalinismus sowie den Alliierten. Der Mythos der “Freiheitsrechte” kennt viele couleurs.
Die Erklärung der FAU unterscheidet mit ihrer Messlatte der „Freiheitsrechte“ zwischen (aus der Sicht der Arbeiterklasse wie sie wohl meinen) unterschiedlichen Staaten: die Ukraine als das mit deutlichem Abstand „kleinere Übel“ als Russland. Demokratische Freiheitsrechte sollen diesen Unterschied ausmachen, die es laut FAU durch die Einreihung in die Verteidigung der Ukraine aufrecht zu erhalten gilt. Im dekadenten Kapitalismus jedoch gibt es gegenüber der Arbeiterklasse keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse, sei es auf nationaler Ebene sowie auch international. Was sie unterscheidet ist vor allem die Ideologie, hinter der sie ihre Ziele verstecken, sei es demokratisch, mit offenem Nationalismus oder populistischer Propaganda.
Lassen wir darauf gerade die KRAS (Konföderation Revolutionärer Anarcho-Syndikalisten), eine anarcho-syndikalistische internationalistische Gruppe aus Russland eine Antwort geben, welche, ganz im Gegenteil zur FAU, in einer eigenen Stellungnahme gegen den Krieg in der Ukraine bewusst beide Seiten gleichsam denunziert und bekämpft: „Die herrschenden Eliten Russlands und der Ukraine, angestiftet und provoziert vom Weltkapital, gierig nach Macht und aufgebläht mit den Milliarden, die dem arbeitenden Volk gestohlen wurden, haben sich zu einem tödlichen Kampf zusammengefunden. Ihr Durst nach Profit und Herrschaft wird nun von gewöhnlichen Menschen - genau wie uns - mit Blut bezahlt. (...) Welche "humanistische", nationalistische, militaristische, historische oder sonstige Rhetorik den aktuellen Konflikt auch immer rechtfertigen mag, dahinter stehen nur die Interessen derjenigen, die politische, wirtschaftliche und militärische Macht haben. Für uns, die Werktätigen, Rentner und Studenten, bringt er nur Leid, Blut und Tod. Die Bombardierung friedlicher Städte, die Beschießung, das Töten von Menschen sind durch nichts zu rechtfertigen. (...)Wir rufen die Menschen im Hinterland auf beiden Seiten der Front, die Werktätigen Russlands und der Ukraine, dazu auf, diesen Krieg nicht zu unterstützen, ihm nicht zu helfen - im Gegenteil, ihm mit aller Kraft zu widerstehen![4]
Dass sich die FAU auf dem Terrain der Bourgeoise befindet, ist keinesfalls übertrieben. Was finden wir als nächstes in der Erklärung? „Auch wenn wir den aktuellen Druck gegen die russische Regierung und Banken begrüßen, halten wir die moralische Entrüstung der NATO-Staaten und der EU vor dem Hintergrund ihrer eigenen imperialistischen Politik für wenig glaubwürdig. Wir denken dabei beispielsweise an die Angriffskriege der türkischen Regierung auf Armenien, den Nord-Irak, Nord-Ost-Syrien, wir sprechen von der mangelnden Unterstützung für die Aufstände in Belarus oder Hongkong, wir sprechen von der mangelnden Unterstützung für die WiderständlerInnen in Sudan und Myanmar. Entschieden wenden wir uns gegen jeglichen Imperialismus.“ Die FAU „begrüsst“ die Politik der einen Seite im Krieg gegen die andere - klare Worte! Der Druck von Seiten der USA und Staaten der EU (alle selbstverständlich mit unterschiedlichen Zielen, Engagement und gegenseitigen Spannungen) besteht aus wirtschaftlichen Sanktionen, unter denen die Zivilbevölkerung leidet, Waffenlieferungen, Ausbildung der ukrainischen Armee und vielem mehr..... also nackte Kriegsführung. Diesen „Druck“ zu begrüssen, wie es die FAU macht, steht komplett im Widerspruch zu einer internationalistischen Haltung gegen den Krieg.
Was steckt hinter der fatalen Logik der FAU? Einerseits, wie schon oben beschrieben, ist sie direkt Resultat der Auffassung, dass die Arbeiterklasse dem demokratischen Kapitalismus Vorzug geben soll. Vor allem aber begründet die FAU ihr Schulterklopfen für die Politik der USA und von EU-Staaten damit, dass Russland militärisch die Grenze überschritten hat und der Angreifer in die Schranken gewiesen werden muss. Auch ausserhalb des Krieges in der Ukraine beschwert sich die FAU über die "mangelnde Unterstützung" für demokratische Bewegungen gegen einen militärischen Angreifer. Offenbar ersehnt sich die FAU eine solche Unterstützung und einen härteren Gang, der im Krieg immer zentral auf militärischer Ebene stattfindet, von den USA und Staaten der EU gegen den türkischen Angreifer. Welche Kriegspartei als erste die Grenze überschreitet, ist für die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Oragnisationen bezüglich ihrer Haltung gegenüber dem Krieg nicht bestimmend. Der Krieg ist im Kapitalismus Permanenz, Alltag und allgemeine Lebensform geworden und trägt als Ganzes einen imperialistischen Charakter. Jeder Staat, ob klein oder riesig, hat als fester Bestandteil dieser mörderischen Dynamik einen imperialistischen Charakter und betreibt eine Politik nach diesen Gesetzmässigkeiten. Hinter dem Vorgehen, Kriegsparteien in Angreifer und Verteidiger zu unterscheiden, so wie wir es in der Erklärung vorfinden, lauert unverblümt die Rechtfertigung des “Verteidigungskrieges”.
Wenn die FAU dazu aufruft, „den mutigen Anti-KriegsdemonstrantInnen in Russland und Belarus alle erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen“, so bleibt die andere Seite im Krieg ungeschoren. Lediglich auf der Ebene der Desertionen („unterstützt DeserteurInnen beider Seiten“) scheint die FAU mit dem ukrainischen Staat nicht vollkommen einverstanden zu sein. Eine internationalistische Positionen verteidigt den Standpunkt, dass sich die Arbeiterklasse dem imperialistischen Krieg in allen Ländern unter denselben grundsätzlichen Prinzipien entgegenstellen muss, Prinzipien, die unabhängig sind von den Kräften, über die sie für einen solchen Kampf verfügt. Dies bedeutet nicht, die Lage in den am Krieg beteiligten Ländern ausser Acht zu lassen, mit der Illusion, durch einen radikalen Aufruf die Klasse zu einem mächtigen Widerstand gegen den Krieg mobilisieren zu können.
Es gibt tatsächlich einen Unterschied zwischen der Situation der Arbeiterklasse in der Ukraine und in Russland. In der Ukraine kann die Arbeiterklasse bislang durch die Bourgeoisie erfolgreich mittels der nationalistischen Propaganda der Vaterlandsverteidigung (begleitend aber auch durch das Verbot für Wehrpflichtige das Land zu verlassen) in den Krieg mobilisiert werden und hat ideologisch eine fatale Niederlage erlitten. Die russische Bourgeoise hingegen muss mit grösster Vorsicht perspektivlose Männer aus armen Regionen als Kanonenfutter mobilisieren, dies obwohl bisher keine proletarische Reaktionen gegen den Krieg in Russland sichtbar wurden. Wir gehen davon aus, dass in der gegenwärtigen Situation in der Ukraine aber auch in Russland, obwohl die Situation nicht identisch ist, isoliert keine Reaktion der Arbeiterklasse gegen den Krieg zu erwarten ist. Diese muss sich wenn schon in den westeuropäischen Ländern, in denen das Proletariat eine grosse, zwar noch beschränkte Abneigung gegen diesen Krieg als Ganzes hat, zeigen. Das Proletariat in Westeuropa befindet sich nicht in derselben Lage, da es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf breiter Ebene in einen Krieg mobilisiert werden konnte und somit, verbunden mit den weitreichendsten historischen Erfahrungen, eine zentrale Verantwortung im Kampf gegen den Krieg hat. Es ist die Entwicklung des Klassenkampfes in Westeuropa gegen die fatalen Auswirkungen des Krieges auf das Proletariat, welche für einen Widerstand der Arbeiterklasse in der Ukraine und Russland eine Perspektive bieten kann.
Das Schweigen der FAU über einen notwendigen Widerstand der Arbeiterklasse in der Ukraine gegen den Krieg stützt sich jedoch nicht auf eine wirkliche Analyse was für das Proletariat momentan “möglich” ist, sondern auf ihrer Entscheidung, welcher Bourgeoisie der Rücken freigehalten werden soll. Obwohl komplett unbedeutend im Vergleich zur deutschen Sozialdemokratie zur Zeit des Ersten Weltkriegs, verkörpert die FAU grundsätzlich dieselbe Methode: Die deutsche Sozialdemokratie vertrat die absurde und nationalistische Position, dass ein militärischer Sieg Deutschlands die Situation in Deutschland stabil halten werde und damit die Basis für Vorteile und Sicherheit für die deutsche Arbeiterklasse garantiert würden. Schlussfolgerung: Arbeiter zieht in den Krieg! Es scheint, dass sich die FAU von einem Schweigen der Arbeiterklasse in der Ukraine gegenüber “ihrer” genauso kriegsbesessenen Regierung den Vorteil und die Sicherheit der “Freiheitsrechte” verspricht. Stillhalte-Politik ist Unterstützung des Krieges.
Desertionen, mit denen sich die FAU (eben ausnahmsweise einmal für beide Kriegslager gültig!) solidarisch erklärt, sind eine Reaktion der Verzweiflung an der blutigen Kriegsfront. Wenn Desertionen eine verständliche Reaktion auf die Brutalität des Krieges und den unter Drohung der Exekution stattfindenden Zwang sich als Kanonenfutter hinzugeben sind, so bleiben sie immer zum individuellen Akt verdammt, zur Flucht, zum sich verstecken, zum gejagt sein, zur permanenten Angst verraten zu werden oder auch nach Beedigung des Krieges den Stempel des “Vaterlandsverräters” zu behalten. Die Arbeiterklasse kann sich dem Krieg nur kollektiv entgegenstellen, vor allem durch den Klassenkampf hinter den Fronten, in den Betrieben. Die Erfahrungen gerade aus dem Ersten Weltkrieg haben gezeigt, dass nur dies einer Reaktion der Soldaten an der Front gegen den Krieg eine Perspektive geben kann. Doch gerade auch dort ist es das kollektive Niederlegen der Waffen, welches der gewichtige Schritt ist, um der Bourgeoisie entgegenzutreten und damit das traurige Schicksal der individuellen Deserteure zu vermeiden.
Es ist kein Zufall, dass die FAU nur die Frage der Desertionen aufgreift. Das Insistieren auf eine kollektive Reaktion der zwangsmobilisierten Arbeiter in Uniform (auch wenn sie heute in Russland und der Ukraine nicht möglich ist) ist ihrer Methode allzu fern. Die Position der FAU ist auch typisch für viele Organisationen und Strömungen, die vom Anarchismus geprägt sind, der, mit wenigen Ausnahmen, die individuelle Rebellion immer im Zentrum hatte.
Die gravierendste Forderung in der Erklärung der FAU ist diejenige nach Selbstverteidigungseinheiten: „Im jetzigen Angriffskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung rufen wir euch auf: Organisiert Wohnungen, Arbeitsstellen, Behörden-Unterstützung und Fahrdienste für die Geflüchteten aus der Ukraine, spendet Geld, Medikamente, Schutzausrüstungen wie Helme und Schutzwesten an linke Selbstverteidigungs- und Sanitätseinheiten, unterstützt DeserteurInnen beider Seiten, (...)”. Die Erklärung appelliert an die Arbeitersolidarität, um unter anderem “Selbstverteidigungseinheiten” zu unterstützen. Das Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine durch den tobenden Krieg ist grenzenlos, und nur die Flucht von Millionen konnte viele vor dem Tod durch die Bomben beider Kriegsparteien bewahren. Solidarität aus den Reihen der Arbeiterklasse für Flüchtlinge war immer – so zum Beispiel im Zeiten Weltkrieg - ein Ausdruck der Abneigung innerhalb der Arbeiterklasse gegen den Krieg, auch wenn sie nicht einmal in Ansätzen fähig war, sich als Klasse gegen den Krieg zu stemmen. Das Solidaritätsgefühl innnerhalb der Arbeiterklasse für Kriegsopfer kann aber von der herrschenden Klasse leicht missbraucht werden. Heute ist es die Aufopferung vieler Arbeiterfamilien in Westeuropa, welche als Stütze für die Politik und Strategie der westeuropäischen Bourgeoise ausgenutzt wird: “Deutschland hilft den Kriegsopfern”, doch in Tat und Wahrheit hilft ihnen die Arbeiterklasse... und der Staat liefert Waffen!
In der Erklärung der FAU geforderte „Selbstverteidigungseinheiten“, demnach mit Waffen ausgerüstete Gruppen, sind und waren nie etwas anderes als Teil des Krieges. Es gibt schon seit kurz nach Kriegsausbruch im Februar 2022 anarchistische bewaffnete Gruppen, welche offen mit der ukrainischen Armee zusammenarbeiten oder mittlerweile direkt Teil davon geworden sind. Makaber, dass dies auch auf der russischen Kriegsseite existiert. Die KRAS hat solche Absurditäten aufs Schärfste denunziert. Ob die Erklärung der FAU hier eine Naivität, eine Phantasie, oder was auch immer ausdrückt, „Selbstverteidigungseinheiten“, auch wenn sie als im Interesse der Leidenden dargestellt werden, fügen sich direkt in die militärische Barbarei der Bourgeoisie ein. Dies wäre nicht anders in Russland, wenn der Krieg auch auf das Terrain Russlands übergreifen würde. Jede Kriegspartei baut darauf, solche zivile Mobilisierungen des “Selbstschutzes”, also Bürgerwehren im Krieg, in ihre Strategie einbauen zu können. Zur nationalen Kriegsmobilisierung sind sie unabdingbarer Teil, Verbindungsglied zwischen der Zivilbevölkerung und der Armee.
Wir übertreiben nicht, wenn wir die Erklärung der FAU als Unterstützung des Krieges bezeichnen. In einem von der FAU gemachten, publizierten und nicht mit einer Silbe kritisierten Interview mit einem ukrainischen Gewerkschafter fordert dieser: „Ich möchte alle auffordern, die Ukraine zu unterstützen, ukrainische Flüchtlinge und ukrainische MigrantInnen zu unterstützen und allen in der Ukraine zu helfen.“ Man kann die tragische Logik, welche nichts mit einer internationalistischen Haltung zu tun hat, kaum klarer ausdrücken. Offenbar stört der Aufruf das eine Kriegslager zu unterstützen die FAU nicht.
Mario, 13.11.2022
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CDU/CSU, FDP, BSW und AFD überbieten sich zur Zeit gegenseitig mit Forderungen zur Begrenzung der Migrationspolitik, verlangen resolut Rückführungen, Deportationen, Remigration von Illegalen oder von „kriminell gewordenen“ Ausländern – im gleichen Stil wie es Trump in den USA, Meloni in Italien oder die vormalige englische Regierung mit den Illegalen in Großbritannien praktizieren, die massenhaft nach Ruanda abgeschoben werden sollten.
Dabei nutzen sie das offensichtliche Scheitern eines Systems, welches sie selbst repräsentieren. Die abscheulichen, bestialischen und von Wahnsinn getriebenen Attentate wie in Magdeburg und Aschaffenburg sind für sie ein gefundenes Fressen, umso mehr noch, wenn sie von Menschen ohne deutschen Pass, ob illegal oder mit Aufenthaltserlaubnis, begangen werden. Doch ein bleiernes Schweigen zu den trostlosen Flüchtlingsunterkünften, der bürokratischen Geiselhaft von Millionen von Geflüchteten, dem perspektivlosen Dahinsiechen von tausenden von Traumatisierten. Es ist nachvollziehbar, dass man nur Abscheu und Empörung gegenüber solchen Scharfmachern und Hetzern empfinden kann. Doch mit gleichem Abscheu und Empörung müssen wir die sich moralisch aufführenden Verwalter dieser menschenverachtenden Migrationspolitik bedenken.
Wir dürfen uns nicht hinters Licht führen lassen und uns für Aufrufe zur Verteidigung der Demokratie, der Brandmauer gegen AfD usw. einspannen lassen. Die angeblich aufrichtigen, integren demokratischen Parteien wie SPD und Grüne, die sich alle als die „feinen“, „sauberen“, Demokraten herausputzen wollen, sind Teil des gleichen Regimes. Die Eskalation durch Merz gibt ihnen nun die Chance sich umso heuchlerischer als die moralisch Aufrechten zu präsentieren. Was dieses bedeutet, durften wir schon oft genug in der Begeisterung für den Krieg in der Ukraine dieser rot-grünen Antifaschisten erleben. In Wirklichkeit wollen sie uns mit ihrer „Brandmauer“ für die Verteidigung eines Herrschaftssystems einspannen, das nur der Aufrechterhaltung und Verschleierung der Herrschaft des Kapitalismus dient.
Zum Schutz des kapitalistischen Systems organisierte die Sozialdemokratie 1919 unter dem Vorwand des Kampfes für die Demokratie die Ermordung von Tausenden von Arbeitern und Arbeiterinnen. Mit einer demokratischen Legitimation sorgen die Regierungen dafür, dass Millionen von verzweifelten Flüchtlingen, die angesichts von Kriegen, Umweltzerstörung und Unterdrückung eine Überlebenschance in der EU suchen, an den Grenzen mit militärischen Mitteln durch die Festung Europa zurückgehalten werden, zur Not mit push-backs. Die gleiche Konstellation in den USA, wo die demokratisch gewählte Regierung Trump massenhaft Deportationen Illegaler massiv verstärkt.
Die „feinen“ Demokraten wollen uns mit ihrem Brandmauergerede hinter den Staat locken. Sich von ihnen für die Verteidigung der Demokratie einspannen zu lassen, bedeutet zur Verteidigung der Kapitalherrschaft beizutragen.
Lenin erinnerte in Staat und Revolution an Marx’ Analyse nach der Pariser Kommune 1871; „Marx hat dieses Wesen der kapitalistischen Demokratie glänzend erfaßt, als er in seiner Analyse der Erfahrungen der Kommune sagte: den Unterdrückten wird in mehreren Jahren einmal gestattet, darüber zu entscheiden, welcher Vertreter der unterdrückenden Klasse sie im Parlament ver- und zertreten soll!“
Wir dagegen müssen eintreten für die Überwindung aller Staaten, aller Nationen, d.h. für die Überwindung des Kapitalismus, der nur noch Kriege und Zerstörung für uns bereithält. Der Hetze der Populisten, den heuchlerischen und heimtückischen Lockrufen der „feinen“ Demokraten zur Verteidigung ihres ausbeuterischen Systems entgegenzutreten, heißt nicht an die Wahlurnen zu eilen oder zu Protesten als „Bürger“ zusammenzukommen. Stattdessen müssen wir uns all dem als Beschäftigte und Arbeitslose, kurz als ProletarierInnen, die kein Vaterland kennen, die nichts als ihre Ketten zu verlieren haben, geschlossen entgegenstellen.
Nur der internationale Klassenkampf kann eine Perspektive zu einer besseren Gesellschaft bieten!
2. Februar 2025
INTERNATIONALE KOMMUNISTISCHE STRÖMUNG IKS
Die zentrale Frage, die sich gegenwärtig der Arbeiterbewegung stellt, ist, welche Haltung sie gegenüber der Demokratie einnehmen soll, genauer gesagt, soll sie die vom Faschismus bedrohten demokratischen Institutionen verteidigen oder nicht, wo dieser doch gleichzeitig zur Zerstörung der proletarischen Organisationen schreitet. Auf diese Frage ist – wie bei anderen auch – die einfachste Lösung nicht die klarste, sie entspricht in keinster Weise der Wirklichkeit des Klassenkampfes. So widersprüchlich es auch auf den ersten Blick erscheinen mag, der Arbeiterbewegung gelingt es nur unter der Bedingung ihre Organe vor dem Angriff der Reaktion zu schützen, indem sie ihre Kampfpositionen beibehält, sie nicht mit dem Los der Demokratie verbindet und den Kampf gegen die faschistischen Angriffe führt ohne die Fortsetzung ihres Kampfs gegen den demokratischen Staat aufzugeben. Ist in der Tat einmal die Verbindung von Arbeiterbewegung und den demokratischen Institutionen eingeführt, dann sind die politischen Voraussetzungen für das sichere Unglück der Arbeiterklasse geschaffen, denn der demokratische Staat erhält durch die Unterstützung der Arbeitermassen nicht die Möglichkeit zu leben und zu überleben, sondern die notwendige Voraussetzung, um sich in ein autoritäres Regime umzuwandeln, oder das Signal zu seinem Verschwinden, um seinen Platz der neuen faschistischen Organisation zu überlassen.
Wenn man die gegenwärtige Lage für sich allein betrachtet, ohne sie in Zusammenhang zu bringen mit dem, was ihr voraus ging und was ihr folgen wird, wenn man nur die gegenwärtigen Positionen der politischen Parteien berücksichtigt, ohne diese mit der Rolle in Verbindung zu bringen, die sie »in der Vergangenheit« einnahmen und zukünftig beibehalten werden, reisst man die unmittelbaren Umstände und die gegenwärtigen politischen Kräfte aus dem allgemeinen historischen Zusammenhang, was es dann leicht macht, die Wirklichkeit auf folgende Weise darzustellen: der Faschismus geht zum Angriff über, das Proletariat hat allen Grund, seine Freiheiten zu verteidigen, und daraus ergibt sich für dieses die Notwendigkeit, eine Verteidigungsfront für die bedrohten demokratischen Institutionen aufzubauen. Vertuscht mit einem revolutionären Anstrich wird diese Position unter dem Schein einer angeblich revolutionären Strategie präsentiert und als grundlegend »marxistisch« ausgegeben. Von da ab wird das Problem auf folgende Weise eingeführt: zwischen der Bourgeoisie und der Demokratie offenbart sich eine Unverträglichkeit; infolgedessen pfropft sich das Interesse der Arbeiter, die ihnen von der Demokratie zugestandenen Freiheiten zu verteidigen, natürlicherweise auf ihre besonderen revolutionären Interessen auf und so wird der Kampf zur Verteidigung der demokratischen Institutionen zu einem antikapitalistischen Kampf!
Diesen Vorschlägen liegt eine offensichtliche Begriffsverwirrung zugrunde, zwischen Demokratie, demokratischen Institutionen, demokratischen Freiheiten und Arbeiterpositionen, die man fälschlicherweise als »Freiheiten der Arbeiter« bezeichnet. Aus theoretischer wie aus historischer Sicht stellen wir fest, dass zwischen Demokratie und Arbeiterpositionen ein unauflösbarer und unversöhnlicher Gegensatz besteht. Der Aufstieg und Sieg des Kapitalismus wurde von einer ideologischen Bewegung begleitet, die in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht grundsätzlich folgenden Standpunkt einnimmt und zum Ausdruck bringt: Auflösung der Einzelinteressen und Einzelforderungen der Individuen, Gruppierungen und insbesondere der Klassen innerhalb der Gesellschaft. Die Gleichheit der einzelnen Bestandteile scheint deshalb möglich, weil die Individuen ihr Wohl und Wehe den Staatsorganismen anvertrauen, die die Gemeinschaftsinteressen repräsentieren. Es ist nützlich festzustellen, dass die liberale und demokratische Theorie die Auflösung von gegebenen Klassen und Schichten von »Bürgern« voraussetzt, die kein anderes Interesse hätten, als freiwillig einen Teil ihrer Freiheit abzutreten, um als Gegenleistung den Schutz ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung zu erhalten.
(…) Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, eine Kritik des der Demokratie zugrundeliegenden Prinzips zu machen, um zu beweisen, dass die »freien und gleichen Wahlen« nur eine Fiktion sind, die die Abgründe verschleiern, die die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft trennen. Um was es uns hier geht, ist, klar aufzeigen zu können, dass zwischen dem demokratischen System und Arbeiterpositionen ein unauflösbarer Gegensatz besteht. Jedesmal, wenn es den Arbeitern gelang, zum Preis von heldenhaften Kämpfen und unter Opfer ihres Lebens, eine Klassenforderung gegenüber dem Kapitalismus durchzusetzen, haben sie als Nachwirkung der Demokratie, die nur der Kapitalismus für sich beanspruchen kann, einen schweren Schlag versetzt. Die Verkündung der Lügenhaftigkeit des demokratischen Prinzips ist eine Bedingung für die geschichtliche Mission des Proletariats, das liegt in ihrer Natur selbst begründet, wie auch in der Notwendigkeit, die Klassenunterschiede und die Klassen selbst aus der Welt zu schaffen. Am Ende des Weges, den das Proletariat im Verlauf des Klassenkampfs zurücklegt, wird sich keine rein demokratische Herrschaft vorfinden, da das Prinzip, auf welchem die kommunistische Gesellschaft gründet, die Abwesenheit einer die Gesellschaft leitenden staatlichen Macht ist, wohingegen sich die Demokratie genau das zum Anliegen macht und auch in ihrer liberalsten Form stets bestrebt ist, über alle Ausgebeuteten das Scherbengericht zu verhängen, die es wagen, ihre Interessen mit Hilfe ihrer Organisationen zu verteidigen, anstatt den demokratischen Institutionen untergeordnet zu bleiben, die allein zu dem Zweck geschaffen wurden, die Ausbeutung der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten.
(…) Der Kampf für die Demokratie stellt also eine gewaltige Abweichung dar, um die Arbeiter von ihrem Klassenboden wegzureissen und sie zu den widersprüchlichen Seiltänzen zu verführen, dort wo der Staat seine Metamorphose von der Demokratie zum faschistischen Staat vollzieht. Die Zwangslage Faschismus-Antifaschismus wirkt also nur im ausschliesslichen Interesse des Feindes; der Antifaschismus und die Demokratie schläfert die Arbeiter ein, um sie danach den Faschisten ans Messer zu liefern, betäubt die Arbeiter, damit sie den Platz und den Weg ihrer Klasse aus den Augen verlieren. (…)
(…) Da die Gesellschaft in Klassen geteilt ist, die sich infolge von ökonomischen Privilegien krass voneinander unterscheiden, können Mehrheitsentscheidungen keine Bedeutung haben. Der demokratische und parlamentarische Staat liberaler Verfassung erhebt den Anspruch, eine Organisation aller Bürger im Interesse aller Bürger zu sein. Das ist ein Betrug. Solange Interessengegensätze und Klassenkämpfe bestehen, ist keine Organisationseinheit möglich. Obwohl ein Schein von Volkssouveränität zur Schau getragen wird, bleibt der Staat das Organ der ökonomisch herrschenden Klasse und das Instrument zum Schutz ihrer Interessen. Obwohl in der bürgerlichen Gesellschaft die politische Vertretung (die parlamentarischen Organe) demokratisch gewählt werden, betrachten wir diese Gesellschaft als einen Komplex aus verschiedenen anderen Organisationen und Vereinigungen. Viele davon werden von den privilegierten Schichten gebildet und verfolgen die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Sie schliessen sich daher um die mächtige und zentralisierte Organisation des Staatsapparates zusammen. Andere verhalten sich neutral oder ändern von Fall zu Fall ihre Haltung gegenüber dem Staat. Andere schliesslich entstehen innerhalb der besitzlosen und ökonomisch ausgebeuteten Klassen; sie richten sich gegen den bestehenden Klassenstaat. Der Staat hat also keineswegs den Charakter einer Vereinigung aller Bürger oder der ganzen Nation. Und daran können die politische und rechtliche Gleichheit aller Bürger, die formale Anwendung des demokratischen Prinzips bzw. des Mehrheitsrechts überhaupt nichts ändern, weil eine ökonomisch bedingte Klassenteilung besteht. Die politische Demokratie gibt offiziell vor, einen Staat aller Bürger errichtet zu haben. In Wirklichkeit ist sie jedoch die Staatsform, die sich für die Herrschaft der kapitalistischen Klasse und die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien besonders gut eignet. Sie ist die spezifische Form der bürgerlichen Diktatur im echtesten Sinne des Wortes. (...)
Mit der Verdoppelung des Rüstungshaushaltes in Deutschland von heute auf morgen wurde die schnellste und umfangreichste Erhöhung eines Rüstungshaushalts in der Geschichte des 20. Jahrhunderts vollzogen. Selbst den Nazis, die mit der gesamten Rüstungsindustrie an ihrer Seite auf eine massive Aufrüstung drängten, gelang solch ein Coup nicht.
Gleichzeitig wurde mit dem Beschluss der Waffenlieferungen an die Ukraine – ob aus Bundeswehrbeständen oder direkt aus den Produktionsstätten der deutschen Waffenschmieden – in bislang nie gekanntem Ausmaß eine jahrzehntelange Zurückhaltung bzw. Weigerung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete aufgekündigt.
Mittlerweile rühren die Grünen, die FDP, CDU und Teile der SPD ununterbrochen die Trommel für die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine. Zum Beispiel: "Wir können die Ukraine in dem Krieg nicht alleine lassen. Sie kämpft auch für uns. Die Ukraine darf nicht verlieren, Putin darf nicht gewinnen." Deutschland stehe in der Pflicht, die Menschen in der Ukraine, die sich mit Mut und Opferbereitschaft wehrten, mit Waffen zu unterstützen. „Natürlich bedeutet eine Brutalisierung des Krieges auch, dass man in Quantität und Qualität der Waffenlieferungen zulegen muss", so der Grüne Hofreiter. Die grüne Außenministerin Baerbock stieß ins gleiche Horn: Keine Zeit für Ausreden, jetzt muss gehandelt werden. Oder: „Jetzt ist keine Zeit für Ausreden, sondern jetzt ist Zeit für Kreativität und Pragmatismus." „Es darf keine Tabus bei Waffenlieferungen geben.“
Wenn die früher sich als pazifistisch gebärdende Partei mittlerweile neben der FDP innerhalb der Ampelkoalition als größter Fürsprecher für derartige Kriegsschritte wirbt, ist dies eine Kehrtwende, die nur dem jetzigen Vorgehens Russland geschuldet ist? Ist es ein „Abrücken“ der Grünen von bisher tapfer verteidigten Prinzipien? Wir sagen: Es handelt sich um keine Überraschung, sondern um die konsequente Umsetzung einer von Anfang an so vorgezeichneten „Laufbahn“.
Blicken wir zurück: Die Grünen rekrutierten sich Anfang der 1980er Jahre aus den Protestbewegungen gegen die Atomkraft, die Nachrüstung und dem Eintreten für Umweltschutz. Sich gegen Nachrüstung zu stellen, heißt noch lange nicht, den Militarismus und seine tieferliegenden Wurzeln infrage zu stellen. Dass der Krieg zur Überlebensform des dahinsiechenden Kapitalismus geworden ist, und nicht durch pazifistische Forderungen bekämpft werden kann, hatten die Revolutionäre schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs hervorgehoben.
„Die Sozialisten haben die Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt. Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die der bürgerlichen Pazifisten (der Friedensfreunde und Friedensprediger) und der Anarchisten. Von den ersteren unterscheiden wir uns durch unsere Einsicht in den unabänderlichen Zusammenhang der Kriege mit dem Kampf der Klassen im Innern eines Landes, durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den Sozialismus aufzubauen“ (Lenin – Sozialismus und Krieg, 1915).
Diese Tatsache zu verschleiern und glauben machen, dass es friedliche Lösungen innerhalb des Systems geben könnte, sollte zu einer Aufgabe der Grünen werden.
Gleichzeitig dienten die Grünen als Auffangbecken für einen Teil derjenigen, die gegen die ständig deutlicher werdende Zerstörung der Umwelt protestierten. Die spezifische Rolle der Grünen bestand auch hier darin, davon abzulenken, dass die Zerstörung der Umwelt ein zentraler Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise ist, wo die Umwelt entweder schlechthin der unmittelbaren Vernichtung preisgegeben wird oder alles zu einer Ware wird oder alles mit Geld reguliert werden könnte (z.B. Emissionshandel). Gleichzeitig entdeckten die Grünen eine neue Marktnische, wo uns mit dem Öko-Label vorgemacht werden soll, so könne jede:r Einzelne zum Erhalt der Natur beitragen. Begleitet wurde dies durch das Predigen von „individuellen Lösungen“ auf Konsumentenebene (Jede:r muss bei sich anfangen) usw. Und seit Jahren zeichnen sie sich durch die Befürwortung einer Green Economy aus, wo ebenfalls durch „saubere Techniken“ Kapitalismus und Umweltschutz besser vereinbar werden sollten. So wurden die Grünen nicht nur in das staatliche Räderwerk integriert, sondern zu einem besonders wirkungsvollen Stützpfeiler der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ideologie.
Im Jahre 1999 haben sie sich einen neuen historischen Verdienstorden erworben, als sie zusammen mit der SPD unter Schröder die Beteiligung am Nato-Einsatz in Jugoslawien und die Bombardierung Belgrads durchsetzten. Damals gelang es Rot-Grün, dem deutschen Militarismus nach 1989 wieder das Tor zur direkten militärischen Intervention aufzustoßen, auch wenn sie mit der Etikette hausierten, gegen zu große Rüstungsanstrengungen zu sein. Als ideologischen Baustein für die moralische Notwendigkeit der Kriegsbeteiligung verwendeten sie eine modernisierte Form des bürgerlichen Humanismus, voll von Heuchelei. Die historische Verantwortung des Holocausts verlange geradezu die deutsche Kriegsbeteiligung gegen Serbiens „Völkermord“. Immer wieder ging es darum, mit noch gewiefteren Rechtfertigungen für ein militärisches Vorgehen einzutreten. Vor den Wahlen im September 2021 kündigten sie schon gegenüber den bekannten ‚diktatorischen Regimen‘ an, stärker auf die Menschenrechte zu pochen. Der eigentliche Hintergrund war, dass das deutsche Kapital in eine viel zu starke Abhängigkeit von Märkten und Lieferungen von/nach China oder Russland geraten war und dass eine strategische Neuorientierung aus globaler Sicht des deutschen Kapitals dringend geboten war, um diese erdrückende Abhängigkeit zu lockern. Die Grünen lieferten die ideologische Rechtfertigung mit dem Gerede vom Schutz der Menschenrechte, der Rhetorik des Völkermords und der moralischen Verantwortung für eine solche Umorientierung Deutschlands.
D.h. lange vor dem Ukraine-Krieg hatten sich die Grünen als ein Trumpf des deutschen Kapitals erwiesen. Dass sie nun mit am lautesten nach schweren Waffen für die Ukraine rufen, ist keine Abkehr, kein Verrat, sondern eine vorhersehbare Entwicklung, sozusagen in ihren Genen festgeschrieben. Der Schritt von den pazifistischen Forderungen über den Humanismus hin zu glühendem Aufrufen für Waffenlieferungen beweist erneut, wie der Staatskapitalismus solche anfänglichen kleinbürgerlichen Protestbewegungen in sich aufsaugen, sie für sich instrumentalisieren und ihnen einen besonders nützlichen Platz in der Kriegsmaschinerie zuordnen kann.
Hätten andere bürgerliche Parteien dafür plädiert, wie es die Grünen nun im Namen der Sicherheit der Energieversorgung wegen eines geplanten Stopps der Gaslieferungen aus Russland tun, auch in Kauf zu nehmen, dass die Laufzeiten von Kohlekraftwerken oder gar AKWs verlängert werden, hätte dies sicherlich für Proteste gesorgt. Die Grünen erweisen sich auch hier bereit, alles für die militärischen Bedürfnisse des Landes zu opfern.
Nachdem die Grünen bei den letzten Wahlen viele – vor allem jüngere Leute – an die Wahlurnen haben locken können und viele der Teilnehmer:innen an den Fridays-for-Future-Protesten den Grünen auf den Leim gegangen sind, mögen jene sich enttäuscht und verbittert fühlen. Wir meinen, dass man die tiefere Entwicklung und die Mechanismen hinter diesem Vorgehen der Grünen sehen und damit jegliche Illusionen in solche Parteien über Bord werfen muss, weil diese Parteien tatsächlich als ein besonders perfider Teil der Kriegsmaschinerie agieren.
Die SPD hat die Interessen des deutschen Militarismus schon seit langem bestens bedient. Im 1. Weltkrieg rief die Führung der SPD zusammen mit den Gewerkschaften zum Burgfrieden zwischen Arbeitern und Kapital & Militär auf und sorgte 4 Jahre lang bis 1918 konsequent für die Fortsetzung des Krieges. Als die Arbeiter in Deutschland sich schließlich – angespornt durch die Arbeiter in Russland – im November 1918 gegen den Krieg erhoben, stellte sich ihnen die Sozialdemokratie mit den Freikorps, den Militärs und dem Rest der deutschen Bourgeoisie entgegen und organisierte die Repression gegen die Arbeiter.
Wenn immer die SPD nach dem 2. Weltkrieg an der Regierung beteiligt war, zeichneten sich die von ihr gestellten Verteidigungsminister durch ihre vorbehaltlose Unterstützung der Bundeswehr sowie besondere strategische Herangehensweisen heraus. Zur Zeit des Kalten Kriegs fädelte die Regierung unter Willy Brandt (Scheel) die „Ostpolitik“ ein, die auf einen Ausgleich mit der Sowjetunion abzielte und später in „Wandel durch Handel“ umgemünzt wurde. Auf der einen Seite war die SPD eine transatlantische, d.h. den USA treu ergebene Partei, auf der anderen Seite baute man gleichzeitig insbesondere nach 1989 besondere Beziehungen zu Russland auf. Die Verflechtung zahlreicher SPD-Politiker (nicht nur Schröder mit den russischen Gasgiganten, sondern auch mehrere SPD-Ministerpräsidenten) mit Russland sowie die Politik der CDU mit Merkel an der Spitze, um eine privilegierte Stellung gegenüber Russland aufzubauen, wurde von allen Teilen der deutschen Bourgeoisie mitgetragen, weil man so am besten den Interessen des deutschen Kapitals dienen konnte.
So ist es für das deutsche Kapital um so schmerzhafter gegenüber Russland nun entschlossen die Stirn bieten zu müssen, dennoch will man sich nicht voll in die Politik der USA der nahezu grenzenlosen Konfrontation mit Russland einspannen lassen. Hinter dem in der Öffentlichkeit angeprangerten Zaudern des angeblich allzu zaghaften, ausweichenden Bundeskanzlers Scholz liegt keineswegs eine Hasenfüßigkeit gegenüber Russland, sondern vielmehr die Sorge um die langfristigen gesamtstaatlichen Belange. Die SPD will keineswegs alle Verbindungen mit Russland kappen, und vor allem nicht komplett in die Arme der USA laufen und in deren Vorgehen gegenüber Russland ohne eigenen Spielraum eingespannt werden. Jemandem, der wie Scholz die Verdopplung des Rüstungshaushalts von heute auf morgen durchgesetzt hat, kann man kein Zaudern vorwerfen. Er verfolgt vielmehr eine andere Taktik: anstatt alle möglichen Waffensysteme gegen Russland ins Gefecht zu bringen und allzu deutlich zu einem Handlanger der USA degradiert zu werden, widersetzt sich Scholz und seine SPD dieser Vorgehensweise der USA. Es handelt sich also keineswegs um irgendeine größere Prinzipienfestigkeit oder gar um ein Ausweichen des Taktierers Scholz, sondern eine kalkulierende Form der Herangehensweise zur Verteidigung der Interessen des deutschen Kapitals. Übrigens genießt Scholz in dieser Frage die Unterstützung bedeutender Kreise des deutschen Kapitals. Wir meinen hiermit nicht die Chefs der deutschen Waffenindustrie, die keinen Auftrag verschmähen, sondern die Industriekapitäne, die mit weiterem Druck der USA rechnen – ob jetzt unter Biden oder wie zuvor unter Trump oder nach den nächsten Präsidentschaftswahlen eventuell unter einem Präsidenten aus den Reihen der Republikaner.
Während die Grünen (und die FDP) sich von den USA leichter vor sich hertreiben lassen, ist sich die SPD vielleicht auch mehr der Gefahr von unberechenbaren Eskalationen, gar der Flucht nach vorn in Nuklearschläge Russlands bewusst.
Zudem hat die SPD bei allen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der „inneren Sicherheit“ an vorderster Stelle mitgewirkt und nie zögerlich gehandelt. Dass die SPD dabei von den Gewerkschaften Unterstützung erhält, ist auch nicht überraschend. Der DGB erklärte, die Bundesregierung habe „zu Recht verteidigungspolitisch schnell auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert“, ohne genauer zu benennen, was der DGB damit meinte.
Auch wenn die Reaktionen der verschiedenen bürgerlichen Parteien gegenüber dem Krieg in Ton und Art der Vorgehensweise sich voneinander zu unterscheiden scheinen, in Wirklichkeit müssen sich alle bürgerlichen Parteien den Bedürfnissen des Kriegs unterordnen.
Wt. 26.04.2022
Links
[1] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kfw-warnt-vor-schrumpfendem-wohlstand-fachkraefte-dringend-benoetigt-18620926.html
[2] https://de.internationalism.org/content/2993/pandemie-deutschland
[3] https://de.internationalism.org/content/3075/die-weltwirtschaft-wird-von-der-beschleunigung-des-zerfalls-erfasst
[4] https://de.internationalism.org/content/3059/bericht-ueber-die-imperialistischen-spannungen-mai-2022-bedeutung-und-auswirkungen-des
[5] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/varo-chef-dev-sanyal-europa-wird-die-vorreiterrolle-uebernehmen-18576463.html
[6] https://de.internationalism.org/files/de/welt184.pdf
[7] https://de.internationalism.org/content/758/orientierungstext-militarismus-und-zerfall
[8] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[9] https://fr.internationalism.org/content/10553/alliance-militaire-aukus-lexacerbation-chaotique-des-rivalites-imperialistes
[10] https://en.internationalism.org/ir/1982/31/critique-of-the-weak-link-theory
[11] https://de.internationalism.org/content/3043/gemeinsame-erklaerung-von-gruppen-der-internationalen-kommunistischen-linken-zum-krieg
[12] https://de.internationalism.org/content/1075/bericht-zur-struktur-und-funktionsweise-der-organisation-der-revolutionaere
[13] https://en.internationalism.org/content/3154/zimmerwald-1915-1917-war-revolution
[14] https://de.internationalism.org/content/2665/konferenz-von-zimmerwald-die-zentristischen-stroemungen-innerhalb-der-organisationen
[15] https://de.internationalism.org/content/1177/die-konferenz-von-zimmerwald
[16] https://de.internationalism.org/files/de/weltrevolution_185.pdf
[17] https://de.internationalism.org/oekokatastrophe1
[18] https://fr.internationalism.org/icconline/2008/journee_de_discussion_a_marseille_un_debat_ouvert_et_fraternel_sur_un_autre_monde_est_il_possible.html
[19] https://monthlyreview.org/2022/04/01/for-an-ecosocialist-degrowth/
[20] https://de.internationalism.org/content/3064/aktualisierung-des-orientierungstextes-von-1990-militarismus-und-zerfall-mai-2022
[21] https://direkteaktion.org/erklaerung-des-internationalen-komitees-der-fau-zur-russischen-invasion-in-der-ukraine/
[22] https://aitrus.info/node/5921
[23] https://de.internationalism.org/files/de/demokratiekampagne_feb._2024_0.pdf