Seit dem Bericht über den Klassenkampf auf dem letzten Kongress hat es keine unmittelbaren Verschiebungen in der allgemeinen Lage der Klasse gegeben. Das Proletariat hat in etlichen Kämpfen demonstriert, dass seine Kampfbereitschaft intakt ist und dass seine Unzufriedenheit wächst (s. Transportarbeiterstreik in New York, ‚Generalstreik‘ in Norwegen, Kämpfe in zahllosen Bereichen in Frankreich, der Postangestellten in Großbritannien, Bewegungen in peripheren Ländern wie Brasilien, China, etc.). Doch die Situation ist auch weiterhin vornehmlich von den Schwierigkeiten geprägt, denen sich die Klasse gegenübersieht – Schwierigkeiten, die ihr infolge der Bedingungen des zerfallenden Kapitalismus aufgezwungen wurden und die kontinuierlich von den Kampagnen der Bourgeoisie über das ‚Ende der Arbeiterklasse‘, die ‚Neue Ökonomie‘, die ‚Globalisierung‘ und selbst über den ‚Antikapitalismus‘ verschärft wurden. Innerhalb des politischen Milieus des Proletariats verbleiben fundamentale Meinungsverschiedenheiten über das Kräfteverhältnis mit gewissen Gruppen, die die ‚idealistische‘ Sichtweise der IKS über den Historischen Kurs als Grund anführen, um sich nicht an einer gemeinsamen Initiative gegen den Kosovo-Krieg zu beteiligen. Dies ist sicherlich ein Grund dafür, diesen Bericht nicht so sehr auf die Kämpfe zu konzentrieren, sondern darauf, unser Verständnis für das Konzept des Historischen Kurses, so wie es in der Arbeiterbewegung entwickelt worden war, zu vertiefen: Wenn wir dieser Kritik wirkungsvoll entgegentreten wollen, müssen wir uns an die historischen Wurzeln der Missverständnisse begeben, die das proletarische Milieu infiziert haben. Ein weiterer Grund besteht darin, dass eine unserer Schwächen in unseren eigenen Analysen der jüngsten Kämpfe eine gewisse Neigung zum Immediatismus war, eine Tendenz, sich auf bestimmte Kämpfe zu konzentrieren, um sie als ‚Beweis‘ für die Richtigkeit unserer Position über den Kurs zu verwenden, oder sich auf die Schwierigkeiten des Kampfes zu stürzen, um sie als mögliche Basis für die Infragestellung unserer Auffassungen zu nutzen. Was folgt, ist weit entfernt davon, ein erschöpfender Überblick zu sein; Absicht des Artikels ist es, der Organisation dabei zu assistieren, sich selbst etwas näher mit der allgemeinen Methode bekannt zu machen, mit der sich der Marxismus dieser Frage angenähert hat.
Das Konzept des ‚Historischen Kurses‘, wie es vor allem von der italienischen Fraktion der Linkskommunisten entwickelt worden war, entspringt der historischen Alternative, die von der marxistischen Bewegung im 19. Jahrhundert entwickelt worden war: die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei. Mit anderen Worten, die kapitalistische Produktionsweise enthält selbst die beiden sich widersprechenden Tendenzen und Möglichkeiten – die Tendenz zur Selbstvernichtung und die Tendenz zur weltweiten Assoziation der Arbeit und zur Entstehung einer neuen und höheren Gesellschaftsordnung. Dabei muss betont werden, dass aus marxistischer Sicht keine der beiden Tendenzen der kapitalistischen Gesellschaft von Außen aufgedrängt werden, wie beispielsweise die bürgerlichen Theorien, die solche Manifestationen der Barbarei wie den Nazismus oder Stalinismus für eine der kapitalistischen Normalität fremdartigen Störung erklären, oder die mannigfaltigen mystischen und utopistischen Visionen über die Ankunft der kommunistischen Gesellschaft meinen. Beide möglichen Resultate des historischen Niedergangs des Kapitals sind der logische Höhepunkt seines innersten Lebensprozesses. Die Barbarei, der gesellschaftliche Kollaps und der imperialistische Krieg rühren aus der unbarmherzigen Konkurrenz her, die das System vorwärtstreibt, aus den der Warenproduktion innewohnenden Spaltungen und dem unaufhörlichen Krieg eines Jeden gegen Jeden. Der Kapitalismus schafft infolge der Notwendigkeit des Kapitals, die Arbeit zu vereinheitlichen und zu assoziieren, so mit dem Proletariat seinen eigenen Totengräber. Entgegen aller idealistischen Irrtümer, die das Proletariat vom Kommunismus zu trennen versuchen, definierte Marx Letzteren als Verkörperung seiner ‚wahren Bewegung‘ und hielt daran fest, dass die Arbeiterklasse „keine Ideale zu verwirklichen (hat); sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben“ („Der Bürgerkrieg in Frankreich“).
Im Kommunistischen Manifest gibt es eine gewisse Neigung zur Annahme, dass diese Schwangerschaft automatisch mit einer glücklichen Geburt endet – dass der Sieg des Proletariats unvermeidlich sei. Gleichzeitig zeigt das Manifest, wenn es von den früheren Gesellschaftsformen spricht, auf, dass, wenn die Revolution sich nicht durchgesetzt hätte, das Ergebnis ”der gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen“ gewesen wäre – kurz: die Barbarei. Obgleich diese Alternative nicht ausdrücklich auf den Kapitalismus gemünzt wird, ist sie die logische Schlussfolgerung aus der Erkenntnis, dass die proletarische Revolution alles andere als ein automatischer Prozess ist und die bewusste Selbstorganisation des Proletariats erfordert, jener Klasse, deren Mission darin besteht, eine Gesellschaft zu schaffen, die es der Menschheit erstmalig erlaubt, Herr über ihr eigenes Schicksal zu werden. Ab da konzentriert sich das Manifest auf die Notwendigkeit der „Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei“. Ungeachtet späterer Klärungen über die Unterscheidung zwischen der Partei und der Klasse, bleibt der Kern dieser Stellungnahme völlig zutreffend: Das Proletariat kann nur als eine revolutionäre und selbstbewusste Kraft handeln, wenn es den Kapitalismus auf politischer Ebene konfrontiert; und wenn es so handelt, kann es nicht auf die Notwendigkeit verzichten, eine politische Partei zu gründen.
Ebenso klar wurde verstanden, dass die „Organisation der Proletarier zur Klasse“, ausgerüstet mit einem expliziten Programm gegen die kapitalistische Gesellschaft, nicht zu jeder Zeit möglich war. Schon im Manifest wurde die Notwendigkeit für die Klasse betont, durch eine lange Periode der Schulung zu gehen, wo sie ihren Kampf von seinen ursprünglichen, „primitiven“ Formen (wie dem Ludismus) zu organisierteren und bewussten Formen (Bildung von Gewerkschaften und politischen Parteien) weiterentwickeln konnte. Und entgegen dem „jugendlichen“ Optimismus des Manifestes über das Potenzial einer sofortigen Revolution zeigte die Erfahrung von 1848-52, dass Perioden der Konterrevolution und des Rückzugs ebenfalls Teil der Schulung des Proletariats waren und dass in solchen Perioden die Taktiken und die Organisation der proletarischen Bewegung sich entsprechend anzupassen haben. Dies war die ganze Bedeutung der Polemik zwischen der marxistischen Strömung und der Willich-Schapper-Tendenz, die in Marx‘ Worten „statt der materialistischen Auffassung eine idealistische vertritt. Statt die wirkliche Lage als die Triebkraft der Revolution zu betrachten, sieht sie einzig den Willen“ (Adresse an den Zentralrat des Bundes der Kommunisten, September 1850). Diese Herangehensweise war die Grundlage für die Entscheidung, den Kommunistischen Bund aufzulösen und sich auf die Aufgaben der Klärung und der Verteidigung der Prinzipien zu konzentrieren – die Aufgaben einer Fraktion –, statt Energien in grandiosen revolutionären Abenteuern zu verschwenden. Mit ihrer tatsächlichen Praxis in der aufsteigenden Epoche des Kapitalismus zeigte die marxistische Vorhut, dass es vergebens war zu versuchen, eine wirklich wirkungsvolle Klassenpartei in Perioden des Rückzugs und der Reaktion zu gründen: Auch die Erste Internationale und die Zweite Internationale zur Zeit ihrer Gründung folgte dem Modell der Gründung von Parteien während Phasen wachsenden Klassenkampfes und der Erkenntnis der Unvermeidbarkeit ihres Dahinscheidens in Phasen der Niederlage.
Es ist wahr, dass die Schriften der Marxisten aus dieser Periode trotz vieler wichtiger Einsichten nicht in eine zusammenhängende Theorie über die Rolle der Fraktion in Perioden des Rückzugs mündeten; wie Bilan (die Publikation der Italienischen Linken während der 30er Jahre) hervorhob, war dies nicht möglich, solange der Begriff der Partei selbst nicht theoretisch erschlossen war, eine Aufgabe, die erst in der von der Dekadenz des kapitalistischen Systems eingeläuteten Periode des direkten Kampfes um die Macht vollkommen erfüllt werden konnte (s. unseren Artikel über das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei in der International Review, Nr. 61). Darüber hinaus schärften die Bedingungen der Dekadenz die Konturen dieser Frage noch mehr, da im Gegensatz zur Aufstiegsperiode mit ihren langfristigen Kämpfen um Reformen, wo die politischen Parteien einen proletarischen Charakter bewahren konnten, ohne vollkommen aus Revolutionären zusammengesetzt zu sein, in der Dekadenz die Klassenpartei nur aus revolutionären Militanten zusammengesetzt sein darf und als solche sich nicht lange als eine kommunistische Partei – d.h. als ein Organ, das die Fähigkeit besitzt, die revolutionäre Offensive anzuführen – außerhalb der Phasen des offenen Klassenkampfes halten kann.
Aus dem gleichen Grund machten es die Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus nicht möglich, ein vollständiges Konzept darüber zu verfassen, dass die kapitalistische Gesellschaft, abhängig vom globalen Kräfteverhältnis der Klassen, auf einen Weltkrieg oder auf revolutionäre Aufstände zusteuert. Ein Weltkrieg war nicht „erforderlich“, für einen Kapitalismus, der seine periodischen Wirtschaftskrisen noch durch die Expansion des Weltmarkts überwinden konnte, und da sich der Kampf um Reformen noch nicht erschöpft hatte, blieb die Weltrevolution für die Arbeiterklasse eher eine langfristige Perspektive denn eine brennende Notwendigkeit. Die historische Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei konnte noch nicht in einer viel unmittelbareren Wahl zwischen Krieg und Revolution herausgefiltert werden.
Nichtsdestotrotz hatte das Auftauchen des Imperialismus Engels 1887 in die Lage versetzt, eine erste klare Vorhersage über die genaue Form zu machen, die die Tendenz des Kapitalismus zur Barbarei anzunehmen gezwungen war – verheerende Kriege im eigentlichen Herzen des Systems: „Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt, absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird, nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse.“ (15. Dezember 1887, MEW Bd. 21, S. 350f.) Es ist ebenfalls bemerkenswert, dass Engels – indem er sich zweifellos auf die Erfahrung der Pariser Kommune anderthalb Jahrzehnte zuvor berief – voraussah, dass dieser europäische Krieg die proletarische Revolution in die Welt setzen wird.
Während des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts wurde die wachsende Gefahr dieses Krieges zu einer wichtigen Beschäftigung für den revolutionären Flügel der Sozialdemokratie, für diejenigen also, die sich nicht von den Sirenengesängen des „endlosen Fortschritts“, des „Superimperialismus“ und anderer Ideologien täuschen ließen, welche große Teile der Bewegung in den Bann zogen. Auf den Kongressen der Zweiten Internationalen war es der linke Flügel – besonders Lenin und Luxemburg –, der am stärksten auf der Notwendigkeit für die Internationale bestand, angesichts der Kriegsdrohung klare Stellung zu beziehen. Die Stuttgarter Resolution von 1907 und die Baseler Resolution, die 1912 ihre Vorhersagen bekräftigte, waren Früchte ihrer Bemühungen. Die erste stellte folgende Bedingung auf: „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.
Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“
Mit einem Wort: Angesichts des Abgleitens des Imperialismus in einen katastrophalen Krieg musste die Arbeiterklasse sich nicht nur diesem Abgleiten widersetzen, sondern auch, als der Krieg ausbrach, mit revolutionären Taten darauf antworten. Diese Resolutionen sollten als Grundlage für Lenins Parole während des Ersten Weltkrieges dienen: ‚Verwandelt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg‘.
Um diese Periode widerzuspiegeln, ist es wichtig, nicht zurück zu projizieren, was das Bewusstsein beider Seiten der Klassengrenze anbelangt. Auf dieser Stufe konnte weder das Proletariat noch die Bourgeoisie vollkommen erfassen, was ein Weltkrieg wirklich bedeutete. Vor allem war noch nicht deutlich geworden, dass der moderne imperialistische Krieg nicht ohne die totale Mobilisierung des Proletariats – sowohl der Arbeiter in Uniform als auch der Arbeiter an der Heimatfront – geführt werden kann, da er ein totaler Krieg und keine auf abgelegenen Schlachtfeldern ausgefochtene Auseinandersetzung zwischen Söldnerarmeen ist. Sicherlich hatte die Bourgeoisie begriffen, dass sie keinen Krieg vom Zaun brechen kann, ohne sicher zu sein, dass die Sozialdemokratie verfault genug war, sich ihm nicht zu widersetzen. Doch die revolutionären Ereignisse von 1917–23, die direkt vom Krieg ausgelöst worden waren, erteilten ihr viele Lehren, die sie nie vergessen sollte, vor allem bezüglich der Notwendigkeit, sorgfältig den gesellschaftlichen und politischen Boden zu bereiten, ehe sie einen größeren Krieg auslöst, mit anderen Worten: die ideologische und physische Zerstörung der proletarischen Opposition zu vervollständigen.
Wenn man das Problem vom Standpunkt des Proletariats aus betrachtet, fällt auf, dass es in der Stuttgarter Resolution an einer Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen mangelt – einer Analyse der wirklichen Stärke des Proletariats, seiner Fähigkeit, sich dem Abgleiten in den Krieg zu widersetzen. Aus der Sicht der Resolution konnte der Krieg durch die Klassenaktion verhindert oder, nach seinem Ausbruch, gestoppt werden. In der Tat argumentierte die Resolution, dass die vielfältigen Antikriegs-Stellungnahmen und die Interventionen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in diesen Tagen „Zeugnis ablegen von der wachsenden Macht des Proletariats und von seiner wachsenden Kraft, die Aufrechterhaltung des Friedens durch entschlossenes Eingreifen zu sichern“. Diese optimistische Stellungnahme stellte eine tatsächliche Unterschätzung des Ausmaßes dar, in dem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften bereits in das System integriert worden waren und sich als nutzlose Instrumente (und nicht nur das) für die internationalistische Antwort erwiesen hatten. Dies sollte die Linke in einige Verwirrung stürzen, als der Krieg ausbrach – wie beispielsweise Lenins Ansicht bezeugt, dass das deutsche Oberkommando die Ausgabe des Vorwärts gefälscht habe, die die Arbeiter zur Unterstützung des Krieges aufrief; die Isolation der Gruppe Internationale in Deutschland und so weiter. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass es der schleichende Verrat durch die alten Arbeiterorganisationen, ihre allmähliche Einverleibung in den Kapitalismus waren, die das Kräfteverhältnis zuungunsten der Arbeiterklasse verschoben sowie den Kurs zum Krieg öffneten, und dies trotz der hochgradigen Kampfbereitschaft, die die Arbeiter in vielen Ländern in dem Jahrzehnt vor dem Krieg und noch kurz zuvor offenbart hatten.
Letztere Tatsache hat häufig Anlass zur Theorie gegeben, dass die Bourgeoisie den Krieg als Präventivmaßnahme gegen die drohende Revolution ausgelöst habe – eine Theorie, die, wie wir meinen, auf dem Unvermögen basiert, zwischen Kampfbereitschaft und Bewusstsein zu unterscheiden, und die die enorme historische Bedeutung und Auswirkung des Verrats der Organisationen herunterspielt, die die Arbeiterklasse mit so viel Mühe aufgebaut hatte. Was dagegen zutrifft, ist, dass die Art und Weise des ersten großen Sieges der Bourgeoisie über die Arbeiter – der von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften proklamierte ‚Burgfrieden‘ – sich als ungenügend erwies, um die Dynamik des Massenstreiks total zu brechen, die in der europäischen, russischen und amerikanischen Arbeiterklasse im Jahrzehnt zuvor herangereift war. Die Arbeiterklasse erwies sich als fähig, sich von der hauptsächlich ideologischen Niederlage von 1914 zu erholen und drei Jahre später ihre revolutionäre Antwort zu formulieren. So wendete das Proletariat durch seine eigene Tat den Historischen Kurs: Die Flutwelle floss nun weg vom imperialistischen Weltkonflikt hin zur kommunistischen Weltrevolution.
Während der folgenden revolutionären Jahre schuf die Praxis der Bourgeoisie ihren eigenen ‚Beitrag‘ zur Vertiefung des Problems des historischen Kurses. Sie bewies, dass angesichts einer offenen revolutionären Herausforderung durch die Arbeiterklasse der Marsch in den Krieg nur den zweiten Platz gegenüber der Notwendigkeit einnahm, die Kontrolle über die ausgebeuteten Massen wiederzuerlangen. Dies war nicht nur der Fall in der Hitze der Revolution selbst, als die Aufstände in Deutschland die herrschende Klasse dazu zwangen, einen Waffenstillstand auszurufen und sich gegen ihren Todfeind zu vereinigen, sondern auch in den folgenden Jahren, da die interimperialistische Antagonismen zwar nicht verschwanden (der Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland zum Beispiel), aber weitestgehend hintangestellt wurden, während die Bourgeoisie um die Lösung der sozialen Frage rang. Dies ist zum Beispiel die Erklärung für die Unterstützung von Hitlers Programm des Terrors gegen die Arbeiterklasse durch viele Fraktionen der Weltbourgeoisie, obwohl deren imperialistische Interessen einzig von einem wiedererwachten deutschen Militarismus bedroht werden konnten. Die Wiederaufbauperiode, die dem Krieg folgte – auch wenn sie im Vergleich mit der Wiederaufbauperiode nach 1945 in Umfang und Tiefe sehr begrenzt war – diente ebenfalls dazu, das Problem der Neuaufteilung der imperialistischen Beute zeitweilig zu verschieben, soweit die herrschende Klasse betroffen war.
Der Kommunistischen Internationalen ihrerseits wurde nur sehr wenig Zeit gewährt, um solche Fragen zu klären, obwohl sie von Beginn an klar gemacht hatte, dass, sollte die Arbeiterklasse daran scheitern, auf die revolutionäre Herausforderung durch die russischen Arbeiter zu antworten, der Weg zu einem weiteren Weltkrieg offen sei. Das Manifest des ersten Kongresses der KI (März 1919) warnte davor, dass, sollte sich die Arbeiterklasse von den Predigten der Opportunisten vereinnahmen lassen, „so würde die kapitalistische Entwicklung auf den Knochen mehrerer Generationen in neuer, noch konzentrierterer und ungeheuerlicherer Form ihre Wiederaufrichtung feiern mit der Aussicht eines neuen, unausbleiblichen Weltkrieges. Zum Glück für die Menschheit ist dies nicht mehr möglich“. Während dieser Periode war die Frage der Kräftebalance zwischen den Klassen in der Tat entscheidend, jedoch weniger in Bezug auf die Kriegsgefahr als vielmehr auf die unmittelbaren Chancen der Revolution. Der letzte Satz in der eben zitierten Passage verschafft uns Stoff zum Nachdenken: In den ersten, unbesonnenen Momenten der revolutionären Welle gab es eine eindeutige Tendenz, die den Sieg der Weltrevolution als unumstößlich ansah und die sich nicht vorstellen konnte, dass ein neuer Weltkrieg wirklich möglich war. Dies stellte eine eindeutige Unterschätzung der gigantischen Aufgabe dar, der sich die Arbeiterklasse bei der Schaffung einer auf Solidarität basierenden Gesellschaft und bei der bewussten Beherrschung der Produktivkräfte gegenübersieht. Und zusätzlich zu diesem allgemeinen Problem, das für alle revolutionären Bewegungen der Klasse gilt, kommt noch hinzu, dass das Proletariat sich in den Jahren 1914–21 mit dem plötzlichen und brutalen ‚Ausbruch‘ einer neuen historischen Epoche konfrontiert sah, die es dazu zwang, seine althergebrachten Verhaltensweisen und Kampfmethoden abzulegen und sich ‚über Nacht‘ neue Methoden zu verschaffen, die für diese neue Periode geeignet waren.
Nachdem der erste Schwung der revolutionären Welle nachgelassen hatte, erwies sich der auf eine Art vereinfachende Optimismus der frühen Jahre als unangemessen, und es wurde immer dringlicher, eine nüchterne und realistische Einschätzung des wahren Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zu machen. In den frühen 20er Jahren gab es eine besonders scharfe Polemik zwischen der KI und der deutschen Linken über diesen Punkt, eine Debatte, in der keine der beiden Seiten die Wahrheit für sich allein gepachtet hatte. Die KI erblickte schneller die Realität des Rückzugs der Revolution nach 1921 und somit die Notwendigkeit, die Organisation zu konsolidieren und durch die Teilnahme an ihren Verteidigungskämpfen das Vertrauen der Arbeiterklasse zu erwerben. Doch unter dem Druck der Forderungen des auf Grund gelaufenen russischen Staates und seiner Wirtschaft, neue Stützpunkte außerhalb Russlands zu finden, übersetzte die KI diese Perspektive in wachsendem Maße in die Sprache des Opportunismus (Einheitsfront, Vereinigung mit zentristischen Parteien, etc.). Die deutsche Linke lehnte diese opportunistischen Schlussfolgerungen rundweg ab, doch ihre revolutionäre Ungeduld sowie ihre Theorie von der Todeskrise des Kapitalismus hinderte sie daran, den Unterschied zwischen der allgemeinen historischen Epoche des kapitalistischen Niedergangs, die die Notwendigkeit einer Revolution im allgemeinen historischen Sinn beinhaltete, und den verschiedenen unmittelbaren Phasen innerhalb dieser Epoche zu erblicken, Phasen, die nicht automatisch alle Bedingungen für einen revolutionären Umsturz in sich tragen. Das Versäumnis der deutschen Linken, das objektive Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu analysieren, war mit der Schlüsselschwäche an der organisatorischen Front verknüpft – ihre Unfähigkeit, die Aufgaben einer Fraktion zu begreifen, die gegen die Degeneration der alten Partei kämpft. Diese Schwächen sollten fatale Konsequenzen für die eigentliche Existenz der deutschen Linken als organisierte Strömung haben.
Genau an diesem Punkt kam die Italienische Linke als ein internationaler Pol der Klärung zum Tragen. Sie, die selbst ihre Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht hatte, war in der Lage, Kenntnis davon zu nehmen, dass das Proletariat von der entschlossenen Offensive der Bourgeoisie zurückgedrängt worden war. Diese Erkenntnis führte jedoch weder zum Sektierertum, da sie fortfuhr, an den Verteidigungskämpfen der Klasse teilzunehmen, noch zum Opportunismus, da sie deutliche Kritik an der Gefahr des Opportunismus in der Internationalen übte, besonders an den Zugeständnissen Letzterer gegenüber der Sozialdemokratie. Nachdem sie sich bereits in den Auseinandersetzungen innerhalb der italienischen Sozialistischen Partei in den Aufgaben einer Fraktion geübt hatte, würdigte die Italienische Linke ebenfalls voll und ganz die Notwendigkeit, innerhalb der existierenden Klassenorgane zu kämpfen, solange diese irgendeinen proletarischen Charakter enthielten. Um 1927/28 musste die Linke jedoch erkennen, dass der Ausschluss der linken Opposition aus der bolschewistischen Partei und anderer linker Strömungen auf internationaler Ebene eine qualitative Vertiefung der Konterrevolution bedeutete und die formelle Gründung einer unabhängigen linken Fraktion verlangte, auch wenn die Möglichkeit einer Wiedereroberung der Kommunistischen Parteien offen gelassen wurde.
Das Jahr 1933 war das nächste bedeutsame Datum für die Italienische Linke, nicht nur, weil in jenem Jahr die erste Ausgabe von Bilan herauskam, sondern auch, weil der Triumph des Nazismus in Deutschland die Fraktion davon überzeugte, dass der Kurs zu einem zweiten Weltkrieg nun eröffnet war. Bilans Verständnis der Dynamik im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen seit 1917 wurde im Logo, das ihre Zeitung einige Zeit schmückte, zusammengefasst: „Lenin 1917, Noske 1919, Hitler 1933“: Lenin als Personifizierung der proletarischen Revolution, Noske als solche der Unterdrückung der revolutionären Welle durch die Sozialdemokratie, Hitler als Inbegriff der Komplettierung der bürgerlichen Konterrevolution und der Vorbereitungen für einen neuen Krieg. Von Anbeginn war Bilans Position in der Debatte über den Historischen Kurs eines ihrer markantesten Kennzeichen.
Es trifft zu, dass der Leitartikel von Bilan Nr.[i], der durchaus die schwere Niederlage der Arbeiterklasse anerkennt, irgendwie unentschlossen erscheint, räumt er doch die Möglichkeit ein, dass das Proletariat immer noch imstande sei, seinen Kampf wiederzubeleben und durch einen neuen revolutionären Anlauf den Kriegsausbruch zu verhindern (s. The Italian Communist Left, S. 71). Dies war möglicherweise das Resultat des Unwillens, die Möglichkeit der Umkehrung der konterrevolutionären Flutwelle völlig auszuschließen. Doch in den nächsten paar Jahren gründeten sich sämtliche Analysen der internationalen Lage von Bilan – ob es dabei um die nationalen Befreiungskämpfe in der Peripherie ging, um die Expansion der deutschen Macht in Europa, die Volksfront in Frankreich, die Integration der UdSSR in das imperialistische Schachspiel oder um die so genannte spanische Revolution – auf die nüchterne Erkenntnis, dass sich die Waage im Kräfteverhältnis entscheidend zuungunsten des Proletariats geneigt und die Bourgeoisie den Weg zu einem weiteren imperialistischen Massaker freigemacht hat. Diese Entwicklung wurde mit großer Klarheit in einem Text in Bilan Nr. 17 ausgedrückt: ”Die Bildung von Fraktionen in einer Epoche zu befürworten, in der die Zerschlagung des Weltproletariats von einer Konkretisierung des Kriegsausbruchs begleitet wird, ist die Stellungnahme eines ‚Fatalismus‘, der die Unvermeidbarkeit des kommenden Krieges und die Unmöglichkeit der Mobilisierung des Proletariats dagegen akzeptiert” (‚Resolutionsentwurf über die Probleme der linken Fraktion‘).
In Bilan Nr.16 wurde der unüberbrückbare Gegensatz zwischen einem Kriegskurs und dem Kurs zur Revolution resümiert: „Wir haben es bereits gesagt: Krieg und Revolution sind zwei gegensätzliche Ausdrücke derselben Situation, in der beide aus der Explosion der Widersprüche heranreifen (...), doch sie sind ‚gegensätzliche Ausdrücke‘, was bedeutet, dass die Entfesselung des Krieges aus politischen Bedingungen resultiert, die die Revolution ausschließen. Es ist eine anarchistische Vereinfachung, wenn man meint, dass in dem Moment, wenn der Kapitalismus die Arbeiter bewaffnen muss, die Bedingungen bereits reif sind für das Proletariat, diese Waffen für den Triumph seiner revolutionären Sache zu benutzen (...) Das ganze Ausmaß des Gegensatzes zwischen Krieg und Revolution wird deutlich, wenn man anerkennt, dass die politischen Bedingungen, die den Ausbruch des Krieges erst möglich machen, das Verschwinden aller Bedingungen mit einschließen, die den Sieg des Proletariats erlauben könnten, und zwar aller Art von revolutionärer Bewegung bis hin zur letzten Äußerung des proletarischem Bewusstseins“ (‚Resolutionsentwurf über die internationale Lage‘).
Diese methodische Herangehensweise stand in krassem Gegensatz zur Position Trotzkis, der zu jener Zeit (und auch später) der weitaus bekannteste ‚Repräsentant‘ der linken Opposition gegen den Stalinismus war. Es sollte jedoch gesagt werden, dass auch Trotzki das Jahr 1933 und den Sieg des Nazismus als einen Wendepunkt betrachtete. Wie für Bilan markierte dieses Ereignis für ihn auch den endgültigen Verrat der Kommunistischen Internationalen zugunsten des Regimes in der UdSSR. Wie Bilan fuhr Trotzki zwar damit fort, sich auf Letzterem als Arbeiterstaat zu beziehen, meinte aber ab dieser Periode nicht mehr, dass das stalinistische Regime reformiert werden könnte, sondern dass es in einer ”politischen Revolution” mit Gewalt gestürzt werden muss. Doch neben diesen sichtbaren Ähnlichkeiten blieben fundamentale Gegensätze offen und sollten in einen endgültigen Bruch zwischen der italienischen Fraktion und der internationalen Linksopposition münden. Diese Gegensätze waren eng mit dem von der Italienischen Linken geprägten Begriff des Historischen Kurses und den Aufgaben einer Fraktion verbunden. Für Trotzki bedeutete der Bankrott der alten Partei die sofortige Proklamation einer neuen Partei. Bilan lehnte dies als voluntaristisch und idealistisch ab und bestand darauf, dass die Partei als effektive politische Führung der Klasse in Momenten des Tiefstands der Klassenbewegung nicht existieren könne. Trotzkis Bemühungen, in solch einer Periode eine Massenorganisation zusammenzuschustern, konnten nur zum Opportunismus führen, was durch die Hinwendung der Linksopposition zum linken Flügel der Sozialdemokratie ab 1934 beispielhaft veranschaulicht wurde. Für Bilan konnte eine wahre Partei des Proletariats nur gebildet werden, wenn die Klasse sich auf dem Kurs zum offenen Konflikt mit dem Kapitalismus befand. Doch die Aufgabe der Vorbereitung auf eine solche Situation, der Schaffung einer Basis für die zukünftige Partei konnte nur von einer Fraktion ausgeübt werden, die es als ihre Aufgabe ansieht, eine ‚Bilanz‘ der vergangenen Siege und Niederlagen zu ziehen.
Bezüglich der UdSSR führte Bilans Gesamtsicht der Situation, der sich das Proletariat gegenübersah, zur Ablehnung von Trotzkis Perspektive eines Angriffs des Weltkapitals auf den Arbeiterstaat – und somit der Notwendigkeit für das Proletariat, die UdSSR gegen einen solchen Angriff zu verteidigen. Stattdessen sah sie, dass in einer Periode der Reaktion es die unvermeidliche Tendenz eines isolierten Arbeiterstaates war, in das System von kapitalistischen Bündnissen gezogen zu werden, die den Boden für einen neuen Weltkrieg bereiteten. Daher die Ablehnung jeglicher Verteidigung der UdSSR als unvereinbar mit dem Internationalismus.
Es ist richtig, dass Trotzkis Schriften aus jener Zeit oft lebendige Einsichten in die durch und durch reaktionären Tendenzen enthalten, die die globale Lage beherrschten. Aber woran es Trotzki mangelte, war eine strenge Methode, ein wirkliches Konzept zum Historischen Kurs. So erlag Trotzki trotz des totalen Triumphes der Reaktion und trotz seiner Einsicht in das Herannahen eines Krieges einem falschen Optimismus, der im Faschismus die letzte Karte der Bourgeoisie gegen die Gefahr einer Revolution und im Antifaschismus in gewisser Weise einen Indikator für die Radikalisierung der Massen erblickte, der meinte, dass zur Zeit der Streiks unter der Volksfront in Frankreich 1936 ”alles möglich war”, oder die Behauptung für bare Münze nahm, dass im gleichen Jahr eine Arbeiterrevolution in Spanien im Gange sei. Mit einem Wort, Trotzkis Unkenntnis über die wahre Natur der Periode beschleunigte das Abgleiten des Trotzkismus in die Konterrevolution, während ihre Klarheit über dieselbe Frage Bilan in die Lage versetzte, an der Verteidigung der Klassenprinzipien festzuhalten, selbst zum Preis einer fürchterlichen Isolation.
Sicherlich forderte diese Isolation ihren Tribut von der Fraktion; so wurde ihre Klarheit nicht ohne große Auseinandersetzungen innerhalb ihrer eigenen Reihen verteidigt. Zunächst gegen die Positionen der Minderheit über den spanischen Bürgerkrieg, als der Druck, an der illusorischen ”spanischen Revolution” teilzunehmen, immens war und die Minderheit ihm mit ihrer Entscheidung, in den Milizen der POUM mitzukämpfen, erlag. Die Unnachgiebigkeit der Mehrheit wurde größtenteils deswegen durchgehalten, weil sie sich weigerte, die Ereignisse in Spanien isoliert zu behandeln, und diese als Ausdruck des weltweiten Kräfteverhältnisses betrachtete. Dann gegen Gruppen wie die Union Communiste oder die LCI (Ligue des Communistes Internationalistes, die belgische Hennaut-Gruppe), deren Positionen jenen der Minderheit ähnelten und die Bilan vorhielten, außerstande zu sein, eine Klassenbewegung als solche zu erkennen, wenn diese nicht von der Partei angeführt würde, und in der Partei eine Art Deus ex machina zu erblicken, ohne die die Massen nichts erreichen könnten. Bilan antwortete, dass das Fehlen einer Partei in Spanien das Produkt der Niederlagen sei, die das Proletariat international erlitten habe. Sich mit den spanischen Arbeitern völlig solidarisch erklärend, bestand Bilan dennoch darauf, dass dieser Mangel an programmatischer Klarheit dazu geführt habe, dass ihre anfänglichen, spontanen Reaktionen von ihrem eigenen Terrain auf das bürgerliche Terrain des interimperialistischen Krieges gedrängt worden seien.
Die Ansicht der Fraktion über die Ereignisse in Spanien wurde durch die Realität bestätigt; doch kaum hatte sie diese Feuerprobe bestanden, wurde sie schon in die nächste und noch größere gedrängt – Vercesis (einer der Haupttheoretiker innerhalb der Fraktion) Aneignung einer Konzeption, die alle vorherigen Analysen der Fraktion über die historische Periode in Frage stellte: die Theorie der Kriegswirtschaft.
Diese Theorie war das Ergebnis einer Flucht in den Immediatismus. Unter Berufung auf die Fähigkeit des Kapitalismus, den Staat und seine Kriegsvorbereitungen dafür zu nutzen, die Massenarbeitslosigkeit, die die erste Phase der Wirtschaftskrise der 30er Jahre charakterisiert hatte, teilweise wieder zu absorbieren, zogen Vercesi und seine Anhänger die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus irgendwie eine tiefe Veränderung vollzogen hätte, mit der er seine historische Überproduktionskrise überwunden hätte. Mit dem Hinweis auf den elementaren marxistischen Grundsatz, dass der Hauptwiderspruch in der Gesellschaft der zwischen der ausbeutenden und ausgebeuteten Klasse sei, verstieg sich Vercesi dann zur Schlussfolgerung, dass der imperialistische Weltkrieg nicht mehr die Antwort des Kapitalismus auf seine inneren ökonomischen Widersprüche sei, sondern ein Akt der interimperialistischen Solidarität, die das Ziel habe, die revolutionäre Arbeiterklasse zu massakrieren. Somit bedeute, wenn der Krieg sich nähert, dies lediglich, dass die proletarische Revolution eine immer größere Gefahr für die herrschende Klasse werde. Tatsächlich bestand der Haupteffekt der Theorie der Kriegswirtschaft während dieser Periode darin, die Kriegsgefahr vollkommen herunterzuspielen. Lokale Kriege und punktuelle Massaker könnten, so wurde argumentiert, denselben Job für den Kapitalismus verrichten wie ein Weltkrieg. Das Ergebnis war, dass die Fraktion bei der Vorbereitung auf die Folgen, die der Krieg unvermeidlich für die Organisationsarbeit haben würde, völlig versagte und sich mit Kriegsbeginn fast völlig auflöste. Und Vercesis Theoretisierungen über die Bedeutung des Kriegs, als er dann ausbrach, vervollständigte die Schlappe: Der Krieg bedeute das „gesellschaftliche Verschwinden des Proletariats“ und mache jede organisierte militante Aktivität zwecklos. Das Proletariat könne nur auf den Weg der Kämpfe zurückkehren, die dem Ausbruch der „Krise der Kriegswirtschaft“ folgen (nicht ausgelöst durch das Wirken des Wertgesetzes, sondern durch die Erschöpfung der materiellen Mittel zur Fortsetzung der Kriegsproduktion). Die Konsequenzen dieses Aspektes der Theorie über das Kriegsende werden noch kurz untersucht werden, doch ihre erste Wirkung bestand darin, Unordnung und Demoralisierung in den Reihen der Fraktion zu säen.
In der Periode nach 1938, als Bilan, in Erwartung neuer revolutionärer Attacken durch die Arbeiterklasse, durch Octobre ersetzt wurde, wurden die Originalanalysen von Bilan von einer Minderheit am Leben erhalten und weiterentwickelt, die keinen Anlass sah, die Tatsache in Frage zu stellen, dass der Krieg nahe bevorstand, dass es einen neuen interimperialistischen Konflikt um die Aufteilung der Welt geben werde und dass die Revolutionäre auch unter widrigen Umständen ihre Aktivitäten aufrechterhalten müssten, um ein Verlöschen der Flamme des Internationalismus zu verhindern. Diese Arbeit wurde vor allem von jenen Militanten fortgesetzt, die nach 1941 die italienische Fraktion wiederbelebten und bei der Bildung der französischen Fraktion in den letzten Kriegsjahren behilflich waren.
Diejenigen, die dem Werk Bilans treu blieben, hielten auch an ihrer Interpretation darüber fest, wohin sich der Kurs wendet – nämlich hin zur Feuersbrunst des Krieges. Diese Auffassung gründete sich fest auf den realen Erfahrungen der Klasse – 1871, 1905 und 1917; und auch die Ereignisse in Italien 1943 schienen dies zu bestätigen. Hier gab es eine authentische Klassenbewegung mit einer klaren Antikriegs-Ausrichtung, die nicht ohne Echo in der anderen geschlagenen europäischen Achsenmacht, in Deutschland blieb. Als die italienische Bewegung auch noch einen mächtigen Drang zur Sammlung der versprengten proletarischen Kräfte in Italien selbst entwickelte, schloss der französische Kern der Linkskommunisten in Übereinstimmung mit der italienischen Fraktion im Exil und in Italien daraus, dass „der Weg zur Gründung der Partei nun offen ist“. Doch während eine große Zahl von Militanten die sofortige Gründung der Partei darunter verstand, und zwar auf einer noch nicht genau definierten Basis, ließ die französische Fraktion (insbesondere der Genosse Marco – MC –, der Mitglied sowohl der italienischen als auch der französischen Fraktion war) nicht von ihrer rigorosen Herangehensweise los. Entgegen der Auflösung der italienischen Fraktion und der überstürzten Gründung der Partei bestand die französische Fraktion auf einer Untersuchung der italienischen Situation auch im Lichte der allgemeinen Weltlage und sträubte sich dagegen, von einem sentimentalen ‚Italozentrismus‘ mitgerissen zu werden, der etliche Mitglieder der italienischen Fraktion erfasst hatte. Die Gruppe in Frankreich (die spätere Gauche Communiste de France) war auch die erste, die erkannte, dass sich der Kurs nicht geändert hatte, dass die Bourgeoisie die notwendigen Lehren aus ihrer Erfahrung von 1917 gezogen hatte und dem Proletariat eine weitere entscheidende Niederlage beigebracht hatte.
Im Text ‚Die Aufgabe der Stunde – Parteigründung oder Bildung von Kadern‘, der in der Augustausgabe von Internationalisme 1946 (wiederveröffentlicht in der International Review Nr. 32), veröffentlicht worden war, gibt es eine beißende Polemik gegen den Wankelmut der anderen Strömungen des proletarischen Milieus jener Tage. Der Hauptinhalt der Polemik zielt darauf ab aufzuzeigen, dass die Entscheidung, die PCInt in Italien zu gründen, auf einer falschen Einschätzung der historischen Periode fußte und letztendlich zur Abschwörung von der marxistischen Konzeption der Fraktion zugunsten einer voluntaristischen und idealistischen Herangehensweise führte, die eine Menge mit dem Trotzkismus zu tun hatte, für den Parteien zu jeder Zeit und ohne jeglichen Bezug zur reellen historischen Situation, in der sich die Arbeiterklasse befindet, ‚errichtet‘ werden können. Doch der Artikel konzentriert sich – wahrscheinlich, weil die PCInt selbst, von einer aktivistischen Stampede ergriffen, kein wirklich zusammenhängendes Konzept des historischen Kurses entwickelt – auf die Analysen, die von anderen Gruppen des Milieus, insbesondere von der belgischen Fraktion der Linkskommunisten, die mit der PCInt personell verknüpft war, entwickelt wurden. In der Vorkriegsperiode war die von Mitchell 1 angeführte belgische Fraktion der aktivste Opponent gegen Vercesis Theorie der Kriegswirtschaft gewesen; ihre nach dem Krieg verbliebenen Überreste wandelten sich nun zu begeisterten Fürsprechern dieser Theorie. Diese enthielt die Idee, dass die Krise der Kriegswirtschaft tatsächlich nur nach dem Krieg ausbrechen könne, daher „ist die Nachkriegsperiode der Zeitpunkt, an dem die Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg stattfindet... Die gegenwärtige Situation kann somit als die der ‚Umwandlung in den Bürgerkrieg‘ bezeichnet werden. Mit dieser Analyse als Ausgangspunkt wird die Lage in Italien als besonders fortgeschritten erklärt, um so die sofortige Konstituierung der Partei zu rechtfertigen, während die Unruhen in Indien, Indonesien und anderswo, die von etlichen konkurrierenden Imperialismen und den lokalen Bourgeoisien sicher im Zaum gehalten werden, als Anzeichen des antikapitalistischen Bürgerkrieges gesehen werden.“ Die katastrophalen Konsequenzen der totalen Missdeutung des wirklichen historischen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen lagen auf der Hand; sie verleiteten die belgische Fraktion dazu, interimperialistische Konflikte als Ausdrücke einer der Revolution zustrebenden Bewegung anzusehen.
Ebenfalls bemerkenswert ist, dass der Artikel von Internationalisme eine weitere Theorie des Kurses kritisierte, die von den RKD (Revolutionäre Kommunisten Deutschlands, einer Gruppe, die sich während des Krieges vom Trotzkismus abgespaltet hatte, um internationalistische Positionen zu verteidigen) vorgestellt wurde. Nach Internationalisme „sucht (die RKD), wenn auch vorsichtig, Zuflucht in der Theorie des Doppelkurses, d.h.einer simultanen und parallelen Entwicklung des Kurses zur Revolution und eines anderen Kurses zum imperialistischen Krieg. Die RKD haben offensichtlich nicht verstanden, dass die Entwicklung eines Kurses zum Krieg vorrangig durch die Schwächung des Proletariats und die Abschwächung der Gefahr einer Revolution bedingt wird.”
Im Gegensatz dazu war Internationalisme in der Lage, deutlich zu erkennen, dass die Bourgeoisie ihre Lehren aus den Erfahrungen von 1917 gezogen und brutale Präventivmaßnahmen gegen die Gefahr einer durch das Kriegselend provozierten revolutionären Erhebung ergriffen hatte, dass sie der Arbeiterklasse besonders in Deutschland eine entscheidende Niederlage zugefügt hatte: „Dass der Kapitalismus einen Imperialistischen Krieg ‚beendet‘, der sechs Jahre ohne jegliches revolutionäres Auffllackern angedauert hat, zeigt die Niederlage des Proletariats und dass wir uns nicht am Vorabend grosser revolutionärer Kämpfe befinden, sondern in den Nachwehen einer Niederlage. Diese Niederlage fand 1945 mit der physischen Zerstörung des revolutionären Zentrums, das das deutsche Proletariat darstellte, statt, und sie war um so entscheidender, als sich das Weltproletariat der Niederlage, die es erlitten hat, nicht bewusst war“
Internationalisme lehnte also nachdrücklich alle voluntaristischen und aktivistischen Schemata zur Gründung einer neuen Partei in solch einer Periode ab und beharrte darauf, dass die Aufgabe der Stunde die ‚Bildung von Kadern‘ sei – in anderen Worten, die Fortsetzung der Arbeit der linken Fraktionen.
Jedoch gab es eine ernsthafte Schwachstelle in der Argumentation der GCF – nämlich die im obigen Artikel zum Ausdruck gebrachte Schlussfolgerung, dass „der Kurs in Richtung eines dritten imperialistischen Krieges eingeschlagen wurde... Unter den gegenwärtigen Umständen sehen wir keine Kraft, die imstande wäre, diesen Kurs zu stoppen oder zu ändern.“ Eine weitere Theoretisierung dieser Position ist in dem Artikel „Die Evolution des Kapitalismus und die neuen Perspektiven“ enthalten, der 1952 veröffentlicht wurde (wiederveröffentlicht in International Review Nr. 21). Dies ist ein fruchtbarer Text, da er die Arbeit der GCF hinsichtlich des Verständnisses des Staatskapitalismus als universelle Tendenz im dekadenten Kapitalismus und nicht als bloßes Phänomen, das sich auf die stalinistischen Regimes beschränkt, zusammenfasst. Doch sein Versäumnis besteht darin, dass er keinen klaren Unterschied zwischen der Integration der alten Arbeiterorganisationen in den Staatskapitalismus und der Integration des Proletariats an sich macht: „Das Proletariat findet sich jetzt mit seiner eigenen Ausbeutung ab. Es ist also geistig und politisch im Kapitalismus integriert.“ Gemäß Internationalisme nimmt die permanente Krise des Kapitalismus in der Epoche des Staatskapitalismus nicht mehr die Form einer ‚offenen Krise‘ an, die die Arbeiter aus der Produktion wirft und sie so dazu zwingt, gegen das System zu handeln. Stattdessen erreicht sie ihren Höhepunkt im Krieg. Und nur im Krieg – den die GCF schon wieder nahen sah – könne der proletarische Kampf einen revolutionären Inhalt annehmen. Andernfalls könne die Klasse „sich selbst lediglich als ökonomische Kategorie des Kapitals ausdrücken“. Was Internationalisme dabei übersah, war, dass die eigentlichen Mechanismen des Staatskapitalismus unter den Bedingungen einer Wiederaufbauperiode nach den massiven Kriegszerstörungen dem Kapitalismus erlaubten, in eine ‚Boom‘-Phase zu treten, in der interimperialistische Antagonismen, wenngleich sie akut blieben, einen neuen Weltkrieg nicht absolut notwendig machten, und dies trotz der Schwäche des Proletariats.
Kurz nachdem dieser Text verfasst worden war, führten die Bemühungen der GCF, ihre Kader angesichts dessen zu erhalten, was sie als das Herannahen eines Weltkrieges verstand (eine Schlussfolgerung, die angesichts des Koreakrieges gar nicht so irrational war), zum ‚Exil‘ ihres führenden Genossen MC nach Venezuela und zur raschen Auflösung der Gruppe. Sie zahlte somit einen hohen Preis für ihre Schwäche, die Perspektive nicht mit genügender Klarheit zu erblicken. Doch die Auflösung der Gruppe bestätigte auch ihre Diagnose der konterrevolutionären Natur dieser Periode. Es ist kein Zufall, dass die PCInt im gleichen Jahr ihre erste große Spaltung durchmachte. Die ganze Geschichte dieser Spaltung ist dem internationalen Publikum noch nicht zugänglich gemacht worden, aber es scheint, als sei etwas Klarheit dabei herausgekommen. Kurz gesagt, fand die Spaltung zwischen der Tendenz um Damen auf der einen Seite und der von Bordiga inspirierten Tendenz auf der anderen statt. Die Damen-Tendenz stand, soweit es ihre politischen Positionen betrifft, dem Geist von Bilan näher – d.h. sie teilte die Bereitschaft Bilans, die Positionen der Kommunistischen Internationalen in ihren frühen Jahren in Frage zu stellen (z.B. über die Gewerkschaften, nationale Befreiung, Partei und Staat, etc.). Doch neigte sie stark zum Aktivismus und entbehrte der theoretische Strenge von Bilan. Dies traf besonders auf die Frage des Historischen Kurses und der Bedingungen für die Parteigründung zu, denn ein Besinnen auf die Methodik Bilans hätte dazu geführt, die Gründung der PCInt in Frage zu stellen. Dazu war die Damen-Tendenz oder – präziser – die Gruppe Battaglia Comunista jedoch nie gewillt. Bordigas Strömung schien sich im Gegensatz dazu bewusster darüber zu sein, dass diese Periode eine Periode der Reaktion war und dass die aktivistische und auf die Rekrutierung von Mitgliedern abzielende Herangehensweise der PCInt sich als fruchtlos erwiesen hat. Unglücklicherweise war Bordigas Werk in der Periode nach der Spaltung, gleichwohl es viel Wertvolles auf allgemeiner Ebene enthielt, völlig abgeschnitten von den Fortschritten, die während der 30er Jahre von der italienischen Fraktion erzielt worden waren. Die politischen Positionen seiner neuen ‚Partei‘ waren kein Fortschritt, sondern ein Rückgriff auf die schwächsten Analysen der KI, zum Beispiel über die Gewerkschaften und die nationale Frage. Und ihre Theorie über die Partei sowie ihr Verhältnis zur historischen Bewegung basierte auf semi-mystischen Spekulationen über die ‚Invarianz‘ und über die Dialektik zwischen der ‚historischen Partei‘ und der ‚formalen Partei‘. Mit einem Wort, unter diesen Ausgangsbedingungen konnte keine der Gruppen, die aus der Spaltung entstanden waren, irgendetwas Wertvolles zum Verständnis des Proletariats über das historische Kräfteverhältnis beitragen, und diese Frage war eine ihrer wesentlichen Schwächen seither geblieben.
Dezember 2000
(Der Teil 2 dieses Artikels folgt in der Internationalen Revue Nr. 30 vom November 2002)
[i] Mitchell starb 1945 in Folge seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Buchenwald während des Krieges.
2. Eine Niederlage, die das Ende der weltweiten revolutionären Welle bedeutete
Wir haben in einem früheren Artikel aufgezeigt, wie die internationale Isolierung der Revolution in Russland – infolge der gescheiterten Ausdehnung der Revolution nach Westeuropa – zur Entartung der Komintern und zum Aufstieg des russischen Staatskapitalismus führte, was wiederum die Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland beschleunigte
Nach dem Abschluss des Geheimabkommens von Rapallo war der Kapitalistenklasse nicht verborgen geblieben, dass der russische Staat dabei war, die Komintern zu seinem Instrument zu machen. Gegen diese Entwicklung stemmte sich in Russland eine starke Opposition, die sich im Jahre 1923 durch eine Reihe von Streiks in der Gegend von Moskau sowie durch eine immer lauter werdende Opposition innerhalb der bolschewistischen Partei äußerte. Im Herbst 1923 hatte sich Trotzki nach langem Zögern endlich zu einem entschlosseneren Kampf gegen die wachsende staatskapitalistische Orientierung durchgerungen. Auch wenn die Komintern infolge der Politik der Einheitsfront und der Befürwortung des Nationalbolschewismus immer opportunistischer wurde und um so mehr degenerierte, je stärker sie durch den russischen Staat stranguliert wurde, gab es noch einen internationalistisch gesinnten Kern in ihr, der weiterhin an der weltrevolutionären Orientierung festhielt. Nachdem das deutsche Kapital sein “Bündnisversprechen”, das es als “unterdrückte Nation” Russland gegenüber gelobt hatte, fallengelassen hatte (1), fühlte sich dieser internationalistische Kern in der Komintern desorientiert, weil nunmehr die Aussichten auf eine revolutionäre “Entlastung” und Erneuerung immer geringer zu werden schienen. Aus Sorge vor dem emporkommenden Staatskapitalismus in Russland selbst und in der Hoffnung auf einen revolutionären Wiederaufschwung suchten sie verzweifelt nach einem letzten Strohhalm, nach der letzten Möglichkeit eines revolutionären Wiederaufbäumens.
“Da habt ihr, Genossen, endlich den Sturm, auf den wir so viele Jahre voller Ungeduld gewartet haben und welcher das Antlitz der Welt verändern wird. Die stattfindenden Ereignisse werden eine kolossale Bedeutung erlangen. Die deutsche Revolution bedeutet den Zusammenbruch der kapitalistischen Welt”. (Trotzki)
Überzeugt von dem weiterhin vorhandenen revolutionären Potenzial und davon, dass die Gelegenheit zum Aufstand noch nicht verstrichen war, setzte er sich dafür ein, dass seitens der Komintern alles in Bewegung gesetzt wird, um eine revolutionäre Entwicklung zu unterstützen.
Gleichzeitig hatte sich in Bulgarien und in Polen die Lage weiter zugespitzt. Bereits am 23. September hatten die Kommunisten in Bulgarien mit Unterstützung der Komintern einen Aufstandsversuch unternommen, der allerdings scheitern sollte. Im Oktober und November brach in Polen eine breite Streikwelle aus, an der sich ca. zwei Drittel der Industriearbeiter des Landes beteiligten, wobei die KP Polens von der Kampfbereitschaft der Arbeiter überrascht wurde. Ebenso wie diese Streiks wurden auch aufstandsartige Kämpfe Anfang November 1923 niedergeschlagen.
Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Partei sprach sich Stalin gegen die Unterstützung der Bewegung in Deutschland aus, da sie eine direkte Bedrohung für den russischen Staatsapparat hätte werden können, innerhalb dessen er einige der wichtigsten Positionen innehatte. “Meiner Meinung nach müssen die deutschen Genossen gebremst und nicht angespornt werden.” (Brief Stalins vom 5.8.23 an Sinowjew)
Die Komintern verirrt sich im Abenteuer des Aufstands
Sich mit letzter Hoffnung an die Wiederbelebung einer revolutionären Situation klammernd, beschloss die Führung der Komintern (EKKI) eigenständig und zunächst ohne Absprache und Beratung der Lage mit der KPD, die Entwicklung zu forcieren und sich auf einen Aufstand in Deutschland vorzubereiten.
Nachdem am 11. September in Moskau die Nachricht von der Beendigung der Politik des “passiven Widerstands” Deutschlands gegen Frankreich und der Aufnahme deutsch-französischer Verhandlungen eintraf, drängte das EKKI auf ein Losschlagen Ende September in Bulgarien und kurze Zeit später in Deutschland. Die Vertreter der KPD wurden im September nach Moskau gerufen, um mit dem EKKI den Aufstand vorzubereiten. Diese Beratungen, an denen auch Vertreter der kommunistischen Parteien aus den Nachbarländern anwesend waren, dauerten nahezu einen Monat, von Anfang September bis Anfang Oktober.
Damit vollzog die Komintern eine erneute, verheerende Wende. Nach der katastrophalen Politik der Einheitsfront mit den konterrevolutionären sozialdemokratischen Kräften, deren zerstörerische Auswirkungen wir noch sehen werden, nach dem Flirt mit dem Nationalbolschewismus nun eine Verzweiflungstat - das Abenteuer eines Aufstandsversuches, ohne dass die Bedingungen für seine erfolgreiche Durchführung vorhanden waren.
Gegenüber der Lage in Deutschland schätzte das EKKI das Kräfteverhältnis, das sich nach dem Schachzug der SPD-geführten Regierung im August in Deutschland klar zugunsten der Bourgeoisie entwickelte, falsch ein. Um die Strategie des Feindes zu durchschauen, muss sich eine international organisierte und zentralisierte Organisation auf eine richtige Analyse der Verhältnisse durch ihre örtlichen Sektionen stützen können. Doch gerade die KPD hatte sich am stärksten durch ihre national-bolschewistische Politik blenden lassen und nicht die wirkliche Entwicklung des Kräfteverhältnisses erkannt, die in Deutschland die Schwächen der Bewegung offengelegt hatte.
· Bis August war die Bewegung hauptsächlich auf ökonomische Forderungen beschränkt geblieben. Noch hatte die Arbeiterklasse keine eigenständigen politischen Forderungen formuliert. Auch wenn die Bewegung sich immer stärker aus den Fabriken heraus auf die Straße verlagerte, auch wenn die Arbeiter immer häufiger in Vollversammlungen zusammenkamen und Arbeiterräte gebildet wurden, kann man nicht von einer Situation der Doppelmacht sprechen. Mehrere Mitglieder des EKKI meinten, die Bildung von Arbeiterräten würde von der aus ihrer Sicht prioritären Aufgabe der militärischen Vorbereitung des Aufstandes ablenken; die Räte liefen gar Gefahr, zur Zielscheibe der Repression der Regierung zu werden. Denn die neue Regierung hatte die Fabrikräte per Gesetz verboten. Eine Mehrheit im EKKI schlug vor, dass die Sowjets erst nach der Machtergreifung errichtet werden sollten.
· * Anstatt die Lehren aus der katastrophalen Politik der erhofften “nationalen Allianz” zu ziehen, wobei die “Einheitsfrontpolitik” nur eine Vorstufe zu diesem Verhängnis gewesen war, stützte man den angestrebten Aufstand auf eine “Arbeiterregierung”‘ aus SPD und KPD.
· Schließlich fehlte in Deutschland eine unabdingbare Voraussetzung für einen erfolgreichen Aufstand: die revolutionäre Partei. Die KPD, angenagt durch ihre opportunistische Entwicklung und in ihrem Kern gespalten, erfüllte nicht die Bedingungen, um eine wirklich entscheidende politische Rolle in der Klasse zu übernehmen.
Trotzki drängte darauf, im Voraus ein Aufstandsdatum festzulegen. Er plädierte für den 7. November, den Tag des Oktoberaufstands in Russland sechs Jahre zuvor. Damit wollte er jeglicher zaudernden Haltung einen Riegel vorschieben. Der KPD-Vorsitzende Brandler lehnte es ab, sich auf einen bestimmten Termin festzulegen. So wurde Ende September beschlossen, dass der Aufstand in den nächsten vier bis sechs Wochen stattfinden sollte, d.h. Anfang November.
Da die deutsche Parteileitung sich für zu unerfahren hielt, schlug Brandler vor, dass Trotzki, der eine herausragende Rolle bei der Organisierung des Aufstands im Oktober 1917 in Russland gespielt hatte, selbst nach Deutschland kommen sollte, um zu helfen, den Aufstand zu organisieren.
Diesem Vorschlag widersetzten sich die anderen Mitglieder des EKKI; Sinowjew “beanspruchte” diese Führungsrolle für sich, da er der Vorsitzende des EKKI war. Der Streit um diese Entscheidung war nur vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Führungskampfes in Russland zu verstehen. Schließlich entschied man, ein Kollektivgremium zu schicken, das aus Radek, Guralski, Skoblewski und Tomski zusammengesetzt war.
Das EKKI beschloss, dass die Hilfe auf drei Ebenen erfolgen sollte:
- militärisch: Sie sollte der Schwerpunkt sein. Bürgerkriegserfahrene Offiziere der russischen Roten Armee wurden heimlich nach Deutschland geschickt, um beim Aufbau der Roten Hundertschaften und einer künftigen Roten Armee zu helfen. Auch wirkten sie beim Ausbau eines Nachrichtendienstes in Deutschland mit und hatten die Aufgabe, Kontakt zu oppositionellen Offizieren der Reichswehr zu knüpfen. Zudem sollten besonders erfahrene Mitglieder der russischen Partei an der Grenze bereitstehen, um schnellstmöglich vor Ort eintreffen zu können.
- materiell (Lebensmittel): Rund eine Million Tonnen Getreide sollten an der russischen Westgrenze bereitgestellt werden, damit man einer siegreichen Revolution in Deutschland sofort zu Hilfe eilen konnte.
- propagandistisch: Öffentliche Versammlungen mit dem Titel ‘Der deutsche Oktober steht vor der Tür, wie können wir der deutschen Revolution helfen?’ wurden in Russland abgehalten, wo man über die Perspektiven der Revolution in Deutschland berichtete. Vor allem aber wurden sie genutzt, um zu Spendensammlungen aufzurufen. So wurden Frauen aufgefordert, Eheringe und andere Wertsachen für “die deutsche Sache” zu opfern.
Während die Diskussionen in Moskau noch fortdauerten, hatten Emissäre der Komintern in Deutschland selbst bereits die Vorbereitungen für den Aufstand vorangetrieben. Anfang Oktober hatten sich viele führende Parteimitglieder schon auf eine illegale Situation eingestellt. Während in Moskau zwischen der Führung der KPD und dem EKKI die Aufstandspläne erörtert wurden, scheint eine größere Debatte über die unmittelbaren Perspektiven und die Aufstandsfrage innerhalb der KPD selbst nicht stattgefunden zu haben.
In Deutschland hatte die KPD seit Jahresbeginn, vor allem seit dem Leipziger Kongress, systematisch mit der Aufstellung von Hundertschaften begonnen. Anfangs noch sollten diese bewaffneten Truppen mehr als Schutzformation für Demonstrationen und Arbeiterversammlungen dienen, in denen kampfbereite Arbeiter unabhängig von ihrer politischen Überzeugung mitwirken konnten. Nun erprobten sich diese Hundertschaften in militärischen Übungen, machten Probealarme und spezielle Ausbildungen an Waffen und anderen militärischen Geräten.
Im Vergleich zum März 1921 wurde jetzt mit viel größerem organisatorischen Aufwand vorgegangen und erhebliche Mittel in die militärischen Vorbereitungen gesteckt. So hatte die KPD in der Zwischenzeit ihren Nachrichtendienst aufgebaut. Es gab den M-Apparat (Militärapparat), Z-Gruppen zur Zersetzung der Reichswehr und Polizei, T-Gruppen (Terror). Geheime Waffenlager wurden angelegt, militärische Karten aller Art besorgt.
Die russischen Militärberater gingen davon aus, über eine halbe Million Gewehre zur Verfügung zu haben. Man rechnete mit der Möglichkeit, 50-60.000 Mann schnellstens bewaffnen zu können, während die Reichswehr und die sie unterstützenden rechtsradikalen Wehrverbände mit der Polizei zahlenmäßig ca. 50 mal stärker als die von der KPD geführten Formationen waren.
In dieser Situation wurde von der Komintern ein Plan ausgearbeitet, der sich auf einen militärischen Schlag ausrichtete.
Indem die KPD in einigen Regionen in eine “Arbeiterregierung” mit der SPD eintrete, würde dies die Lage explosiv werden lassen. Man rechnete damit, dass die Faschisten, von Bayern und Süddeutschland aus kommend, nach Sachsen und Mitteldeutschland vorstoßen würden. Gleichzeitig rechnete man mit einem Vorstoß der Reichswehr von Preußen aus. Diesem Vormarsch könne man durch den Aufmarsch von riesigen bewaffneten Arbeitereinheiten entgegentreten und die Reichswehr und die faschistischen Verbände militärisch schlagen, indem man den Gegner bei Kassel in eine Falle locke. Aus den Roten Hundertschaften sollte eine Rote Armee entstehen, von der sächsische Teil nach Berlin, der thüringische nach München marschieren sollte. Die neue, für ganz Deutschland aufgestellte Regierung würde dann Kommunisten, linke Sozialdemokraten, Gewerkschafter und nationalbolschewistische Offiziere umfassen.
Ein Schlüsselelement der Taktik sollte deshalb zunächst der Regierungseintritt der KPD in Sachsen sein.
Aufstand durch ein Regierungsbündnis mit der SPD?
Im August war die SPD der Regierung beigetreten, um mit einer Reihe von Versprechungen die Aufwärtsbewegung zu stoppen.
Obgleich die Regierung am 26. September offiziell das Ende des passiven Widerstands angekündigt und versprochen hatte, Löhne auszuzahlen, brach am 27. September ein Streik im Ruhrgebiet aus. Am 28. September rief die KPD zum Generalstreik im ganzen Reich, zur Bewaffnung der Arbeiter und zur “Erkämpfung einer Arbeiter- und Bauern-Regierung” auf. Am 29. September erklärte die Regierung den Ausnahmezustand, woraufhin die KPD am 1. Oktober den Streik im Ruhrgebiet abbrach.
Wie schon zuvor bestand ihr Ziel nicht darin, die Arbeiterklasse durch die Erhöhung des Drucks aus den Betrieben weiter zu stärken, sondern sich ganz auf den entscheidenden, irgendwann eintretenden Moment zu konzentrieren. Anstatt, wie die Komintern später feststellen musste, durch den Druck aus den Betrieben die jetzt frisch an die Regierung gekommene SPD zu entblößen, wurde die Initiative in den Betrieben gebremst. So wurde die Bereitschaft in der Arbeiterklasse, sich gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen, nicht nur durch das Versprechen von Zugeständnissen seitens der Regierung gebremst, sondern auch von der KPD selbst.
Die Komintern sollte später dazu auf dem 5. Kongress feststellen:
“Nach dem Cuno-Streik wurde der Fehler gemacht, elementare Bewegungen bis zum Entscheidungskampf verschieben zu wollen.
Einer der schwersten Fehler war es, dass die instinktive Rebellion der Massen nicht durch Einstellung auf politische Ziele systematisch in bewusst revolutionären Kampfwillen verwandelt wurde...
Die Partei versäumte es, energische, lebendige Agitation für die Aufgaben der politischen Arbeiterräte durchzuführen. Übergangsforderungen und Teilkämpfe aufs engste mit dem Endziel der Diktatur des Proletariats zu verbinden. Die Vernachlässigung der Betriebsrätebewegung machte es auch unmöglich, die Betriebsräte zeitweilig die Rolle der Arbeiterräte übernehmen zu lassen, so dass es in den entscheidenden Tagen an einem autoritativen Zentrum fehlte, um das sich die schwankenden Arbeitermassen hätten sammeln können, die dem Einfluss der SPD entzogen worden waren.
Da auch andere Einheitsfrontorgane (Aktionsausschüsse, Kontrollausschüsse, Kampfkomitees) nicht planmäßig ausgenützt wurden, um den Kampf politisch vorzubereiten, so wurde der Kampf fast nur als Parteisache und nicht als einheitlicher Kampf des Proletariats aufgefasst.”
Durch das Bremsen der Abwehrkämpfe der Arbeiter mit dem Argument, bis zum “Entscheidungstag’ zu warten, machte die KPD den Arbeitern ein Kräftemessen mit dem Kapital und sich selbst die Mobilisierung der durch die SPD-Propaganda verunsicherten Arbeiter unmöglich. So kritisierte die Komintern später: “Die Überhitzung in den technischen Vorbereitungen während der entscheidenden Wochen, die Einstellung auf die Aktionen als Parteikampf und nur auf den ‘entscheidenden Schlag’ ohne vorherige anwachsende Teilkämpfe und Massenbewegungen verhinderten die Prüfung des wirklichen Kräfteverhältnisses und machten eine zweckmäßige Terminsetzung unmöglich (....) Tatsächlich ließ sich nur feststellen, dass die Partei auf dem Wege war, die Mehrheit für sich zu erobern, ohne schon die Führung über sie zu besitzen.” (Die Lehren der deutschen Ereignisse und die Taktik der Einheitsfront)
Zu diesem Zeitpunkt, nämlich am 1. Oktober, revoltierten in Küstrin Mitglieder einer “Schwarzen Reichswehr-Garnison” (d.h. ein mit den Faschisten sympathisierender Verband). Ihre Erhebung wurde von preußischen Polizeitruppen niedergeschlagen. Der demokratische Staat brauchte die Faschisten noch nicht!
Am 9.Oktober traf Brandler aus Moskau mit der neuen Orientierung des Aufstands mittels Regierungseintritt ein. Am 10. Oktober wurde die Bildung einer Regierung mit der SPD in Sachsen und Thüringen beschlossen. Drei Kommunisten traten in die sächsische Regierung ein (Brandler, Heckert, Böttcher), zwei in die thüringische Regierung (Korsch und Tenner).
Während man im Januar 1923 noch auf dem Parteitag gesagt hatte: “Die Beteiligung der KPD an einer Landesarbeiterregierung, ohne Bedingungen an die SPD zu stellen, ohne genügend starke Massenbewegung und ohne ausreichende außerparlamentarische Stützpunkte, kann die Idee der Arbeiterregierung kompromittieren und die Reihen der eigenen Partei zersetzen” (S. 255, Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung), war die KPD-Zentrale jetzt bereit, entsprechend den Anweisungen der Komintern praktisch bedingungslos der SPD-Regierung beizutreten. Die KPD hoffte, so einen Ausschlag gebenden Hebel für den Aufstand in der Hand zu haben, denn geplant war, dass die KPD sofort alles unternehmen würde, um für die Bewaffnung der Arbeiter zu sorgen.
Während die KPD mit einer wütenden Reaktion der Faschisten und der Reichswehr gerechnet hatte, war es der SPD-Reichspräsident Ebert, der am 14. Oktober die sächsische und die thüringische Regierung für abgesetzt erklärte. Am gleichen Tag ordnete Ebert den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen an.
Der “demokratische” SPD-Reichspräsident schickte also die Reichswehr gegen die “demokratisch gewählte” SPD-Regierung in Sachsen und Thüringen. Wiederum war es die SPD, die im Auftrag des Kapitals eine gewaltsame Niederwerfung der Arbeiter mit einem geschickten politischen Manöver vorbereitete und in die Hand nahm.
Gleichzeitig machten sich faschistische Gruppierungen aus Bayern auf den Weg nach Thüringen. Die KPD beschloss, die Arbeiter zu den Waffen zu rufen. In der Nacht vom 19. zum 20. Oktober verteilte die KPD ein Flugblatt in einer Auflage von 150.000 Exemplaren, in dem die Parteimitglieder angewiesen wurden, sich aller verfügbaren Waffen zu bemächtigen. Gleichzeitig sollte der Generalstreik beschlossen werden, der den Aufstand einleiten sollte.
Chronik einer angekündigten Niederlage
Um diesen Beschluss jedoch nicht als Partei zu fassen, sondern ihn von einer Delegiertenversammlung verabschieden zu lassen, wollte der Parteivorsitzende Brandler am 21. Oktober auf der Arbeiterkonferenz in Chemnitz einen Streikbeschluss erwirken. Zu den ca. 450 Delegierten gehörten u.a. 60 offizielle Delegierte der KPD, sieben offizielle Delegierte der SPD und 102 Vertreter der Gewerkschaften.
Mit dem Argument, die Stimmung zu testen, schlug Brandler auf dieser Versammlung den Generalstreik vor. Daraufhin reagierten vor allem die Gewerkschaftsvertreter und die SPD-Delegierten mit lautem Protest und der Drohung, die Versammlung zu verlassen, falls der Generalstreik beschlossen würde. Von Aufstand war ohnehin keine Rede. Allen voran der anwesende SPD-Minister wandte sich energisch gegen den Generalstreik. Doch anstatt ein Ort der Bündelung des Widerstandes gegen die Angriffe des Kapitals zu sein, gab die Versammlung gegenüber der SPD und den Gewerkschaftsvertretern kleinlaut bei. Selbst die KPD-Delegierten hüllten sich in Schweigen! So beschloss dieses Treffen, auf dem nach den Vorstellungen der KPD der Funken durch den Generalstreiksbeschluss gezündet werden sollte, seine Entscheidung zu vertagen.
Dabei hatte für Brandler und die KPD-Führung von Anfang an außer Frage gestanden, dass die Anwesenden unter dem Eindruck der auf Sachsen vorrückenden Truppen der Reichswehr und dem von Berlin aus geplanten Sturz der sächsischen Arbeiterregierung in eine revolutionäre Hochstimmung geraten und somit selbstverständlich bereit sein würden, sich zu wehren. Nach der Fehleinschätzung der Lage im August hatte die KPD das Kräfteverhältnis und die Stimmung auch diesmalzu diesem Zeitpunkt erneut falsch eingeschätzt.
In der Versammlung von Chemnitz, die von der KPD-Führung als “Dreh- und Angelpunkt” für den Aufstand auserwählt worden war, beeinflusste die SPD noch den Großteil der Delegierten. In den Fabrikkomitees und Vollversammlungen hatte die KPD noch nicht die Mehrheit für sich gewinnen können. Im Gegensatz zu den Bolschewiki im Jahre 1917 hatte die KPD weder die Lage richtig einzuschätzen noch den Lauf der Ereignisse entscheidend zu beeinflussen vermocht. Für die Bolschewiki wurde die Frage des Aufstands erst akut, als sie in den Räten die Mehrheit für sich erobert hatten und die Partei die Ausschlag gebende, führende Rolle spielen konnte.
Die Versammlung in Chemnitz ging auseinander, ohne einen Beschluss für den Streik, geschweige denn für den Aufstand gefasst zu haben. Nach diesem niederschmetternden Abstimmungsergebnis beschloss die Zentrale einstimmig, der Rückzug anzutreten. Nicht nur Brandler, sondern auch die “linken” Mitglieder der Zentrale und alle ausländischen Genossen, die damals in Deutschland anwesend waren, haben ohne Ausnahme diesem Beschluss zugestimmt.
Als die Ortsgruppen der Partei, die überall “Gewehr bei Fuß” standen, von dieser Entscheidung unterrichtet wurden, war die Enttäuschung riesig!
Obwohl es zum genauen Ablauf der Ereignisse in Hamburg unterschiedliche Versionen gibt, scheint die Nachricht von der Annullierung des Aufstands nicht rechtzeitig übermittelt worden zu sein. Überzeugt davon, dass der Aufstand nach Plan läuft, legten die örtlichen Parteimitglieder los, ohne die Bestätigung der Zentrale bekommen zu haben. So schlugen in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober in Hamburg die Hundertschaften und die Kommunisten los und kämpften gegen die Polizei nach einem vorher festgelegten Schlachtplan. Die Kämpfe dauerten einige Tage, wobei sich der Großteil der Arbeiter zurückhielt, ja, viele Mitglieder der SPD sich bei den Polizeibehörden meldeten, um gegen die Aufständischen zu kämpfen.
Als am 24. Oktober nachmittags die Nachricht der KPD von der Aufforderung zum Abbruch der Kämpfe eintraf, war ein geordneter Rückzug nicht mehr möglich. Die Niederlage war unvermeidbar.
Am 23. Oktober marschierten Reichswehrtruppen in Sachsen ein. Erneut begann die Repression gegen die KPD. Wenig später, am 13. November, wurde Thüringen von der Reichswehr besetzt. In den anderen Landesteilen kam es zu keinen größeren Reaktionen der Arbeiter. Selbst in Berlin, wo der “linke Flügel” der KPD dominierte, ließen sich nur wenige hundert Mitglieder für Solidaritätsdemonstrationen mobilisieren. Enttäuscht von der Partei, wandten sich große Teile der Arbeiterklasse von ihr ab.
Die Lehren der Niederlage
Der Versuch der Komintern, durch die abenteuerliche Organisierung eines Aufstands in Deutschland die revolutionäre Welle von Kämpfen wieder anzukurbeln und eine Wende in Russland herbeizuführen, war fehlgeschlagen.
1923 stand die Arbeiterklasse in Deutschland in vielerlei Hinsicht isolierter da als zu Beginn der revolutionären Welle 1918/19. Gleichzeitig hatte die Bourgeoisie eine geschlossene Front gegen die Arbeiterklasse gebildet. Die Bedingungen für einen erfolgreichen Aufstand in Deutschland waren nicht vorhanden. Die in der Klasse vorhandene Kampfbereitschaft war im August 1923 von der Bourgeoisie gedämpft worden. Der Druck aus den Betrieben, das Bestreben, zu Vollversammlungen zusammenzukommen, ließ nach.
“Die Gradmesser unseres revolutionären Einflusses waren für uns die Sowjets (...) Die Sowjets gaben den politischen Mantel für unsere verschwörerische, konspirative Tätigkeit ab, sie waren dann auch Organe der Regierung nach der faktischen Machtergreifung.” (L. Trotzki, Kann man eine Konterrevolution oder eine Revolution auf einen bestimmten Zeitpunkt ansetzen?, 1924) Zu einer Bildung von Arbeiterräten, zentrale Voraussetzung für die Machtergreifung, war es in Deutschland 1923 nicht gekommen.
Nicht nur waren die politischen Bedingungen in der Klasse insgesamt noch nicht herangereift, auch und vor allem die KPD selbst hatte sich als unfähig erwiesen, ihre politische Führungsrolle wirklich zu erfüllen. Ihre politische Ausrichtung - die Politik des Nationalbolschewismus bis zum August, ihre Politik der Einheitsfront und der Schutz der Demokratie -trugen zu einer gewaltigen Verwirrung und Entwaffnung der Arbeiterklasse bei. Eine erfolgreiche Erhebung der Arbeiterklasse ist aber nur denkbar, wenn die Arbeiterklasse politisch ausreichend klar ihre Ziele erkennt und eine Partei an ihrer Seite hat, die Stoßrichtung und den Moment zum Handeln klar genug aufzeigen kann.
Ohne eine starke, solide Partei ist der Aufstand nicht denkbar, da nur sie einen Überblick über die Lage hat, die Strategie des Gegners erkennen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus ziehen kann. Wegen ihrer Fähigkeit zur Analyse der Strategie des Klassenfeindes, ihrer Fähigkeit, die Temperatur in der Klasse, insbesondere in ihren Hauptbataillonen, zu messen und wegen ihrer Fähigkeit, ihr Gewicht im entscheidenden Moment in die Waagschale zu werfen, ist sie unerlässlich.
Die Komintern hatte das Hauptaugenmerk auf die militärische Vorbereitung gelegt. So schilderte Retzlaw –(der Verantwortliche für den militärischen Geheimapparat der KPD) -, dass mit den russischen Militärberatern meist rein strategische Schachzüge diskutiert wurden, wobei die große Masse der Arbeiter nicht einmal erwähnt wurde.
Auch wenn der Aufstand militärstrategisch minutiös geplant werden muss, beschränkt er sich selbst keinesfalls auf eine einfache Militäroperation. Die militärischen Aufstandsvorbereitungen können erst angegangen werden, wenn der politische Reifungs- und Mobilisierungsprozess der Klasse weit genug vorangeschritten ist. Dieser Prozess lässt sich nicht überspringen.
Das heißt nicht, dass die Arbeiterklasse unterdessen ihren Druck vernachlässigen sollte, wie es die KPD 1923 befürwortete. Hatten die Bolschewiki im Oktober 1917 die “Kunst des Aufstands” erfolgreich zur Anwendung bringen können, so war der Aufstandsplan vom Oktober 1923 eine reine Farce, die in einer Tragödie endete. Die Internationalisten in der Komintern, die mit dieser abenteuerlichen Verzweiflungstat nach einem letzten Strohhalm greifen wollten, hatten die Lage falsch eingeschätzt.
Trotzki, der im September offensichtlich schlecht über die Lage im Bilde war, war am meisten davon überzeugt, die Bewegung ginge weiter aufwärts, und er gehörte zu denen, die am heftigsten auf den Aufstand gedrängt hatten.
Die Kritik, die er nach den Ereignissen entwickelte, ist zum großen Teil falsch. Er warf der KPD vor, dass, während sie sich 1921 abenteuerlich und ungeduldig verhalten habe, sie 1923 in das andere Extrem des Abwartens, der Vernachlässigung der eigenen Rolle verfallen sei.
“Die Reife der revolutionären Situation in Deutschland wurde von der Partei zu spät erkannt, (...) so dass die wichtigsten Kampfmaßnahmen verspätet in Angriff genommen wurden.
Die Kommunistische Partei kann nicht gegenüber der wachsenden revolutionären Bewegung des Proletariats eine abwartende Haltung einnehmen. Das ist eigentlich die Stellungnahme des Menschewismus: Die Revolution hemmen, solange sie sich entwickelt, ihre Erfolge ausnutzen, wenn sie halbwegs siegreich ist, und alles anwenden, um sie aufzuhalten.” (L. Trotzki, Kann man eine Konterrevoultion oder eine Revolution an einem bestimmten Zeitpunkt ansetzen?, 1924)
Er betonte zwar zu Recht den subjektiven Faktor und die Tatsache, dass der Aufstand die energische, entschlossene, gezielte und weitsichtige Intervention der Revolutionäre braucht, um gegenüber allen Zögerungen und Schwankungen der Klasse einzugreifen. Darüber hinaus hatte Trotzki die zerstörerische Rolle der Stalinisten erkannt: “...die Stalinsche Führung (...) hemmte und bremste die Arbeiter, wo die Bedingungen einen kühnen revolutionären Angriff diktierten; proklamierte revolutionäre Situationen als bevorstehend, wenn sie bereits verpasst waren; schloss Bündnisse mit Phrasenhelden und Schwätzern aus dem Lager des Kleinbürgertums; hinkte unter dem Schein der Einheitsfrontpolitik ohnmächtig hinter der Sozialdemokratie her.” (Die Tragödie des deutschen Proletariats, Mai 1933)
Aber er selbst hatte sich mehr vom eigenen Willen leiten lassen als von der richtigen Analyse des Kräfteverhältnisses.
Die Oktoberniederlage 1923 bedeutete nicht nur eine physische Schwächung der Arbeiter in Deutschland,
sondern sie sollte auch zu einer tiefgreifenden politischen Desorientierung und Demoralisierung der Arbeiterklasse führen.
Die Welle revolutionärer Kämpfe, deren Höhepunkt 1918/1919 überschritten war, war 1923 beendet. Der Bourgeoisie war es gelungen, der Arbeiterklasse in Deutschland eine entscheidende Niederlage beizufügen.
Die Niederschlagung der Kämpfe in Deutschland, Bulgarien und Polen ließen die Arbeiterklasse in Russland noch isolierter zurück. Zwar gab es noch einige “Nachhutgefechte”, von denen die Kämpfe 1927 in China besonders herausragen, dennoch brach eine lange Ära der Konterrevolution an, die erst mit der Wiederbelebung der Kämpfe 1968 durchbrochen werden sollte.
Die Komintern sollte sich als unfähig erweisen, die wirklichen Lehren aus den Ereignissen in Deutschland zu ziehen.
Die Unfähigkeit der Komintern und der KPD, die wahren Lehren zu ziehen
Auf dem 5. Weltkongress der Komintern 1924 richteten die Komintern und die KPD ihre Hauptkritik darauf, dass die KPD die Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung “falsch” ausgelegt habe. Zu einer grundsätzlichen Verwerfung dieser Taktik kam es nicht.
Die KPD trug sogar dazu bei, die SPD von ihrer Verantwortung bei der Niederlage weißzuwaschen, als sie behauptete: “Man kann ohne Übertreibung sagen: die heutige deutsche Sozialdemokratie ist tatsächlich nur noch ein lockeres Gefüge schlecht untereinander verbundener Organisationen mit grundverschiedener politischer Einstellung.”
Sie blieb ihrer opportunistischen und verheerenden Politik gegenüber der verräterischen Sozialdemokratie treu: “Der ständige kommunistische Druck auf die Zeigner-Regierung und den sich mit ihr herausbildenden linken Flügel der SPD werde die Zersetzung der SPD bringen. Es kam darauf an, unter unserer Führung den Massendruck auf die sozialdemokratische Regierung zu steigern, zu verschärfen und die sich herausbildende sozialdemokratische linke Führergruppe im Zuge einer großen Bewegung vor die Entscheidung zu stellen, entweder mit den Kommunisten gemeinsam den Kampf gegen die Bourgeoisie einzuleiten, oder sich zu demaskieren und damit die letzte Illusion der sozialdemokratischen Arbeitermassen zu vernichten.” (9. Parteitag, April 1924)
Seit dem 1. Weltkrieg ist die SPD vollends in den Staat integriert. Diese Partei, der schon soviel Blut aus dem 1. Weltkrieg und der Niederschlagung der Kämpfe an den Fingern klebte, befand sich keineswegs in einem Zersetzungsprozess. Im Gegenteil, als ein Teil des Staatsapparates konnte sie weiterhin einen großen Einfluss auf die Arbeiter ausüben. Dies musste auch Sinowjew im Namen der Komintern feststellen: “Aber den ‘linken’ Sozialdemokraten, (...) die in Wahrheit der schmutzigen, gegenrevolutionären Politik der rechten Sozialdemokraten nur zur Verhüllung dienen - ihnen glaubt ein erheblicher Teil der Arbeiter immer noch.”
Die Geschichte hat seitdem immer wieder bewiesen, dass es nicht möglich ist, eine Partei, die verraten und ihr Klassenwesen geändert hat, zurückzuerobern. Der Versuch, mit Hilfe der SPD die Arbeiterklasse zu führen, war damals schon ein Zeichen der opportunistischen Entartung der Komintern gewesen. Denn während Lenin in seinen Aprilthesen 1917 die Unterstützung der Kerenski-Regierung abgelehnt und die schärfstmögliche Abgrenzung von der Provisorischen Regierung verlangt hatte, bestand die KPD im Oktober 1923 auf überhaupt keiner Abgrenzung und trat bedingungslos in die Regierung mit der SPD ein. Anstatt die Arbeiter zu mobilisieren, hat der Regierungseintritt der KPD sie vielmehr eingeschläfert. Die politische Entwaffnung der Arbeiterklasse und die Repression durch die Reichswehr wurden erleichtert. Eine Aufstandsbewegung kann nur vorankommen, wenn es der Arbeiterklasse gelingt, ihre Illusionen über die bürgerliche Demokratie zu überwinden. Und die Revolution kann nur siegen, wenn die Kräfte, die bürgerliche Demokratie verteidigen, zerschlagen werden.
1923 hat die KPD nicht nur nicht die bürgerliche Demokratie bekämpft, sondern sie hat die Arbeiter gar zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie aufgerufen.
Insbesondere hinsichtlich der SPD stand die KPD im eklatanten Gegensatz zu den Positionen der Komintern, die auf ihrem Gründungskongress diese Partei als den Henker der Revolution in Deutschland 1919 gebrandmarkt hatte.
Später beharrte die KPD nicht nur auf ihren Fehlern, sondern sie erwies sich auch als Vorreiter des Opportunismus. Unter allen Parteien der Komintern wurde sie zu deren treuesten Vasall. Nicht nur war sie zum Vorreiter bei der Einführung der Einheitsfront und Arbeiterregierung geworden, sondern sie setzte auch als erste die Politik der Fabrikzellen und der Bolschewisierung um, die von Sinowjew und Stalin befürwortet wurde.
Durch die Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland erhielt der Stalinismus gewaltigen Auftrieb.
International, aber auch in Russland konnte die Bourgeoisie ihre Offensive fortsetzen und die furchtbarste Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse einleiten, unter der sie je gelitten hat. Der russische Staat wurde nach 1923 von den anderen kapitalistischen Staaten und dem Völkerbund völkerrechtlich anerkannt.
1917 hatte die erfolgreiche Machtergreifung der Arbeiterklasse in Russland den Auftakt gebildet für die Auslösung einer weltweiten revolutionären Welle. Das Kapital hatte jedoch den Erfolg der Revolution in den Schlüsselländern, allen voran in Deutschland, verhindern können.
Die Lehren hinsichtlich der erfolgreichen Machtergreifung im Oktober 1917 in Russland wie des Scheiterns der Revolution in Deutschland – und insbesondere die Lehren darüber, wie es der Bourgeoisie gelang, den Sieg der Revolution zu vereiteln, über die Folgen, die daraus für die internationale Dynamik der Kämpfe entstanden und über die daraus resultierende Entartung der Revolution in Russland – all diese Elemente sind ein Bestandteil ein und derselben historischen Erfahrung der Arbeiterklasse.
Damit eine nächste revolutionäre Welle sich entfalten kann und die nächste Revolution erfolgreich ist, muss die Arbeiterklasse sich diese unschätzbare Erfahrung unbedingt aneignen.
DvDie Verteidigung der proletarischen Perspektive durch die linken Fraktionen
In Zeiten wie heute, wo die Perspektive einer Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Barbarei für die meisten Arbeiter ‚unerreichbar‘ scheint, müssen Revolutionäre mehr denn je die langfristige Natur ihrer Arbeit betonen und dürfen sich nicht von kurzfristigen Betrachtungen beirren lassen. Die Arbeit der Revolutionäre ist stets auf die Zukunft gerichtet und nicht nur ein Kampf für die Verteidigung der unmittelbaren Interessen des Proletariats. Wie die Geschichte gezeigt hat, kann eine Revolution nur erfolgreich sein, wenn sich eine revolutionäre Organisation, wenn sich die Partei den Aufgaben, die sie zu erfüllen hat, gewachsen zeigt.
Doch eine Partei, die imstande ist, ihre Aufgaben zu erfüllen, entsteht weder durch bloße Verkündung noch spontan, sondern ist das Resultat langer Jahre des Aufbaus und der Auseinandersetzungen. In diesem Sinne sind bereits die heutigen Revolutionäre an der Vorbereitung der Gründung der künftigen Partei beteiligt. Es wäre fatal, wenn Revolutionäre die historische Bedeutung ihrer eigenen Arbeit unterschätzen.
Selbst wenn die heutigen revolutionären Organisationen unter schwierigeren Umständen entstanden sind als frühere revolutionäre Organisationen, tragen die heutigen Revolutionäre bereits zum Aufbau einer unerlässlichen Brücke zur Zukunft bei. Doch können sie dies nur dann tun, wenn sie sich als fähig erweisen, ihre Verantwortung mit Leben zu füllen, denn die Geschichte hat uns gezeigt, dass nicht alle Organisationen, die die Klasse in der Vergangenheit produziert hat, dem nachgekommen sind, besonders wenn sie mit der Prüfung eines imperialistischen Krieges oder einer revolutionären Periode konfrontiert waren.
Viele Organisationen degenerierten oder zerfielen unter dem Druck der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Gifts des Opportunismus. Auch heute ist der Druck des Opportunismus sehr groß, daher müssen revolutionäre Organisationen einen ständigen Kampf gegen diesen Druck ausfechten.
Das berühmteste Beispiel der Degeneration in der Vergangenheit ist der Fall der deutschen Sozialdemokratie, der SPD, die zur größten Arbeiterorganisation des 19. Jahrhunderts aufstieg, um dann mit anzusehen, wie ihre Führung der Interessen der Arbeiterklasse verriet, als die Bourgeoisie im August 1914 in den Ersten Weltkrieg trat. Ein anderes berühmtes Beispiel ist jenes der bolschewistischen Partei, die, nachdem sie die Vorhut der proletarischen Revolution im Oktober 1917 gewesen war, sich in einen Feind der Arbeiterklasse verwandelte, nachdem sie im sowjetischen Staat integriert worden war.
Doch wann immer eine revolutionäre Organisation degenerierte und die Interessen der Arbeiterklasse verriet, das Proletariat war stets in der Lage, eine neue Fraktion in die Welt zu setzen, die gegen Degeneration und Verrat kämpfte.
„Die historische Kontinuität zwischen der alten und der neuen Klassenpartei kann nur auf dem Wege der Fraktion gesichert werden, deren historische Funktion es ist, eine Bilanz der vergangenen Erfahrungen zu ziehen, die Irrtümer und Unzulänglichkeiten des gestrigen Programms im Lichte einer marxistischen Kritik zu thematisieren, aus diesen Erfahrungen die politischen Prinzipien zu ziehen, die notwendig sind, um das alte Programm zu vervollständigen, und die die Vorbedingung für die Bestimmung des neuen Programms sind, das für die Gründung der neuen Partei lebenswichtig ist. Die Fraktion ist sowohl ein Ort der ideologischen Fermentierung, das Labor des revolutionären Programms in einer Rückzugsperiode als auch Übungsgelände für ihr menschliches Material, die Militanten der künftigen Partei.“ (L’Etincelle, Nr. 10, Januar 1946)[i]
Im ersten Teil dieses Artikels wollen wir einige wichtige Lehren aus früheren Degenerationen und den Auseinandersetzungen der Fraktionen in Erinnerung rufen. Im zweiten Teil werden wir etwas präziser betrachten, wie die Fraktionen sich organisierten, um gegen solch eine Degeneration zu kämpfen.
Das Problem der Fraktion in der Zweiten Internationalen
Als am 4. August 1914 die sozialdemokratische Reichstagsfraktion geschlossen für die Kriegskredite stimmte und somit aktiv die Kriegsmobilisierung des deutschen Imperialismus unterstützte, beging zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Partei der Arbeiterklasse Verrat. Für eine bürgerliche Organisation kommt ein Verrat an ihren Klasseninteressen nicht in Betracht. Dies trifft selbst dann zu, wenn sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt weigert, am imperialistischen Krieg teilzunehmen. Im Gegenteil dazu ist die Ablehnung des Internationalismus eine der schlimmsten Vergewaltigungen proletarischer Prinzipien, die eine proletarische Organisation begehen kann, und kennzeichnet ihren Übergang ins bürgerliche Lager.
In Wirklichkeit war dieser Verrat des proletarischen Lagers durch die SPD-Führung lediglich der Höhepunkt eines langen Degenerationsprozesses. Während Rosa Luxemburg[ii] eine der ersten war, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein Gespür für den Prozess der opportunistischen Verfaulung entwickelt hatten, wurde der volle Umfang dieses Prozesses nicht vor dem Verrat 1914 erkannt. Wie wenig bewusst sich die meisten Revolutionäre über das Ausmaß dieser Degeneration waren, veranschaulicht Lenins ungläubiges Staunen, als er von der parlamentarischen Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten im August 1914 vernahm – er war davon überzeugt, dass die Kopie des Vorwärts (der SPD-Zeitung), die er in der Schweiz erhielt, eine von der deutschen Regierung ausgebrütete Fälschung war.
Wie ereignete sich die Degeneration der SPD?
Damit es zu einem Degenerationsprozess kommt, muss es materielle Bedingungen geben, die solch eine Dynamik in Gang setzen, und die Arbeiterklasse muss politisch geschwächt sein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Arbeiterklasse von Illusionen wie jene über die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus penetriert. Jahre ununterbrochenen Wachstums (trotz des Konjunktur bedingten Aufs und Abs) hatten die materielle Basis für das Aufblühen solcher Illusionen gelegt. Bernstein[iii] repräsentierte diese Illusionen in ihrer extremsten Form, als er behauptete, dass der Kapitalismus durch eine Reihe von Reformen überwunden werden könne und dass „das Ziel nichts, die Bewegung alles ist“.
Rosa Luxemburg fühlte die große Verwirrung, die durch das Erscheinen des Opportunismus in der SPD erzeugt wurde, als sie im März 1899 einen Brief an Leo Jogiches[iv] verfasste:
“Mit einem Wort, dieses ganze Gerede hat den einen Sinn: dass Bebel[v] selbst schon senil geworden ist und die Zügel aus der Hand gleiten lässt; er ist froh, wenn andere kämpfen, aber hat selbst weder die Energie noch das Feuer für eine Initiative... so steht die ganze Partei verdammt schlecht da; absolutes bezholowie, wie die Ruthenen sagen. Niemand leitet, niemand fühlt sich verantwortlich“ (Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, 3. März 1899).
In einem weiteren Brief an Jogiches kurze Zeit später erwähnte sie die Intrigen, die Furcht und die Ressentiments ihr gegenüber in der Partei, die auftraten, sobald sie gegen diesen Prozess zu kämpfen begann.
“Dabei habe ich gar nicht die Absicht, mich auf die Kritik zu beschränken, im Gegenteil, ich habe die Absicht und Lust, positiv zu schieben, nicht Personen, sondern die Bewegung in ihrer Gesamtheit, unsere ganze positive Arbeit zu revidieren, die Agitation, die Praxis, neue Wege aufzuzeigen (sofern sich welche finden, woran ich nicht zweifle), den Schlendrian zu bekämpfen etc., mit einem Wort, ein ständiger Antrieb der Bewegung zu sein...Und dann die mündliche und schriftliche Agitation überhaupt, die in alten Formen versteinert ist und auf fast niemanden mehr wirkt, auf eine neue Bahn zu bringen, überhaupt neues Leben in die Presse, die Versammlungen und die Broschüren hineinzubringen“ (Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, 1. Mai 1899).
Und als Rosa Luxemburg „Sozialreform oder Revolution“ (April 1899) schrieb, zeigte sie nicht nur ihre Entschlossenheit, gegen diese opportunistischen Abwege zu kämpfen; sie begriff auch, dass dieser Kampf in seiner ganzen programmatisch-theoretischen Dimension verstanden werden muss. Sie unterstrich: “Daher zeigt sich bei denjenigen, die nur den praktischen Erfolgen nachjagen wollen, das natürliche Bestreben, sich die Hände frei zu machen, d.h. unsere Praxis von der ‚Theorie‘ zu trennen, von ihr unabhängig zu machen... Es ist klar, dass diese Strömung, wollte sie sich gegen unsere Grundsätze behaupten, folgerichtig dazu kommen musste, sich an die Theorie selbst, an die Grundsätze heranzuwagen, statt sie zu ignorieren, sie zu erschüttern suchen und eine eigene Theorie zurechtzumachen“ (Rosa Luxemburg, „Sozialreform oder Revolution“, Ges. Werke, Bd 1/1, S. 441).
Die Degeneration wird also stets durch die Infragestellung des politischen Programms ausgedrückt, aber sie trifft auf ihrem Weg nach Oben auf den Widerstand eines Teils der Partei, der weiterhin zu den Prinzipien eben dieses Programms steht.
Der Kampf des linken Flügels der Zweiten Internationalen war daher von Beginn an ein politischer Kampf um die Verteidigung des Marxismus gegen seine Entwaffnung, aber es war zugleich ein Versuch, die Lehren aus den neuen Bedingungen des dekadenten Kapitalismus zu ziehen. Indem sie diese neuen Bedingungen spürten und versuchten, sie in einen neuen Rahmen zu platzieren, versuchten Rosa Luxemburg in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ und Anton Pannekoek[vi] in „Taktische Differenzen in der Arbeiterbewegung“, die tiefer verwurzelten historischen Bedingungen des Opportunismus und seiner Unfähigkeit zu begreifen, die neuen Kampfbedingungen im dekadenten Kapitalismus zu verstehen.
Doch der linke Flügel der Sozialdemokratie blieb eine Minderheit, da die Mehrheit der Partei große Schwierigkeiten hatte, diese revisionistischen Ideen zu bekämpfen, seitdem der Parlamentarismus und die wachsende Integration des Gewerkschaftsapparates in den Staat diesen Illusionen ermöglichten, sich zu verbreiten und einen Apparat zu schaffen, der dem Staat loyal und der Arbeiterklasse gegenüber fremd und feindlich war.
Eine Degeneration wird stets von einem spezifischen Teil der Organisation verkörpert, der durch seine Identifizierung mit den Interessen der herrschenden Klasse Schritt für Schritt die fundamentalen Prinzipien der Partei über Bord wirft und als loyaler Vertreter des Staates und des nationalen Kapitals endet. Dieser degenerierende Organisationsteil ist dazu gezwungen, sich jeder Debatte zu widersetzen, ist durch seine Natur monolithisch und beabsichtigt das Mundtotmachen jeder kritischen Stimme. So wurde die Sozialdemokratie, die während der Zeit des Sozialistenverbots (1878-1890) das Zentrum des proletarischen Lebens und vieler kontroverser Debatten gewesen war, immer mehr zu einem Abstimmungsverein, der jede Debatte in der Partei zum Schweigen brachte. Viele Artikel des linken Flügels wurden der Zensur durch die Parteiführung unterworfen, andere Gegner wurden verwirrt, die Führung versuchte, die Linken aus den Redaktionskommissionen zu drängen, und bei Abstimmungen im Parlament wurden die Abgeordneten dazu angehalten, sich der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen.
Rosa Luxemburg sah und verdammte diese Trends so deutlich wie möglich. Sie beschloss, nicht der Partei den Rücken zu kehren, sondern für ihre Wiederherstellung zu kämpfen – weil es nicht das Prinzip der Kommunisten ist, „die eigene Haut zu retten“, sondern für die Organisation zu kämpfen.
In einem Schreiben an Clara Zetkin[vii] vom 16. Dezember 1906 bestand sie darauf:
“Mir kommt die ganze Zaghaftigkeit und Kleinlichkeit unseres ganzen Parteiwesens so schroff und schmerzlich zu Bewusstsein wie nie zuvor.( ...)
Aber ich rege mich deshalb über diese Dinge nicht so auf wie du, weil ich mit erschreckender Klarheit bereits eingesehen habe, dass diese Dinge und diese Menschen nicht zu ändern sind, solange die Situation nicht ganz anders geworden ist. Und auch dann – ich habe mir das bereits mit kühler Überlegung gesagt und bei mir ausgemacht – müsen wir einfach mit dem unvermeidlichen Widerstand dieser Leute rechnen, wenn wir die Massen vorwärts führen wollen. Die Situation ist einfach die: August Bebel und erst recht all die anderen haben sich für den Parlamentarismus und im Parlamentarismus gänzlich ausgegeben. Bei irgendeiner Wendung, die über die Schranken des Parlamentarismus hinausgeht, versagen sie gänzlich, ja, noch mehr, suchen alles auf den parlamentarischen Leisten zurückzuschrauben, werden also mit Grimm alles und jeden als ‚Volksfeind’ bekämpfen, der darüber hinaus wird gehen wollen..
Die Massen, und noch mehr die große Masse der Genossen, sind innerlich mit dem Parlamentarismus fertig, das Gefühl habe ich. Sie würden mit Jubel einen frischen Luftzug in der Taktik begrüßen; aber die alten Autoritäten lasten noch auf ihnen und noch mehr auf die oberste Schicht der opportunistischen Redakteure, Abgeordneten und Gewerkschaftsführer. Unsere Aufgabe ist jetzt, dem Einrosten dieser Autoritäten mit möglichst schroffem Protest entgegenzuwirken... Wenn wir gegen den Opportunismus eine Offensive starten, werden die alten Anwälte gegen uns sein.... Das sind Aufgaben, die auf lange Jahre berechnet sind! (Rosa Luxemburg, Briefe, S. 213)
Selbst als die Linken es mit einem wachsenden Widerstand innerhalb der Partei zu tun bekamen, dachte keiner von ihnen daran, sich in einem separaten Körper zu sammeln, ganz zu schweigen daran, die Partei den Opportunisten zu überlassen. Am 19. April 1912 drückte Rosa Luxemburg ihre Ansicht in einem Brief an Franz Mehring[viii] aus:
“Sie werden sicher auch das Gefühl haben, dass wir immer mehr Zeiten entgegengehen, wo die Masse der Partei einer energischen, rücksichtslosen und großzügigen Führung bedarf, und daß unsere führenden Instanzen – Parteivorstand, Zentralorgan, Parlamentsfraktion – immer kleinlicher, feiger und parlamentarisch-kretinhafter werden. Wir müssen also offen dieser schönen Zukunft ins Auge blicken, alle Posten bestzen und festhalten, die es ermöglichen, der offiziellen “Führerschaft“ zum Trotz das Recht der Kritik wahrzunehmen.
J. Marchlewski[ix] betonte in einem Brief an Rosa Luxemburg:
“Daraus erwächst aber für uns die Pflicht, gerade auszuharren, gerade nicht den offiziellen Parteibonzen den Gefallen zu tun und die Flinte ins Korn zu werfen. Auf ständige Kämpfe und Reibungen müssen wir ja gefasst sein... Aber trotz alledem – keinen Fußbreit nachgeben scheint mir die beste Parole“, wie er unterstrich. Und weiter: “wir drei, und ich ganz besonders, was ich betonen möchte, sind der Auffassung, dass die Partei eine innere Krise durchmacht, viel, viel schwerer als zu jener Zeit, da der Revisionismus aufkam. Das Wort mag hart sein, aber es ist meine Überzeugung, dass die Partei dem Marasmus zu verfallen droht, wenn es so weitergeht. In einer solchen Situation gibt es für eine revolutionäre Partei nur eine Rettung: die denkbar schärfste, rücksichtsloseste Selbstkritik“ (Marchlewski, Brief an Block 16.12.1913, in Nettl, Rosa Luxemburg, S. 448).
So verhalf die Degeneration der SPD einer linken Strömung innerhalb der Zweiten Internationalen zur Entstehung, die jedoch mit unterschiedlichen Bedingungen in jedem Land konfrontiert war. Die deutsche SPD war eine der Parteien, die am meisten vom Opportunismus durchdrungen waren, doch erst als die Parteiführung den proletarischen Internationalismus verriet, nahm die linke Strömung eine organisierte Form an.
In den Niederlanden wurde der linke Flügel aus der SDAP (Sociaal-Demokratische Arbeiders Partei) ausgeschlossen und gründete 1909 die SDP (Sozialdemokratische Partei – bekannt als die Tribunisten, dem Titel ihrer Zeitung entlehnt). Jedoch ereignete sich diese Spaltung zu früh – wie wir in unserer Analyse der deutsch-holländischen Linken betonten.[x]
In Russland ging seit 1903 ein tiefer Riss zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDARP).
Die Menschewiki erkannten die Entscheidungen der Mehrheit auf dem Kongress von 1903 nicht an und versuchten, durch eine Reihe von Manövern die Bolschewiki aus der Partei zu vertreiben. Die Bolschewiki verteidigten die Parteiprinzipien, die in wachsendem Maße von den Menschewiki untergraben wurden, die ihrerseits nun vom Opportunismus infiziert wurden. In der russischen Sozialdemokratie trat die Penetration durch den Opportunismus zunächst in organisatorischen Fragen auf, aber schon bald betraf es ihre Taktiken, da während der russischen Revolution von 1905 die meisten Menschewiki eine Haltung zu Gunsten der liberalen Bourgeoisie einnahmen, während die Bolschewiki für eine unabhängige Politik der Arbeiterklasse stritten. Ein großer Teil dieses opportunistischen Flügels in der Partei – unter der Fahne der Menschewiki versammelt – lief 1914 ins bürgerliche Lager über, als er auch den proletarischen Internationalismus verriet. Doch die Bolschewiki fochten fast zehn Jahre lang innerhalb der gleichen Partei gegen die Menschewiki, ehe sich 1912 die tatsächliche Spaltung ereignete. Als sie noch als separate Fraktion innerhalb der SDARP organisiert waren, sahen sich die Bolschewiki trotz ihrer tiefen Divergenzen mit den Menschewiki nicht mit einem solchen Degenerationsprozess wie in der SPD konfrontiert. Doch indem sie sich als eine gesonderte Strömung organisierten, indem sie resolut gegen den Opportunismus kämpften und ihr Vertrauen im marxistischen Parteiprogramm behielten, legten sie das Fundament für die spätere Gründung der bolschewistischen Partei und der Kommunistischen Partei 1917/18.
Somit trugen die Bolschewiki noch vor 1914, obwohl sie unter widrigen Umständen arbeiteten, entscheidend zur Erfahrung einer Fraktion bei.
Eine bemerkenswerte Charakteristik der linken Strömungen vor 1914 ist ihr Versäumnis, sich auf internationaler Ebene zu regruppieren oder eine organisierte Form anzunehmen – mit Ausnahme der Bolschewiki. Wie Bilan bemerkte: „Das Problem der Fraktion, das wir in anderen Worten als einen Moment des Wiederaufbaus der Klassenpartei betrachten, war innerhalb der Ersten oder der Zweiten Internationalen so unvorstellbar wie abwegig. Diejenigen, die sich zu dieser Zeit selbst ‚Fraktion‘ oder, etwas allgemeiner, ‚rechter‘ oder ‚linker Flügel‘, ‚unnachgiebige‘, ‚reformistische‘ oder ‚revolutionäre‘ Strömung nannten, waren in den meisten Fällen Gelegenheitsübereinkommen kurz vor oder während eines Kongresses, den Blick darauf gerichtet, eine besondere Tagesordnung zur Debatte zu stellen, aber ohne jegliche organisatorische Kontinuität. Die Bolschewiki waren die Ausnahme...“ („La Fraction dans les partis socialistes de la seconde Internationale“, Bilan, Nr. 24, Oktober 1935). Obgleich es Momente gab, in denen sie ihre Kräfte vereinten und auf den Kongressen gemeinsame Anträge und Verbesserungsvorschläge unterbreiteten (zum Beispiel in Stuttgart 1907 und Basel 1912 über die Kriegsgefahr), kam es zu keinem gemeinsamen Vorgehen des linken Flügels.
Etliche Elemente erklären diese relative Zersplitterung.
Eines davon sind die verschiedenen materiellen Bedingungen in den Mitgliedsländern der 2. Internationalen.
Zum Beispiel waren die Arbeiter in Russland, entsprechend dem ökonomischen Hinterherhinken des Kapitalismus in Russland im Vergleich mit Deutschland, nicht fähig gewesen, dem Kapital dieselben Zugeständnisse abzuringen. Der Einfluss des Gewerkschaftstums in Russland war schwach, die parlamentarische Präsenz der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war weitaus schwächer als jene der SPD und die demokratischen Illusionen sowie der parlamentarische Kretinismus unvergleichlich kleiner.
Ein anderes Element ist die föderalistische Struktur der Zweiten Internationalen – was es den Revolutionären ungleich schwerer machte, zu einem tiefen Verständnis der verschiedenen Situationen in den einzelnen Ländern zu gelangen. Entsprechend der föderalistischen Struktur gab es keine wirkliche Zentralisierung, und ein Konzept des allgemeinen, zentralisierten Kampfes existierte im linken Flügel noch nicht.
„Lenins Fraktionsarbeit fand allein innerhalb der russischen Partei statt. Er versuchte nicht, sie auf eine internationale Ebene zu stellen. Wir brauchen nur seine Interventionen auf den mannigfaltigen Kongressen zu lesen, um zu sehen, dass seine Arbeit außerhalb der russischen Kreise vollständig unbekannt blieb“ (Bilan, Nr. 24, s.o.: Dieser Artikel ist bereits in unserer International Review, Nr. 64 wiederveröffentlicht worden).
Die Zweite Internationale war in einem gewissen Sinn immer noch ein Ausdruck der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, wo die verschiedenen Mitgliedsparteien auf föderaler Ebene existieren konnten – „Seite an Seite“, statt in einem einzigen Körper vereint zu sein.
Die Herausforderung des Krieges für die Revolutionäre
Der Ausbruch des I. Weltkrieges im August 1914, der Verrat der SPD und der Tod der Zweiten Internationalen stellten die Revolutionäre vor eine neue Situation.
Der I. Weltkrieg bedeutete, dass der Kapitalismus weltweit zu einem dekadenten System geworden ist, wodurch die Revolutionäre überall auf der Welt vor denselben Aufgaben gestellt wurden. Dies erforderte eine Intervention der Revolutionäre nicht auf „föderaler“ Ebene, sondern auf einer höheren, zentralisierten Ebene – mit demselben Programm und der Notwendigkeit einer internationalen Vereinigung der revolutionären Kräfte.
Doch sollten die Revolutionäre nach dem Verrat durch die sozialdemokratische Führung der Partei sofort den Rücken kehren und eine eigene Organisation aufstellen?
Die linke Strömung in Deutschland um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht[xi] erfasste die neue Lage sofort. Sie:
- verteidigte den proletarischen Internationalismus und widersetzte sich dem Burgfrieden, den die Gewerkschaften mit der Bourgeoisie schlossen, indem sie die Arbeiter dazu aufrief, sich in einem unnachgiebigen Klassenkampf zu engagieren;
- organisierte sich separat unter dem Namen Spartakusbund, mit dem Ziel, die Partei zurückzuerobern und die chauvinistische, patriotische Führung hinauszubefördern, um zu verhindern, dass die Partei von den bürgerlichen Kräften erdrosselt wird, und gleichzeitig das Fundament für eine neue, noch zu gründende Partei zu legen;
- stellte einen internationalen Kontakt zu anderen internationalistischen Kräften her.
Die deutschen Revolutionäre begannen ohne Zögern mit dieser Arbeit, warteten nicht weitere Arbeiterreaktionen gegen den Krieg ab. Während der 52 Monate des Krieges befanden sich die meisten ihrer Führer im Gefängnis – von wo aus sie ihre Fraktionsarbeit fortsetzten. Die Spartakisten und andere linke Kräfte fanden sich im Angesicht äußerst schwieriger Umstände wieder. Sie mussten einem immer repressiveren Staatsapparat begegnen, wobei die Parteiführung internationalistische Stimmen so offen wie irgendein Polizeiagent denunzierte. Viele Parteimitglieder, die auf Parteitreffen den Internationalismus verteidigten, wurden denunziert und kurze Zeit darauf von der Polizei festgenommen. Unter den schwierigsten Bedingungen der Illegalität fuhren die Spartakisten damit fort, für die Rückeroberung der Partei von der chauvinistischen Führung zu kämpfen, doch bereiteten sie gleichzeitig die Bedingungen für die Gründung einer neuen Partei vor. Ihre Verteidigung eines revolutionären Programms bedeutete, dass sie sich permanent mit dem zentristischen Verhalten innerhalb der SPD auseinandersetzen mussten. Dieser eiserne Kampf der Spartakisten dagegen, dass die Partei von der Bourgeoisie übernommen wird, sollte später als Bezugspunkt für die Genossen der Italienischen Linken dienen, die sich etliche Jahre lang der Führung der Komintern widersetzten.
Die andere wichtige Kraft, die imstande war, eine wirkliche Arbeit als Fraktion nach 1914 zu leisten, waren die Bolschewiki. Mit den vielen ihrer im ausländischen Exil befindlichen Führer engagierten sie sich in einem unermüdlichen Kampf für die Aufrechterhaltung des proletarischen Internationalismus. Lenin und die anderen Bolschewiki waren die Ersten, die die Zweite Internationale für tot erklärten und für die Sammlung der internationalistischen Kräfte einstanden. Sie übten eine aktive Rolle auf der Zimmerwalder Konferenz von 1915 aus, wo sie gemeinsam mit Militanten insbesondere der holländischen Linken einen linken Flügel bildeten.
Ob im Exil oder innerhalb Russlands, sie handelten als die wichtigste treibende Kraft bei der Errichtung des Widerstandes der Arbeiterklasse gegen den Krieg. Es war ganz offenkundig ihr Verdienst, das internationalistische Banner hochgehalten zu haben, die Perspektive eines internationalen Kampfes vorgestellt zu haben (Verwandelt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg), die es der Arbeiterklasse in Russland erlaubte, sich gegen den Krieg zu erheben und den revolutionären Prozess in Gang zu setzen.
Somit waren die Spartakisten und Bolschewiki als Speerspitze einer größeren internationalistischen, revolutionären Bewegung wäh-rend des Krieges unerlässliche Helfer dabei, den Krieg zu beenden und die Kämpfe in Richtung internationale Ausweitung und Überwindung des Kapitalismus zu drängen.
Sie veranschaulichten deutlich, dass keine Fraktion ihre militante Verantwortung erfüllen kann, wenn sie nicht an zwei Fronten kämpft: in der Arbeiterklasse zu intervenieren und gleichzeitig eine revolutionäre Organisation zu verteidigen und zu errichten. Es wäre undenkbar für sie, sich von eine dieser zwei Fronten zurückzuziehen.
Die Frage der Fraktion in der Kommunistischen Internationale
Im Falle der Sozialdemokratie degenerierte die Partei bis zu dem Punkt, wo sie die Interessen der Klasse in einer Kriegssituation verriet. Wir wollen nun einen Blick auf das zweite große Beispiel einer Degeneration werfen – nämlich jene der bolschewistischen Partei.
Einst die Vorhut der Arbeiterklasse und entscheidende Kraft bei der Ermöglichung der Machtergreifung durch die Arbeiterräte im Oktober 1917, wurde die bolschewistische Partei allmählich durch den russischen Staat absorbiert, sobald die internationale Ausweitung der Revolution zum Stillstand gekommen war. Auch hier haben wir im Gegensatz zum anarchistischen Standpunkt, der behauptet, dass jede Partei zum Verrat verdammt ist, einen objektiven, materiellen Hintergrund, der die bolschewistische Partei vom russischen Staat verschlingen ließ.
Wie wir in unserer Präsentation der Geschichte der linken Fraktionen erklärt haben (The Communist Left and the continuity of Marxism – ein Artikel, der in Proletarian Tribune in Russland veröffentlicht worden war und auf unsere Website unter www.internationalism.org/texts/prol_tribune [9]. htm erhältlich ist), „setzten das Zurückfluten der revolutionären Welle und die Isolation der Russischen Revolution einen Degenerationsprozess sowohl innerhalb der Kommunistischen Internationale als auch innerhalb der Sowjetmacht in Russland in Gang. Die bolschewistische Partei verschmolz immer mehr mit dem bürokratischen Staatsapparat, der in umgekehrter Proportion zu den Organen der Macht und Beteiligung des Proletariats in Russland, den Sowjets, Fabrikkomitees und den Roten Garden, stand. Innerhalb der Internationale förderten die Versuche, in einer Phase abnehmender Massenaktivität die Unterstützung durch die Massen zu gewinnen, die opportunistischen ‚Lösungen‘ – die immer stärkere Betonung der Arbeit in den Parlamenten und Gewerkschaften, der Appell an die ‚Völker des Ostens‘, sich gegen den Imperialismus zu erheben, und vor allem die Politik der Einheitsfront, die die hart erarbeitete Klarheit über die kapitalistische Natur der Sozialpatrioten zunichte machte.“
Diese opportunistische Wende, die von der internationalen Schwächung der Arbeiterklasse und der Isolation der Revolution in Russland ausgelöst wurde, artete allmählich in einem völlig selbständigen Prozess der Degeneration aus, der nach einem halben Dutzend Jahren mit der Verkündung des „Sozialismus in einem Land“ auf den 6. Kongress der KI im August 1928 seinen Höhepunkt fand.
Wie bei der Degeneration der SPD vor dem I. Weltkrieg war dieser Prozess auch durch eine allmähliche Zerstörung des Parteilebens gekennzeichnet. Die Kräfte der Partei, die am engsten mit dem Staatsapparat verknüpft und in ihm integriert waren, zogen hinter den Kulissen einmal mehr die Fäden.
Nach einigen sehr frühen Protesten gegen die Erdrosselung des Parteilebens, in denen die wachsende Bürokratisierung der Partei kritisiert wurden (s. die Artikel in International Review Nr. 8-9 über die „Degeneration of the Russian Revolution and the work of the Communist Left in Russia“), wurde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die oppositionellen Kräfte zum Verstummen zu bringen:
- im Frühjahr 1921 wurden die Fraktionen verbannt;
- lokale Parteisektionen konnten zu Parteibeschlüssen nur ihre Zustimmung oder ihre Ablehnung äußern, Initiativen von örtlichen Sektionen wurden allmählich eliminiert;
- die Delegierten der Parteikonferenzen wurden von den höheren Rängen bestimmt, statt ein Mandat von den lokalen Sektionen zu erhalten und ihnen gegenüber verantwortlich zu sein;
- eine Kontrollkommission wurde eingerichtet, die sich in wachsendem Maße verselbständigte und mit der eisernen Hand des Militarismus über die Partei herrschte;
- immer mehr Macht wurde in den Händen des Organisationsbüros und des Generalsekretärs Stalin konzentriert;
- Oppositionszeitungen wurden an ihrer Veröffentlichung gehindert;
- Oppositionelle wurden zur Zielscheibe bösartiger Verleumdungen.
Wie in der Zweiten Internationale begrenzte sich der Degenerationsprozess nicht auf die bolschewistische Partei; dieser Prozess setzte sich in allen Mitgliedsparteien der Komintern fort. Schritt für Schritt folgten sie dem tragischen Kurs der russischen Partei - ohne notwendigerweise im Staatsapparat der Länder, in denen sie existierten, integriert zu sein, zogen sie es alle vor, die Interessen des internationalen Proletariats jenen des russischen Staats zu opfern.
Einmal mehr reagierte das Proletariat durch die Bildung von „Antikörpern“, durch die Schaffung der Linkskommunisten: „Es ist offenkundig, dass die Notwendigkeit der Fraktion auch ein Ausdruck der Schwäche des Proletariats ist, das entweder zerbrochen ist oder vom Opportunismus gewonnen wurde“ („Vorschlag einer Resolution über die Probleme der linken Fraktion“, Bilan Nr. 17, April 1935, S. 571).
Aber genauso wie der Opportunismus in der Zweiten Internationale eine proletarische Antwort in Form der linken Strömungen provoziert hatte, so widerstanden auch die Strömungen der Linkskommunisten der Flut des Opportunismus in der Dritten Internationale – viele ihrer Sprecher wie Pannekoek und Bordiga[xii] hatten sich bereits als die besten Vertreter des Marxismus in der alten Internationale erwiesen.
Die Gründung der Kommunistischen Linken
Die Kommunistische Linke war im Wesentlichen eine internationale Strömung mit Ablegern in vielen verschiedenen Ländern, von Bulgarien bis Großbritannien und von den USA bis Südafrika. Doch ihre wichtigsten Repräsentanten waren exakt in jenen Ländern anzutreffen, wo die marxistische Tradition am stärksten war: Deutschland, Italien und Russland.
In Deutschland hatte die ausgeprägte marxistische Tradition, gekoppelt mit dem riesigen Einfluss der reellen Bewegung der proletarischen Massen, bereits auf dem Höhepunkt der revolutionären Welle einige der fortgeschrittensten politischen Positionen erzeugt, besonders über die Frage des Parlamentarismus und der Gewerkschaften. Doch der Linkskommunismus als solcher erschien als Antwort auf die ersten Anzeichen des Opportunismus in der deutschen Kommunistischen Partei und der Internationale, und ihre Speerspitze war die KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands), die 1920 gegründet wurde, nachdem die Linksopposition innerhalb der KPD durch ein haltloses Manöver ausgeschlossen worden war. Obwohl von der KI-Führung als „infantil“ und „anarchosyndikalistisch“ kritisiert, basierte die Ablehnung der alten parlamentarischen und gewerkschaftlichen Taktiken durch die KAPD auf einer profunden marxistischen Analyse der Dekadenz des Kapitalismus, die diese Taktiken obsolet machte und neue Formen der Klassenorganisation forderte – die Fabrikkomitees und die Arbeiterräte; dasselbe kann von ihrer deutlichen Ablehnung der alten „Massenpartei“-Konzeption der Sozialdemokratie zugunsten des Begriffs der Partei als ein programmatisch klarer Nukleus – ein Begriff, der direkt vom Bolschewismus geerbt wurde – gesagt werden. Die kompromisslose Verteidigung dieser Errungenschaften durch die KAPD gegen eine Rückkehr zu den alten sozialdemokratischen Taktiken machte sie zum Kern einer internationalen Strömung, die in einer Anzahl von Ländern Ableger hatte, besonders in den Niederlanden, deren revolutionäre Bewegung durch das Werk Pannekoeks und Gorters[xiii] eng mit Deutschland verknüpft war. Dies soll nicht heißen, dass der Linkskommunismus in Deutschland in den frühen 20er Jahren nicht an wesentlichen Schwächen litt.
In Italien andererseits war der Linkskommunismus – der anfangs eine Mehrheitsposition innerhalb der Kommunistischen Partei Italien innehatte – besonders klar über die Organisationsfrage, und dies versetzte ihn in die Lage, nicht nur einen couragierten Kampf gegen den Opportunismus innerhalb der degenerierenden Internationalen zu führen, sondern auch eine kommunistische Fraktion in die Welt zu setzen, die fähig war, den Schiffbruch der revolutionären Bewegung zu überleben und die marxistische Theorie während der Nacht der Konterrevolution weiterzuentwickeln. Doch in den frühen 20er Jahren basierten seine Argumente zugunsten des Abstentionismus vom bürgerlichen Parlamentarismus, gegen die Vereinigung der kommunistischen Vorhut mit den großen zentristischen Parteien mit dem Zweck, Illusionen über den „Masseneinfluss“ zu erzeugen, gegen die Parolen der Einheitsfront und die „Arbeiterregierungen“ auf einem tiefen Verständnis der marxistischen Methode. Dasselbe trifft auf seine Analysen des neuen Phänomens des Faschismus und auf seine konsequente Ablehnung aller antifaschistischen Fronten mit den Parteien der „demokratischen“ Bourgeoisie zu. Der Name Bordigas ist untrennbar mit dieser Phase in der Geschichte des italienischen Linkskommunismus verbunden, aber trotz der ungeheuren Bedeutung des Beitrags dieses Militanten lässt sich die Italienische Linke ebensowenig auf Bordiga reduzieren wie der Bolschewismus auf Lenin: Beide waren organische Produkte der politischen Bewegung des Proletariats.
Die Isolation der Revolution in Russland war, wie wir festgestellt haben, in einer wachsenden Trennung zwischen der Arbeiterklasse und einer wachsenden bürokratischen Staatsmaschinerie gemündet – der tragischste Ausdruck dieser Trennung war die Unterdrückung des Aufstandes der Kronstädter Arbeiter und Matrosen im März 1921 durch die eigene, bolschewistische Partei, die immer mehr mit dem Staat verwickelt war. Doch just, weil er eine durch und durch proletarische Partei war, erzeugte der Bolschewismus eine große Anzahl innerer Reaktionen gegen die eigene Degenerierung. Lenin selbst – der 1917 der eloquenteste Sprecher des linken Flügels der Partei gewesen war – übte einige höchst relevante Kritiken an dem Rutsch der Partei in den Bürokratismus, besonders gegen Ende seines Lebens; und etwa um die gleiche Zeit wurde Trotzki zum Hauptrepräsentanten einer linken Opposition, die danach trachtete, die Normen der proletarischen Demokratie innerhalb der Partei zu restaurieren, und die damit fortfuhr, die schlimmsten Ausdrücke der stalinistischen Konterrevolution zu bekämpfen, besonders die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“. Doch die bedeutendsten linken Strömungen innerhalb der Partei neigten im Wesentlichen, weil der Bolschewismus durch seine Verschmelzung mit dem Staat seine eigene Rolle als proletarische Avantgarde unterminiert hatte, dazu, sich von weniger bekannten Figuren anzuführen zu lassen, die potenziell der Klasse näher standen als dem Staat. Bereits 1919 hatte die Gruppe Demokratischer Zentralismus, angeführt von Ossinski, Smirnow und Sapranow, begonnen, vor der Gefahr des „Austrocknens“ der Sowjets und der wachsenden Abkehr von den Prinzipien der Pariser Kommune zu warnen. Ähnliche Kritik wurde 1921 von der Gruppe Arbeiteropposition, angeführt von Kollontai und Schljapnikow, geübt, obgleich sich letztere als nicht so rigoros und dauerhaft erwies wie die „Dezisten“-Gruppe, die während der 20er Jahre weiter eine wichtige Rolle spielen und eine ähnliche Vorgehensweise entwickeln sollte wie die Italienische Linke. 1923 gab die von Miasnikow angeführte Gruppe Arbeiteropposition ihr Manifest heraus und unternahm eine wichtige Intervention in den Arbeiterstreiks jenes Jahres. Ihre Positionen und Analysen standen jenen der KAPD nahe. All diese Gruppen entstanden nicht nur aus der bolschewistischen Partei; sie fuhren damit fort, innerhalb der Partei für eine Rückkehr zu den ursprünglichen Prinzipien der Revolution zu kämpfen. Doch da die Kräfte der bürgerlichen Konterrevolution innerhalb der Partei an Boden gewonnen hatten, wurde die Fähigkeit der mannigfaltigen Oppositionen, die wahre Natur dieser Konterrevolution zu erblicken und mit jeglicher sentimentalen Loyalität zu ihren organisierten Ausdrücken zu brechen, zur Schlüsselfrage. Dies sollte die grundsätzliche Divergenz zwischen Trotzki und den russischen Linkskommunisten beweisen: Während Ersterer sein Leben lang an dem Begriff der Verteidigung der Sowjetunion und gar an der proletarischen Natur der stalinistischen Parteien gekettet bleiben sollte, sahen die Linkskommunisten, dass der Triumph des Stalinismus – einschließlich seiner „linken“ Wendemanöver, die viele Anhänger Trotzkis verwirrten – den Triumph des Klassenfeindes bedeutete und die Notwendigkeit einer neuen Revolution beinhaltete. Dennoch liefen viele der besten Elemente in der trotzkistischen Opposition – die so genannten „Unversöhnlichen“ – in den späten 20er und frühen 30er Jahren zu den Positionen der Kommunistischen Linken über. Der stalinistische Terror hatte am Ende des Jahrzehnts diese Gruppen nahezu eliminiert.
Im Gegensatz zum opportunistischen Kurs von Trotzki definierte die italienische linke Fraktion um die Zeitschrift Bilan herum die Aufgaben der Stunde korrekt: erstens nicht die elementaren Prinzipien des Internationalismus angesichts des Kurses zum Krieg zu verraten; zweitens eine „Bilanz“ aus dem Scheitern der revolutionären Welle und insbesondere der Russischen Revolution zu ziehen sowie die geeigneten Lehren zu erarbeiten, so dass sie als theoretisches Fundament für die neuen Parteien dienen konnten, die aus dem künftigen Wiedererwachen des Klassenkampfes entstehen würden.
Der Krieg in Spanien 1936–38 war eine besonders harte Prüfung für die damaligen Revolutionäre; viele von ihnen kapitulierten vor den Sirenengesängen des Antifaschismus und vermochten nicht zu sehen, dass der Krieg auf beiden Seiten imperialistisch war, eine Generalprobe für den kommenden Weltkrieg. Bilan jedoch blieb standhaft und rief zum Klassenkampf sowohl gegen die Faschisten als auch gegen die republikanischen Fraktionen der Bourgeoisie auf, genauso wie Lenin beide Lager im Ersten Weltkrieg denunziert hatte. Gleichzeitig waren die theoretischen Beiträge dieser Strömung – die später auch Fraktionen in Belgien, Frankreich und Mexiko umfasste – immens und in der Tat unersetzlich. In ihren Analysen über die Degeneration der Russischen Revolution – die sie niemals zur Infragestellung des proletarischen Charakters von 1917 verleitete -, in ihren Untersuchungen der Probleme einer künftigen Übergangsperiode, in ihrer Arbeit über die Wirtschaftskrise und den Fundamenten der kapitalistischen Dekadenz, in ihrer Ablehnung der Position der Kommunistischen Internationaln für die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe, in ihrer Erarbeitung einer Theorie der Partei und der Fraktion – auf diesen und vielen anderen Gebieten führte die italienische Linksfraktion zweifellos ihre Aufgabe aus, eine programmatische Basis für die proletarischen Organisationen der Zukunft zu legen.
Die Fragmentierung der linkskommunistischen Gruppen in Deutschland wurde durch den Naziterror vervollständigt, auch wenn einige klandestine revolutionäre Aktivitäten auch unter dem Hitlerregime fortgesetzt wurden. Während der 30er Jahre wurde die Vertretung revolutionärer Positionen der deutschen Linken größtenteils von den Niederlanden aus fortgesetzt, besonders durch die Arbeit der Gruppe der Internationalen Kommunisten (GIK), aber auch in Amerika durch eine von Paul Mattick angeführte Gruppe. Wie Bilan blieb die Holländische Linke angesichts all der lokalen imperialistischen Kriege, die den Weg zum globalen Gemetzel ebneten, dem Internationalismus treu und widerstand den Versuchungen einer „Verteidigung der Demokratie“. Sie fuhr damit fort, ihr Verständnis in der Gewerkschaftsfrage, in der Frage neuer Formen von Arbeiterorganisationen in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs, der materiellen Wurzeln der kapitalistischen Krise, der Tendenz zum Staatskapitalismus zu vertiefen. Sie hielt auch an der Wichtigkeit von Interventionen im Klassenkampf fest, besonders gegenüber der Bewegung der Arbeitslosen. Doch die Holländische Linke schlitterte, traumatisiert von der Niederlage der Russischen Revolution, immer mehr in die rätekommunistische Negation von politischen Organisationen – und somit jeglicher klaren Rolle für sich selbst. Gekoppelt daran war eine totale Ablehnung des Bolschewismus und der Russischen Revolution, die als bürgerlich von Anbeginn abgetan wurde. Diese Theoretisierungen waren der Keim für ihr künftiges Ableben. Obwohl der Linkskommunismus in den Niederlanden auch unter der Nazibesetzung fortgesetzt wurde und einer bedeutenden Organisation – den Spartacusbond, der sich anfangs zu den Pro-Partei-Positionen der KAPD zurück bewegte - nach dem Krieg zum Aufstieg verhalf, erschwerten die Zugeständnisse der Holländischen Linken in der Organisationsfrage gegenüber dem Anarchismus es ihr, jegliche Art von organisatorischer Kontinuität in späteren Jahren aufrechtzuerhalten.
Die Italienische Linke dagegen hielt die organisatorische Kontinuität auf ihre Art aufrecht, wobei jedoch die Konterrevolution ihren Tribut forderte. Noch vor dem Krieg fiel die Italienische Linke durch die „Theorie der Kriegswirtschaft“, die den drohenden Weltkrieg leugnete, der Auflösung anheim, doch ihre Arbeit wurde besonders durch das Auftreten der französischen Fraktion mitten im imperialistischen Konflikt fortgesetzt. Gegen Ende des Krieges schuf der Ausbruch von Arbeiterkämpfen in Italien weitere Verwirrung in den Reihen dieser Fraktion, wobei die Mehrheit nach Italien zurückkehrte, um gemeinsam mit Bordiga, der seit den späten 20er Jahren politisch inaktiv gewesen war, die Internationalistische Kommunistische Partei Italiens zu gründen, die trotz ihrer Opposition zum imperialistischen Krieg auf einer unklaren programmatischen Basis und einer falschen Analyse der Periode, die als eine der zunehmenden revolutionären Auseinandersetzungen betrachtet wurde, gebildet wurde.
Diese politische Orientierung stand im Gegensatz zur Mehrheit in der französischen Fraktion, die schneller als andere erfasste, dass die Periode eine Periode der triumphierenden Konterrevolution bleibt und dass folglicherweise die Aufgaben der Fraktion noch nicht abgeschlossen waren. Die Gauche Communiste de France setzte also die Arbeit im Geiste von Bilan fort und konzentrierte ihre Energien, auch wenn sie ihre Verantwortung für die Intervention in den unmittelbaren Kämpfen der Klasse nicht vernachlässigte, auf die Arbeit der politischen und theoretischen Klärung und erzielte dabei eine Reihe wichtiger Fortschritte, insbesondere in der Frage des Staatskapitalismus, der Übergangsperiode, der Gewerkschaften und der Partei. Während sie rigoros an der für die Italienische Linke so typischen marxistischen Methode festhielt, war sie ebenfalls in der Lage, einige der besten Beiträge der Deutsch-Holländischen Linken in ihr allgemeines programmatisches Zeughaus zu integrieren.
Während die deutsche und holländische Linke im Prinzip unfähig war, eine wirkliche Arbeit als Fraktion zu leisten, gelang es den Genossen der Italienischen Linken nicht nur, es zu vermeiden, zu früh aus der Komintern geworfen zu werden, sondern es gelang ihnen auch, unter den sehr schwierigen Bedingungen einer illegalen Arbeit in Italien und gegen die wachsende militaristische Disziplin in der Komintern einen heroischen Kampf gegen den Opportunismus und die Stalinisierung zu führen.
Bis kurz vor Ausbruch des II. Weltkrieges hatte sich Bilan durch ihre Klarheit über die Einschätzung der Klassenkräfte, über den historischen Kurs zum Krieg ausgezeichnet – und die Gruppe war bereit, den Antifaschismus selbst um den Preis einer fürchterlichen Isolation abzulehnen. Ihre Ablehnung einer Unterstützung der bürgerlichen Demokratie war die Vorbedingung für ihr Einstehen für den proletarischen Internationalismus im Krieg in Spanien 1936–38 und während des II. Weltkrieges. Dies stand in starkem Kontrast zu den Trotzkisten, die während der 30er Jahre den Versuch unternahmen, in die sozialdemokratischen Parteien einzutreten, um sie als Mittel zum Kampf gegen den aufkommenden Faschismus zu benutzen, und die zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Krieges in Spanien 1936–38 glaubten, der Augenblick einer neuen revolutionären Welle von Kämpfen sei gekommen. Im Gegensatz zum opportunistischen und immediatistischen Verhalten Trotzkis und seiner Anhänger bot Bilan eine historische und politische Klarheit, die als Bezugspunkt nicht nur für die damaligen Internationalisten, sondern auch für politische
Gruppen diente, die am Ende der Konterrevolution 1968 entstanden.
Fraktionen – eine unverzichtbare Waffe für die Verteidigung der Arbeiterklasse
Nachdem wir die beiden Hauptfälle der Degeneration von proletarischen Parteien und die Reaktion des Proletariats durch die Schaffung von „Antikörpern“ – den Fraktionen – in Erinnerung gerufen haben, wollen wir nun an einige Elemente ihres Kampfes erinnern.
Bilan definierte die Funktion und Bedingungen einer Fraktion wie folgt:
„Wie die Partei wird auch die Fraktion durch ein Moment der Klasse ins Leben gerufen und nicht durch den individuellen Willen. Sie tritt notwendig auf, wenn die Partei bürgerliche Ideologien reflektiert, ohne sie bereits auszudrücken, wenn ihre Stellung im Klassenmechanismus sie schon zu einem Anhängsel des bürgerlichen Herrschaftssystems gemacht hat. Die Fraktion lebt und entwickelt sich entsprechend dem Voranschreiten des Opportunismus und wird zum einzigen historischen Ort, wo das Proletariat sich als Klasse organisieren kann...
Im Gegenteil dazu tritt die Fraktion als historische Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer Klassenperspektive und als eine Tendenz auf, die sich der Erarbeitung jener Ideen widmet, deren Fehlen infolge der Unreife des Proletariats den Triumph des Feindes erst möglich gemacht hat. In der Zweiten Internationale waren die Fraktionen als Reaktion auf die Tendenz des Reformismus, das Proletariat allmählich in den kapitalistischen Staatsapparat einzugliedern, entstanden.
In der Zweiten Internationale wuchs die Fraktion und entwickelte ihre Konturen gegenüber der Entwicklung des Opportunismus und der Erarbeitung neuer programmatischer Gegebenheiten, während der Opportunismus versuchte, sie innerhalb der korrupten Massenparteien gefangenzuhalten, um ihr historisches Werk zu brechen. In der Dritten Internationalenfand das kapitalistische Einkreisungsmanöver rund um Russland statt, und der Zentrismus versuchte, die KPs dahin zu bringen, dem Schutz der Wirtschaftsinteressen des proletarischen Staates entgegenzukommen, indem ihnen die Rolle anvertraut wurde, den Klassenkampf überall zum Entgleisen zu bringen.“
(Bilan, Nr. 17, April 1935).
Die Bildung einer Fraktion muss einer Methode folgen. So reicht es nicht aus, lediglich so laut wie möglich zu verkünden, eine Organisation sei am ‚Degenerieren‘, sobald eine kontroverse Debatte begonnen hat. Das Konzept der Degeneration darf sich niemals in Beleidigungen erschöpfen, sondern ist eine politische Einschätzung, die auf materialistischem Wege bewiesen werden muss.
Wie Bilan unterstrich, wird die Bildung einer Fraktion notwendig, wenn alles getan wurde, um zu verhindern, dass die betreffende Organisation in die Hände des Klassenfeindes fällt. Das Konzept der Degeneration zieht daher einen lang hingezogenen, zähen Kampf in Betracht; es berücksichtigt die Tatsache, dass man für die Zukunft arbeitet und jede überhastete Vorgehensweise ablehnt; es steht daher in völligem Gegensatz zur Ungeduld. Eine solche Einschätzung darf niemals einem „Hochgefühl“ oder einer „schlechten Stimmung“ folgen. Kurz: Die Beschuldigung, dass eine Organisation am Degenerieren ist, kann nicht leichtfertig, sorglos erhoben werden, sondern muss auf einer materialistischen Analyse basieren.
Zum Beispiel bezeichnete die KAPD-Delegation auf dem Moskauer Kongress der Komintern 1921 die bolschewistische Partei und die Komintern als einen degenerierenden Körper, der von der Bourgeoisie vereinnahmt worden sei. Zu jenem Zeitpunkt war diese Diagnose jedoch voreilig. Wie wir in unserer Artikelreihe über die Deutsche Revolution (Internationale Revue, Nr. 18–29) gezeigt haben, machte die KAPD durch die Erstellung solch einer Diagnose einen kapitalen Fehler; mit der Konsequenz, dass sie außerstande gesetzt wurde, sich als Fraktion einem wirklichen Kampf innerhalb der Komintern zu stellen.
Eine Fraktion kann erst nach einer langen Debatte, nach einem intensiven Kampf innerhalb der Organisation gebildet werden, wenn sich die Divergenzen nicht mehr auf ein, zwei Punkte beschränken, sondern eine völlig unterschiedliche Orientierungen beinhalten – wenn eine Seite sich auf die Abschaffung von Klassenpositionen zu bewegt und die andere Seite sich dem widersetzt.
Erst wenn solch ein langer Kampf stattgefunden hat, wenn alle vorherigen Schritte sich als unzureichend erwiesen haben, um die Organisation daran zu hindern, sich in Richtung Degeneration zu bewegen, ist die Fraktion eine unbedingte Notwendigkeit. In solchen Fällen, wo die Organisation gen bürgerliche Positionen rutscht, wäre es sogar unverantwortlich, keine Fraktion zu bilden.
Das Verständnis einer neuen historischen Situation...
Die Fraktion ist also durch ihre Verteidigung des Programms, durch ihre Loyalität gegenüber den Klassenpositionen, die von einem bestimmten Teil der Organisation in Frage gestellt werden, charakterisiert. Im Gegensatz zu den opportunistischen, immediatistischen Versuchungen in der Organisation, das Programm im Namen einiger Zugeständnisse an die bürgerliche Ideologie aufzugeben, unternimmt die Fraktion einen theoretisch-politisch-programmatischen Kampf, der zur Etablierung einer Reihe von Gegenpositionen führt – die Teil eines breiteren theoretischen Rahmens sind.
So beschränkten sich die linken Strömungen, die sich den opportunistischen Neigungen vor dem I. Weltkrieg widersetzt hatten, nie auf eine bloße Verteidigung des existierenden Programms, sondern warfen ein Schlaglicht auf die tieferen historisch-politischen Wurzeln der zur Debatte stehenden Fragen und boten einen theoretisch-programmatischen Rahmen zum Verständnis der neuen Situation an. In diesem Sinn ist eine Fraktion mehr als die verkörperte Loyalität zum alten Programm, sie bietet vor allem einen neuen theoretischen Rahmen zum Verständnis der neuen Bedingungen an, denn der Marxismus ist keineswegs ‚unveränderlich‘, sondern bietet stets eine Analyse an, die imstande ist, neue Elemente einer neuen Situation zu integrieren.
„Dies sollte als Beweis dafür dienen, dass die Fraktion nur unter der Bedingung leben, ihre Kader trainieren und die Endziele des Proletariats wirklich repräsentieren kann, wenn sie als eine höhere Stufe in der marxistischen Lageanalyse, im Verständnis der gesellschaftlichen Kräfte in Bewegung innerhalb des Kapitalismus, der proletarischen Positionen zu den Problemen der Revolution auftritt und nicht als bloßer Organismus, der auf den ersten vier Kongressen der KI fußt – die sowieso noch keine Lösung für Probleme, die noch nicht reif waren, enthalten konnten“ (Bilan, ebenda, S. 577).
Ohne die Kritik am Opportunismus vor dem I. Weltkrieg, ohne die theoretische, analytische Arbeit der Internationalisten während des I. Weltkrieges hätten die Revolutionäre nie die neue Situation begriffen. So waren z.B. Rosa Luxemburgs Junius-Broschüre, Lenins Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus, Pannekoeks Der Imperialismus und die Aufgaben des Proletariats vitale theoretische Beiträge, die in jener Zeit verfasst worden waren.
Und als die Komintern begann, nach 1920 einen opportunistischen Kurs einzuschlagen, indem sie die alten Kampfmethoden propagierte, demonstrierten die linken Fraktionen, dass die neuen Bedingungen des Kapitalismus eine Rückkehr zur Vergangenheit nicht zuließen. Sie waren die Einzigen, die begonnen hatten, die Auswirkungen der neuen Epoche zu begreifen (auch wenn dies fragmentiert, bruchstückhaft und sehr konfus war).
Der Verteidigungsmechanismus, den eine Fraktion widerspiegelt, ist daher vom Bedürfnis bestimmt, die neue historische Lage zu verstehen. Eine Fraktion ist gezwungen, eine neue theoretische Kohärenz zu präsentieren, indem sie die Organisation auf eine höhere Ebene des Verständnisses führt.
„Sie setzt sich selbst als ein fortschrittlicher Organismus durch, dessen Hauptanliegen es ist, die kommunistische Bewegung auf eine höhere Stufe in der Entwicklung ihrer Doktrin zu drängen, indem er seinen eigenen Beitrag zur internationalen Lösung der neuen Probleme liefert, die von der Erfahrung der Russischen Revolution und der Periode des kapitalistischen Niedergangs gestellt werden“ (Bilan, Nr. 41, Mai 1937)
Da der Kampf einer Fraktion sich nie darauf beschränkt, die alternative Ansicht über eine einzelne Frage entgegenzusetzen, sondern einen weitaus größeren Rahmen umfassen muss, kritisierte Bilan Trotzki, der hauptsächlich als eine „Strömung der Opposition“ gegenüber dem Aufstieg des Stalinismus agieren wollte, aus dem Grund, dass er niemals wirklich die Herausforderung erfasste, denen sich die Revolutionäre zu stellen hatten: „Es war Trotzki, der die Möglichkeit unterdrückte, eine vereinte Fraktion in Russland zu bilden, indem er sie von der Weltebene loslöste und die Bildung von Fraktionen in verschiedenen Ländern verhinderte, indem er die Notwendigkeit einer Opposition für die ‚Wiederherstellung‘ der Kommunistischen Parteien proklamierte. Er reduzierte auf diese Weise den riesigen Kampf der marxistischen Kerne gegen den Block der kapitalistischen Kräfte, die den proletarischen Staat verkörperten (Zentrismus), auf den bloßen Schutz ihrer Interessen, auf einen Kampf, der lediglich Druck auf Letztere ausüben sollte, um eine ungleichmäßige Industrialisierung unter dem Banner des ‚Sozialismus in einem Land‘ und ‚Irrtümer‘ der KPs zu vermeiden, die in die Niederlage führen“ (Bilan, Nr. 17, 1935, S. 576).
... das Engagement in einer langen Schlacht
Es ist fast müßig zu sagen, dass die Bereicherung des Marxismus und die Vertiefung der anstehenden Themen nicht in „einer kurzen Auseinandersetzung“ vollbracht werden kann. So, wie der Aufbau der Organisation alles andere als ein hastiger Versuch ist, ein Kartenhaus zu errichten, sondern die entschlossensten Bemühungen erfordert, so muss eine Fraktion bei der Bekämpfung der Gefahren des Immediatismus, der Ungeduld, des Individualismus, etc. jede Übereilung ablehnen.
Die Degeneration ist stets ein langer Prozess. Eine Organisation kollabiert nie aus heiterem Himmel, sie durchläuft einen Todeskampf. Es ist nicht wie beim Boxkampf, der über 15 Runden geht, sondern es ist ein Kampf um Leben und Tod, der erst mit dem Triumph einer der beiden Seiten endet, weil beide Positionen unvereinbar miteinander sind. Eine Seite, der opportunistische, degenerierende Teil, bewegt sich auf bürgerliche Positionen und auf den Verrat zu, während der Gegenpol den Internationalismus verteidigt. Dies ist ein Kampf, in dem sich ein Kräfteverhältnis entwickelt, das im Falle der Degeneration und des Verrats zum Verschwinden des proletarischen Lebens aus der Partei führt.
Im Falle der SPD und anderer degenerierender Parteien der Zweiten Internationale dauerte dieser Prozess, grob gesagt, ein Dutzend Jahre.
Doch selbst nachdem die SPD-Führung im August 1914 den proletarischen Internationalismus verraten hatte, desertierten die Internationalisten nicht, sondern kämpften drei Jahre lang um die Partei, bis jegliches proletarische Leben aus der SPD verschwunden und die Partei für das Proletariat endgültig verloren war.
Im Falle der Komintern zog sich die Degeneration ungefähr ein halbes Dutzend Jahre hin und stieß auf heftigen Widerstand von Innen. Der Prozess in den ihr angeschlossenen Kommunistischen Parteien ging über mehrere Jahre und war von der Fähigkeit der einzelnen Parteien abhängig, sich der Vorherrschaft durch die russische Partei zu widersetzen, was dem Gewicht der Linkskommunisten in ihnen entsprach.
Den italienischen Linkskommunisten, die die konstantesten und standhaftesten Verteidiger der Organisation waren, gelang es, bis 1926 sich zur Wehr zu setzen, ehe sie aus der Komintern ausgeschlossen wurden. Trotzki gar wurde erst 1927 aus dem Parteikomitee ausgeschlossen und 1928 leibhaftig nach Sibirien deportiert.
Im Gegensatz zu jeglicher kleinbürgerlichen Ungeduld und Unterschätzung der Notwendigkeit einer revolutionären Organisation ist die Fraktion stets für einen langfristigen Kampf ausgelegt. In dieser Beziehung bot der Spartakusbund während des I. Weltkrieges einen unersetzlichen Bezugspunkt für die Arbeit der italienischen Fraktion während der 20er Jahre.
Die Geschichte hat gezeigt, dass diejenigen, die den Kampf um die Verteidigung der Organisation zu früh aufgaben, in die Katastrophe steuern.
Zum Beispiel entschieden sich in Deutschland die Hamburger Internationalisten um Borchert und der Zeitschrift Lichtstrahlen sowie Otto Rühle aus Dresden schnell, die SPD aufzugeben: Sie nahmen rätekommunistische Positionen an und lehnten am Ende des Krieges und inmitten der revolutionären Welle von Kämpfen politische Parteien in Bausch und Bogen ab.
Der Fall der KPD und der KAPD zeigt dasselbe. In Schlüsselfragen wie die Frage der parlamentarischen Wahlen und der Arbeit in den Gewerkschaften entzweit, warf die katastrophale KPD-Führung unter P. Levi die Mehrheit der Organisation hinaus, womit sie sie im April 1920 zur Gründung der KAPD zwang. Statt diese fundamentalen Fragen in einer intensiven Debatte in den Reihen der KPD zu klären, wurden die Debatten durch eine monolithische Vorgehensweise abgewürgt. Die KPD zerbrach also bereits nach zehn Monaten ihrer Existenz in zwei Teile!
Die Komintern schloss die KAPD nach einem Ultimatum im Sommer 1921 aus ihren Reihen aus und machte es ihr unmöglich, als Fraktion innerhalb der Komintern zu arbeiten.
Und es war eine wahre Tragödie der Geschichte, dass die KAPD-Strömung, kaum aus der KPD und der Komintern ausgeschlossen, sofort vom Virus der Spaltungen befallen wurde, weil sich die Partei, sobald tiefgehende Divergenzen in ihren Reihen auftraten, vor dem Hintergrund eines abebbenden Klassenkampfes in zwei Teile spaltete: in die Essener und Berliner Tendenz (1922).
Die Verteidigung des Programms kann folglich nicht vom langen und zähen Kampf um die Verteidigung der Organisation getrennt werden.
Eine neue Organisation zu errichten, bevor der Kampf um die Verteidigung der alten Organisation in einen Sieg oder eine Niederlage geendet hat, bedeutet zu desertieren oder in ein Fiasko zu schlittern.
Den Kampf als Fraktion aufzugeben, indem übereilt eine neue Organisation gebildet wird, birgt das Risiko in sich, dass diese neue Organisation von Natur aus zur Selbstzerstörung veranlagt ist, mit der Gefahr, vom Opportunismus und Immediatismus erdrosselt zu werden. Das Abenteuer der KAPD, 1921 eine Kommunistische Arbeiterinternationale in Deutschland zu errichten, endete in einem wahren Fiasko.
Und als die Italienische Linke, die in der Lage gewesen war, die Tradition der Fraktionsarbeit gegen das Abgleiten einiger ihrer Mitglieder in den Opportunismus und Immediatismus im Zusammenhang mit dem Krieg in Spanien 1936–38 und im Zusammenhang mit den Theorien Vercesis zu verteidigen, 1943 für die überstürzte und prinzipienlose Gründung der PCInt stimmte, schlug auch sie einen gefährlichen Weg ein – mit dem Keim des Opportunismus im eigenen Körper.
Schließlich ist, wie wir gesehen haben, der Prozess der Degeneration niemals auf ein Land beschränkt, sondern ein internationaler Prozess. Wie die Geschichte gezeigt hat, sind verschiedene Stimmen laut geworden, die zwar ein heterogenes Bild ergeben, aber alle sich gegen den opportunistischen und degenerierenden Trend äußerten.
Gleichzeitig muss der Kampf einer Fraktion ebenfalls international sein und kann sich nicht auf die Grenzen eines Landes beschränken, wie das Beispiel der Zweiten und Dritten Internationale zeigt.
Leider waren die linken Fraktionen genauso wie die linken Strömungen innerhalb der Zweiten Internationale, denen es nicht gelungen war, zentralisiert in einer Fraktion zu arbeiten, ebenfalls nicht in der Lage, auf international zentralisierte Weise zu wirken, nachdem sie aus der Komintern ausgeschlossen worden waren.
Die Bildung einer Fraktion erfordert Klarheit und Rigorosität. Dies trifft nicht nur auf programmatischer Ebene zu, wie wir gesehen haben, sondern auch auf ihre organisatorischen Methoden, die ihre proletarische Natur genauso wie ihre programmatischen Positionen ausdrücken.
Während es in bürgerlichen Organisationen übliche Praxis ist, Geheimtreffen abzuhalten, um Intrigen zu spinnen und Komplotte auszuhecken, ist es elementares Prinzip einer proletarischen Organisation, Geheimtreffen zu ächten. Genossen einer Minderheit oder einer Fraktion müssen sich offen treffen, um es allen Genossen der Organisation zu ermöglichen, ihre Treffen zu verfolgen.
Sich jeglicher geheimer und paralleler Organisationen zu widersetzen war Inhalt einer wichtigen Auseinandersetzung in der Ersten Internationale, die die in ihren eigenen Reihen wirkende geheime Allianz Bakunins aufgedeckt hat.
Es ist kein Zufall, dass Bordiga darauf bestand: „...doch ich muss ganz offen sagen, dass diese gesunde, nützliche und notwendige Reaktion nicht im Gewande eines Manövers oder einer Intrige, in Gestalt von Gerüchten, die sich hinter den Kulissen verbreiten, auftreten kann und darf“ (Bordiga auf der 6. Vollversammlung der KI, Februar-März 1926).
Wir werden auf diese Frage im zweiten Teil dieses Artikels näher eingehen, wenn wir die Notwendigkeit betrachten, die Fraktion vor den Angriffen einer degenerierenden Führung zu schützen, die im Fall der SPD bereit gewesen war, Liebknecht in den Schützengraben und damit in den Tod zu schicken und jegliche internationalistische Stimme innerhalb der eigenen Reihen zu denunzieren, oder die, wie im Fall der stalinistischen bolschewistischen Partei, Parteimitglieder durch Repressionsmaßnahmen zum Schweigen gebracht hat.
D.A.
[i] L´Etincelle: Zeitung die von der Gauche Communiste de France, der politischen Vorgängerin der IKS, Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlicht wurde. (s. unser Buch The Italian communist Left und die Broschüre La Gauche Communiste de France)
[ii] Rosa Luxembrug (1870–1919): Eine der bekanntesten Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung. In Polen geboren, arbeitete sie für die Sozialdemokratische Partei in Deutschland (und war auch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Polens), wurde später als eine wichtige Theoretikerin in der SPD anerkannt, bevor sie eine führende Figur des linken Flügels in der SPD wurde. Während des Ersten Weltkrieges wurde sie wegen ihrer internationalistischen Aktivitäten inhaftiert. Sie wurde befreit im November 1918 durch die Deutsch Revolution. Sie spielte eine aktive Rolle bei der Bildung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und entwarf ihr Programm Ende 1918. Zwei Wochen später wurde sie ermordet durch Freikorps Truppen im Solde der Regierung, die von ihren vorherigen “Genossen” der SPD geführt wurde, die jetzt die kapitalistische Ordnung verteidigte.
[iii] Eduard Bernstein (1850–1932): Ein enger Mitarbeiter von Engels bis zu dessen Tod 1895. 1896 begann er mit der Veröffentlichung einer Reihe von Artikeln, in denen er sich für eine “Revision” des Marxismus einsetzte. Dies machte ihn zum Haupttheoretiker der opportunistischen Strömung in der SPD.
[iv] Leo Jogiches (1867–1919): Einer der wichtigsten Führer der Sozialdemokratischen Partei Polens und Lettlands (SDKPiL) und während 15 Jahren Rosa Luxemburgs Partner. Er beteiligte sich an der Gründung der KPD und wurde in ihre Führung gewählt. Fünf Tage später wurde er inhaftiert und im März 1919 in seiner Gefängniszelle ermordet.
[v] August Bebel (1840–1913): Eines der Gründungsmitglieder und führende Persönlichkeit der SPD und der Zweiten Internationalen bis zu seinem Tod.
[vi] Anton Pannekoek (1873–1969): Einer der Haupttheoretiker des linken Flügels der Sozialdemokratischen Partei Hollands, und gleichzeitig Militanter in der SPD vor dem Ersten Weltkrieg. Er beteiligte sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Hollands und blieb Führer ihres linken Flügels, welcher später zur “Rätekommunistischen” Strömung wurde.
[vii] Clara Zetkin (1873–1960): Mitglied des linken Flügels in der SPD an der Seite von Rosa Luxemburg. Sie war Spartakistin während des Kriegs und ein Gründungsmitglied der KPD.
[viii] Franz Mehring (1846–1919): Ein Führer und Theoretiker des linken Flügels der SPD. Spartakist während den ersten Weltkriegs und eines der Gründungmitglieder der KPD mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht u.a.
[ix] Julian Marchlewski (1866–1925): Mit Leo Jogiches und Rosa Luxemburg einer der Führer der SDKPiL. Als Militanter in Deutschland nahm er am Kampf gegen den Krieg und an den ersten Schritten der Kommunistischen Internationalen teil.
[x] „Der Kampf gegen das Sektierertum stellte sich in der SDP von Anfang an. Im Mai 1909 erklärte Mannoury (ein bekannter Mathematiker und Parteiführer), dass die SDP die einzige sozialistische Partei sei, da die SDAP eine bürgerliche Partei geworden sei. Gorter, der vorher aufs heftigste gegen Troelstra gekämpft hatte, stellte sich energisch gegen diese Auffassung. Er war zuerst in der Minderheit und zeigte auf, dass zwar der Revisionismus ins bürgerliche Lager führt, dass aber die SDAP zunächst und vor allem eine opportunistische Partei innerhalb des proletarischen Lagers war. Diese Position hatte direkte Auswirkungen auf der Ebene der Propaganda und der Agitation in der Klasse. So war es immer noch möglich, ohne das geringste theoretische Zugeständnis zusammen mit der SDAP zu kämpfen, wenn sie einen Klassenstandpunkt vertrat.“ (The Dutch and German Communist Left, S. 46)
[xi] Karl Liebknecht (1871–1919). Mitglied der SPD-Parlamentsfraktion, und einer der Abgeordneten, welche 1914 gegen die Kriegskredite stimmten. Er war die bekannteste Persönlichkeit des Spartakusbundes und ein Gründungsmitglied der KPD. Er wurde zur gleichen Zeit wie Rosa Luxemburg von den Freikorps im solde der SPD-Führung ermordet.
[xii] Amadeo Bordiga (1889–1970): 1910 in die Sozialistische Partei Italiens (PSI) eingetreten, gehörte er zu ihrem äusserst linken Flügel. Er war ein entschlosserner Kämpfer gegen den Krieg und den Opportunismus und vertrat 1917 anti-parlamentarische Positionen, womit er sich an der Bildung der „unnachgiebigen sozialistischen Fraktion” innerhalb der PSI beteiligte. Er wurde nach der Abspaltung 1921 von der PSI zum Führer der neuen italienischen Sektion der Kommunistischen Internationale gewählt. 1930 wurde er aus der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) ausgeschlossen und hielt sich bis 1949 von organisatorischen Tätigkeiten fern, als er in die Internationalistische Kommunistische Partei eintrat. Nach der Spaltung von 1952 nahm er an der Bildung der Internationalen Kommunistischen Partei (PCInt) teil, und blieb deren wichtigster Theoretiker bis zu seinem Tod.
[xiii] Herman Gorter (1864–1927): Mit Pannekoek einer der wichtigsten Theoretiker der Holländischen Linken. Er war Gründer der Zeitung De Tribune und eines der Gründungsmitglieder der Holländischen SDP. Er verteidigte die Positionen der Kommunistischen Linken in der Frage derr Gewerkschaften und der Beteiligung an den Parlamenten in seinem “Offenen Brief an den Genosse Lenin”.
Die militärischen Operationen in Afghanistan waren noch nicht beendet, als eine weiteres Gemetzel im Nahen Osten ausbrach. Und während der Schlächtereien im Westjordanland und in Jerusalem wird schon eine neue Intervention in den Irak vorbereitet. Die kapitalistische Welt stürzt buchstäblich ins Chaos und in die Barbarei des Krieges. Jedes neue Blutbad zeugt vom mörderischen Irrsinn dieses Systems.
Der Nahe Osten wird ein weiteres Mal in den Krieg gestürzt. Der israelisch-palästinensische Konflikt, dessen Wurzeln auf die 1916 erfolgte imperialistische Aufteilung dieser Region durch Großbritannien und Frankreich zurückreichen, ist bereits durch vier offiziell „erklärte“ Kriege gekennzeichnet, nämlich diejenigen von 1956, 1967, 1973 und 1982. Doch seit dem Beginn der zweiten Intifada im September 2000 hat dieser Konflikt eine bisher nie erreichte Dimension der Gewalt und der blinden Massaker angenommen. Unter diesem Druck haben sich die mühsam erreichten Vereinbarungen von Oslo und die jahrelangen Verhandlungen um einen Friedensprozess in Luft aufgelöst. Dieser Konflikt reiht sich in die endlose irrsinnige Kriegsspirale ein, welche durch eine Ausbreitung des Chaos und der Barbarei gekennzeichnet ist. Der Krieg ist nicht mehr einfach Produkt des Kampfes zweier imperialistischer Rivalen, sondern Ausdruck einer generellen Entgleisung und des dominierenden Chaos in den internationalen Beziehungen.
Seit dem 11. September gibt es eine enorme Zuspitzung, welche die letzten Stricke in der Politik reißen ließ. Jeder hat begonnen, in derselben zerstörerischen Logik zu handeln wie die Al-Kaida bei den Attentaten auf die Twin-Towers, einer Logik, nach welcher der Mörder gleichzeitig auch Selbstmörder ist. Einerseits gibt es ein Häufung von Selbstmordattentaten durch Kamikaze-Fanatiker, oft junge Leute von 18 oder 20 Jahren, bei denen das einzige Ziel darin besteht, möglichst viele Leute mit sich in den Tod zu reißen. Diese terroristischen Taten sind von den verschiedenen Teilen der nationalistischen Bourgeoisie ferngesteuert, der Hamas, den Al-Aksa-Brigaden, der Hizbollah oder auch direkt durch den israelischen Geheimdienst Mossad manipuliert. Gleichzeitig gehen die Staaten auf ähnliche Weise vor, um ihre eigenen imperialistischen Interessen zu verteidigen, und stürzen sich in blinde kriegerische Abenteuer ohne Ende, die nur Tod und Verwüstung säen. Israel stützt sein aggressives und arrogantes Kriegsgehabe auf die USA ab. So braucht Sharon dieselben Argumente wie Bush um seine kriegerische Flucht nach vorne und den „Kreuzzug gegen den Terrorismus“ zu legitimieren. Dies zeigt sich in der Besetzung und Zerstörung von Städten im Westjordanland mit Panzern, in den Rundumschlägen der israelischen Armee, welche auf alles schießt, was sich bewegt, Ambulanzfahrzeuge unter Beschuss nimmt, Flüchtlingslager bombardiert, ein Haus nach dem anderen durchkämmt, Quartiere vermint, die lebenswichtige Infrastruktur zerstört und die Bevölkerung aushungert und terrorisiert.
Alle Staaten, und vor allem die großen Rivalen der USA, versuchen die Situation möglichst zu ihren Gunsten zu nutzen oder die Pläne der imperialistischen Gegenspieler zu durchkreuzen und zu sabotieren. Die angeblich entrüsteten Reaktionen, die „pazifistischen“ Maskeraden und Vermittlerspielchen vor allem der europäischen Länder schütten nur noch mehr Öl ins Feuer.
Dies trifft vor allem auf diejenigen Teile der herrschenden Klasse zu, welche die Kriegs- und Rüstungsspirale der Politik der kapitalistischen „Falkenfraktion“ von Sharon, Bush und Konsorten in die Schuhe schieben, denen das „humanitäre Völkerrecht“ entgegenzustellen sei. Die weltweit groß eingefädelten Kundgebungen für oder gegen die Politik Sharons oder Bushs, welche Absichten auch immer dahinter stehen mögen, führen immer nur dazu, die Bevölkerung für das eine oder andere Lager zu mobilisieren, die Spannungen zu verschärfen und ein Klima des Hasses zwischen den verschiedenen Interessensgemeinschaften aufrecht zu erhalten.
Die herrschende Klasse will glaubhaft machen, die Verantwortung liege bei diesem oder jenem Staatschef, einer Nation, einem bestimmten Lager oder einer Bevölkerung. Jede nationale herrschenden Klasse behauptet mit größter Heuchelei, sie stehe „im Dienste des Friedens“ und „verteidige die Demokratie und die Zivilisation“. Dies nur, um die eigenen kriminellen Unterfangen zu vertuschen und sich reinzuwaschen.
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erlauben sie sich zu richten und Einzelne aus ihren Reihen vor der Geschichte als „Kriegsverbrecher“ zu verurteilen. Schon die Nürnberger Prozesse, welche die Sieger zwischen 1945 und 1949, nach der zweiten imperialistischen Weltschlächterei, gegen die Naziführer inszenierten, dienten dazu, die monströsen Verbrechen der großen Demokratien in Dresden, Hamburg, Hiroshima und Nagasaki zu rechtfertigen. Um die Bombardierungen in Serbien und dem Kosovo zu legitimieren sowie die direkte Komplizenschaft der Großmächte an den Gräueltaten des Krieges in Ex-Jugoslawien zu vertuschen, wird heute Milosevic vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt.
In gleicher Weise versucht die „internationale Gemeinschaft“ den Krieg in Afghanistan als Mission darzustellen, mit der das Land vom Joch der Taliban befreit werde: angebliche Befreiung der Frauen, Wiederherstellung der Handelsfreiheit und der Freizeitvergnügen (Fernsehen, Radio, Sport, ...). Diese Argumente sich besondern lächerlich, wenn sich gleichzeitig die Konflikte zwischen den zahlreichen Fraktionen und Cliquen zuspitzen, welche seit dem Sturz der Taliban die Zügel des Landes in die Hände genommen haben.
Die Behauptungen der Bourgeoisie, im Dienste des Friedens zu stehen, sind nichts als Lügen.
Wie auch immer die Bourgeoisie handelt, sie verschlimmert nur das weltweite Chaos und die kriegerische Barbarei. Dies ist eines der bezeichnendsten Resultate der historischen Niederlage des Kapitalismus, seines Verfaulens auf der Stelle und der drohenden Zerstörung, die der Menschheit dadurch auferlegt wird. Der Kapitalismus als Ganzes ist dafür verantwortlich, dass der Krieg Alltag geworden ist.
Die einzig Kraft, welche der Menschheit eine Zukunft bieten kann, ist die Arbeiterklasse. Trotz aller Hindernisse, die ihr heute im Wege liegen, ist sie die einzige Klasse, die dem Chaos und der kapitalistischen Barbarei ein Ende bereiten und ein neues System im Dienste der Menschheit errichten kann.
Der Kapitalismus versucht seine krassesten Widersprüche und die Auswirkungen der ökonomischen Krise auf die Peripherie abzuschieben. Das Beispiel von Argentinien zeigt, wie umfangreich die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse sind, ihr Bewusstsein als Klasse zu finden und sich nicht in interklassistischen Sackgassen zu verlieren. Auch ist die Arbeiterklasse heute auf einer breiten Ebene mit der Falle des Pazifismus konfrontiert, welcher dieselben interklassistischen Illusionen verstreut, vornehmlich im Gewand der „Antiglobalisierer“ auftritt und nichts anderes als eine Mobilisierung hinter die nationalen Interessen der Bourgeoisie darstellt. Das Proletariat steht angesichts der Angriffe der herrschenden Klasse vor der wichtigen Aufgabe, in seinen Kämpfen ein Bewusstsein über die historischen Ereignisse und die für die Menschheit tödliche Gefahr des Chaos und der kriegerischen Barbarei zu entwickeln. Dies wird seine Entschlossenheit vorwärts zu schreiten und seine Klassenkämpfe zu vereinigen, stärken: „Das kommende Jahrhundert wird entscheidend sein für die Geschichte der Menschheit. Wenn der Kapitalismus seine Herrschaft über den Planeten weiterführen kann, wird die Gesellschaft noch vor dem Jahr 2100 in der totalen Barbarei versinken. Eine Barbarei, neben der diejenige des 20. Jahrhunderts nur wie ein kleiner Kopfschmerz erscheint, eine Barbarei die uns ins Steinzeitalter zurückwirft oder gar zerstört. Wenn es für die Menschheit eine Zukunft gibt, so liegt sie alleine in den Händen des Weltproletariates. Nur die Revolution kann die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise aufheben, welche aufgrund ihrer historischen Krise verantwortlich ist für die gegenwärtige Barbarei.“[i] [11] GF 7.4.02
[i] [12] aus International Review Nr. 104, engl./franz./span. Ausgabe, „Der Beginn des 21. Jahrhunderts... Weshalb hat das Proletariat den Kapitalismus noch nicht überwunden?“
1) In beiden Fällen seien die überrumpelten USA Opfer eines hinterhältigen Überraschungsangriffs gewesen. Im ersten Fall täuschte der japanische Imperialismus heimtückischerweise Verhandlungen mit Washington zur Vermeidung eines Krieges vor, um ohne jegliche Vorwarnung einen Angriff auszuhecken und zu verüben. Im aktuellen Fall seien die USA das Opfer fanatischer, islamistischer Fundamentalisten, die von der Offenheit und Freiheit der amerikanischen Gesellschaft profitierten, um eine Gräueltat von bisher nie gekannten Ausmaßes zu begehen, und deren Schlechtigkeit sie außerhalb der Grenzen einer zivilisierten Gesellschaft stelle.
2) In beiden Fällen waren die von dem Überraschungsangriff verursachten Verluste groß und provozierten Ausschreitungen in der Bevölkerung. Pearl Harbor erforderte 2.043 Todesopfer, zumeist amerikanisches Militärpersonal. In den Twin Towers war der Blutzoll noch höher: nahezu 3.000 unschuldige Zivilisten verloren ihr Leben.
3) In beiden Fällen schlugen die Angriffe auf ihre Täter zurück. Weit entfernt davon, die amerikanische Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen oder sie in den Defätismus und die passive Unterwerfung zu treiben, versetzten Pearl Harbor und die Twin Towers die Bevölkerung, einschließlich des Proletariats, in den größten nationalen Taumel und erlaubten somit die Mobilisierung der Bevölkerung hinter dem Staat und für einen sich lang hinziehenden imperialistischen Krieg.
4) Letztendlich behalte das Gute des demokratischen, amerikanischen Way of Life und seine Militärmacht die Oberhand über das Böse.
Wie alle ideologischen Mythen der Bourgeoisie ist dieses Märchen der beiden, 60 Jahre auseinander liegenden Tragödien, welche Teilwahrheiten auch immer ihm oberflächliche Glaubwürdigkeit verleihen, mit Halbwahrheiten, Lügen und zweckdienlichen Verzerrungen gespickt. Aber dies ist keine Überraschung. Die Politik der bürgerlichen Klasse fußt auf Lügen, Täuschung, Manipulationen und Manövern. Dies trifft besonders zu, wenn es um die schwierige Aufgabe geht, die Gesellschaft für den totalen Krieg moderner Zeiten zu mobilisieren. Die wesentlichen Elemente der ideologischen Kampagne der Bourgeoisie stehen in völligem Gegensatz sowohl zur historischen als auch zur aktuellen Wirklichkeit. Es gibt offenkundige Anzeichen dafür, dass die Bourgeoisie in keinen der beiden Fälle überrascht worden war, dass sie die massiven Todesraten in beiden Fällen für den Zweck politischer Ziele, für die Verwirklichung ihrer imperialistischen Kriegsziele und anderer weitreichender politischer Ziele, willkommen geheißen hat.
Der imperialistische Krieg in der kapitalistischen Dekadenz zeichnet sich durch völlig andere Züge aus. Während Nationalkriege in der Aufstiegsperiode die Basis für ein qualitatives Voranschreiten bei der Entwicklung der Produktivkräfte schufen, hat in der Dekadenz das kapitalistische System den Zenit seiner historischen Entwicklung längst überschritten, womit dieser fortschrittliche Gesichtspunkt verschwunden ist. Der Kapitalismus hat die Ausweitung des Weltmarkts beendet, d.h. sämtliche außerkapitalistischen Märkte, die die Ausdehnung des globalen Kapitalismus gefördert hatten, sind in das kapitalistische System integriert worden. Für die vielen nationalen Kapitalien gibt es nur eine Möglichkeit der weiteren Ausdehnung, und die geht auf Kosten ihrer Rivalen – indem sie von Territorien oder Märkten Besitz ergreifen, die von ihren Gegnern kontrolliert werden. Die Verstärkung der imperialistischen Rivalitäten führt zur Entwicklung von imperialistischen Bündnissen, die die Bühne des allgemeinen imperialistischen Krieges bereiten. Weit entfernt davon, sich auf eine Auseinandersetzung zwischen Berufsarmeen zu beschränken, erfordert der Krieg in der Dekadenz die totale Mobilisierung der Gesellschaft, was umgekehrt eine neue Form des Staates zum Aufstieg verhilft, den Staatskapitalismus. Dessen Funktion ist es, die totale Kontrolle über die Gesellschaft bis in ihren letzten Winkel auszuüben, um die Klassenkonfrontationen zu zügeln, die die Gesellschaft zum Zerbersten zu bringen drohen, und um gleichzeitig die Mobilisierung der Gesellschaft für einen modernen, totalen Krieg zu koordinieren.
Gleichgültig, wie erfolgreich sie dabei war, die Bevölkerung ideologisch auf den Krieg vorzubereiten – die Bourgeoisie der Dekadenz bemäntelt ihre imperialistischen Kriege stets mit dem Mythos des Opferseins und der Selbstverteidigung gegen Aggression und Tyrannei. Die Realität der modernen Kriegführung, mit ihrer massiven Zerstörung und ihren enormen Opferzahlen, mit all den Facetten der Barbarei, die auf die Menschheit losgelassen wird – all dies ist so entsetzlich, so grauenhaft, dass selbst ein ideologisch geschlagenes Proletariat nicht leichtherzig in das Gemetzel zieht. Die Bourgeoisie ist daher wesentlich auf die Manipulation der Realität angewiesen, um die Illusion zu erzeugen, dass sie Opfer einer Aggression sei, das keine andere Wahl habe, als zu seiner Selbstverteidigung zurückzuschlagen. So wird zur Rechtfertigung des Konflikts die Notwendigkeit, das Vater- oder Mutterland gegen etwaige Aggressoren oder ausländische Tyrannen zu verteidigen, herangezogen, und nicht etwa die wahren imperialistischen Motive, die den Kapitalismus zum Krieg bringen. Denn der Versuch, die Bevölkerung hinter der Parole „Auf zur Unterdrückung der Welt unter unserer Fuchtel und unter allen Umständen“ zu mobilisieren, ist zum Scheitern verurteilt. Die staatliche Kontrolle über die Massenmedien erleichtert mit all ihren Abarten der Propaganda und Lügen die Gehirnwäsche der Bevölkerung.
Die amerikanische Bourgeoisie ist in ihrer ganzen Geschichte, auch vor dem Beginn der kapitalistischen Dekadenz im frühen 20.Jahrhundert, stets ein Experte im Opfersein gewesen. So lautete zum Beispiel im Krieg gegen Mexiko 1845-48 die Parole „Erinnert euch an Alamo“. Dieser Schlachtruf verewigte das ‚Massaker‘ an 136 amerikanischen Rebellen 1836 in San Antonio, Texas, damals Teil Mexikos, durch die von General Santa Ana geführten Streitkräfte. Natürlich hinderte die Tatsache, dass die „blutrünstigen“ Mexikaner wiederholt ihr Entgegenkommen bei der Aufgabe anboten und Frauen und Kindern vor der letzten Schlacht die Evakuierung aus Fort Alamo gestatteten, die herrschende Klasse der USA nicht daran, die Verteidiger Alamos in den Heiligenschein des Märtyrertums zu rücken. Denn der Zwischenfall war gut geeignet, Unterstützung für einen Krieg zu mobilisieren, der in der US-amerikanischen Annexion eines Teils dessen, was heute den Südwesten der USA bildet, seinen Höhepunkt fand.
Ähnlich diente auch die mysteriöse Explosion an Bord des US-Schlachtschiffes Maine 1898 in Havanna als Voraussetzung für den spanisch-amerikanischen Krieg 1989 und rief die Parole „Erinnert euch an Maine“ ins Leben. In jüngerer Zeit (1964) wurde der angebliche Angriff auf zwei US-Kanonenboote außerhalb vietnamesischer Küstengewässer als Grundlage für die Golf von Tonking-Resolution benutzt, die vom amerikanischen Kongress im Sommer 1964 verabschiedet wurde und die, wenngleich sie keine formelle Kriegserklärung war, den legalen Rahmen für die amerikanische Intervention in Vietnam schuf. Ungeachtet der Tatsache, dass die Johnson-Administration binnen Stunden erfuhr, dass die berichteten „Angriffe“ auf die Maddox und die Turner Joy sich nie ereignet hatten, sondern die Folge eines Irrtums nervöser junger Radaroffiziere gewesen waren, wurde das Kriegsermächtigungsverfahren durch den Kongress gepeitscht, um einen legalen Anlass für einen Krieg zu schaffen, der sich bis zum Fall Saigons 1975 an die stalinistischen Streitkräfte hinziehen sollte.
Es ist offensichtlich, dass die Bourgeoisie den Angriff auf Pearl Harbor benutzte, um eine widerstrebende Bevölkerung hinter die Kriegsbemühungen zu sammeln, genauso wie die Bourgeoisie heute die Gräueltat des 11.Septembers dazu benutzt, Unterstützung für ein neues kriegerisches Unternehmen zu mobilisieren. Doch die Frage bleibt, ob die USA in jeder Beziehung „überrascht“ worden ist und inwieweit der Machiavellismus der US-Bourgeoisie, ob durch Provozierung oder durch ihre eigene Erlaubnis, in diese Angriffe verwickelt war, um einen politischen Nutzen aus dem daraus folgenden öffentlichen Zorn zu ziehen.
Das Auftreten des Staatskapitalismus in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz - einer Staatsform, die die Macht in den Händen der Exekutive, besonders in jenen der permanenten Bürokratie, konzentriert und die dem Staat eine wachsende totalitäre Kontrolle aller Aspekte des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ermöglicht - hat der Bourgeoisie noch wirkungsvollere Mechanismen zur Durchführung ihrer machiavellistischen Schemata verschafft. „Bei der Organisierung ihres eigenen Überlebens, ihrer Selbstverteidigung hat die Bourgeoisie eine immense Fähigkeit an den Tag gelegt, Techniken zur ökonomischen und sozialen Kontrolle zu entwickeln, die weit außerhalb der Vorstellungskraft der Herrscher im 19.Jahrhundert lag. In diesem Sinne ist die Bourgeoisie im Umgang mit der historischen Krise ihres sozio-ökonomischen Systems ‚intelligent‘ geworden.“ („Bemerkungen über das Bewusstsein der dekadenten Bourgeoisie“, International Review, Nr.31, S.14, IV.Quartal 1982) Die Entwicklung der Massenmedien, die vollständig der staatlichen Kontrolle unterworfen sind, ob in Form formaler, juristischer Mittel oder etwas flexiblerer, informeller Methoden, ist ein zentrales Element im machiavellistischen Ränkeschmieden der Bourgeoisie. „Die Propaganda – also die Lüge – ist eine wichtige Waffe der Bourgeoisie. Und die Bourgeoisie ist sehr gewitzt dabei, Ereignisse zu provozieren, die diese Propaganda füttern, wenn es notwendig sein sollte.“ („Warum die Bourgeoisie machiavellistisch ist“, S.11) Die amerikanische Geschichte ist vollgestopft mit einer Unzahl von Beispielen, die von verhältnismäßig prosaischen, alltäglichen Benebelungen bis hin zu historisch bedeutsamerer Manipulationen reichen. Als ein Beispiel für erstgenannten Typus mag ein Vorfall aus dem Jahre 1955 gelten, als der Pressesprecher des Präsidenten, James Haggerty, ein Scheintreffen inszenierte, um die Arbeitsunfähigkeit von Präsident Eisenhower zu verbergen, der nach einer Herzattacke in einem Krankenhaus in Denver, Colorado, lag. Haggerty traf Vorkehrungen für eine 2000 Meilen lange Reise des gesamten Kabinetts von Washington nach Denver, um die Illusion zu nähren, dass es dem Präsidenten gut genug ginge, um eine Kabinettssitzung zu leiten, obwohl solch ein Treffen nie stattfand. Ein Beispiel für letztgenannten Typus ist die Manipulierung Saddam Husseins im Jahre 1990, als die amerikanische Botschafterin im Irak Saddam mitteilte, dass die USA nicht in den Grenzstreitigkeiten zwischen dem Irak und Kuwait eingreifen würden, und sie ihm weismachte, dass er vom US-Imperialismus grünes Licht für eine Invasion Kuwaits erhalten habe. Stattdessen wurde die Invasion von den USA als Vorwand für den Krieg von 1991 am Persischen Golf benutzt, als ein Mittel, um ihren Status als einzig verbliebene Supermacht nach dem stalinistischen Zusammenbruch und der darauffolgenden Auflösung des westlichen Blocks geltend zu machen.
Dies soll nicht heißen, dass alle Ereignisse in der heutigen Gesellschaft notwendigerweise von den geheimen Entscheidungen eines kleinen Kreises kapitalistischer Führer im Voraus bestimmt werden. Natürlich sind die auftretenden fraktionellen Streitigkeiten innerhalb der führenden Kreise der kapitalistischen Staaten und die Folgen solcher Streitigkeiten keine a priori gefassten Schlussfolgerungen. Genauso wenig sind die Folgen der Konfrontationen mit dem Proletariat in der Hitze des Klassenkampfes stets unter der Kontrolle der Bourgeoisie. Und trotz all der Pläne und Manipulationen können sich auch historische Unfälle ereignen. Doch es geht darum zu begreifen, dass, selbst wenn die Bourgeoisie als ausbeutende Klasse unfähig ist zu einem kompletten, kohärenten Bewusstsein und zu einem akkuraten Verständnis der Funktionsweise ihres Systems und der historischen Sackgasse, die sie der Menschheit anbietet, sie sich dennoch über die sich vertiefende gesellschaftliche und ökonomische Krise im Klaren ist. „Für die Spitzen der Staatsmaschinerie, die das Zepter in der Hand halten, ist es durchaus möglich, zu einer Art Gesamtbild der Lage und der Optionen zu gelangen, die ihnen realistischerweise offenstehen, um ihr zu begegnen.“ („Bemerkungen über das Bewusstsein...“, S.14) Selbst mit einem lückenhaften Bewusstsein ist die Bourgeoisie mehr als fähig, Strategien und Taktiken zu entwickeln sowie die totalitären Mechanismen des Staatskapitalismus zu nutzen, um Erstere einzusetzen. Es liegt in der Verantwortung revolutionärer Marxisten, das machiavellistische Manövrieren und Lügen zu entlarven. Die Augen vor diesem Aspekt der Offensive der herrschenden Klasse bei der Kontrolle der Gesellschaft zu verschließen ist unverantwortlich und spielt in die Hände unserer Klassenfeinde.
Die Ereignisse von Pearl Harbor fanden statt, als die USA immer mehr auf eine Intervention in den II.Weltkrieg auf Seiten der Alliierten zustrebten. Die Roosevelt-Administration war ganz erpicht darauf, in den Krieg gegen Deutschland zu treten, doch trotz der Tatsache, dass die amerikanische Arbeiterklasse fest im Griff des Gewerkschaftsapparates (in dem die stalinistische Partei eine wichtige Rolle spielte) war, der unter Staatsautorität gestellt wurde, um in allen Schlüsselindustrien den Klassenkampf in Schranken zu halten, und dass sie von der Ideologie des Antifaschismus durchdrungen war, sah sich die amerikanische Bourgeoisie immer noch einer starken Anti-Kriegs-Opposition innerhalb der Bevölkerung gegenüber, einschließlich nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch großer Teile der Bourgeoisie selbst. Meinungsumfragen ermittelten, dass 60 Prozent der Befragten vor Pearl Harbor gegen den Kriegseintritt waren. Und die „America First“-Kampagne sowie andere isolationistische Gruppen erhielten beträchtliche Unterstützung innerhalb der Bourgeoisie. Entgegen ihrer demagogischen demokratischen Gelöbnisse, Amerika aus dem Krieg in Europa rauszuhalten, suchte die Roosevelt-Administration heimlich nach einem Vorwand, um in den Kampf zu treten. Die USA verletzten in steigendem Maße ihre eigene, selbsterklärte Neutralität, indem sie den Alliierten Hilfe anboten und riesige Mengen Rüstungsmaterial im Rahmen des Leih-und-Pacht-Programms verschifften. Die Administration hoffte so, die Deutschen dazu zu provozieren, einen Angriff gegen die amerikanischen Streitkräfte im Nordatlantik zu führen, was als Vorwand für Amerikas Kriegseintritt hätte dienen können. Als der deutsche Imperialismus nicht auf den Köder hineinfiel, rückte Japan in den Mittelpunkt des Interesses. Die Entscheidung, ein Ölembargo gegen Japan zu verhängen, und die Verlegung der Pazifikflotte von der Westküste der USA an einer etwas vorgeschobeneren Position in Hawaii diente dazu, Japan ein Motiv und eine Gelegenheit zu verschaffen, den ersten Schuss gegen die USA abzufeuern und so den Vorwand für eine direkte Intervention in den imperialistischen Krieg zu schaffen. Im März 1941 sagte ein Geheimbericht des Marineministeriums voraus, dass, falls Japan sich dazu entschließe, die USA anzugreifen, es zu einem frühmogendlichen Überfall durch Kampfflugzeuge gegen Pearl Harbor kommen werde. Im Juni 1941 skizzierte der Präsidentenberater Harold Ickes dem Präsidenten in einem Memorandum, dass, wenn Deutschland zunächst Russland angreift, „sich aus dem Ölembargo gegen Japan eine Lage entwickeln könnte, die es nicht nur möglich, sondern auch leichter macht, wirksam in diesen Krieg zu gelangen.“ Im Oktober schrieb Ickes: „Seit langem war ich davon überzeugt, dass unser bester Eintritt in den Krieg die Japan-Schiene ist.“ Kriegssekretär Stimson notierte über den Diskussionsstand mit dem Präsidenten in seinem Tagebuch Folgendes: „Die Frage war, wie wir sie in eine Position manövrieren können, wo sie ohne größere Gefahr für uns den ersten Schuss abgeben. Trotz der Risiken, die zweifellos vorhanden sind, wenn wir die Japaner den ersten Schuss abgeben lassen, machten wir uns klar, dass, um die volle Unterstützung des amerikanischen Volkes zu haben, es wünschenswert war, sicher zu stellen, dass die Japaner dies auch tun, so dass kein Zweifel darüber aufkommt, wer der Aggressor war.“
Der Bericht des Pearl Harbor-Ausschusses der Armee (20.Oktober 1944) behandelte ausführlich diese bewusste, machiavellistische Entscheidung, Menschenleben und Ausrüstung in Pearl Harbor zu opfern, und schlussfolgerte, dass während „der verhängnisvollen Zeitspanne zwischen dem 27.November und dem 6.Dezember 1941... zahlreiche Informationen in die Hände der Spitzen des Staates, der Kriegs- und Marineressorts gelangten, die präzise die Absichten der Japaner anzeigten, einschließlich des exakten Zeitpunkts und Datums des Angriffs.“ (Armeeausschussbericht, Pearl Harbor, Teil 39, 221-230 pp.)
- US-Geheimdienstquellen erfuhren am 24.November, dass „offensive Militäroperationen der Japaner“ in Gang gesetzt worden waren.
- Am 26.November erhielten die US-Geheimdienste „definitiven Beweis für die japanischen Absichten, einen offensiven Krieg gegen Großbritannien und die Vereinigten Staaten zu führen.“
- Auch wurde am 26.November von „einer Konzentration von Einheiten der japanischen Flotte in einem unbekannten Hafen, bereit für offensive Aktionen,“ berichtet.
- Am 1.Dezember kamen „von drei unabhängigen Quellen (...) definitive Informationen, dass Japan dabei ist, Großbritannien und die Vereinigten Staaten anzugreifen, und dafür mit Russland Frieden halte“.
- Am 3.Dezember wurde „mit der Nachricht, dass die Japaner ihre Codes löschten und die Kodiermaschinen zerstörten, endgültig Aufschluss über die kriegerischen Angriffsabsichten Japans gegeben. Dies wurde gedeutet... als Anzeichen für einen unmittelbar bevorstehenden Krieg.“
Diese Geheimdienstinformationen wurden an hochrangige Beamte im Kriegsressort und State Department weitergegeben und dem Weißen Haus mitgeteilt, wo Roosevelt persönlich zweimal täglich Briefings über abgefangene japanische Funksprüche erhielt. Trotz des verzweifelten Drängens von Geheimdienstbeamten, eine „Kriegswarnung“ an die militärischen Befehlshaber auf Hawaii zu schicken, um sich auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vorzubereiten, entschieden sich die zivilen und militärischen Spitzen gegen ein solches Vorgehen und schickten ihnen stattdessen das zu, was die Behörden eine „harmlose“ Nachricht nannten. Diese Beweise für das Vorab-Wissen vom japanischen Angriff ist von zahlreichen Quellen bestätigt worden, einschließlich journalistischer Berichte und den Memoiren von Beteiligten. Zum Beispiel beinhaltete ein Bericht der United Press, der am 8.Dezember in der New York Times veröffentlicht wurde, folgenden Untertitel: „Angriff wurde erwartet: Es ist jetzt möglich zu enthüllen, dass die Streitkräfte der Vereinigten Staaten eine Woche zuvor erfahren hatten, dass ein Angriff bevorstand, und dass sie nicht unvorbereitet überrascht wurden“ (New York Times, 8.Dezember 1941, S.13). In einem Interview offenbarte die First Lady, Eleanor Roosevelt, 1941, dass „der 7.Dezember (...) überhaupt nicht der Schock war, als der er sich für das Land im Allgemeinen erwies. Wir hatten etwas in dieser Art schon seit langem erwartet“ (New York Times Magazine, 8.Oktober 1944, S.41). Am 20.Juni 1944 teilte der britische Kabinettsminister Sir Oliver Lyttelton der amerikanischen Handelskammer mit, „Japan wurde zum Angriff gegen die Amerikaner auf Pearl Harbor provoziert. Es spricht der Geschichte Hohn, wenn man sagt, dass die Amerikaner in den Krieg gezwungen wurden. Jeder weiß, wem die amerikanischen Sympathien galten. Es ist unrichtig zu sagen, dass Amerika jemals richtig neutral gewesen war, selbst bevor Amerika mit Kampfmitteln in den Krieg trat“ (Prang, „Pearl Harbor: Verdict of History“, S.39-40). Winston Churchill bestätigte das Doppelspiel der amerikanischen Regierenden beim Angriff gegen Pearl Harbor in folgender Passage seines Buches The Grand Alliance: „1946 veröffentlichte eine erstaunliche Kongressuntersuchung ihre Funde, in denen jedes Detail jener Ereignisse enthüllt wurde, die den Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan und auf das Nichterfolgen einer Alarmierung der Flotte und Garnisonen in exponierten Lagen durch das Militärressort einleiteten. In 40 Bänden wurde jedes Detail, einschließlich der Entschlüsselung geheimer japanischer Depeschen und ihrer aktuellen Nachrichten, der Welt enthüllt. Die Stärke der Vereinigten Staaten reichte aus, um im Geiste der amerikanischen Verfassung diese harte Feuerprobe zu bestehen. Ich habe auf diesen Seiten nicht die Absicht, ein Urteil über diese schreckliche Episode in der amerikanischen Geschichte zu fällen. Wir wissen, dass all die großen Amerikaner um den Präsidenten, die sein Vertrauen genossen, genauso scharfsinnig wie ich die furchtbare Gefahr fühlten, dass Japan britische oder holländische Besitzungen im Fernen Osten attackiert und die Vereinigten Staaten wohlweislich unbehelligt lässt und dass infolgedessen der Kongress eine amerikanische Kriegserklärung nicht sanktioniert (...) Der Präsident und seine vertrauten Freunde waren sich schon seit langem über die schwerwiegenden Risiken der Neutralität der Vereinigten Staaten im Krieg gegen Hitler und wofür er stand im Klaren und haben unter den Einschränkungen eines Kongresses gelitten, dessen Repräsentantenhaus einige Monate zuvor mit nur einer Stimme Mehrheit der Notwendigkeit einer Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zugestimmt hatte, ohne die die Armee sich inmitten weltweiter Erschütterungen nahezu aufgelöst hätte. Roosevelt, Hull, Stimson, Knox, General Marshall, Admiral Stark und, als Verbindungsmann zwischen ihnen, Harry Hopkins waren einer Meinung... Ein japanischer Angriff gegen die Vereinigten Staaten bedeutete eine große Erleichterung ihrer Probleme und ihrer Pflicht. Wie können wir uns darüber wundern, dass sie die tatsächliche Form des Angriffs, ja, sogar sein Ausmaß, als unvergleichlich weniger wichtig betrachteten als die Tatsache, dass die ganze amerikanische Nation wie ein Mann und wie nie zuvor für ihre eigene Sicherheit eintreten würde?“ (Winston Churchill, „The Grand Allianz“, S.603)
Roosevelt mag das Ausmaß und die Verluste, die die Japaner auf Pearl Harbor verursacht hatten, nicht geahnt haben, aber er war offenkundig bereit, Schiffe und Menschenleben zu opfern, um die Bevölkerung zu Wut und Krieg aufzustacheln.
Das Attentat gegen die Twin Towers und der Machiavellismus der Bourgeoisie
Gewiss ist es viel schwieriger, das Ausmass des Machiavellismus der amerikanischen Bourgeoisie im Fall des Attentats gegen das World Trade Center abzuschätzen, das im Augenblick der Abfassung dieses Artikels erst gerade ein wenig mehr als drei Monate zurückliegt. Wir profitieren von keinerlei Ergebnissen von seither geführten Untersuchungen, die allenfalls geheime Beweise enthüllen könnten, dass Elemente der herrschenden Klasse auf welche Art auch immer ihre Finger bei diesem Attentat im Spiel oder zumindest davon Kenntnis oder es sogar provoziert hatten. Wie jedoch die Geschichte der herrschenden Klasse, insbesondere die Ereignisse von Pearl Harbor, aufzeigen, ist eine solche Möglichkeit durchaus vorhanden. Wenn wir die jetzigen Ereignisse einzig auf der Grundlage von Medienberichten überprüfen - die wie zufällig allesamt in der gegenwärtigen politischen und imperialistischen Offensive der Regierung eingespannt sind, und der sie auch ihre volle Unterstützung entbieten - können wir eine solche Vermutung gewiss unterstützen.
Stellen wir uns zuerst einmal die Frage, wer denn auf politischer Ebene von diesem Verbrechen profitiert: Das ist zweifellos die amerikanische Bourgeoisie: Diese Feststellung allein genügt, um einigen Argwohn bezüglich des Attentats auf das World Trade Center zu entwickeln. Die amerikanische Bourgeoisie hat denn auch prompt und ohne das geringste Zögern die Ereignisse vom 11. September zu ihrem eigenen Nutzen verwendet, um ihre Projekte sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene voranzutreiben: Mobilisierung der Bevölkerung hinter dem kriegführenden Staat, Verstärkung des staatlichen Repressionsapparates, Behauptung der amerikanischen Supermacht gegenüber der allgemeinen Tendenz aller gegen alle in der internationalen Arena.
Unmittelbar nach dem Attentat haben der politische Apparat Amerikas und die Medien die Mobilisierung der amerikanischen Bevölkerung für den Krieg begonnen. In einer konzertierten Aktion zielten sie darauf ab, das sog. Vietnam-Syndrom, das seit dreissig Jahren die Kriegführung des amerikanischen Imperialismus beeinträchtigt hatte, zu überwinden. Diese "massenpsychologische Fehlfunktion" beinhaltete in allererster Linie eine Abwehr insbesondere der Arbeiterklasse gegenüber der Mobilisierung hinter dem Staat für einen länger andauernden imperialistischen Krieg und war für ein Grossteil dafür verantwortlich, dass die USA den Konflikt mit dem russischen Imperialismus in den 70er und 80er Jahren mittels zwischengeschalteter Länder in lokalen Kriegen austrugen oder aber eher kurzfristige und begrenzte Interventionen mit Luftschlägen und Raketen bevorzugten als Bodenangriffe. Wir haben diese Methode im Golfkrieg oder im Kosovo mitverfolgen können. Diese Widerspenstigkeit ist sicher keine psychologische Fehlfunktion, sondern widerspiegelt eher die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, dem Proletariat eine ideologische und politische Niederlage beizufügen, die gegenwärtige Arbeitergeneration hinter dem Staat für den imperialistischen Krieg zu mobilisieren, wie dies bei der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs der Fall gewesen war. Das Editorial einer Spezialausgabe des Magazins Time, unmittelbar nach dem Attentat herausgegeben, zeigt sehr gut auf, wie die gegenwärtige Kampagne einer Kriegspsychose orchestriert worden ist. Der Titel dieser Nummer lautete: "Tag der Gemeinheit" und verleitete von Beginn weg zum Vergleich mit Pearl Harbor. Ein Artikel von Lance Morrow mit dem Titel "Zorn und Züchtigung" unterstrich die Einzelheiten der folgenden ideologischen Kampagne. Obwohl dieser Artikel in einer Publikation erschien, die an den Propagandaanstrengungen teilnahm, illustriert Morrow, wie die Propagandisten der herrschenden Klasse alle Vorteile begriffen hatten, die sie aus dem Attentat auf das World Trade Center ziehen konnten. Um die Bevölkerung hinsichtlich des Krieges mit der hohen Anzahl von Opfern und den dramatischen Bildern zu manipulieren: "Wir können keinen weiteren Tag der Gemeinheit mehr leben, ohne dass in uns ein Gefühl des Zorns entsteht. Befreien wir unseren Zorn!
Wir benötigen ein Gefühl der Wut, das derjenigen gleicht, die auf Pearl Harbor folgte! Eine Entrüstung ohne Mitleid, die sich nicht nach ein oder zwei Wochen in Luft auflöst...
Es handelte sich um Terrorismus nahe der dramatischen Perfektion. Niemals wird das Schauspiel des Bösen eine Produktion von einem solchen Wert produziert haben. Normalerweise sieht das Publikum nur die rauchenden Ergebnisse: Die von einer Explosion zerstörte Botschaft, Kasernen in Ruinen, das schwarz klaffende Loch im Bug eines Schiffes. Diesmal hat aber bereits das erste in den einen Turm einschlagende Flugzeug die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es hat die Medien in Alarm versetzt, hat die Kameras in Bereitschaft gebracht, um die zweite Explosion des Surrealismus festzuhalten...
Gleichzeitig hat der politische Apparat der Bourgeoisie seinen Plan zur Verstärkung des staatlichen Repressionsapparats entrollt. Eine neue "Sicherheitsgesetzgebung" stellte die gesetzgeberische Praxis wieder her, die in der Folge des Vietnam-Kriegs und des Watergate-Skandals diskreditiert worden war. Ebenso wurde eine ganze Reihe von repressiven Massnahmen vorbereitet, debattiert, angenommen und vom Präsidenten in Rekordzeit unterschrieben. Wir haben guten Grund anzunehmen, dass diese Gesetzgebung bereits langfristig vorbereitet worden war, um zum gegebenen Zeitpunkt nur noch in Kraft gesetzt zu werden. Mehr als 1000 Verdächtige, die lediglich arabische Namen oder Kleider trugen, wurden ohne genaue Anklage für unbestimmte Zeit verhaftet. Die Guthaben von der Sympathie mit Bin Laden verdächtigten Organisationen wurden ohne gerichtliches Prozedere eingefroren. Die Einwanderung wurde insbesondere aus den islamischen Ländern eingeschränkt. Dies geschah mehr als eine Antwort auf die ständige Sorge der Bourgeoisie über den ununterbrochenen Strom von Immigranten, die den schrecklichen Bedingungen des Zerfalls und der Barbarei in ihren unterentwickelten Nationen entfliehen.
Unvermittelt ist der Terrorismus die Entschuldigung für die Verschärfung der Wirtschaftskrise und eine Rechtfertigung für die Einschnitte in den Budgets der Sozialprogramme geworden. Die verfügbaren Guthaben wurden jetzt in den Krieg und in die nationale Sicherheit umgeleitet. Die Geschwindigkeit, mit der all diese Massnahmen präsentiert wurden, zeigt sehr gut, dass sie nicht auf die Schnelle erstellt worden sind, sondern dass sie vorbereitet, diskutiert und geplant worden sind, um für alle Fälle gerüstet zu sein.
Auf internationaler Ebene ist das Ziel des Kriegs gegen den Terrorismus nicht so sehr dessen Zerstörung, sondern die gewaltsame Unterstreichung der imperialistischen Vorherrschaft durch die USA, die die einzige Supermacht in einer internationalen Arena bleiben, die von einer zunehmenden Herausforderung für die US-Hegemonie geprägt ist. Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 führte zu einer schnellen Auflösung des Westblocks, weil das Kohäsionsmittel für dessen Zusammenhalt durch den Zusammenbruch des imperialistischen Blocks der UdSSR verschwunden war. Der amerikanische Imperialismus sah sich trotz des offensichtlichen Sieges im Kalten Krieg nun plötzlich einer neuen globalen Situation gegenüber: Die Grossmächte, die ihre ehemaligen Alliierten waren, und auch eine Anzahl von Ländern geringerer Bedeutung begannen nun, die Vorherrschaft der USA herauszufordern und die eigenen imperialistischen Ambitionen zu verfolgen. Die USA haben im vergangenen Jahrzehnt drei grossangelegte Militäraktionen unternommen, um ihre ehemaligen Verbündeten wieder auf ihre Ränge zu verweisen und ihre Vorherrschaft anzuerkennen: gegen den Irak, gegen Serbien und jetzt gegen Afghanistan und das Al-Kaida-Netz. In jedem dieser drei Fälle zwang die Entfaltung des US-Militärapparates die "Verbündeten", also Frankreich, Grossbritannien und Deutschland, sich in die Allianzen einzureihen, die die USA lenkten, oder aber vollständig das Gesicht zu verlieren und aus dem globalen imperialistischen Spiel rauszukippen.
Zweitens ist es bereits jetzt, da die offiziell autorisierte Version der Realität behauptet, dass die USA auf keinen Fall auf diese Attentate gefasst waren, möglich, einzig auf die bürgerlichen Medien bezugnehmend Beweiselemente für den Machiavellismus der amerikanischen Bourgeoisie zu sammeln:
- Die Kräfte, die anscheinend das Attentat gegen das World Trade Center verübten, standen vielleicht nicht unter der Kontrolle des amerikanischen Imperialismus, jedoch waren sie den amerikanischen Geheimdiensten gewiss bekannt. Tatsächlich rekrutierte die CIA schon zu Beginn des Konflikts zwischen afghanischen Klicken und dem russischen Imperialismus 1979 Tausende von islamischen Fundamentalisten, bildete sie aus, bewaffnete sie und gebrauchte sie, um einen heiligen Krieg - den Dschihad - gegen die Russen zu führen. Das Konzept des Dschihad ruhte in der islamischen Theologie, bis es der amerikanische Imperialismus vor zwanzig Jahren erweckte, um es seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Militante Islamisten wurden quer durch die ganze islamische Welt rekrutiert, in Pakistan ebenso wie in Saudi-Arabien. Dort hat man erstmals von Bin Ladin als einem Agenten des amerikanischen Imperialismus gehört. Nach dem Rückzug des russischen Imperialismus aus Afghanistan 1989 und dem Zusammenbruch der Regierung in Kabul 1992 hat sich auch der amerikanische Imperialismus zurück gezogen und sich auf den Nahen Osten und den Balkan konzentriert. Als die islamischen Fundamentalisten gegen die Russen kämpften, bezeichnete sie Ronald Reagan als Freiheitskämpfer. Wenn sie heute mit derselben Brutalität gegen den amerikanischen Imperialismus vorgehen, sind sie für den Präsidenten Bush fanatische Barbaren, die ausgelöscht werden müssen. Ganz wie Timothy Mac Veigh, dem fanatischen rechtsextremen, für das Bombenattentat von Oklahoma City 1995 verantwortlichen Amerikaner, der mit der Ideologie des Kalten Kriegs und im Hass gegen die Russen aufgewachsen und von der amerikanischen Armee rekrutiert worden war, genau so haben die von der CIA für den Dschihad angeworbenen jungen Leute niemals in ihrem Leben etwas anderes gekannt als Hass und Krieg. Beide fühlten sich vom amerikanischen Imperialismus nach dem Ende des Kalten Kriegs verraten und richteten ihre Gewalt fortan gegen ihre ehemaligen Lehrmeister.
- - Seit 1996 verfolgte das FBI die Spur einer möglichen Benutzung von amerikanischen Pilotenschulen durch Terroristen, um Jumbo Jets fliegen zu lernen. Die Vorgehensweise der Terroristen war also von Behörden vorweggenommen worden (The Guardian, "FBI failed fo find suspects named before hijackings", 25.9.2001)
- Die deutsche Polizei überwachte das Appartement in Deutschland, in dem das Attentat geplant und koordiniert worden war, während dreier Jahre.
- Das FBI und andere amerikanische Spionageabwehr-Agenturen hatten Warnungen erhalten und Nachrichten abgefangen, gemäss denen am Jahrestag der Zeremonie im Weissen Haus zwischen Clinton, Rabin und Arafat ein Terrorattentat vorgesehen war. Die israelischen und französischen Geheimdienste hatten die Amerikaner gewarnt. Die Amerikaner hatten also gewiss eine Vorstellung über das Bevorstehende. Vielleicht wusste man nicht, dass das World Trade Center das Ziel sein würde, jedoch war es ja bereits 1993 von islamistischen Terroristen als Symbol des amerikanischen Kapitalismus ins Visier genommen worden.
- Das FBI hat im August Zacarias Moussaoui verhaftet, der Verdacht erweckt hatte, weil er in einer Pilotenschule in Minnesota eine Ausbildung beginnen wollte und erklärt hatte, dass er weder am Starten noch am Landen interessiert sei. Anfangs September hatten die französischen Behörden gewarnt, dass Verbindungen zwischen Moussaoui und den Terroristen bestünden. Im November änderte das FBI plötzlich seine Meinung und dementierte eine Verstrickung Moussaouis im Attentat. Auf jeden Fall hat die Tatsache, dass sich die Piloten weder für den Start noch für die Landung interessiert hatten, die Verdachtsmomente erneuert.
- Mohammed Atta, der vermutete Organisator vom 11. September und vermutliche Pilot des ersten in die Zwillingstürme donnernden Flugzeugs, war bei den Behörden wohl bekannt. Er schien aber ein ruhiges Leben geführt zu haben und durfte sich auch frei in den USA bewegen. Obwohl er seit Jahren auf der Liste der durch den Staat zu überwachenden Terroristen figurierte, da der Verstrickung in ein Bombenattentat gegen einen Bus in Israel im Jahr 1986 verdächtigt, war ihm in den letzten zwei Jahren mehrmals die Erlaubnis zur Ein- und Ausreise aus bzw. in Amerika erteilt worden. Von Januar bis Mai 2001 ist er von den Einwanderungsbehörden auf dem internationalen Flughafen in Miami während 57 Minuten festgehalten worden, weil sein Visum abgelaufen und für eine Einreise in die USA nicht mehr gültig gewesen war. Und obwohl er auf der Überwachungsliste der Behörden stand und trotz des Verdachts des FBI, dass Terroristen in den USA Flugschulen besuchen könnten, war es für ihn möglich, in die USA einzureisen und sich in einer Flugschule einzuschreiben. Im April 2001 wurde Atta wegen Fahrens ohne Führerschein angehalten. Da er im Mai nicht vor dem Gericht erschien, ist ein Haftbefehl ausgestellt worden, aber er ist nie ausgeführt worden. Er ist zweimal wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand angehalten worden. Atta ist während seines Aufenthalts in den USA niemals unter einem Pseudonym aufgetreten, er reiste, lebte und studierte das Pilotieren unter seinem wirklichen Namen. War das FBI wirklich so inkompetent oder fehlten ihm das nötige Personal oder die Arabischübersetzer, wie es behauptete, oder gibt es eine mehr machiavellistische Erklärung für dieses Verhalten in die Richtung einer konstanten und ständigen Bewahrung seiner Freiheit? Wurde er "Beschützt" oder diente er als Sündenbock ("Terroristen unter uns", Atlanta Journal Constitution, 16.9.2001; The Guardian, 25.9.2001)
- Am 23. August 2001 liess die CIA eine Liste mit 100 vermutlichen Mitgliedern des Neztes um Bin Ladin auftauchen, unter ihnen auch Khalid Al Midhar und Nawaq Alhamzi, die sich an Bord desjenigen Flugzeuges befanden, das auf das Pentagon stürzte.
Bereits drei Jahre vor den angeblich unerwarteten Attentaten vom 11. September haben die Vereinigten Staaten im Geheimen begonnen, den Boden für einen Krieg in Afghanistan zu ebnen. In der Folge der Attentate auf die amerikanischen Botschaften in Dar-es-Salaam in Tansania und in Nairobi in Kenia 1998 hatte Präsident Clinton die CIA beauftragt, mögliche Aktionen gegen Bin Ladin, der jeglicher Kontrolle entglitten war, vorzubereiten. Deswegen waren auch geheime Verhandlungen mit den ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan und Tadschikistan aufgegleist worden, um dort Militärbasen zu errichten, logistischen Nachschub zu liefern und Informationen zu sammeln. All das hat nicht nur eine militärische Intervention in Afghanistan vorbereitet, sondern erlaubte auch ein beträchtliches Eindringen der USA in die russische Einflusszone in Zentralasien. Deshalb kann man auch sagen, dass die Vereinigten Staaten trotz aller Gegenbeteuerungen nach der durch das Attentat gegen die Twin Towers sich bietende Gelegenheit für eine unverzügliche Intervention bereit waren, eine gewisse Anzahl von strategischen und taktischen Massnahmen umzusetzen, die bereits von langer Hand vorbereitet worden waren.
Es ist durch aus plausibel, dass die USA Bin Ladin quasi dazu gedrängt haben, eine Attacke gegen sie zu lancieren. The Guardian vom 22. September verleitet uns zu dieser Annahme: "Eine Untersuchung unserer Zeitung hat festgestellt, dass Bin Ladin und die Taliban zwei Monate vor den Terrorattentaten gegen New York und Washington Drohungen über eine mögliche militärische Attacke der USA erhalten hatten. Pakistan warnte das Regime in Afghanistan vor dieser Kriegsgefahr, falls sie Bin Ladin nicht ausliefern würden (...) Die Taliban verweigerten eine Unterwerfung, jedoch besteht auf Grund des Ausmasses der Warnungen die Möglichkeit, dass die Attentate Bin Ladins gegen das World Trade Center in New York und gegen das Pentagon in Washington tatsächlich eine präventive Attacke als Antwort auf die angeblichen Drohungen der USA gedacht waren und keinesfalls aus dem Nichts heraus stattfanden. Die Warnungen an die Taliban stammten von einer viertägigen Versammlung von Amerikanern, Russen, Iranern und Pakistani in einem Hotel in Berlin Mitte Juli. Diese Konferenz war die dritte in einer Serie unter dem Titel 'Brainstorming über Afghanistan' und gehört zu einer klassischen diplomatischen Methode unter dem Namen 'Schiene Nr. 2'." Mit anderen Worten ist es durchaus möglich, dass die USA die durch Bin Ladin begangenen Attentate nicht wirklich zu verhindern suchten, sondern sie über diesen halboffiziellen 'diplomatischen Kanal' sogar zu provozieren versuchte, um somit eine Legitimation für die militärische Antwort in die Hände zu bekommen.
- Die gewaltigen Zerstörungen und die Anzahl der Opfer bildeten den Dreh- und Angelpunkt der unmittelbar auf das Desaster folgenden ideologischen Kampagne. Während Wochen haben uns die amerikanische Regierung und die Medien immer wieder eingehämmert, dass die 6000 im World Trade Center umgekommenen Menschen doppelt so viele waren wie in Pearl Harbor. Der Chef des Generalstabs hat diese Zahlen anfangs November in einem Interview mit einer nationalen Fernsehkette wiederholt (NBC am 4.11.2001). Jedoch bestehen berechtigte Zweifel, dass diese wegen ihres emotionalen Gewichts die Propaganda unterstützenden Zahlen masslos übertrieben sind. Zählungen von unabhängigen Presseagenturen haben die Zahl von weniger als 3000 Toten ergeben, was auch den Opfern von Pearl Harbor entspricht. Die New York Times fixiert die Opferzahl bei 2943, die Agentur Associated Press bei 2626 und USA Today bei 2680. Das amerikanische Rote Kreuz, das den Opferfamilien Finanzhilfen entrichtet, hat 2563 Anfragen erhalten. Die Regierung hat dem Roten Kreuz die Herausgabe einer Kopie der offiziellen Opferliste verweigert. Indessen nutzen die Politiker und die Medien aus propagandistischen Zwecken noch immer die Zahl von 5000 bis 6000 Toten oder Vermissten. Diese Zahl ist jetzt auch im öffentlichen Bewusstsein verankert.
- Die amerikanische Regierung hat bis anhin niemals öffentlich die Beweise für die Schuld Bin Ladins an den Attentaten enthüllt. Kürzlich, als die militärischen Operationen noch voll im Gang waren, hat Bush angekündigt, dass Bin Ladin im Falle einer Verhaftung vor ein Militärgericht hinter geschlossenen Türen gestellt würde. So müssen die Ursprünge der Beweise gegen ihn auch nicht veröffentlicht werden. Der Verteidigungsminister Rumsfeld hat klar gesagt, dass er einem toten Bin Ladin den Vorzug vor seiner Verhaftung gebe. So soll ein Prozess verhindert werden. Man muss sich also die Frage stellen, weshalb die USA so sehr darauf bestehen, dass diese sog. offensichtlichen Beweise geheim gehalten werden.
All diese Argumente sind kein Beweis dafür, dass die amerikanische Regierung oder vielleicht die CIA im Voraus über die Attentate auf die Twin Towers auf dem Laufenden waren oder sie gar provoziert haben, jedoch muss man kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um einen solchen Verdacht zu schöpfen. Wir überlassen die Sorge einer vertieften Erforschung den Historikern, jedoch werden wir weder überrascht noch schockiert sein, wenn wir erfahren, dass die amerikanische Bourgeoisie die Opfer des Attentats auf das World Trade Center in Kauf genommen hat, um ihren politischen Interessen gerecht zu werden.
Ist das Attentat auf die Twin Towers ein neues Pearl Harbor?
Auf historischer Ebene kann entgegen den Behauptungen der Medien bei der aktuellen Situation kein Vergleich zu Pearl Harbor gezogen werden. Pearl Harbor fand nach zwanzig Jahren politischer Niederlagen des Proletariats statt, die es politisch, ideologisch und selbst physisch besiegt hatten. Somit wurde der historische Kurs in Richtung Krieg eröffnet. Diese Niederlagen drückten mit einem kapitalen historischen Gewicht auf das Proletariat: Die Niederlage der russischen Revolution und der revolutionären Welle; die Degeneration des revolutionären Regimes in Russland und der Triumph des Staatskapitalismus unter Stalin; die Degeneration der Kommunistischen Internationale, die eine Waffe des russischen Staates in der Aussenpolitik wurde, was auch einen beträchtlichen Rückfluss der revolutionären Positionen seit dem Gipfel der revolutionären Welle beinhaltete; die Integration der kommunistischen Parteien in ihren jeweiligen Staatsapparaten; die politische und physische Niederlage der Arbeiterklasse durch den Faschismus in Italien, in Deutschland und in Spanien; der Triumph der antifaschistischen Ideologie in den sog. demokratischen Ländern.
Die Auswirkungen dieser Niederlagen haben die historischen Möglichkeiten der Arbeiterbewegung tiefgreifend beeinträchtigt. Die Revolution, die seit den Jahren nach 1917 auf der Tagesordnung, ist niedergeschlagen worden. Das Kräfteverhältnis hatte sich definitiv zu Gunsten der Bourgeoisie verschoben, die nun ihre "Lösung" für die historische Krise des globalen Kapitalismus - den Weltkrieg - durchsetzen konnten. Indessen bedeutete die Tatsache, dass sich das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verschoben hatte, nicht notwendigerweise, dass die Bourgeoisie nun freie Hand hatte, um ihren politischen Willen durchzusetzen. Selbst wenn der historische Kurs in Richtung Krieg ging, hiess dies nicht, dass die amerikanische Bourgeoisie zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt hätte den Krieg auslösen können. Die Bourgeoisie musste erst noch den Widerstand gegen den Krieg von Seiten des amerikanischen Proletariats in den Jahren 1939-1941 brechen. Dieser Widerstand reflektierte teilweise die zögerliche Haltung der stalinistischen Partei, die insbesondere in den CIO-Gewerkschaften einen beträchtlichen Einfluss ausübte. Diese Haltung war auf die unentschiedene Haltung Moskaus in der Zeit des Nichtangriffspakts mit dem nationalsozialistischen Deutschland zurückzuführen. Die herrschende Fraktion der amerikanischen Bourgeoisie sollte auch auf die aufsässigen Elemente ihrer eigenen Klasse zählen können. Einige hegten Sympathien für die Achsenmächte, andere setzten sich für eine isolationistische Politik ein. Wir haben gesehen, dass der "überraschende" Angriff Japans den Vorwand bot, um die zögernden Elemente hinter dem Staat und den Kriegsanstrengungen zu sammeln. In diesem Sinne kann man sagen, dass Pearl Harbor den letzten Nagel in den politischen und ideologischen Sarg trieb.
Heute ist die Situation ganz anders. Es ist wahr, dass das Desaster mit den Twin Towers nach mehr als einem Jahrzehnt politischer Orientierungslosigkeit und Verwirrung geschehen ist, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und den ideologischen Kampagnen der Bourgeoisie über den Tod des Kommunismus breit gemacht haben. Diese Verwirrungen bergen jedoch nicht dasselbe politische Gewicht in sich, wie die Niederlagen der 20er und 30er Jahre, und beeinträchtigen also auch das politische Bewusstsein des Proletariats auf historischer Ebene nicht dermassen. Auch haben sie den historischen Kurs in Richtung zunehmender Klassenkonfrontationen nicht geändert. Die Arbeiterklasse hat trotz dieser Desorientierung für die Rückeroberung ihres Terrrains gekämpft. Auch fehlen nicht Zeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins. Desweiteren tauchen Elemente auf der Suche nach politischer Klärung auf, die das proletarische Milieu um die bestehenden revolutionären Gruppen anwachsen lassen. Wir wollen hier keineswegs die seit 1989 in der Arbeiterklasse herrschende politische Orientierungslosigkeit verharmlosen, die durch den Zerfall, der für das vollständige Abgleiten in die Barbarei nicht mehr notwendigerweise einen neuen Weltkrieg benötigt, zusätzlich verschärft wird. Auch wenn die amerikanische Bourgeoisie mit ihrer ideologischen Offensive einen beträchtlichen Erfolg einheimst, auch wenn die Arbeiter in einer kriegerischen Psychose von alarmierendem Ausmass gefangen sind, so wird das globale Kräfteverhältnis nicht von der Situation in einem Land bestimmt, selbst wenn es von der Bedeutung der USA ist. Auf internationaler Ebene ist das Proletariat noch nicht besiegt worden und die Perspektive in Richtung Klassenkonfrontation ist offen. Selbst der zweiwöchige Streik von 23`000 Arbeitern des öffentlichen Sektors in Minnesota in den USA vom Oktober ist Ausdruck der Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihren Kampf fortzuführen. Obwohl diese Arbeiter als Vaterlandsverräter hingestellt worden waren, weil sie diesen Streik in einer nationalen Krisensituation begonnen hatten, haben diese Arbeiter ihr Terrain nicht verlassen und haben für Verbesserungen bei den Löhnen und Gratifikationen gekämpft. Während also Pearl Harbor den Abschluss eines Prozesses hin zum imperialistischen Krieg bedeutete, stellt das Attentat auf das World Trade Center für die insbesondere amerikanische Arbeiterklasse lediglich einen Schritt zurück dar. Dieser Rückschritt steht aber im Kontext einer historischen Situation, die nach wie vor günstig für die Klasse ist.
JG
Der Krieg in Afghanistan: Strategie oder Ölprofite?Inmitten des Tobens des imperialistischen Orkans in Afghanistan haben winzige Gruppen von Internationalisten ihre Ablehnung aller miteinander ringenden Imperialismen verkündet und jede Illusion in die Pazifizierung des Kapitalismus oder in eine Unterstützung irgendwelcher Agenturen mit diesem Ziel denunziert sowie zur Aufnahme des Klassenkampfes aufgerufen, der allein das weltweite kapitalistische System, die Hauptquelle imperialistischer Kriege, überwinden kann.
Diese Gruppen leiten ihre Ursprünge aus dem Erbe der Italienischen und Deutsche Linken her, den einzigen internationalistischen Strömungen, die den Niedergang der Dritten Internationale überlebt hatten, indem sie die internationalistischen Positionen des Proletariats im Sturm des II. Weltkriegs hoch gehalten hatten. Sie sind Teil dessen, was die IKS als das politische Milieu des Proletariats bezeichnet.[i] [20]
Als Beitrag zur Stärkung dieses Milieus untersuchen wir die Stärken und Schwächen ihrer aktuellen Antwort auf den Krieg, so wie wir dies stets tun, wenn solche Ereignisse das eigentliche Dasein revolutionärer Organisationen auf die Probe stellen.
Wir wollen uns hier nicht mit der allgemeinen Herangehensweise der verschiedenen Gruppen befassen: Die IKS hat in ihrer territorialen Presse den Klassencharakter ihrer Antwort bereits anerkannt und aufgezeigt.[ii] [21] Wir streben angesichts der gebotenen Kürze auch nicht an, dabei allumfassend zu sein. Wir werden stattdessen einige bedeutsame Elemente der Erklärung der imperialistischen Barbarei durch eine dieser Gruppen – das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP)[iii] [22] – diskutieren.
Die Suche nach den materiellen Wurzeln
Es reicht für revolutionäre Organisationen nicht aus zu wissen, dass der US-Staat und die anderen imperialistischen Großmächte dem Terrorismus nicht feindlich gegenüber stehen, wie sie das in den letzten vier Monaten behauptet haben, oder in Kenntnis darüber zu sein, dass sie nicht durch die Interessen der Zivilisation und Humanität geleitet werden, wenn sie einen Krieg auslösen, der Tod und Verderben auf Weltebene verursacht. Die Revolutionäre müssen auch erklären können, was der wahre Grund dieser Barbarei ist, worin die Interessen der imperialistischen Mächte und insbesondere der USA bestehen und ob dieser Alptraum für die Arbeiterklasse irgendwann ein Ende findet.
Das IBRP bietet folgende Erklärung für den Krieg in Afghanistan an: Die USA wollen den Dollar als Weltwährung erhalten und so ihre Kontrolle über die Erdölindustrie bewahren: „... die USA brauchen den Dollar als gültige Währung im internationalen Handel, wenn sie ihre Stellung als globale Supermacht bewahren wollen. Vor allem sind die USA verzweifelt darum bemüht sicherzustellen, dass der internationale Ölhandel auch weiterhin primär in Dollars abgewickelt wird. Dies bedeutet, bei der Bestimmung der Routen für die Öl- und Gaspipelines und vor allem bei der Beteiligung von kommerziellen US-Interessen an der Ausbeutung der Quellen das letzte Wort zu haben. Dies steckt dahinter, wenn offen kommerzielle Entscheidungen durch die sie überwölbenden Interessen des US-Imperialismus als Ganzes gemäßigt werden, wenn der amerikanische Staat politisch und militärisch für langfristige Ziele eingespannt wird, Ziele, die sich oft gegen die Interessen anderer Staaten und in steigendem Maße gegen jene ihrer europäischen ‚Verbündeten‘ richten. Mit anderen Worten, dies ist der Kern der imperialistischen Konkurrenz im 21. Jahrhundert.“ (...)
„Eine gewisse Zeitlang haben sich die europäischen Ölgesellschaften, unter ihnen die italienische ENI, in zahllosen Projekten engagiert, um Öl direkt aus der Region des Kaspischen Meeres und des Kaukasus in europäische Raffinerien zu leiten, und es ist offensichtlich, dass ab dem 1. Januar (als der Euro legales Zahlungsmittel in den Ländern der Europäischen Union wurde) die Projekte für einen alternativen Ölmarkt Gestalt anzunehmen begannen, doch die Vereinigten Staaten denken angesichts der vielleicht schlimmsten Krise, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben, nicht daran, von ihrer eigenen ökonomischen und finanziellen Macht abzulassen“ („Imperialismus, Erdöl und die nationalen Interessen der USA“, Seite 8, Revolutionary Perspectives, Nr. 23, vierteljährliche Zeitung der Communist Workers Organisation, die britische Zweigorganisation des IBRP).
Der Krieg ist angeblich darauf hinaus, die potenziellen, vom Taliban-Regime und seinen Al-Qaida-Helfern gebildeten Barrieren zu entfernen, um quer durch Afghanistan eine Route für eine Ölpipeline zu schaffen, durch die ein Teil der Förderung aus den Ölfeldern in Kasachstan transportiert werden soll – all dies Teil einer weiter gefassten Strategie der USA, um den Erdöltransport zu kontrollieren. Die USA wollen sichere und verschiedene Transportwege für die Weltölvorkommen. Hinter diesem Imperativ, so das IBRP, stehe das Schicksal des Dollars und hinter dem Schicksal des Dollars der Supermacht-Status der Vereinigten Staaten. Die Europäer ihrerseits seien an der Verbesserung des Status‘ ihrer soeben flügge gewordenen Währung, den Euro, auf den Ölmärkten interessiert und widersetzten sich aus diesem Grund den USA.
Das eigentliche Ziel der USA im Afghanistan-Krieg sei es, wie das IBRP sagt, ihre Stellung als ‚Weltsupermacht‘ zu erhalten, worunter wir ihre überwältigende militärische, ökonomische und politische Überlegenheit über alle anderen Länder auf diesem Planeten verstehen. Ihre Opponenten wollen diese Stellung begrenzen oder eventuell untergraben. Mit anderen Worten, im Gegensatz zu den Märchengeschichten, die uns von den bürgerlichen Medien präsentiert werden, wonach dies ein Krieg zwischen Gut und Böse, zwischen Demokratie und Terror sei, enthüllen die Revolutionäre des IBRP die imperialistischen Interessen der Protagonisten. Hinter den imperialistischen Konflikten stecken die rivalisierenden kapitalistischen Mächte, die von der Wirtschaftskrise angetrieben werden.
Hinzu kommt, dass das IBRP Abstand nimmt von seinem Versuch, den gegenwärtigen Krieg (und die wachsende Zuspitzung der imperialistischen Konflikte) als das Resultat des Strebens nach unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteilen zu erklären. Zehn Jahre zuvor sagte das IBRP über den bevorstehenden Golfkrieg, dass „... die Krise am Golf sich wirklich ums Öl und darum dreht, wer es kontrolliert. Ohne billiges Öl fallen die Profite. Die Profite des westlichen Kapitalismus sind bedroht, und aus diesem (und keinem anderen) Grund bereiten die USA ein Blutbad im Nahen Osten vor“. (CWO-Flugblatt, zitiert in International Review Nr. 64).
Der Sieg der USA im Golfkrieg bewirkte jedoch keinerlei signifikante Steigerung der Ölprofite und auch keine bedeutsamen Ölpreisänderungen. Das IBRP scheint dies und auch die Tatsache realisiert zu haben, dass Ex-Jugoslawien keinerlei profitable Märkte für die imperialistischen Mächte bot, die sich dort gegenseitig bekämpften, wie es zunächst annahm, und es scheint nun zu einer breiteren Erklärung der Situation gelangt zu sein. Solch eine Herangehensweise kann nur begrüßt werden, da die Glaubwürdigkeit der Marxisten von ihrer Fähigkeit abhängt, den Imperialismus auf der Grundlage einer globalen und historischen Analyse zu begreifen, die die unmittelbaren ökonomischen Faktoren nicht als Kriegsgrund betrachten. [iv] [23]
Doch trotz dieses Schritts vorwärts sieht das IBRP die imperialistischen Ziele am Schicksal von Währungen hängen, mit anderen Worten: an spezifisch ökonomischen Faktoren. Und es misst der Frage des Erdöls und der Ölpipelines ein entscheidendes Gewicht bei der Rolle des Dollars und der seines neuen Rivalen, des Euros, bei. Beim Öl geht’s für das IBRP so ziemlich‚ „um den Kern der imperialistischen Konkurrenz im 21. Jahrhundert“.
Doch ist die Bewahrung des Status‘ der Vereinigten Staaten als hegemoniale Weltmacht so direkt und so entscheidend von der Rolle des Dollars abhängig, wie das IBRP sagt? Und hängt die Stellung des Dollars als Weltwährung wirklich so direkt von der Kontrolle des Öls durch die USA ab?
Das Erdöl und der Dollar
Auch wenn ein wichtiges Wörtchen bei der kommerziellen Kontrolle der Ölförderung – die meisten der wichtigsten globalen Erdölgesellschaften sind zum Beispiel im Besitz der Amerikaner – den Vereinigten Staaten sicherlich dabei hilft, ihre Wirtschaftsmacht aufrechtzuerhalten, und dies somit ein Faktor der Vorherrschaft des Dollars ist, erklärt dies nicht grundsätzlich die Mittel, durch die der Dollar seine Rolle als Weltwährung erlangte und sie noch heute behauptet.
Der Dollar erreichte seine vorrangige Stellung, bevor das Erdöl zum Haupttreibstoff auf dem Planeten wurde. In der Tat gründet sich die Stärke einer Währung nicht auf der Kontrolle der Rohstoffe.
Japan zum Beispiel kontrolliert praktisch keine Rohstoffe, doch der Yen ist trotz der gegenwärtigen Stagnation der japanischen Wirtschaft eine starke Währung. Umgekehrt hatte die frühere UdSSR riesige Mengen an Erdöl unter ihrer Gewalt, doch verhinderte dies nicht ihren ökonomischen Zusammenbruch; auf sich gestellt, war der Rubel unfähig, eine Weltwährung zu werden.[v] [24] Es war nicht die Kontrolle über die Kohle oder die Baumwollversorgung, die das englische Pfund im 19. Jahrhundert zur Hauptwährung machte.Es ist vielmehr das Übergewicht der Wirtschaft eines Landes im Bereich der Weltproduktion und des Handels sowie sein relatives politisches und militärisches Gewicht, was erklärt, warum gewisse Währungen zur Standardleitwährung für den Weltkapitalismus werden. Das Pfund erlebte einen Höhenflug, weil Großbritannien das erste moderne kapitalistische Land war. Die größere Produktivität seiner Industrien versetzte seine Produkte in die Lage, jene des Rests der Welt, was Preis und Menge anging, zu ersetzen, da anderswo die kapitalistische Produktion erst im Begriff war, Fuß zu fassen. Die ganze Welt verkaufte Rohstoffe an Großbritannien. Und Großbritannien war – wie ein berühmtes Zitat besagt – die „Werkstatt der Welt“. Die Stärke des britischen Militärs, insbesondere der Flotte, und seine Anhäufung von kolonialen Besitzungen vergrößerte noch die Überlegenheit des Pfunds und die Stellung Londons als Finanzzentrum der Welt.
Die Entwicklung des Kapitalismus in anderen Ländern begann die Überlegenheit des britischen Kapitalismus zu untergraben, und seine Konkurrenten begannen, es in Sachen Produktivität zu überholen. Die neuen, durch den Ersten Weltkrieg enthüllten Bedingungen läuteten das Ende des Pfunds ein, und der Zweite Weltkrieg besiegelte sein Schicksal endgültig. In einer Welt, wo rivalisierende kapitalistische Nationen den Weltmarkt bereits unter sich aufgeteilt hatten und sie nur noch danach trachten, durch eine Neuaufteilung des Weltmarkts zu ihren Gunsten zu expandieren, neigt sich in der Frage der militärischen Konkurrenz – des Imperialismus – die Gunst Ländern mit kontinentalen Ausmaßen wie die Vereinigten Staaten mehr zu als den europäischen Ländern, deren relativ kleine Größe einer früheren Phase im kapitalistischen Wachstum entsprachen. Die Auszehrung aller europäischen Mächte einschließlich der Sieger wie Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg steigerte das relative Gewicht der US-Produktion und ihres Anteils am Welthandel enorm und erhöhte daher auch die internationale Nachfrage nach dem Dollar. Und nach der Verwüstung Europas im Zweiten Weltkrieg erreichten die Vereinigten Staaten, stimuliert durch eine phänomenale Steigerung der Rüstungsproduktion, eine haushohe wirtschaftliche Überlegenheit auf Weltebene. Um 1950 bestritten die USA die Hälfte der gesamten Weltproduktion! Der Marshall-Plan von 1947 versorgte die Europäer mit den Dollars, die sie verzweifelt brauchten, um ihre Wirtschaft mit amerikanischen Gütern wieder aufzubauen. Die Dollarüberlegenheit wurde durch das Bretton-Woods-Abkommen und die Gründung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds unter der Ägide der USA global institutionalisiert.
1968 gelangte die Wiederaufbauperiode zu ihrem Ende, und die europäischen sowie japanischen Ökonomien hatten ihre Stellung gegenüber den USA verbessert. Doch trotz der relativen Schwächung der US-Wirtschaft, die zu einer effektiven Abwertung des Dollars führte, bedeutete dies nicht das unmittelbare Ende ihrer vorrangigen Stellung. Weit entfernt davon. Die USA besaßen etliche Mittel, um die neuen Bedingungen zu ihren Gunsten auszunutzen. Die Abkoppelung des Dollars vom Gold 1971 durch Washington ermöglichte es den USA, die Macht des Dollars und die Konkurrenzfähigkeit der amerikanischen Produktion durch die Manipulation des Devisenkurses aufrechtzuerhalten, welche ihre wachsende Auslandsverschuldung niedrig hielt (eine Methode, die Großbritannien in den 30er Jahren benutzt hatte, um die Stellung des Pfunds selbst nach dem Niedergang seiner Wirtschaft und dem Aufstieg der US-Wirtschaft aufrechtzuerhalten). Zu Beginn der 80er Jahre halfen die steigenden Zinssätze und die Deregulierung der Kapitalströme - mit der Konsequenz, dass Finanzspekulationen wie Pilze aus dem Boden wuchsen - dabei mit, die Auswirkungen der Krise auf andere Länder abzuwälzen. Hinter diesen Maßnahmen steckte die militärische Überlegenheit der USA, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unangreifbar geworden war und sicherstellte, dass König Dollar auf seinem Thron bleibt.
Die Rolle des Erdöls bezüglich der Vorrangstellung des Dollars ist daher relativ unbedeutend. Auch wenn es zutrifft, dass es in der ‚ersten Ölkrise‘ 1971–72 den USA durch ihren Einfluss auf die Ölpreispolitik der OPEC gelang, enorme Vermögen von den europäischen und japanischen kapitalistischen Mächten via Saudi-Arabien in die eigenen Taschen zu schleusen, so sind solche Manipulationen kaum die Hauptinstrumente der Dollarüberlegenheit. Was für die Hegemonie des Dollars wirklich zählt, ist die ökonomische, politische und militärische Vorherrschaft der USA auf dem Weltmarkt, auf dem Öl und andere Rohstoffe gekauft und verkauft werden, und diese Dominanz wird hauptsächlich von Faktoren von allgemeinerer und historischer Tragweite bestimmt als von der Kontrolle über das Erdöl.
Das IBRP glaubt jedoch, dass die Zuspitzung der militärischen Abenteuer der USA in Zentralasien Teil langfristiger Vorbeugemaßnahmen zur Besetzung der Ölzentren und der Transportwege des Öls ist, um die europäischen Mächte an der Kontrolle derselben zu hindern, die ihrerseits ins Auge gefasst haben, den Euro zur Hauptwährung in der Ölförderung und im Erdölhandel zu machen. Das angebliche Ziel der USA sei es, den Euro, die gerade flügge gewordene Währung der Europäischen Union, zu stoppen, der nach der Krone des Dollars greife und so die USA als rivalisierender imperialistischer Block überholen wolle.
Doch wenn diese Erklärung richtig ist, müssten die europäischen Mächte sehr viel mehr tun, als ihren Einfluss auf die Erdölindustrie zu steigern, um den Dollar durch den Euro zu ersetzen. Selbst wenn die Europäische Union eine wirklich vereinigte politische und wirtschaftliche Gesamtheit wäre, so betrüge ihr gesamtes BSP nur zwei Drittel desjenigen der Vereinigten Staaten. Obwohl die EU nun eine gemeinsame Währung besitzt, ist sie dennoch in etliche konkurrierende national-kapitalistische Einheiten zersplittert, die ihre wirtschaftliche Stärke gegenüber den Vereinigten Staaten untergraben. Der Europäischen Zentralbank mangelt es im Vergleich zur Federal Reserve der USA an Einigkeit über die Absichten in der Währungs- und Steuerpolitik, was daran liegt, dass sie, bis jetzt zumindest, dazu tendierte, im Kielwasser der Politik der Einzelstaaten zu folgen. Die Wirtschaft Deutschlands, dem stärksten politischen Pol in der Euro-Zone, folgt in der Rangliste den USA und Japan erst auf Platz drei, und dies aus anderen Gründen als wegen des Mangels an Kontrolle über das Öl und die Pipelines.
Auf der politischen und militärischen Ebene ist die Spaltung noch größer. Die EU umfasst mehrere imperialistische Mächte, die sowohl gegeneinander als auch gegen die USA konkurrieren. Europas größte Wirtschaftsmacht, Deutschland, bleibt ein militärischer Pygmäe im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich, seinen Hauptrivalen (und dabei muss betont werden, dass eine der größten Militärmächte Europas – Großbritannien – nicht einmal in der Euro-Zone ist). Deutschland ist dabei, seine militärischen Kräfte zu stärken; seine Truppen haben zum ersten Mal seit dem II. Weltkrieg außerhalb der eigenen Grenzen interveniert (Kosovo). Nichtsdestotrotz reicht die Reichweite seiner militärischen Macht nicht weiter als bis zu seinen unmittelbaren Nachbarn in Osteuropa.
Wie die Währungsexperten der Bourgeoisie hervorheben, stellt diese militärische Schwäche und die divergierenden Interessen innerhalb der EU eine ernsthafte Gefahr für den Euro dar: „Glyn Davies, Autor von ‚A History of Money from Ancient Times to the Present Day‘, sagte: ‚die größte langfristige Bedrohung für die Währungsunion in Europa seien die Kriege oder‚ als Kontroverse angesehene Verhaltensweisen von Ländern, die sich im Krieg befinden. Es geht allein um den politischen Aspekt. Wenn man eine starke politische Union hätte, dann kann sie vielen Angriffen widerstehen. Doch wenn es politische Differenzen gibt, kann dies die Währungsunion beträchtlich schwächen.‘“ (International Herald Tribune, 29.12.01)
Daher und aus anderen Gründen wird es der Euro schwer haben, dem Dollar das Vertrauen der Weltwirtschaft streitig zu machen.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, kann der Schutz der Vorherrschaft des Dollars nicht als glaubwürdiger Grund für die riesige Militärkampagne, die in Afghanistan ausgetragen wird, angesehen werden. Wie wir auf unserem letzten internationalen Kongress gesagt haben: „Die USA wollen diese Region wegen des Erdöls kontrollieren – nicht aus rein ökonomischen Gründen, sondern vor allem, weil sie sicherstellen wollen, dass Europa nicht in die Lage versetzt wird, diese Ölquellen im Falle eines Krieges zu nutzen. Wir sollten uns dabei in Erinnerung rufen, dass während des Zweiten Weltkrieges deutsche Truppen 1942 eine Offensive gegen Baku durchführten, um die Kontrolle über diese Ölvorräte zu erlangen, was überlebenswichtig für die Kriegführung war. Heute ist die Situation bezüglich Aserbeidschan und der Türkei etwas anders, für die die Frage des Erdöls mehr eine Frage des unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzens ist. Aber die wahren Einsätze werden nicht auf diesem Feld getätigt.“ („Bericht über die imperialistischen Spannungen“ in International Review Nr. 107)[vi] [25]
Hängt die US-Hegemonie vom Dollar ab?
Die zweite Frage, die vom IBRP gestellt wird, lautet: Hängt der Status der Supermacht der USA von der außergewöhnlichen Rolle des Dollars ab? Nein, würden wir sagen, jedenfalls nicht auf entscheidende Weise, wie das IBRP meint. Wie wir argumentiert haben, ist die militärische Überlegenheit genauso sehr eine Ursache wie auch ein Effekt des Dollarstatus‘. Natürlich ist die ökonomische und monetäre Vorherrschaft der USA in der Weltwirtschaft ein wichtiger Faktor bei ihrer militärischen Überlegenheit. Doch militärisches und strategisches Vermögen rührt nicht automatisch, mechanisch und unmittelbar oder proportional aus der Wirtschaftsmacht her. Es gibt zahllose Beispiele, die dies beweisen. Japan und Deutschland sind nach den Vereinigten Staaten die stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, aber immer noch militärische Zwerge, verglichen mit Großbritannien und Frankreich, die, wirtschaftlich zwar schwächer, Nuklearwaffen besitzen. Die UdSSR war wirtschaftlich äußerst schwach, doch auf militärischer Ebene bot sie der amerikanischen Macht 45 Jahre lang die Stirn. Und trotz der relativen wirtschaftlichen Schwächung der USA seit 1969 ist ihre militärische und strategische Macht gegenüber ihren nächsten Rivalen erheblich gewachsen.
Wie jedes andere Land können sich auch die USA nicht auf die Leistungsfähigkeit ihrer Währung verlassen, um ihre imperialistische Stellung automatisch zu garantieren. Im Gegenteil, die USA müssen damit fortfahren, enorme, kostspielige Ressourcen ihren militärischen und strategischen Interessen zu widmen, um zu versuchen, ihre imperialistischen Hauptrivalen zu überlisten und deren Anspruch, die Führung der USA anzufechten, zu dämpfen. Die antiterroristische Kampagne seit dem 11. September hat der USA bemerkenswerte Erfolge in diesem imperialistischen Kampf erbracht. Sie hat die anderen Hauptmächte dazu gezwungen, ihre militärischen und strategischen Ziele zu unterstützen, ohne es ihnen zu erlauben, mehr als nur ein paar Krümel des Prestiges aus ihrer Unterstützung für den schnellen militärischen Erfolg der amerikanischen Streitkräfte über das afghanische Taliban-Regime zu erhalten. Gleichzeitig haben die USA ihr strategisches Gewicht in Zentralasien verstärkt. Die Zurschaustellung ihrer militärischen Überlegenheit war so niederschmetternd, dass ihr Rückzug aus dem ABM-Vertrag mit Russland nur leise Kritik unter ihren früher lautstarken Gegnern in den europäischen Hauptstädten hervorrief. Die USA können nun mühelos die Expansion ihres ‚antiterroristischen‘ Kreuzzuges gegen andere Länder in Angriff nehmen.
Dennoch wäre es schwer zu ermessen, ob die amerikanische Offensive in den letzten drei Monaten die Erdölversorgung für die USA sicherer als zuvor gemacht hat oder die erdrückende Überlegenheit des Dollars über den Euro bedeutend gesteigert hat. Der wirkliche Sieg der USA ergibt sich auf der militärstrategischen Ebene, wie schon im Golfkrieg. Die wirtschaftlichen Nutzeffekte sind genauso schwer fassbar wie in diesem früheren Konflikt.
Die Kontrolle des Erdöls um ökonomischer Vorteile willen war nicht die entscheidende Frage, die die USA dazu veranlasste, Milliarden von Dollar für einen Monat Krieg in Afghanistan auszugeben und die Stabilität Pakistans zu riskieren, wo die beabsichtigten Pipelines weiter verlaufen sollen, nachdem sie Afghanistan verlassen haben.
Die CWO zeigte schon 1997 in einem Artikel („Behind the Talibans stands the US imperialism“), dass das Taliban-Regime die Erdölinteressen der USA nicht wirklich bedroht hatte. Im Gegenteil, die USA betrachteten das Regime als einen Stabilitätsfaktor, verglichen mit den Vorgängern der Taliban. Obgleich es Osama Bin Laden bei sich beherbergte, stellte das Regime kein unüberwindbares Hindernis für eine Verständigung mit den USA und ihren Interessen dar.[vii] [26]
Die Rolle des imperialistische Krieges heute
Die Ära, in der kapitalistische Mächte in den Krieg zogen, um unmittelbare, direkte wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, war die Embryonalphase in der Entwicklung des Kapitalismus, eine Phase, die kaum das 19. Jahrhundert überdauerte. Sobald die kapitalistischen Hauptmächte die Welt in Form von Kolonien oder Einflusssphären unter sich aufgeteilt hatten, wurde die Möglichkeit der Erlangung direkter wirtschaftlicher Vorteile aus dem Krieg immer ungewisser. Als der Krieg zu einer Frage des militärischen Konflikts mit anderen imperialistischen Mächten wurde, traten weiterreichende strategische Fragen in den Vordergrund, die die industrielle Vorbereitung und eine Explosion der Kosten zur Folge hatten. Der Krieg wurde weniger zur Frage wirtschaftlicher Vorteile als zu einer Frage des Überlebens eines jeden Staates auf Kosten seiner Rivalen. Die Ruinierung der meisten kämpfenden kapitalistischen Mächte in den beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts bezeugt, dass der Imperialismus nicht die „höchste Stufe“ des Kapitalismus ist, wie Lenin dachte, sondern Ausdruck seiner dekadenten Periode, in der der Kapitalismus in wachsendem Maße durch die nationalen Grenzen seines eigenen Systems dazu gezwungen ist, Mensch und Maschine auf den Schlachtfeldern zu verdampfen, statt sie im Produktionsprozess zu verwerten.[viii] [27]
Nicht der Krieg dient den Bedürfnissen der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft dient den Bedürfnissen des Krieges, und auch Rohstoffe können diesem allgemeinen Gesetz nicht entkommen. Wenn die imperialistischen Mächte die Rohstoffe kontrollieren wollen, besonders solch wichtige wie Erdöl, dann nicht deshalb, weil die Bourgeoisie, wie das IBRP sagt, glaubt, dass dies dem Wohle ihrer Profite oder Währungen dient, sondern wegen ihrer militärischen Bedeutung.
„Das größte militärische Aufbauprogramm zu Friedenszeiten in der amerikanischen Geschichte wurde vom Haushaltsausschuss für die bewaffneten Streitkräfte gebilligt. Der Haushaltsausschuss für außenpolitische Angelegenheiten nannte die strategische Bedeutung des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens fast ebenbürtig mit jener der Region des Nordatlantikpakts. Stützpunkte in den arabischen Staaten und in Israel seien notwendig, um See- und Flugwege zu schützen. Der Schutz dieser Region sei entscheidend, wie der Bericht aussagt, da in dieser Region gewaltige Ölressourcen liegen, die die freie Welt nun für ihre enorm ausgeweiteten Wiederaufrüstungsbemühungen benötigen.“ (International Herald Tribune, 1951)
Der US-Imperialismus war ganz freimütig gewesen: Die Kontrolle des Erdöls ist zuallererst aus militärischen Gründen wichtig, da sie garantiert, dass das Erdöl in Kriegszeiten zu den eigenen Truppen fließt und die feindlichen Armeen der rivalisierenden Länder von ihm abgeschnitten werden.
Die Enthüllung der wahren Einsätze durch den Afghanistan-Krieg
Obwohl das IBRP anerkennt, dass der Kapitalismus sich in seiner historischen Niedergangsperiode befindet, lässt es diesen theoretischen Rahmen bei seinem Verständnis des imperialistischen Krieges von heute vermissen. Das grundlegende Bedürfnis des Kapitalismus ist immer noch die Akkumulation von Kapital, doch die Produktionsverhältnisse, die einst seine phantastische Entwicklung sicherstellten, hindern ihn nun daran, ausreichende Expansionsfelder zu finden. Die Produktion wird vermehrt ihrer Zerstörung zugeführt, statt zur Reproduktion von Reichtum beizutragen. Die Erkenntnis, dass der Krieg aufgehört hat, für das kapitalistische System als Ganzes profitabel zu sein, auch wenn er immer notwendiger für die Bourgeoisie wird, ist daher keine Verleugnung des marxistischen Materialismus, sondern ein Ausdruck der Fähigkeit, die verschiedenen Phasen, durch welche ein Wirtschaftssystem schreitet, und insbesondere den Übergang von seiner aufsteigenden zu seiner dekadenten Phase zu verstehen. In der letztgenannten Phase und um so mehr in den Perioden der offenen Krise drängt der ökonomische Imperativ die Bourgeoisie immer mehr statt in Richtung eines Krieges aus unmittelbar ökonomischen Gründen in Richtung eines globalen und äußerst selbstmörderischen Kampfes um militärische Überlegenheit unter den rivalisierenden nationalen Einheiten.
Nur wenn wir die Folgen der kapitalistischen Dekadenz auf die heutigen imperialistischen Konflikte deutlich machen, können wir die Arbeiterklasse auf die beträchtlichen Gefahren hinweisen, die im Afghanistan-Krieg und in jenen Kriegen zum Ausdruck kommen, die ihm unvermeidlich folgen werden. Das IBRP neigt dagegen dazu, dem Proletariat ein falsches, tröstliches Bild eines Systems zu vermitteln, das, wie in seiner Jugendzeit, immer noch in der Lage sei, seine militärischen Ziele den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Expansion unterzuordnen. Darüber hinaus vermittelt das IBRP mit seiner fehlerhaften Auffassung über den europäischen Imperialismus, der rund um den Euro vereinigt sei, den Eindruck einer relativ stabilen Entwicklung des Weltkapitalismus zu zwei neuen imperialistischen Blöcken. Dabei weisen im Gegenteil die widersprüchlichen und antagonistischen Interessen der europäischen Mächte untereinander wie auch gegenüber den USA auf einen weiteren Schritt im Zerfall des Kapitalismus hin. Sie kündigen das Finale im Zerfall des Kapitalismus an, wo trotz der Versuche Deutschlands, sich als alternativer Pol zu den USA aufzustellen, das imperialistische Chaos die Oberhand gewinnt, wo militärische Konflikte sich katastrophal zu verallgemeinern drohen. Es ist ganz richtig, dass es im Afghanistan-Krieg um die Aufrechterhaltung und Wiederverstärkung der Stellung Amerikas als der Welt einzige Supermacht geht. Doch dieser Status wird nicht von spezifisch wirtschaftlichen Faktoren wie die Kontrolle über das Erdöl bestimmt, wie es sich das IBRP vorstellt. Er ist vielmehr von geostrategischen Fragen abhängig, von der Fähigkeit der USA, eine militärische Vorherrschaft in den Schlüsselregionen der Welt zu erreichen und ihre Rivalen daran zu hindern, ihre Stellung ernsthaft anzufechten. Weltregionen wie Afghanistan hatten lange, bevor das Öl als ‚schwarzes Gold‘ begehrt wurde, ihren strategischen Wert für die imperialistischen Mächte bewiesen. Es ging nicht ums Öl, als der britische Raj zweimal Armeen nach Afghanistan entsandte, bis es ihm schließlich gelang, ein Marionettenregime dort zu installieren. Die Bedeutung Afghanistans liegt nicht darin begründet, dass es ein potenzielles Transitland für die Ölpipelines ist, sondern darin, dass es der geographische Mittelpunkt der imperialistischen Hauptmächte des Nahen und Fernen Ostens sowie Südasiens ist. Seine Kontrolle würde die US-Macht nicht nur in dieser Region, sondern auch in ihrem Verhältnis zum europäischen Imperialismus beträchtlich steigern.
Die Vereinigten Staaten erreichten ihre dominante imperialistische Position im Wesentlichen aufgrund ihres siegreichen Hervorgehens aus zwei Weltkriegen. Auch der Schlüssel zu ihrer Fähigkeit, diese Stellung zu halten, liegt auf der militärischen Ebene.
Como
[i] [28] 1 s. das IKS-Buch The Italian Communist Left und The Dutch-German Communist Left;
[ii] [29] 2 s. zum Beispiel “Revolutionaries denounce imperialist war” in World Revolution 249, November 2001;
[iii] [30] 3 s. www.leftcom.org [31]
[iv] [32] 4 In der Internationalist Communist Review Nr. 10 erkennt das IBRP sogar die Bedeutung der militärstrategischen Fragen über die Wirtschaft an: „Es liegt dann an der politischen Führung und an der Armee, die politische Richtung jedes Staates nur nach einem Imperativ zu etablieren: einer Einschätzung, wie man einen militärischen Sieg erreichen kann, denn dies überwiegt heute den wirtschaftlichen Erfolg.“ („End of the cold war: a new step towards a new imperialist line-up“.
[v] [33] 5 In der Tat war die Rolle des Rubels als dominante Währung in den Ex-Comecon-Ländern des Ostblocks gänzlich abhängig von der militärischen Besetzung ihres Territoriums durch die UdSSR.
[vi] [34] 6 Wir sollten auch betonen, dass das IBRP auch auf Faktenebene falsch liegt, wenn es behauptet, dass “die Region um das Kaspische Meer... das Gebiet mit den größten bekannten Reserven an nicht angezapften Erdöl (ist)”. Die nachgewiesenen Ölreserven der gesamten Ex-UdSSR betragen in etwa 63 Mrd. Barrel, jene der fünf Hauptproduzenten des Nahen Ostens betragen mehr als zehnmal soviel, wobei Saudi-Arabien allein 25% der nachgewiesenen weltweiten Reserven besitzt. Hinzuzufügen ist, dass das
saudische Öl weitaus profitabler ist (in rein ökonomischen Begriffen, von denen das IBRP so angetan ist); seine Förderung kostet nur 1$ pro Barrel und ist frei von den gigantischen Kosten für den Bau von Pipelines über die Gebirge Afghanistans und des Kaukasus.
[vii] [35] Das kürzlich veröffentlichte über Buch Bin Laden, La verité interdit von Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasqié (Editions Denoel und in Deutscher Sprache im Pendo Verlag, 2001) enthüllt die inoffizielle Diplomatie zwischen der amerikanischen Regierung und dem Taliban-Regime bis zum 11. September und deutet eine andere Schlussfolgerung über das Verhältnis zwischen den Ölinteressen der USA und der Entwicklung von militärischen Feindseligkeiten mit Afghanistan an als das IBRP. Bis zum 17. Juli 2001 versuchten die USA, die anstehenden Probleme mit dem Taliban-Regime diplomatisch zu lösen, wie die Ausweisung von Osama Bin Laden wegen des Angriffs auf die USS Cole und die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Dar-es-Salaam. Und die Taliban waren keineswegs abgeneigt, über solche Fragen zu verhandeln. In der Tat hatten die Taliban nach der Inthronisierung von Bush als US-Präsident eine Wiederaussöhnung vorgeschlagen, die, wie sie hofften, zu einer diplomatischen Anerkennung führen würde. Doch nach dem Juli 2001 brachen die USA effektiv die diplomatischen Beziehungen, indem sie eine brutale, provokative Botschaft an die Taliban gesandt hatten: Sie drohten mit militärischen Aktionen, um Bin Laden zu fassen, und kündigten an, dass sie sich in Diskussion mit dem ehemaligen König Sahir Schah befänden, um die Macht in Kabul wieder zu übernehmen! Dies legt nahe, dass die Kriegsziele der USA bereits vor dem 11. September festgelegt worden waren und dass alles, was es bedurfte, um die Feindseligkeiten zu eröffnen, der Vorwand der terroristischen Gräueltat an diesem Tag war. Es legt ebenfalls nahe, dass nicht die Taliban einen diplomatischen Prozess verhinderten, der möglicherweise zu einem stabilen Afghanistan für die US-Ölinteressen geführt hätte, sondern die US-Regierung, die andere Pläne hatte. Statt der Formel des IBRP: ein Krieg zur Stabilisierung Afghanistans für eine Erdölpipeline, weisen die Zeichen auf einen Krieg hin, der die gesamte Region destabilisiert für das höhere Ziel der militärischen und geostrategischen Überlegenheit Amerikas.
[viii] [36] 8 Das Kapital wird akkumuliert oder verwertet durch die Auspressung von Mehrarbeit der Arbeiterklasse.
Links
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[2] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/3/42/historischer-kurs
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/2/29/proletarischer-kampf
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/1/223/deutsche-revolution
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1919-deutsche-revolution
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/deutsche-und-hollandische-linke
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/3/54/zerfall
[9] http://www.internationalism.org/texts/prol_tribune
[10] https://de.internationalism.org/en/tag/3/48/partei-und-fraktion
[11] https://de.internationalism.org/edito#_edn1
[12] https://de.internationalism.org/edito#_ednref1
[13] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/naher-osten
[14] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/irak
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