Published on Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Home > Internationale Revue - 2000s > Internationale Revue - 2001 > Internationale Revue 28

Internationale Revue 28

  • 2784 reads

14. Kongress der IKS

  • 3179 reads

Bericht über die Wirtschaftskrise (Auszüge)

Vor über 80 Jahren ist der Kapitalismus in seine dekadente Phase getreten. Er überlebt einzig noch dadurch, dass er die Menschheit in eine Spirale der offenen Krise wirft. Diese Spirale setzt sich aus dem generalisierten Krieg, dem Wiederaufbau, und der erneuten Krise zusammen.1 Die wirtschaftliche Stagnation und die Erschütterungen des Systems im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mündeten schnell in die schreckliche Schlächterei des Ersten Weltkriegs, die grosse Depression von 1929 mündete nach 10 Jahren in das noch wildere Gemetzel des Zweiten Weltkriegs. Die am Ende der 60er Jahre beginnende Krise jedoch mündete nicht in die organische Lösung eines neuen generalisierten Kriegs, weil das Proletariat nicht geschlagen war.

Angesichts dieser neuartigen Situation der ausweglosen Krise führt der Kapitalismus ein ständiges Krisenmanagement. Für dessen Umsetzung nahm er Rückgriff auf sein erstrangiges Organ zur Verteidigung seines Systems: den Staat. Auch wenn die Tendenz zum Staatskapitalismus sich bereits vor mehreren Jahrzehnten herausgebildet hatte, so haben wir in den letzten 30 Jahren der Perfektionierung und einer bisher unbekannten Verfeinerung der Interventionsmechanismen und der Kontrolle der Wirtschaft und Gesellschaft beiwohnen können. Zur Begleitung der Krise mit dem Ziel, ihren Rhythmus im Vergleich zu 1929 zu verlangsamen und weniger spektakulär zu gestalten, haben die Staaten sich in eine astronomische Verschuldung gestürzt, wie sie die Geschichte bisher noch nie gesehen hat. Die wichtigsten Mächte haben mit einer Zusammenarbeit zur Unterstützung und Organisierung des Welthandels begonnen, um die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die schwächsten Länder abzuwälzen.2 Dieser Überlebensmechanismus erlaubte es den zentralen Ländern, die auch eine Schlüsselstellung bezüglich des Klassenkampfes einerseits, bezüglich der Aufrechterhaltung der globalen Stabilität des Kapitalismus anderseits einnehmen, einen verlangsamten und stufenweisen Fall in die Krise zu bewerkstelligen. So entstand der Eindruck der Beherrschung und der Normalität oder sogar des "Fortschritts" oder der "Erneuerung".

Diese Begleitmaßnahmen führten jedoch keineswegs zu einer Stabilisierung der Situation. Der Kapitalismus ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein globales System, das allen bedeutenden Gebieten dieses Planeten seine Produktionsbeziehungen aufgezwungen hat. Unter diesen Bedingungen kann das Überleben eines nationalen Kapitals oder von Zusammenschlüssen derselben nur auf Kosten der Rivalen gehen. Im Laufe der letzten 30 Jahre konnten wir einer fortschreitenden Degeneration des Kapitalismus beiwohnen. Seine Reproduktion vollzog sich auf einer sich ständig verengenden Grundlage, das Weltkapital verarmt.3

Dieser fortschreitende Zusammenbruch des Gesamtkapitals hat sich durch periodische Erschütterungen manifestiert, die in keiner Art und Weise etwas mit den zyklischen Krisen des 19. Jahrhunderts gemeinsam haben. Diese Erschütterungen zeigten sich in den mehr oder weniger starken Rezessionen von 1974/75, 1980-1982 und 1991-1993. Jedoch drückte sich die Rezession nicht in erster Linie durch den offiziellen Fall des Produktionsindex aus, und zwar gerade weil der Staatskapitalismus alles in seiner Möglichkeit Liegende unternimmt, um dieses zu klassische und offensichtliche Zeichen des Systemzusammenbruchs zu unterbinden. Die Rezession hat sich also tendenziell in anderen, nicht weniger schwerwiegenden und gefährlichen Formen dargestellt. Hier sind zu nennen: die monetären Erschütterungen des britischen Pfund Sterling 1967 und des Dollar 1971, die brüske inflationäre Explosion in den 70er Jahren, die Schuldenkrise und die Erschütterungen des Finanzsektors ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre: Börsenkrach 1987, Mini-Börsenkrach 1989, die Erschütterung des europäischen Währungssystems 1992/93, der Tequila-Effekt (Abwertung des mexikanischen Peso und Fall der lateinamerikanischen Börsen) 1994 und die sog. Asienkrise 1997/98.

Der 13. Kongress der IKS hatte die schwerwiegenden Schäden dieser letzten Episode der Krise analysiert. Damals hatten wir die äußerst pessimistischen Warnungen der bürgerlichen Experten einbezogen, die offen von Rezession und sogar Depression gesprochen hatten.

Diese Rezession ist dann allerdings nicht eingetroffen und der Kapitalismus konnte abermals das Jubellied über die eiserne Gesundheit seiner Produktionsweise anstimmen. Die Dreistigkeit ging bis zur Behauptung, eine neue Gesellschaft sei mit der „New Economy“ entstanden. Der Anstieg der Inflation im Sommer 2000, dessen Tragweite und Auswirkungen nicht unterschätzt werden dürfen, hat die generelle Euphorie dann allerdings ein wenig verstummen lassen. In etwas mehr als zwei Jahren konnten wir dem brutalen Einbruch von 1997/98, dem euphorischen Aufschwung zwischen der zweiten Jahreshälfte 1999 und dem Sommer 2000 und dem erneuten Rückgang des Index beiwohnen.

Das neue Jahrtausend wird der Krise keine Lösung mehr anbieten können ausser der Stabilisierung der Situation, wenn nicht gar im Gegenteil eine neue Phase des Zusammenbruchs, der uns all die Leiden des 20. Jahrhunderts als Zuckerschleck erscheinen lässt.

10 Jahre ununterbrochenes Wachstum in den USA

Die Bewunderer des Kapitalismus geifern schon nur bei der Erwähnung  dieser "10 Jahre Wachstum ohne Inflation".4 In ihrem Delirium sind sie sogar soweit gegangen, das Ende aller zyklischen Krisen und ein ununterbrochenes Wachstum vorauszusagen.

Diese Herren geben sich erst gar nicht Mühe, die Wachstumsraten anderer Epochen des Kapitalismus zu vergleichen, und noch weniger, seine Natur und Zusammensetzung zu verstehen. Sie sind vollständig mit dem "Wachstum" zufrieden. Aber angesichts dieser unmittelbaren und oberflächlichen Betrachtungsweise, die ja typisch ist für die Ideologen einer dem Untergang geweihten Gesellschaftsordnung, wenden wir eine globale und historische Betrachtungsweise an und sind somit in der Lage, die Falschheit all dieser Argumente, die sich auf die "10 Jahre ununterbrochenen Wachstums in den USA" stützen, zu entlarven.

Wenn wir die Wachstumsraten der USA seit 1950 unter die Lupe nehmen, stellen wir fest, dass das Wachstums der vergangenen 10 Jahre das geringste der letzten 50 Jahre ist:

Mittlere BIP-Wachstumsraten der USA5

1950-1964            3,68%

1965-1972            4,23%

1973-1990            3,40%

1991-1999            1,98%

Diese Zahlen sehen auch in anderen hochindustrialisierten Ländern nicht anders aus:

Mittlere BIP-Wachstumsraten  in den wichtigen Industrieländern6

1960-73         1973-89             1989-99

Japan                        9,2%               3,6%                    1,8%

Deutschland             4,2%               2,0%                    2,2%

Frankreich                5,3%               2,4%                    1,8%

Italien                         5,2%               2,8%                   1,5%

Großbritannien         3,1%               2,0%                   1,7%

Kanada                     5,3%               3,4%                   1,9%

Diese beiden Tabellen zeigen den graduellen, aber anhaltenden Niedergang der Weltwirtschaft, der den Triumphalismus der Führer des Kapitalismus in nichts auflöst und ihre Täuschungsmanöver entblößt: sie wollen uns mit Zahlen täuschen, die vollständig aus ihrem historischen Kontext herausgelöst worden sind.

Das "amerikanische Wachstum" hat tatsächlich eine Geschichte, die uns aber vorenthalten wird: Man spricht nicht darüber, wie die Wiederankurbelung der Wirtschaft 1991/92 zustande kam. Es mussten nämlich 33 Mal die Zinsen gesenkt werden, so dass die Zinsraten für das an Banken geliehene Geld unter der Inflationsrate lag! Der Staat hat also eigentlich "Gratisgeld" zur Verfügung gestellt. Man spricht noch weniger über das ab 1995 abflauende Wachstum, das mehrere Finanzkrisen mit der "asiatischen Grippe" 1997/98 als Tiefpunkt nach sich zog und in die Stagnation 1996-1998 mündete.

Was steckt jedoch hinter der letzten Wachstumsphase von 1996-1998? Ihre Grundlage ist noch verletzlicher und zerstörerischer, denn ihr Motor verwandelt sich in eine historisch gesehen beispiellose spekulative Blase. Die Investition an der Börse wird die "einzig rentable Investition".

Die amerikanischen Familien und Unternehmen wurden in einem perversen Mechanismus zur Verschuldung ermutigt, um an der Börse zu spekulieren und die gekauften Titel als Sicherheiten für den frenetischen Kauf von Waren und Dienstleistungen zu gebrauchen, was dann den Motor des Wachstums darstellte. Die Grundlagen der eigentlichen Investitionen sind so ernsthaft zerstört worden: Unternehmen und Individuen haben ihre Verschuldung von 1997 bis 1999 um 300% gesteigert. Die Sparquote ist seit 1996 negativ (nach 53 Jahren von ununterbrochen positiven Sparquoten), während sie 1991 noch +8,3% betrug, sank sie 1999 auf -2,5%.

Der Konsum auf Pump erhält zwar die Wachstumsflamme in Gang, aber die Auswirkungen auf der produktiven Ebene der USA sind tödllich.7 Paul Samuelson, ein bekannter Ökonom,  räumt ein, dass "die Auslastung der industriellen Produktionskapazitäten Nordamerikas seit ihrem Gipfel in der Mitte der 80er Jahre nur noch gefallen ist". Die Industrie verliert immer mehr an Bedeutung, seit April 1998 sind 418‘000 Stellen gestrichen worden. Die amerikanische Zahlungsbilanz erlitt mit der Vergrösserung des Defizits von -2,5% des BIP 1998 auf aktuell -4% eine spektakuläre Verschlechterung.

Diese Art des Wachstums steht in krassem Gegensatz zu demjenigen, das der Kapitalismus, historisch betrachtet, erlebt hat. Zwischen 1865 und 1914 erzielten die USA mit der ständigen Erhöhung der Handels- und Finanzüberschüsse ein spektakuläres Wachstum. Die amerikanische Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte auf der Überlegenheit im Export von Gütern und Kapital. 1948 beispielsweise deckten die amerikanischen Exporte 180% der Importe. Seit 1971 erzielten die USA erstmals eine negative Handelsbilanz, die seither ständig gewachsen ist.

Während sich das Wachstum der zentralen kapitalistischen Länder im 19. Jahrhundert auf die Exportzunahme an Gütern und Kapital abstützte, was zu einer ständigen Eingliederung von neuen Gebieten in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse führte, wohnen wir heute einer aberwitzigen und gefährlichen Entwicklung bei: Heute fliessen, unterstützt durch den überbewerteten Dollar, die Reichtümer in die USA, um die wichtigste Nationalökonomie der Welt zu unterstützen. Seit 1985 ist der Investitionsfluss in die 10 wichtigsten Nationalökonomien der Welt größer als umgekehrt. Das bedeutet konkret, dass der Kapitalismus unfähig ist, die globale Produktion auszudehnen und nun all seine Mittel auf die Erhaltung der Metropolen konzentriert. Der Rest der Welt wird zu einer riesigen Brachlandschaft degradiert, und somit werden die Grundlagen der kapitalistischen Reproduktion zerstört.

Die nicht eingetretene Rezession nach der Asienkrise

Man möchte uns glauben machen, dass die schwerwiegende Erschütterung von 1997/98 nichts als eine zyklische Krise gleich jenen des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Zu jener Zeit ist aber jede Krise mit einer neuen Produktionsausdehnung zu Ende gegangen, so dass immer ein höheres Produktionsniveau als in der vorhergegangenen Periode erreicht wurde. Neue Märkte öffneten sich durch die Eingliederung neuer Territorien in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. So entstanden einerseits neue Proletariermassen, die Mehrwert hervorbrachten, anderseits neue zahlungskräftige Käufer für die hergestellten Waren.

Eine solche Lösung ist für den heutigen Kapitalismus nicht mehr angesagt: Die Märkte sind bereits seit längerer Zeit gesättigt. Der Ausweg kann also nicht in neuen Märkten und in neuen Lohnarbeit verrichtenden Proletariermassen liegen, sondern gerade im Gegenteil: Heute greift man zur Verschuldung und versucht so, den realen Fall der Produktion und die neuen Entlassungswellen (die uns dann als Restrukturierungen, Privatisierungen und Fusionen untergejubelt werden) zu kaschieren. Auf diese Weise werden die Quellen des Mehrwerts ausgetrocknet: „Das Fehlen kaufkräftiger Märkte, auf denen die Realisierung des produzierten Mehrwerts möglich ist, führte zur Bildung fiktiver Märkte (...) Mit einem komplett gesättigten Weltmarkt konfrontiert kann ein Wachstum der Produktionszahlen nur durch ein Wachstum der Schulden stattfinden. Eine noch beträchtlichere Zuspitzung als zuvor.“ (Internationale Revue  Nr. 59, engl./frz./span. Ausgabe)   

Das Resultat ist eine ständig gewaltsamere Erschütterung und ein tieferer Fall während die Aufschwünge lediglich den Fall leicht abfedern: Der ganze Prozess spielt sich in einer Dynamik des progressiven Zerfalls ab.

Im 19. Jahrhundert befand sich der Kapitalismus in einer dynamischen Expansionsphase, in der jede Krise eine neue Prosperitätsphase vorbereitete. Heute beobachten wir den genau umgekehrten Prozess: Jede Aufschwungsphase ist nichts anderes als die Vorbereitung neuer und schwerwiegenderer Erschütterungen.

Japan (die zweite Weltwirtschaftsmacht) ist ein schlagender Beweis. Dieses Land bewegt sich nicht mehr vom Fleck und erreichte 1999 eine rachitische Wachstumsrate von 0,3%. Die Perspektiven für das Jahr 2000 sind sehr pessimistisch. Und dies trotz einer spektakulären Entwicklung der Staatsausgaben: Das Staatsdefizit erreichte 1999 9,2% des BIP.

Die “New Economy”

Die Argumente über das „enorme Wachstum“ in Amerika und die „spielende Überwindung der Asienkrise“ entbehren jeglicher seriösen Analyse. Doch ein drittes Argument scheint mehr Bestand zu haben: „die Revolution der New Economy“, welche die Fundamente der Gesellschaft komplett umwälzen und durch das Internet die traditionelle Aufteilung der Gesellschaft in Klassen (Arbeiter und Unternehmer) auflösen werde, sie zu einer Masse von „Partnern“ mache. Mit anderen Worten, der Motor der Wirtschaft sei nicht mehr die Anhäufung von Profit, sondern der Konsum und die Information. Schlussendlich werde die Krise zu einem alten Hut aus vergangenen Zeiten, da sich die Weltwirtschaft harmonisch durch die Transaktionen via Internet reguliere. Das einzige Problem seien die „Unangepassten“ die noch in der „alten Ökonomie“ verharren würden.

Es ist hier nicht der Ort, um erneut all diese stupiden Behauptungen aufzulisten. Der erste Artikel in der Internationalen Revue Nr. 26 entlarvte schon auf überzeugende Art und Weise diesen neuen Mythos mit dem uns der Kapitalismus einlullen will.8

Zuerst sollten wir uns an die Geschichte erinnern: Wie oft schon in den letzten siebzig Jahren hat uns der Kapitalismus ein ökonomisches „Modell“ als endgültige Lösung verkaufen wollen? In den 30er Jahren präsentierten sich die sowjetische Industrialisierung, der amerikanische New Deal und der belgische DeMan-Plan als Lösung gegen die Krise von 1929 - sie führten aber in Wirklichkeit zum Zweiten Weltkrieg! Es waren der „Wohlfahrtsstaat“ der 50er, der „Aufschwung“ der 60er Jahre, die verschiedenen „Wege zum Sozialismus“ und die „Rückkehr zu Keynes“ in den 70er Jahren, die „Reagonomics“ und das „japanische Modell“ der 80er Jahre, die „asiatischen Tiger“ und die „Globalisierung“ der 90er Jahre - heute ist es die „New Economy“. Der Sturm der Krise hat sie alle nacheinander hinweggefegt. Schon ein Jahr nach ihrer Geburt ist die „New Economy“ veraltet und unbrauchbar.

Zweitens wurde die Lüge portiert, dass die „New Economy“, basierend auf dem Internet, sehr viele Arbeitsplätze schaffen würde. Dies ist ein kompletter Irrtum. Der oben zitierte Artikel von Battaglia comunista (Fussnote 5) zeigt auf, dass von den 20 Millionen geschaffenen Arbeitsplätzen in den USA lediglich eine Million mit dem Internet zusammenhängen. Der Rest besteht aus „High-Tech-Jobs“ wie Hundeausführen, Parkplatzbewachung, Pizza- und Hamburgerkurieren, Babysittern usw.

In Wirklichkeit eliminiert die Einführung des Internet in Handel, Information, Finanz und öffentlicher Verwaltung Arbeitsplätze statt neue zu schaffen. Eine Studie über Bankinstitute der „New Economy“ zeigt, dass:

-          ein Netz von Büros, die Computer ohne permanente Verbindung einsetzen9, 100 Angestellte;

-          ein Netz von Büros mit permanent verbundenen Computern nur noch 40 Angestellte;

-          ein Telebanking-Netz 25 Angestellte;

-          ein Internet-Banking-Netz schließlich gerade noch 3 Angestellte beschäftigt.

Eine andere Studie der EU kommt zum Schluss, dass das Ausfüllen von Formularen via Internet einen Drittel der Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung überflüssig machen kann.

Ist es möglich, dass das Internet die Basis für eine Ausweitung der kapitalistischen Produktion bildet?

Der Zyklus des Kapitals kennt zwei untrennbare Stufen: die Mehrwertproduktion und ihre Realisierung. In der dekadenten Phase des Kapitalismus, mit einem gesättigten Markt, wird die Realisierung des Mehrwerts zum Hauptproblem. In diesem Rahmen nehmen die Kosten für Absatz, Verteilung und Finanzierung, welche zur Realisierung des Mehrwerts gehören, enorme Proportionen an. Die Unternehmen und Staaten entwickeln einen gigantischen Apparat für Absatz, Werbung, Finanzierung usw., um aus dem noch existierenden Markt die letzten Tropfen auszupressen (Tricks zur künstlichen Vergrößerung des Konsums) und den Konkurrenten Marktsegmente abspenstig zu machen.

Zu diesen notwendigen Kosten für die Realisierung des Mehrwerts kommen jedoch weitere hinzu, die eine noch größere Dimension annehmen: die Aufrüstung, der Aufbau einer gigantischen staatlichen Bürokratie usw. Die Einführung des Internet versucht, das enorme Gewicht dieser Kosten so weit als möglich zu senken, doch für die Wirtschaft als Ganze, vom Gesichtpunkt des Gesamtkapitals aus betrachtet, kann sich der Markt nicht erweitern. Er erfährt nur eine erneute Reduktion, die Menge der zahlungskräftigen Käufer nimmt ab.

Weit entfernt davon, Gesundheit und Fortschritt des Kapitalismus darzustellen, ist die ganze Geschichte mit dem Internet Ausdruck der tödlichen Spirale, in der er sich befindet: Der Rückgang eines kaufkräftigen Marktes steigert die unproduktiven Kosten und bedeutet Schulden, was wiederum den kaufkräftigen Markt reduziert, worauf erneut die Schraube der Schulden und unproduktiven Kosten angezogen wird - und so weiter!

Das erneute Auftauchen der Inflation

Die Inflation ist eine typische Erscheinung des dekadenten Kapitalismus und fand ihren wohl spektakulärsten Ausdruck im Deutschland der 20er Jahre mit einer Entwertung der Mark von über 2000%. Nach dem gewaltigen Ausbruch der Inflation in den 70er Jahren hat der Kapitalismus 20 Jahre lang die Inflationsraten in den industrialisierten Ländern beträchtlich gesenkt. Doch wie wir bereits im Bericht für den 13. Kongress der IKS schrieben, wurde die Inflation in Wirklichkeit nur versteckt durch eine kräftige Reduktion der Kosten und ein sehr aufmerksames Vorgehen der Zentralbanken bezüglich der zirkulierenden Geldmenge. Dennoch, die Gründe für die Inflation – die gigantische Verschuldung und die unproduktiven Kosten, die notwendig sind, um das System über Wasser zu halten - sind keineswegs verschwunden, sondern nehmen immer mehr an Gewicht zu. Der neue inflationäre Druck, welcher sich seit Beginn des Jahres 2000 entwickelt, kommt also keineswegs überraschend. Die Zuspitzung der Krise, die sich seit 1995 in einer Erschütterung der Börsen ausdrückt, kann eine weitere schwerwiegende Episode durch einen Ausbruch der Inflation auslösen.

In ihrem Bericht vom Juni 2000 läutete die OECD die Alarmglocken wegen des zunehmenden inflationären Risikos, welches von der amerikanischen Wirtschaft ausgeht: „Die gerade stattgefundene Steigerung der Inlandsnachfrage ist untolerierbar, und ein inflationärer Druck wurde in letzter Zeit viel spürbarer, während das gegenwärtige Handelsdefizit scharf, nämlich auf 4% des Bruttoinlandproduktes, anstieg. Die Herausforderung für die Regierenden ist eine geordnete Reduktion der steigenden Nachfrage.“ Nachdem die Inflation in den USA 1998 einen Tiefststand erreicht hat (1,6%), wird sie laut der US-Notenbank im Jahr 2000 auf 4,5% ansteigen. Diese Tendenz wurde auch in Europa festgestellt, wo der Durchschnitt für die Euro-Zone von 1,3% 1998 auf eine Voraussage von 2,4% für das Jahr 2000 anstieg, mit Spitzen wie in Holland (erwartete 3,5%), Spanien (im September 3,6%) und Irland (wo 4,5% erreicht wurden).

Die astronomische Verschuldung, die Spekulationsblase, der sich vertiefende Graben zwischen Produktion und Konsumption und das zunehmende Gewicht der unproduktiven Kosten drängen an die Oberfläche und stellen die angebliche Gesundheit der Wirtschaft in Frage.

Die katastrophalen Auswirkungen des Krisenmanagements

Nach knapp 2 Jahren Ruhe gerät die Weltwirtschaft erneut in einen Sturm.

Der Lärm der Kampagnen über die „Gesundheit“ des Kapitalismus und die „New Economy“ ist umgekehrt proportional zur tatsächlichen Wirkung der Politik des Krisenmanagements. Die triumphalistischen Höhenflüge verdecken den immer beschränkter werdenden Handlungsspielraum der Staaten. Der wirtschaftliche, menschliche und gesellschaftliche Preis, den das Proletariat und die gesamte zukünftige Menschheit zu bezahlen haben, wird immer höher. Der Kapitalismus droht die ganze Welt durch Kriege (heute sind sie noch lokal begrenzt) und die Politik des „Krisenmanagements“ in eine Trümmerlandschaft zu verwandeln. Es drohen vor allem 3 Gefahren:

-          der Zusammenbruch der Wirtschaft in immer mehr Ländern;

-          ein zunehmender Prozess der Schwächung

-          und Zersetzung der Ökonomie der zentralen Länder;

-          Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.

Die „Organisierung“ des weltweiten Handels und der Finanzen durch die am meisten industrialisierten Länder hat die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die peripheren Länder abgewälzt und diese in eine gigantische Brachlandschaft verwandelt. Unsere Genossen in Mexiko haben in Revolución Mundial hervorgehoben, dass „bis Ende der 60er Jahre die Länder der Peripherie vornehmlich Exporteure von Rohmaterialien waren. Doch die Tendenz ist, dass die peripheren Länder Importeure werden, selbst von Rohstoffen. Mexiko zum Beispiel, das Land des Mais, ist heute Importeur dieses Getreides. Es sind heute die zentralen Länder, welche zu Exporteuren von Rohstoffen geworden sind.“ Der Kapitalismus konzentriert sich heute dermaßen darauf, die zentralen Länder über Wasser zu halten, dass diese nun auf dem Rohstoffmarkt konkurrenzfähig sind, während es historisch eine internationale Arbeitsteilung gab, die von diesen Ländern selbst eingeführt wurde und die die Rohstoffproduktion den peripheren Ländern überließ.

Ein kürzlich verfasster Bericht der Weltbank über Afrika präsentiert ein schreckliches Bild: Afrika liefert nicht mehr als 1% des weltweiten Bruttosozialproduktes und sein Anteil am Welthandel beträgt weniger als 2%. „Während der letzten 30 Jahre hat Afrika die Hälfte seines Anteils am Weltmarkt verloren, die traditionellen Rohstoffmärkte eingeschlossen. Nur um den Anteil zu halten den es 1970 hatte, müsste es zusätzlich 70 Billionen Dollar pro Jahr mehr einnehmen.“ In Kilometern gemessen hat Afrika weniger Strassen als Polen und nur 16% davon sind asphaltiert. Weniger als 20% der Bevölkerung hat Zugriff auf elektrischen Strom, und weniger als 50% verfügen über trinkbares Wasser. Es gibt nur 10 Millionen Telefone für eine Bevölkerung von 300 Millionen Menschen. Mehr als 20% der Erwachsenen sind mit AIDS infiziert und die Arbeitslosigkeit in den großen Städten wird auf rund 25% geschätzt. Jede fünfte Person in Afrika lebt in einem Kriegsgebiet. Diese Zahlen schliessen Südafrika und die nordafrikanischen Länder mit ein, ansonsten würden die Zahlen noch schlimmer aussehen.

Diese Entfaltung der Barbarei kann nur durch die unkontrollierte Vertiefung der kapitalistischen Krise erklärt werden. So wie die Entwicklung des Kapitalismus im England des 19. Jahrhunderts die Zukunft der Welt aufzeigte, kündigt heute die Misere in Afrika die Zukunft an, die der Kapitalismus der Menschheit bereitet, wenn er nicht überwunden werden kann.10 Die Auswirkungen des „Krisenmanagements“ greifen mehr und mehr auch die Infrastruktur und Grundlage des Produktionsapartes der großen kapitalistischen Staaten an, deren Grundstrukturen immer zerbrechlicher werden.

Bürgerliche Experten geben offen zu, dass der westliche Kapitalismus eine „Risikogesellschaft“ geworden sei. Mit dieser Beschönigung verschleiern sie den beschleunigten Zerfall, dem die Transportsysteme (Luftfahrt, Eisenbahn und Straßen) unterliegen. Dies zeigt sich klar in der Zunahme von Unfällen bei Untergrundbahnen und der Eisenbahn, wie letzthin bei einer Seilbahn in Österreich, wo 150 Menschen starben.

Dasselbe spielt sich bei der öffentlichen Infrastruktur ab. Kanalisationssysteme, Dämme und Schutzvorrichtungen gegen Überschwemmungen sind immer mehr veraltet; eine Konsequenz der systematischen und zunehmenden Budgetstreichungen für deren Unterhalt. Das Ergebnis waren Überschwemmungen und andere Katastrophen in Ländern wie England, Deutschland und Holland, wo sich doch solche Ereignisse bisher vor allem auf südliche und unterentwickelte Ländern beschränkten.

Was das Gesundheitssystem angeht, so ist die Kindersterblichkeitsrate in New Yorker Quartieren wie Harlem und Brooklyn höher als in Shanghai oder Moskau. Die Lebenserwartung in diesen Gebieten beträgt 66 Jahre. In Großbritannien stellt die nationale Ärztegesellschaft in einem Bericht, der am 25. November 1996 veröffentlicht wurde, fest, dass „die Krankheiten aus der Zeit Dickens von neuem England befallen. Dies sind die typischen Armutskrankheiten wie Rachitis und Tuberkulose.“     

Der Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse

Die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ist das wichtigste Indiz für das Voranschreiten der Krise. Wie Marx es im Kapital ausdrückte: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (3. Band, MEW 25 S. 501) Der Angriff auf die Lebensbedingungen war in den 70er Jahren noch relativ sanft, er hat sich aber in den letzten 20 Jahren zugespitzt.11

Um die Verschuldung aufrecht zu erhalten, Ballast abzuwerfen und jedes unrentable Geschäft abzustoßen und mit diesen Mitteln den erbarmungslosen Konkurrenzkampf auszufechten, hat jedes nationale Kapital die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die Arbeiterklasse abgewälzt: Seit den 80er Jahren ist das Leben der “privilegierten” Arbeiter der zentralen Ländern - ganz zu schweigen von der furchtbaren Lage ihrer Klassenbrüder und -schwestern in den Ländern der Dritten Welt - mit dem glühenden Eisen der Massenentlassungen gebrandmarkt worden, mit der Umwandlung der festen Anstellung in prekäre Arbeit, der Ausbreitung von schlechtest entlöhnten Stellen verbunden mit Unterbeschäftigung, der Verlängerung des Arbeitstages mithilfe von zahlreichen Schlichen wie der “35-Stunden-Woche”, der Kürzung der Renten und der Sozialhilfe, dem schwindelerregenden Anstieg der Arbeitsunfälle ...

Die Arbeitslosigkeit ist der wichtigste und zuverlässigste Maßstab der historischen Krise des Kapitalismus. Die herrschende Klasse der industrialisierten Länder ist sich der Ernsthaftigkeit des Problems bewusst und hat eine Verschleierungspolitik gegenüber der Arbeitslosigkeit entwickelt, mit der sie diese vor den Augen der Arbeiter und der ganzen Bevölkerung zu verstecken versucht. Diese Politik, die zahlreiche Arbeiter auf ein tragisches Karussell verbannt (eine prekäre Stelle, einige Monate Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, ein Umschulungskurs, wieder einige Monate Arbeitslosigkeit etc.) und zu der sich die skandalöse Manipulation der Statistiken gesellt, erlaubt es der Bourgeoisie, in alle Windrichtungen zu verkünden, dass die “dauerhaften” Erfolge die Arbeitslosigkeit ausgerottet hätten.

Eine Studie über den Prozentsatz der Arbeitslosen unter den 25- bis 55-jährigen offenbart viel genauere Zahlen als die allgemeinen Statistiken über die Arbeitslosigkeit, die die Prozentzahlen verwässern, indem sie die Jungen, die häufig ihre Studien fortsetzen (18-25-jährige), und die frühpensionierten Arbeiter (56-65-jährige) darunter mischen:

Durchschnittliche Arbeitslosenrate bei den 25- bis 55-jährigen (1988-95)

Frankreich                             11.2%

Großbritannien                      13.1%

USA                                       14.1%

Deutschland                          15.0%

In Großbritannien entwickelte sich die Zahl der Familien, bei denen alle Mitglieder arbeitslos waren, wie folgt12:

1975                             6.5%

1985                           15.1%

1995                           19.1%

Die unmittelbare Konjunktur der letzten Monate war gekennzeichnet von einer Entlassungswelle ohnegleichen in allen produktiven Sektoren, von der Industrie über die sehr alten Handelsunternehmen wie Marks & Spencer bis zu den Dot.com-Unternehmen.

Die UNO erarbeitet einen Index mit der Bezeichnung IMA (Index der menschlichen Armut). 1998 betrug der Prozentsatz der Bevölkerung, der unter diesem IMA-Minimum lebt, in:

den USA                   16,5%

Großbritannien         15,1%

Frankreich                11,9%

Italien                         11,6%

Deutschland             10,4%

Die Löhne sind in den letzten 10 Jahren kontinuierlich gesunken. Betrachten wir die USA allein, so ist „das durchschnittliche Wocheneinkommen – die Inflationsrate mit einberechnet – von 80% der amerikanischen Arbeiter zwischen 1973 und 1995 um 18% von 315 Dollar auf 285 Dollar pro Woche gefallen“13. Diese Zahlen wurden in den letzten fünf Jahren nochmals bestätigt: Zwischen Juli 1999 und Juni 2000 fielen die Lohnkosten in den USA um 0,8%. Der durchschnittliche Stundenlohn betrug 1973 11,5 Dollar, 1999 10 Dollar14. Die Ausbeutung nahm in den USA unerbittlich zu: Um dasselbe Einkommen zu erhalten (die Inflationsrate einberechnet), mussten die Arbeiter 1999 mehr Stunden arbeiten als 1980.

Die Grenzen des Kapitalismus

Die Überlebensstrategie des Kapitalismus hat bis heute in den zentralen Ländern eine Stabilität aufrecht erhalten können, allerdings zum Preis, dass die Situation an sich nur noch verschlimmert wurde: „Im Gegensatz zu 1929 ist die Bourgeoisie in den letzten 30 Jahren gegenüber der Krise nicht überrascht oder tatenlos gewesen, sondern hat ständig auf sie reagiert, um ihren Verlauf zu kontrollieren. Dies erklärt die lange Dauer und die erbarmungslose Vertiefung der Krise, die sich trotz aller Bemühungen der herrschenden Klasse weiter zuspitzt. (...) 1929 gab es noch keine ständige staatliche Überwachung der Wirtschaft, der Finanzmärkte und der internationalen Handelsabkommen, keine Garantieerklärungen, keine internationale Feuerwehr, um diejenigen zu retten, die in Schwierigkeiten steckten. Zwischen 1997-99 dagegen sind ganze Wirtschaften mit beträchtlicher ökonomischer und politischer Bedeutung in der kapitalistischen Welt den Bach runter gegangen trotz der Existenz all dieser staatskapitalistischen Instrumente.“  (Resolution zur internationalen Lage, 13. Kongress der IKS)

Angesichts dieser Situation ist es eine falsche, auf Hoffnungslosigkeit und kurzfristigem Denken beruhende Methode, wie besessen auf die große Rezession zu warten, in der die herrschende Klasse derart die Kontrolle verlieren würde, dass die Krise durch ihre Brutalität und die ausgelöste sichtbare Katastrophe die kapitalistische Produktionsweise in Frage stellen würde.

Wir schließen die Möglichkeit einer Rezession nicht aus. 1999-2000 brauchte der Kapitalismus, um noch atmen zu können, noch riskantere Dosen desselben Gifts, das zur Explosion von 1997-98 führte, was in nächster Zukunft noch größere Erschütterungen erwarten lässt. Doch die Tiefe der Krise lässt sich nicht am Fall der Produktionszahlen messen, sondern vielmehr - aus einem globalen und historischen Sichtwinkel - an der Zuspitzung der Widersprüche, dem sich verringernden Spielraum für Manöver und vor allem an der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse.

Unsere Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus beschreibt zur Kritik der Auffassungen Trotzkis, demzufolge in der dekadenten Phase des Kapitalismus „die Produktivkräfte der Menschheit zu wachsen aufgehört haben“, folgendes: „Jede gesellschaftliche Änderung ist das Ergebnis einer langen und wirklichen Zuspitzung des Zusammenstoßes zwischen den Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften. Falls wir die Hypothese eines endgültigen und ständigen Stillstandes dieser Entwicklung verteidigen, könnte nur eine „absolute“ Verschärfung der Beschränkungen, den die Produktionsverhältnisse darstellen, die Tendenz zur eindeutigen Zuspitzung dieses Widerspruchs erklären. Man kann jedoch feststellen, dass die Bewegung, die sich im allgemeinen während den verschiedenen Dekadenzzeiträumen der Geschichte (den Kapitalismus eingeschlossen) entwickelt, eher zu einer Ausdehnung der Grenzen bis zu deren „Äußersten“ neigt, als zu einem Schrumpfen derselben.“ (Die Dekadenz des Kapitalismus, Seite 18)

Ein wichtiger Teil der marxistischen Analyse zur Dekadenz von Produktionsformen ist das Verständnis über die Art und Weise, wie der Kapitalismus sein „Krisenmanagement“ betreibt, um in den zentralen Ländern die Auswirkungen möglichst begrenzt zu halten. War nicht das römische Reich gezwungen, sich aus Byzanz zurückzuziehen und weite Gebiete der Invasion der Barbaren zu überlassen? Reagierten nicht auch die feudalen Könige mit derselben despotischen Manier Angesichts des Erfolgs der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise?

„Die Befreiung der Sklaven unter dem späten römischen Reich, die Befreiung der Leibeigenen am Ende des Mittelalters, die beschränkten Freiheiten, die die im Verfall begriffene Monarchie den neuen Städten der Bourgeoisie zugestehen musste, die Verstärkung der Zentralmacht der Krone, die Ausschaltung der „Schwertadligen“ zugunsten eines „Kleideradels“, der zentralisiert, geschwächt und dem König direkt unterworfen war, ebenso die kapitalistischen Erscheinungen wie Planungsversuche, die Bemühungen der Lockerung der nationalen, wirtschaftlichen Grenzen, die Tendenz der Ersetzung der schmarotzerhaften Bourgeoisie durch „wirkungsvolle Manager“, die Angestellte der Kapitals sind, die Politik des „New-Deal“-Types und die ständigen Manipulationen bestimmter Mechanismen des Wertgesetztes, all dies beweist die Tendenz zur Ausweitung des juristischen Rahmens durch die Offenlegung der Produktionsverhältnisse. Die dialektische Bewegung kann nicht aufgehalten werden, nachdem die Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht hat. Diese Bewegung unterläuft einen qualitativen Wandel, aber sie endet nicht. Die Verschärfung der der Gesellschaft innewohnenden Widersprüche setzt sich notwendigerweise fort, und daher muss diese Entwicklung der gefesselten Kräfte weitergehen, selbst wenn sie sich auch noch so langsam vollzieht.“ (ebenda)

Die Entwicklung der letzten 30 Jahre stimmt vollkommen mit dieser Analyse überein. Nach mehr als 50 Jahren Überleben inmitten großer Erschütterungen hat sich der Kapitalismus auf eine Politik des Krisenmanagements zu konzentrieren, um einen brutalen Kollaps in den zentralen Ländern zu verhindern. Ein solcher Kollaps würde für den Kapitalismus wegen der sich über diese 50 Jahre angehäuften Widersprüche und vor allem angesichts eines ungeschlagenen Proletariates eine Katastrophe bedeuten.

In seinem Kampf gegen den ökonomischen Determinismus. der im Milieu der Linksopposition herrschte, verurteilte Bilan die plumpe Deformierung des Marxismus, welche behauptete: “Der produktive Mechanismus ist nicht nur die Quelle zur Bildung von Klassen, sondern bestimmt automatisch die Aktion und die Politik der Klassen und der Menschen, die sie repräsentieren; das Problem wird so vollkommen simplifiziert; die Menschen und selbst die Klassen würden so lediglich zu Marionetten der Produktivkräfte.“ (Bilan Nr. 5, „Die Prinzipien, Waffen der Revolution“) Doch, „wenn es zwar absolut richtig ist, dass die ökonomischen Mechanismen die Bildung von Klassen bestimmen, so ist es total falsch zu glauben, dass die ökonomischen Mechanismen diese direkt dazu stoßen, den Weg einzuschlagen, der zu ihrer Abschaffung führt“ (ebenda). Aus diesem Grunde „ist die Aktion der Klassen nicht möglich ohne ein Verständnis ihrer historischen Rolle und der Mittel. die zu ihrem Sieg führen. Die Klassen sind abhängig von den ökonomischen Mechanismen, um geboren zu werden und zu sterben, doch um zu siegen, müssen sie fähig sein, sich eine politische und organische Gestalt zu geben, ohne die sie, selbst wenn es durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt ist, Gefahr laufen, für lange Zeit Gefangene der alten Klasse zu bleiben, welche ihrerseits selbst den Kurs der ökonomischen Entwicklung gefangen hält.“ (ebenda)

Es ist kaum möglich, die gegenwärtigen Probleme, die durch den heutigen Kurs der historischen Krise des Kapitalismus gestellt werden, treffender zu beschreiben. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf die apokalyptische Depression zu warten, sondern eine methodische Analyse der konstanten Zuspitzung der Krise zu entwickeln und damit das Scheitern aller kapitalistischer Maßnahmen, die der Kapitalismus als „Mittel zur Überwindung der Krise und als Weg zu besseren Zeiten“ präsentiert, aufzuzeigen. All dies mit der Sorge um das Wesentliche: die Entwicklung des Klassenkampfes und vor allem des Bewusstseins des Proletariates, des Totengräbers der kapitalistischen Gesellschaft und Handwerkers der Aktion der Menschheit zur Bildung einer neuen Gesellschaft.

Aus diesem Grunde hat die Resolution des letzten Kongresses klargestellt, dass es in der Entwicklung des Kapitalismus keinen „wirtschaftlichen Punkt gibt, wo es „keine Rückkehr“ mehr geben kann, ab dem das System unwiderruflich dazu verdammt wäre zu verschwinden. Genauso wenig gibt es irgendeine theoretisch festgelegte Grenze des Schuldenbergs (die Hauptdroge des todkranken Kapitalismus), die das System sich selbst setzen kann, ohne seine eigene Existenz zu verunmöglichen. In der Realität hat der Kapitalismus seine ökonomischen Grenzen mit dem Eintritt in die Phase seiner Dekadenz erreicht. Seitdem konnte der Kapitalismus nur noch durch zunehmende Manipulationen an den Gesetzen des Kapitalismus überleben: eine Aufgabe, die nur der Staat erfüllen kann.

In Wirklichkeit sind die Grenzen des Kapitalismus politisch und nicht ökonomisch. Der Ausgang der historischen Krise des Kapitalismus hängt von der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ab:

entweder kann das Proletariat seinen Kampf entfalten, bis es seine weltweite revolutionäre Diktatur durchsetzen kann,

oder der Kapitalismus stürzt die Menschheit durch seine ihm innewohnende Tendenz zum Krieg in Barbarei und endgültige Zerstörung.“


1 Siehe dazu: Internationale Revue Nr. 25: „Wohin der Kapitalismus die Welt treibt“ und International Review Nr. 101 (engl./franz./span. Ausgabe): „Das barbarischste Jahrhundert der Geschichte“.

2 Im Rahmen dieser Zusammenarbeit gegen die kleinen Gangster haben sich die Großen jedoch eine wütende Schlacht zur Steigerung des jeweils eigenen Anteils an der Weltwirtschaft geliefert.

3 „Die kapitalistische Gesellschaft in der imperialistischen Epoche ist wie ein Gebäude bei dem das Material für den Bau der oberen Stockwerke den unteren und dem Fundament entnommen wurde. Je wilder die oberen Stöcke in die Höhe schießen, desto schwächer werden die Fundamente, die das Gebäude stützen. Je größer der Schein der Macht an der Spitze, desto zerbrechlicher ist das Gebäude in Wirklichkeit.“ (Internationalisme Nr. 2, „Bericht über die internationale Situation“, Juli 1945)        

4 Diese runde Ziffer ist eh falsch. In Realität handelt es sich um 33 Wachstumsmonate (8 Jahre und ein Quartal). All die Kommentare über das „Aussergewöhnliche“ dieses Wachstumszyklus unterschlagen bewusst, dass es in den 60er Jahren einen längeren Zyklus (35 Trimester) gab.

5 Die Zahlen stammen aus einem Artikel von Battaglia comunista über die „New Economy“: Prometeo Nr. 1, 2000.

6 UNO-Bericht der Wirtschaftskommission für Europa.

7 Das Gewicht der Rüstungsausgaben in den USA drückt ebenfalls auf das kranke Wachstum. Diese Ausgaben erreichten 1985 in der Epoche des sog. Kriegs der Sterne unter Reagan den Höhepunkt mit 352‘000 Millionen Dollar und sind seit 1990 auf den Tiefstand von 1997 mit 255‘000 Millionen Dollar gefallen. Seither ist ein neuer Anstieg zu verzeichnen, 2000 erreichten die Ausgaben wieder 274‘000 Millionen Dollar (Zahlen aus Révolution Internationale Nr. 305).

8 Die Juniausgabe 2000 von Prometeo enthielt auch einen Artikel gegen den Mythos der „Neuen Ökonomie“ und enthält wertvolle Argumente.

9Als Vergleichsgrundlage dient ein solches Netz von Büros mit 100 Arbeitsplätzen und Computern ohne permanente Verbindung.

10 Die herrschende Klasse bietet demgegenüber andere Visionen an, diejenigen der Bewegung von Prag und Seattle: Die Schuld wird einer bestimmten Form der kapitalistischen Politik in die Schuhe geschoben (dem Liberalismus und der Globalisierung), fordert einen „faireren Handel“, „Schuldenerlasse“ und „radikale Proteste“. Sie fördert somit die Idee, dass der Kapitalismus gesund sei, eine fortschrittliche Entwicklung stattfinden könnte und „Reformen“ möglich seien, wenn nur die „Irrtümer“ des IWF und der WTO und anderer „Bösewichte“ korrigiert würden.

11 Vgl. unsere Serie ”30 Jahre offene Krise des Kapitalismus” in Internationale Revue Nr. 24-26

12 Quelle: London School of Economics, eine im Januar 1997 veröffentlichte Studie.

13 Diese Zahlen sind einem Buch von J. Gray mit dem Titel Falso amanecer entnommen, welches eine Kritik an der Globalisierung sein will.

14 Zahlen aus dem zitierten Artikel von Battaglia comunista in Prometeo.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [1]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [2]

1921 Kronstadt verstehen

  • 3529 reads

Vor 80 Jahren im März 1921, vier Jahre nach der erfolgreichen Machtübernahme durch die Arbeiterklasse in der russischen Oktoberrevolution 1917, unterdrückte die bolschewistische Partei gewaltsam eine Erhebung in der Garnison der baltischen Flotte in Kronstadt auf der kleinen Insel Kotlin im finnischen Meerbusen, 30 Kilometer von Petrograd entfernt.

Die bolschewistische Partei hatte im Kampf gegen die konterrevolutionären Armeen der russischen und ausländischen Bourgeoisien eine mehrjährige Erfahrung im Führen eines blutigen Bürgerkrieges gesammelt. Doch der Aufstand der Kronstädter Garnison war neu und anders: Es war ein Aufstand von Innen, von der Arbeiterklasse, die das Sowjetregime unterstützt hatte, die die Avantgarde der Oktoberrevolution gewesen war und nun Klassenforderungen aufstellte, um etliche inakzeptable Deformationen und Verirrungen der neuen Machthaber zu korrigieren.

Die gewaltsame Niederschlagung dieses Kampfes bildete seitdem einen Bezugspunkt für das Verständnis der Bedeutung des revolutionären Projektes. Und heute, wo die Bourgeoisie alles daran setzt, der Arbeiterklasse zu beweisen, dass es einen unerschütterlichen Zusammenhang zwischen Marx und Lenin sowie Stalin und dem Gulag gibt, um so mehr.

Wir haben nicht die Absicht, in alle historischen Details zu gehen. Frühere Artikel in der Internationalen Revue haben sich mit dem Ereignis bereits detailliert befasst. (Internationale Revue, engl./franz./span. Ausgabe, Nr. 3: „Die Lehren von Kronstadt“, und Nr. 100: „Das Proletariat und der Staat in der Übergangsperiode“)

Im Gegenteil, wir wollen die Gelegenheit dieses Jubiläums wahrnehmen, um uns polemisch mit zwei Arten von Argumenten über den Aufstand von Kronstadt auseinanderzusetzen: erstens die anarchistische Verwendung der Ereignisse, um die autoritäre, konterrevolutionäre Natur des Marxismus und der Parteien, die in seinem Namen agieren, zu beweisen; zweitens der Gedanke, der noch immer im proletarischen Lager heute existiert, wonach die Niederschlagung der Rebellion eine „tragische Notwendigkeit“ gewesen sei, um die Errungenschaften des Oktobers zu verteidigen.

Die anarchistische Sichtweise

Der anarchistischen Historiker Voline schreibt: „Lenin hat von der Kronstädter Bewegung nichts begriffen – oder wollte vielmehr nichts begreifen. Für ihn und seine Partei ging es einzig und allein darum, die Macht zu behaupten, koste es was es wolle. (...) Als autoritäre und staatsgläubige Marxisten konnten die Bolschewiki keine Freiheit der Massen zulassen, keine Unabhängigkeit ihrer Aktion. Sie hatten überhaupt kein Vertrauen in die freien Massen. Sie waren überzeugt, dass der Sturz ihrer Diktatur das Ende des ganzen begonnenen Werkes, die Gefährdung der Revolution überhaupt bedeuten würde, der Revolution, mit der sie ihre Diktatur verwechselten. (...) Kronstadt war der erste vollkommen unabhängige Versuch des Volkes, sich von jedem Joch zu befreien und die Soziale Revolution zu verwirklichen: Es war ein direkter, entschlossener und kühn durchgeführter Versuch der werktätigen Massen selbst, ohne „politische Hüter“, ohne „Führer“ oder Vormund. Kronstadt war der erste Schritt zur Dritten, zur Sozialen Revolution. Kronstadt fiel. Aber es tat, was es tun musste, und das ist das Entscheidende. In dem verwirrenden und finsteren Labyrinth der Wege, die sich den revolutionären Massen anbieten, ist Kronstadt ein strahlender Leuchtturm, der den richtigen Weg erhellt. Dabei ist es unwichtig, dass die Aufständischen – unter den spezifischen Bedingungen – noch von einer Macht (der Sowjets) sprachen, anstatt den Begriff und die Vorstellung einer Macht für immer zu verbannen, anstatt von Koordination, Organisation und Administration zu sprechen. Dies war der letzte Tribut an die Vergangenheit. Wenn die uneingeschränkte Diskussions-, Organisations- und Handlungsfreiheit von den werktätigen Massen selbst endgültig errungen sein wird, wenn der wahre Weg der unabhängigen Aktivität des Volkes beschritten sein wird, dann folgt alles übrige zwangsläufig, automatisch.“ (Voline, Der Aufstand von Kronstadt, Unrast-Verlag, Seiten 128 und 133. Originaltitel: Die unbekannte Revolution)

Für die Anarchisten, deren Sichtweisen Voline prägnant ausdrückt, war die Unterdrückung des Kronstädter Aufstandes also die natürliche, logische Konsequenz aus den marxistischen Auffassungen der Bolschewiki. Der Substitutionismus der Partei, die Identität zwischen der Diktatur des Proletariats und der Parteidiktatur und die Schaffung eines Übergangsstaates seien Ausdruck ihrer überbordenden Gier nach Macht, Autorität über die Massen gewesen, in die sie kein Vertrauen besessen hätten. Bolschewismus bedeutete Voline zufolge die Ersetzung der einen Form der Unterdrückung durch eine andere.

Doch war Kronstadt für ihn nicht nur eine Revolte, sondern ein Modell für die Zukunft. Indem der Kronstädter Sowjet sich selbst auf wirtschaftliche und soziale Aufgaben (Koordination, Organisation, Administration) beschränkt, und sich nicht um politische Aufgaben (dem Gerede über die Sowjetmacht) geschert habe, habe er bildhaft gemacht, wie eine wahre soziale Revolution aussehen müsste: eine Gesellschaft ohne Führer, ohne Parteien, ohne Staat, ohne Macht jeglicher Art, eine Gesellschaft der sofortigen und völligen Freiheit.

Dumm nur für die Anarchisten, dass die erste Lektion sich auffällig mit der vorherrschenden Ideologie der Weltbourgeoisie deckt, wonach eine kommunistische Revolution nur zu einer neuen Form der Tyrannei führt.

Diese Übereinstimmung in der Sichtweise zwischen den Anarchisten und der Bourgeoisie ist nicht zufällig. Beide behandeln die Geschichte mit den Abstraktionen der Gleichheit, Solidarität und Brüderlichkeit gegen Hierarchie, Tyrannei und Diktatur. Die Bourgeoisie benutzte diese moralischen Prinzipien zynisch und heuchlerisch gegen die Oktoberrevolution, um die Brutalität der konterrevolutionären Kräfte zwischen 1918 und 1920 zu rechtfertigen, als sie bewaffnete Interventionen gegen Russland anführte und es wirtschaftlich strangulierte. Die praktische Alternative der Anarchisten zum Bolschewismus ist auf der anderen Seite eine naive Utopie, wo die historischen Probleme, denen die proletarische Revolution gegenüber steht, auf mysteriöse Weise wegschmelzen.

Doch wie die Ereignisse von Spanien 1936 bestätigen, bleibt der anarchistischen Naivität, nachdem sie die marxistische historische Konzeption der Revolution verworfen hat, nur noch, vor der praktischen Konterrevolution der Bourgeoisie zu kapitulieren.

Wenn die Bolschewiki grundsätzlich von einer Manie für die völlige Machtausübung motiviert waren, wie Voline behauptet, dann ist der Anarchismus im Gegensatz dazu unfähig, auf eine ganze Reihe von Fragen zu antworten, die von der historischen Realität aufgeworfen werden. Wenn das ultimative Ziel der Bolschewiki die Macht war, warum verdammten sie sich dann, anders als die Mehrheit der Sozialdemokraten, selbst zu einer Periode der Ächtung zwischen 1914 und 1917, als sie den imperialistischen Krieg denunzierten und dazu aufriefen, ihn in einen Bürgerkrieg zu verwandeln? Warum weigerten sie sich dann, anders als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, zusammen mit der liberalen Bourgeoisie Russlands nach der Februarrevolution von 1917 der Provisorischen Regierung beizutreten, und forderten stattdessen: „Alle Macht den Räten“?

Warum vertrauten sie den Fähigkeiten der russischen Arbeiterklasse, im Oktober die proletarische Weltrevolution zu beginnen, anders als der überwiegende Rest der internationalen Sozialdemokratie, die das dortige Proletariat für zu rückständig und zahlenmäßig für zu klein hielten, um die Bourgeoisie zu stürzen?

Warum vertrauten sie der Unterstützung durch die Arbeiterklasse, errangen und behielten sie, als es darum ging, die notwendigen Opfer zu erbringen, um die alliierte Blockade zu überleben und mit Waffen in den Händen den konterrevolutionären Armeen zu widerstehen?

Wie ist es zu erklären, dass sie das Weltproletariat dazu inspirierten, dem russischen Vorbild mit eigenen revolutionären Versuchen in ganz Europa und in der restlichen Welt zu folgen? Wie konnte die bolschewistische Partei die Initiative bei der Schaffung einer neuen Kommunistischen Internationalen auf Weltebene übernehmen?

Und schließlich: Weshalb trat der Integrationsprozess der Partei in die Staatsmaschinerie, ihre Aneignung der Massenorgane der Arbeitermacht – die Arbeiterräte und Fabrikkomitees – und letztendlich der Gebrauch von Gewalt gegen den Klassenkampf nicht über Nacht auf, sondern erst nach einer längeren Periode?

Die Theorie von der den Bolschewiki innewohnenden „Boshaftigkeit“ erklärt weder die Degeneration der Russischen Revolution im Allgemeinen noch die Kronstädter Episode im Besonderen.

Ab 1921 war die Revolution in Russland und die sie anführende bolschewistische Partei mit einer schwierigen Situation konfrontiert. Die Ausbreitung der Revolution auf Deutschland und andere Länder schien weitaus weniger wahrscheinlich als 1919. Die Lage der Weltwirtschaft hatte sich verhältnismäßig stabilisiert, und der Spartakusaufstand, Angelpunkt der Weltrevolution, war gescheitert. Innerhalb Russlands war die Lage, trotz des Sieges im Bürgerkrieg, infolge der wiederholten Anschläge durch konterrevolutionäre Armeen und der wirtschaftlichen Strangulierung, die von der internationalen Bourgeoisie bewusst organisiert worden war, dramatisch. Die industrielle Infrastruktur lag in Trümmern, und die Arbeiterklasse war durch ihre Opfer auf den Schlachtfeldern zunächst im Ersten Weltkrieg und dann im Bürgerkrieg und schließlich dadurch dezimiert, dass sie in Scharen die Städte verlassen und aufs Land gehen mussten, um zu überleben. Auch sahen sich die Bolschewiki einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem Regime nicht nur unter den Bauern gegenüber, die eine Reihe von Erhebungen in den Provinzen in Gang setzten, sondern vor allem unter den Arbeitern, die Mitte Februar 1921 eine Streikwelle in Petrograd auslösten. Und dann kam Kronstadt.

Wie konnte Russland eine Bastion der Weltrevolution bleiben, die Verdrossenheit der Arbeiterklasse und die wirtschaftliche Auflösung überstehen und gleichzeitig auf die späte Hilfe durch die Arbeiterrevolutionen in anderen Ländern und besonders in Europa warten? Die Anarchisten haben keine Erklärung für die Degeneration der Revolution, außer, ihre Augen vor dem Problem der politischen Souveränität des Proletariats, der Zentralisierung ihrer Macht, der internationalen Ausdehnung der Revolution und der Übergangsperiode zur kommunistischen Gesellschaft zu schließen. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Bolschewiki einem katastrophalen Irrtum aufgesessen waren, als sie auf den Aufstand von Kronstadt militärisch antworteten und den Widerstand der Arbeiterklasse als einen Akt des Verrates und der Konterrevolution behandelten. Doch die bolschewistische Partei konnte nicht von der nachträglichen Einsicht profitieren wie die heutigen Revolutionäre. Sie konnte lediglich die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu jener Zeit nutzen, die niemals zuvor mit der immens schwierigen Aufgabe konfrontiert war, sich innerhalb einer feindlichen, kapitalistischen Umwelt an der Macht zu halten. Weder das Verhältnis der Sowjets zur Partei der Arbeiterklasse nach der erfolgreichen Machtergreifung noch das Verhältnis von beiden zum Übergangsstaat, der unvermeidbar war, um den bürgerlichen Staat erfolgreich zu zerschlagen, war verstanden worden.

Als sie das Staatsruder übernahm und allmählich die Arbeiterräte und Fabrikkomitees dem Staat einverleibte, stocherte die bolschewistische Partei im Dunkeln. Gemäß der vorherrschenden Meinung innerhalb der damaligen Arbeiterbewegung kam die Hauptgefahr für die Revolution von außerhalb des neuen Staatsapparates: von der internationalen Bourgeoisie und von der Bauernschaft sowie der russischen Bourgeoisie im Exil. Keine Tendenz in der kommunistischen Bewegung zu jener Zeit, nicht einmal der linke Flügel, hatte eine alternative Perspektive, auch wenn es Manche, auch innerhalb der bolschewistischen Partei, gab, die vor der Bürokratisierung des Regimes warnten. Aber ihre Rezepte waren nur bedingt wirksam und enthielten zudem andere Gefahren. Die Arbeiteropposition von Kollontai und Schljapnikow forderte die Gewerkschaften auf, die Arbeiter gegen die staatlichen Exzesse zu verteidigen, und übersah dabei, dass die Arbeiterräte sie als Massenorgane des revolutionären Proletariats abgelöst hatten.

Es gab so manchen in der bolschewistischen Partei, der gegen die Zerschlagung der Revolte opponierte: die Parteimitglieder in Kronstadt, die sich der Bewegung anschlossen, und Elemente wie Gawrjil Miasnikow, der später die Arbeitergruppe gründen sollte und sich der militärischen Lösung widersetzte. Doch die existierenden linken Tendenzen in der Partei und in der Kommunistischen Internationalen unterstützten, trotz ihrer Kritik am bolschewistischen Regime, unbeirrt die Anwendung von Gewalt. Die Arbeiteropposition meldete sich gar freiwillig bei den Stoßtruppen. Die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands, die KAPD, die gegen die Parteidiktatur opponierte, stimmte dennoch der militärischen Handlungen gegen die Kronstädter Rebellion zu (dies hindert einige Anarchisten wie die Anarchistische Föderation in Großbritannien heute nicht daran, die KAPD als ihre Ahnen zu beanspruchen!).

Schließlich bildeten die Forderungen des Kronstädter Sowjets entgegen der Auffassung Volines keine kohärente, alternative Perspektive, da sie hauptsächlich in einem unmittelbaren und lokalen Kontext eingebunden waren und sich nicht mit den weiteren Auswirkungen für die proletarische Bastion und mit der Weltlage befassten. Insbesondere gaben sie keine Antwort darauf, wie die Rolle der Avantgardepartei aussehen sollte.921#_edn1">1

Erst später, viel später, versuchten Revolutionäre, all die Lehren aus der Niederlage der Russischen Revolution und der revolutionären Welle, die dadurch ausgelöst wurde, zu ziehen, und konnten so auf die wirklichen Lektionen dieser tragischen Episode hinweisen:

„Es mag sein, dass unter bestimmten Umständen das Proletariat – und wir wollen ihm sogar zugestehen, dass es unbewusstes Opfer der feindlichen Manöver ist – in den Kampf gegen den proletarischen Staat tritt. Was ist in einer solchen Situation zu tun? Wir müssen von dem Prinzip ausgehen, dass der Sozialismus dem Proletariat nicht mit Zwang und Gewalt aufoktroyiert werden kann. Es wäre besser gewesen, Kronstadt zu verlieren, als es vom geographischen Standpunkt aus festzuhalten, da dieser Sieg substantiell nur ein Resultat haben konnte: die Änderung der eigentlichen Basis, der Substanz der vom Proletariat ausgeübten Tat.“ (Octobre Nr. 2, März 1938, Organ des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken)

Die Linkskommunisten haben den Finger auf das wesentliche Problem gelegt: Die bolschewistische Partei hat, indem sie staatliche Gewalt gegen die Arbeiterklasse anwendete, sich selbst an die Spitze der Konterrevolution gesetzt. Der Sieg über Kronstadt beschleunigte die Tendenz der bolschewistischen Partei, zu einem Instrument des russischen Staates gegen die Arbeiterklasse zu werden. Aus dieser Einsicht heraus waren die Linkskommunisten in der Lage, andere, kühne Schlussfolgerungen zu ziehen. Die kommunistische Partei muss, um die Vorhut des Proletariats zu bleiben, ihre Autonomie gegenüber dem postrevolutionären Staat sicherstellen, der die unvermeidliche Tendenz hat, den Status quo zu erhalten und das Fortschreiten des revolutionären Prozesses zu verhindern.

Die bordigistische Sichtweise

Jedoch ist diese Schlussfolgerung weit davon entfernt, von den heutigen Linkskommunisten allgemein anerkannt zu werden. In der Tat sind einige von ihnen, besonders die bordigistische Strömung, in völligem Gegensatz zu der Position der italienischen Fraktion von 1938, zu den Rechtfertigungen Lenins und Trotzkis für die Unterdrückung Kronstadts zurückgekehrt: „Es wäre sinnlos, über die schrecklichen Umstände, welche die Bolschewiki zwangen, Kronstadt niederzuschlagen, mit jemandem zu diskutieren, der aus Prinzip dagegen ist, dass eine proletarische Macht in ihrer Geburtsstunde oder auf dem Weg zur ihrer Konsolidierung auf Arbeiter schießen darf. Die Prüfung des schrecklichen Problems, mit welchem der proletarische Staat konfrontiert ist, beinhaltet eine Kritik an der Vision der Revolution durch eine rosarote Brille und lässt uns verstehen, weshalb die Niederschlagung dieser Rebellion mit den Worten Trotzkis ausgedrückt „eine tragische Notwendigkeit“  war, eine Notwendigkeit und eine Pflicht zugleich.“ („Kronstadt: eine tragische Notwendigkeit“, Programme Communiste Nr. 88, Organ der Internationalistischen Kommunistischen Partei, auf Französisch, übersetzt durch uns)

Die bordigistische Strömung mag unnachgiebig den Internationalismus der bolschewistischen Partei vertreten, doch indem sie diesen Teil der Tradition, zu der sie, wie sie selbst behauptet, gehört, übergeht, vertritt sie genauso vehement die Fehler der Bolschewiki und zeigt sich unfähig, aus all den Gründen für die Degeneration von Partei und Revolution zu lernen.921#_edn2">2

Ihr zufolge ist das Verhältnis der Partei zur Klasse und zum postrevolutionären Staat im revolutionären Prozess keine Frage des Prinzips, sondern der Zweckdienlichkeit: Wie übt die revolutionäre Avantgarde in jeder Lage am besten ihre Funktion aus.

„Dieser gigantische Kampf kann auch innerhalb des Proletariates selbst  schreckliche Spannungen hervorrufen. Es ist zwar klar, dass die Partei die Revolution und die Diktatur nicht gegen oder ohne die Massen machen kann, der revolutionäre Wille der Klasse drückt sich aber nicht durch konsultative Abstimmungen oder „Meinungsumfragen“ aus, in denen eine „numerische Mehrheit“, oder noch absurder, eine Einstimmigkeit zu suchen wäre. Er drückt sich durch ein Anwachsen und eine immer klarere  Ausrichtung der Kämpfe aus, in denen die entschlossensten Teile die unentschlossenen und zweifelnden mitreißen und falls nötig den Widerstand beiseite fegen. Während der Umtriebe des Bürgerkrieges und der Diktatur können sich die Verhältnisse und Beziehungen unter den verschiedenen Schichten ändern. Und weit entfernt von irgendeinem Recht auf „Rätedemokratie“ mit gleichem Gewicht und gleicher Wichtigkeit für alle Arbeiterschichten, Halbproletarier oder Kleinbürger, erklärt Trotzki in Terrorismus und Kommunismus, dass selbst ihr Recht an den Arbeiterräten teilzunehmen, das heisst an den Organen des proletarischen Staates, von ihrer Haltung in den Kämpfen abhängt.

Keine „verfassungsmäßige Regel“, kein „demokratisches Prinzip“ kann die Beziehungen innerhalb des Proletariates harmonisieren. Kein Rezept kann die Widersprüche zwischen den lokalen Bedürfnissen und den Erfordernissen der internationalen Revolution lösen, zwischen den unmittelbaren Bedürfnissen und den Erfordernissen des historischen Kampfes der Klasse, Widersprüche, die ihren Ausdruck im Widerstand verschiedener Teile des Proletariates finden. Kein Formalismus erlaubt es, Regeln aufzustellen über das Verhältnis zwischen der Partei, der fortgeschrittensten Fraktion der Arbeiterklasse und Organ ihres revolutionären Kampfes, und den Massen, die in unterschiedlichem Masse unter dem Druck der lokalen und unmittelbaren Bedingungen stehen. Selbst die beste Partei, die fähig ist ‚den Geist der Massen zu überwachen und zu beeinflussen‘ wie Lenin sagte, muss manchmal das Unmögliche von den Massen verlangen. Genauer gesagt, sie findet die ‚Grenze‘ des Möglichen nur im Versuch noch weiter zu gehen.“ (ebenda, übersetzt von uns)

1921 wählte die bolschewistische Partei den falschen Weg ohne jegliche vorherige Erfahrung oder Parameter, an denen sie sich hätte orientieren können. Heute machen die Bordigisten absurderweise aus den Fehlern der Bolschewiki Tugenden und erklären: „Es gibt keine Prinzipien.“ Die Bordigisten zaubern das Problem der Ausübung proletarischer Macht dadurch weg, dass sie formale und abstrakte Methoden zur Erlangung einer gemeinsamen Position der gesamten Klasse verspotten. Auch wenn es sicherlich zutrifft, dass es nie ein perfektes Mittel geben kann, um in einer äußerst schwankenden Situation einen Konsens zu erreichen, auch wenn die Erfahrungen aus Deutschland 1918 und anderswo zeigen, dass die Arbeiterräte gegenüber den Vereinnahmungsversuchen der Bourgeoisie verwundbar sind, haben sie (oder die Sowjets) sich dennoch als das geeignetste Mittel zur Widerspiegelung und Ausführung des sich entfaltenden revolutionären Willens des Proletariats in seiner Gesamtheit erwiesen. Obwohl die Bordigisten so generös sind zuzugeben, dass die Partei ohne die Massen keine Revolution machen könne, haben die Massen anschließend keine Möglichkeit, ihren revolutionären Willen als gesamte Klasse auszudrücken, außer durch die Partei und mit der Genehmigung der Partei. Und die Partei kann das Proletariat notfalls mit dem Maschinengewehr korrigieren, wie in Kronstadt. Entsprechend dieser Logik hat die proletarische Revolution zwei sich widersprechende Parolen: vor der Revolution „Alle Macht den Sowjets“, nach der Revolution „Alle Macht der Partei“.

Anders als Octobre haben die Bordigisten vergessen, dass im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution die Aufgaben einer proletarischen Revolution nicht an eine Minderheit delegiert werden können, sondern von der selbstbewussten Mehrheit ausgeübt werden müssen. Die Emanzipation der Arbeiter ist die Aufgabe der Arbeiterklasse selbst.

Die Bordigisten lehnen sowohl die bürgerliche Demokratie wie auch die Arbeiterdemokratie ab, als sei beides derselbe Schwindel. Doch die Sowjets bzw. Arbeiterräte – das Mittel, durch das sich das Proletariat für den Sturz des Kapitalismus selbst mobilisiert – müssen die Organe der proletarischen Diktatur sein, die die Spannungen und Differenzen innerhalb des Proletariats reflektieren und regulieren sowie seine bewaffnete Macht über den Übergangsstaat beherbergen. Die Partei, die unersetzliche Avantgarde, kann, so klar und so weit gegenüber dem Rest des Proletariats vorangeschritten sie in einer bestimmten Zeit auch sein mag, dennoch nicht dieses an der Macht ersetzen.

Doch nachdem sie das Recht der Partei – praktisch, nicht „prinzipiell“ – demonstriert haben, Arbeiter niederzuschießen, fahren die Bordigisten fort und streiten, als schreckten sie selbst vor dem Schrecken dieser Schlussfolgerung zurück, ab, dass der Aufstand von Kronstadt überhaupt einen proletarischen Charakter gehabt habe. Einer von Lenins Definitionen jener Zeit folgend, sei Kronstadt eine „kleinbürgerliche Konterrevolution“ gewesen, die den reaktionären Weißgardisten Tür und Tor geöffnet habe.

Es ist sicherlich richtig, dass alle Arten konfuser und gar reaktionärer Ideen von den Rebellen Kronstadts zum Ausdruck gebracht wurden, und einige von ihnen spiegelten sich in ihrer Plattform wider. Es trifft ebenfalls zu, dass die organisierten Kräfte der Konterrevolution versucht hatten, die Rebellion für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Doch die Arbeiter von Kronstadt betrachteten sich selbst weiterhin in Kontinuität mit der Revolution von 1917 und als integraler Bestandteil der proletarischen Bewegung auf Weltebene:

„Lasst die Arbeiter der gesamten Welt wissen, dass wir, die Verteidiger der Sowjetmacht, die Errungenschaften der sozialen Revolution schützen. Wir werden gewinnen oder auf den Ruinen von Kronstadt zugrunde gehen, indem wir für die eigentliche Sache der proletarischen Massen kämpfen.“ (aus der Kronstädter Prawda)

Welche Konfusionen von den Kronstädter Rebellen auch immer ausgedrückt wurden, es ist absolut unstrittig, dass ihre Forderungen auch die Interessen des Proletariats widerspiegelten, das sich fürchterlichen Lebensbedingungen, einer wachsenden Unterdrückung durch die Staatsbürokratie und dem Verlust seiner politischen Macht in den verkümmerten Sowjets gegenübersah. Der Versuch der Bolschewiki, sie als kleinbürgerlich und potenzielle Agenten der Konterrevolution zu brandmarken, war natürlich ein Vorwand, um eine Situation äußerster Gefahr und Komplexität innerhalb der Arbeiterklasse mit Gewalt zu lösen.

Mit dem Vorteil der historischen, nachträglichen Einsicht und des theoretischen Werkes der Kommunistischen Linken gewappnet, sind wir in der Lage, den fundamentalen Irrtum in der Argumentation der Bolschewiki zu erkennen: Sie schlugen den Aufstand von Kronstadt nieder, und trotzdem wurden die Kommunisten von einer antiproletarischen Diktatur massakriert – vom Stalinismus, der absoluten Macht der kapitalistischen Bürokratie. Tatsächlich haben die Bolschewiki mit der Niederschlagung der Bemühungen der Arbeiter von Kronstadt, die Sowjets zu regenerieren, mit ihrer Identifizierung mit dem Staat den Weg geebnet für den Stalinismus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie halfen mit bei der Beschleunigung des konterrevolutionären Prozesses, der weitaus fürchterlichere und tragischere Konsequenzen für die Arbeiterklasse haben sollte als die Restauration durch die Weißen. In Russland gewann die Konterrevolution, indem sie sich selbst als kommunistisch darstellte. Der Gedanke, dass das stalinistische Russland die lebende Verkörperung des Sozialismus sei und in direkter Kontinuität mit der Oktoberrevolution stünde, erzeugte schlimme Verwirrungen und uferlose Demoralisierung in den Reihen der Arbeiterklasse überall auf der Welt. Wir leben heute, wo die Bourgeoisie seit 1989 mit der Gleichsetzung des Todes des Stalinismus mit dem Tod des Kommunismus fortfährt, noch immer mit den Konsequenzen dieser Verzerrung der Realität.

Aber die Bordigisten identifizieren sich trotz dieser Erfahrung immer noch mit dem tragischen Fehler von 1921. Für sie war dies weniger eine „tragische“ Notwendigkeit, sondern eine kommunistische Pflicht, die jederzeit wiederholt werden muss!

Wie die Anarchisten sehen die Bordigisten keinen Widerspruch zwischen der bolschewistischen Partei von 1917, die den bewaffneten Willen des in den Sowjets organisierten, revolutionären Proletariats nicht nur lenkte, sondern sich ihm auch beugte und von ihm abhängig war, und der bolschewistischen Partei von 1921, die die Sowjets zu einem Schatten ihrer früheren Macht degradierte und die staatliche Gewalt gegen die Arbeiterklasse richtete. Doch während die Anarchisten der Bourgeoisie bei ihrer gegenwärtigen Kampagne helfen, indem sie die Bolschewiki als machiavellistische Tyrannen porträtieren, feiern die Bordigisten diesen arglistigen Ruf als den eigentlichen Gipfel revolutionärer Kompromisslosigkeit.

Doch eine Kommunistische Linke, die den Namen auch verdient, muss, auch wenn sie sich mit dem bolschewistischen Erbe identifiziert, in der Lage sein, seine Fehler zu kritisieren. Die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes war einer der schädlichsten und schlimmsten von ihnen.

 Como, 8. Januar 2001



1 siehe Internationale Revue, Nr. 3, engl./franz./span. Ausgabe, S. 51, zur Plattform der Kronstädter Revolte

2 Das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP), ein anderer Zweig der Linkskommunisten, hat eine zweideutige Position zu Kronstadt. In einem Artikel, der in Revolutionary Perspectives Nr. 23 (1986) veröffentlicht wurde, wird der proletarische Charakter der Oktoberrevolution und der bolschewistischen Partei bekräftigt und die anarchistische Idealisierung des Kronstädter Aufstandes abgelehnt, indem unterstrichen wird, dass der Aufstand eindeutig die ungünstigen Bedingungen für die proletarische Revolution widergespiegelt habe und dass er viele konfuse und reaktionäre Elemente enthalten habe. Gleichzeitig kritisiert der Artikel den bordigistischen Gedanken, dass der Angriff auf Kronstadt eine Notwendigkeit gewesen sei, um die Diktatur der Partei zu wahren. Er bestätigt, dass eine der fundamentalen Lehren von Kronstadt darin besteht, dass die Diktatur des Proletariats von der Klasse selbst ausgeübt werden muss, durch ihre Arbeiterräte, und nicht durch die Partei. Er zeigt ebenfalls auf, dass die Irrtümer der Bolschewiki bezüglich des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse im allgemeinen Rahmen der Isolation der proletarischen Bastion die innere Degeneration sowohl der Partei als auch des Sowjetstaates beschleunigten. Nichtsdestotrotz charakterisiert der Artikel die Revolte nicht als proletarisch und antwortet nicht auf die fundamentale Frage: Ist es möglich, dass eine proletarische Diktatur gegen die Unzufriedenen unter den Arbeitern Gewalt anwendet? Die Genossen des IBRP sagen gar, dass als Folge der Manipulationen der Konterrevolution – selbst wenn sie damit ein Kapitel der langsamen Agonie in der Arbeiterbewegung ansprechen – die Unterdrückung der Revolte mehr als gerechtfertigt gewesen sei.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [3]

Bilan Nr. 11 vom Oktober/November 1934

  • 3539 reads

Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des niedergehenden Kapitalismus II

Vorstellung

Im Folgenden veröffentlichen wir den zweiten Teil einer Studie, die in der Zeitschrift "Bilan" 1934 erschienen ist. Wir haben in der letzten Nummer der Internationalen Revue den ersten Teil publiziert, in dem Mitchell die Grundlagen der marxistischen Analyse des Profits und der Kapitalakkumulation in der Kontinuität von Marx und Rosa Luxemburg untersucht. In diesem zweiten Teil wendet er sich der "Analyse der allgemeinen Krise des dekadenten Imperialismus" zu und erklärt mit einer bemerkenswerten Klarheit die Merkmale dieser allgemeinen Krise des Imperialismus. Diese Studie errichtete damals die theoretische Grundlage für das Verständnis der unausweichlichen Tendenz zum Krieg in der historischen Krise des Kapitalismus. Sie bleibt von brennendem Interesse, da sie einen theoretischen Rahmen gibt für das heutige Verständnis der Wirtschaftskrise.                                                      IKS

Wir haben im ersten Teil dieser Studie festgestellt, dass die Periode von 1852 bis 1873 den Stempel einer beträchtlichen Entwicklung des Kapitalismus in freier Konkurrenz (gemildert einzig durch den Protektionismus  zur Verteidigung von im Wachstum befindlichen Industrien) trug. In dieser historischen Phase  vollendeten die diversen nationalen Bourgeoisien ihre ökonomische und politische Vorherrschaft auf den Ruinen der feudalistischen Überbleibsel. Sie befreiten die kapitalistischen Produktivkräfte von allen Fesseln: in Russland mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, in den Vereinigten Staaten mit dem Sezessionskrieg und der Überwindung der anachronistischen Sklaverei und in Italien und Deutschland mit der Vollendung der nationalen Einigung. Der Vertrag von Frankfurt beendete den Zyklus der großen nationalen Kriege, aus denen die modernen Staaten hervorgegangen waren.

Der organische Prozess in der kapitalistischen Ära

Im schnellen Entwicklungsrhythmus integrierte die kapitalistische Produktionsweise bereits gegen 1873 die angrenzenden außerkapitalistischen Gebiete in ihre Sphäre, in ihren Markt. Europa war eine große, von der kapitalistischen Produktionsweise beherrschte Warenwirtschaft geworden (mit Ausnahme von einigen rückständigen Gebieten im Zentrum und im Osten). Auf dem nordamerikanischen Kontinent errichtete der bereits stark entwickelte angelsächsische Kapitalismus seine Hegemonie.

Der kapitalistische Akkumulationsprozess wurde zeitweise von zyklischen Krisen unterbrochen, nahm dann aber mit um so ungestümerer Kraft aufs Neue seinen Lauf und brachte eine ungeheure Zentralisierung der Produktionsmittel hervor, die den tendenziellen Fall der Profitrate noch mehr beschleunigte. Es gab ein Aufblühen riesiger Unternehmen mit hoher organischer Zusammensetzung des Kapitals, das durch die Entwicklung von Aktiengesellschaften weiter angeregt wurde. Diese Gesellschaften ersetzten den individuellen Kapitalisten, der allein nicht in der Lage war, den extensiven Forderungen der Produktion zu genügen. Die Industriellen verwandelten sich in den Verwaltungsräten untergeordnete Agenten.

Ein anderer Prozess kam in Gang: Aus der Notwendigkeit, einerseits dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken, d.h. den Profit auf einer Höhe zu halten, die dem Charakter der kapitalistischen Produktionsweise entspricht, andererseits eine anarchische und zerstörerische Konkurrenz zu bremsen, tauchten nach 1873 monopolistische Organisationsformen auf. Erste Kartelle entstanden, bald darauf die konzentriertere Form der Syndikate. Schließlich entstanden Trusts und Konzerne mit horizontaler Integration ähnlicher Industrien oder vertikaler Integration von verschiedenen Produktionszweigen.

Mit dem Zustrom von beträchtlichen Mengen an verfügbaren Ersparnissen, die durch die intensive Akkumulation erwirtschaftet wurden, erlangte das Humankapital einen überragenden Einfluss. Das Beteiligungssystem, das sich über die Monopolgebilde spannte, gab ihm den Schlüssel zur Kontrolle der Produktion. Das industrielle sowie das Handels- und Bankkapital verloren so schrittweise ihre selbständige Stellung im wirtschaftlichen Mechanismus und auch einen beträchtlichen Anteil am Mehrwert. Sie wurden zu einer höheren kapitalistischen Organisationsweise gedrängt, die nach eigenem Gutdünken agiert: Es entstand das Finanzkapital. Dieses war alles in allem gesehen das Ergebnis der kapitalistischen Akkumulation und ihrer widersprüchlichen Erscheinungsformen. Diese Definition hat natürlich nichts mit jener gemeinsam, die das Finanzkapital als einen Willensausdruck einzelner Individuen darstellt, die vom Spekulationsfieber getrieben werden, um andere kapitalistische Formationen auszuplündern und ihre „freie“ Entwicklung zu behindern. Eine solche Auffassung vertreten die kleinbürgerlichen Sozialdemokraten  und Neomarxisten, die sich im Sumpf des "Antihyperkapitalismus" bewegen, und bringt das Unverständnis für die Gesetze der kapitalistischen Entwicklung zum Ausdruck. Sie ist dem Marxismus fremd und verstärkt lediglich die ideologische Herrschaft der Bourgeoisie.

Der Prozess der organischen Zentralisierung lässt die Konkurrenz keineswegs verschwinden, sondern vergrößert sie im Gegenteil in anderen Formen. Sie bringt also nur eine höhere Stufe der grundlegenden kapitalistischen Widersprüchlichkeit zum Ausdruck. Auf die Konkurrenz zwischen Individualkapitalisten, die sich zur Zeit des "progressiven" Kapitalismus auf allen nationalen und internationalen Märkten tummelten, folgt der internationale Wettstreit zwischen höher entwickelten Organismen: nämlich den Monopolen, den Herren der nationalen Märkte und der Grundindustrien.

In dieser Zeit hat die Produktion einen Umfang erreicht, der die Kapazitäten des nationalen Marktes überfordert und sie deshalb geographisch, durch koloniale Eroberungen zu Beginn der imperialistischen Ära, ausweitet. Die höchste Form der kapitalistischen Konkurrenz manifestiert sich schließlich in den imperialistischen Kriegen. Sie taucht auf, sobald alle Gebiete des Globus unter den imperialistischen Nationen aufgeteilt sind. Unter der Leitung des Finanzkapitals findet ein Transformationsprozess der nationalen Gebilde statt. Diese Umbildung der globalen Wirtschaftseinheiten ist eine Folge der historischen Umwälzungen und brachte schließlich eine globale Arbeitsteilung mit sich. "Die Monopole verstärken den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem Charakter des kapitalistischen Nationalstaates." (Rosa Luxemburg)

Die Entwicklung des ökonomischen Nationalismus ist sowohl intensiv als auch extensiv.

Das Hauptgerüst der intensiven Entwicklung bildet der Protektionismus. Er beschützt nun aber nicht mehr die in Entstehung begriffenen Industrien, sondern die Monopole des nationalen Marktes und beinhaltet zwei Möglichkeiten: Im Innern bringt er einen Superprofit ein, nach Außen erlaubt er das Dumping durch den Verkauf unter dem Wert.

Die extensive Entwicklung orientiert sich an der Eroberung von vorkapitalistischen Gebieten und Kolonien, um der ständigen Notwendigkeit  zur Ausdehnung des Kapitals, sprich: der Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts, gerecht zu werden.

Die fundamentale Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise besteht in der ständigen Ausdehnung seines Marktes, um der ständigen Drohung einer Überproduktion an Waren, die sich in den zyklischen Krisen bemerkbar macht, zu entgehen. Einerseits steigt die organische Zusammensetzung des Kapitals und führt so zu Monopolen, zum Finanzkapital und zu einem wirtschaftlichen Nationalismus, anderseits mündet die historische Entwicklung in den Imperialismus. Bucharin definiert den Imperialismus als "ein Produkt des Finanzkapitals", was aber nichts anderes als eine falsche Herleitung ist und vor allem auch eine Außerachtlassung des gemeinsamen Ursprungs beider o.g. Aspekte des kapitalistischen Prozesses bedeutet: nämlich der Mehrwertproduktion.

Die Kolonialkriege in der ersten Phase des Kapitalismus

Der Zyklus der nationalen Kriege ist hauptsächlich durch den Kampf von sich im Aufbau befindlichen Nationen charakterisiert. Die Bedürfnisse der kapitalistischen Produktion machen eine ihnen entsprechende politische und soziale Struktur erforderlich.

Die zu erobernden Gebiete kann man folgendermaßen unterteilen:

a)     Die Siedlungskolonien dienen hauptsächlich als Kapitalanlagefelder und werden als solche eine Art Verlängerung der metropolitanen Wirtschaft. Sie durchlaufen eine ähnliche kapitalistische Entwicklung und werden in einigen Bereichen gar Konkurrenten. Beispiele dafür sind die britischen Dominions, die eine vollständige kapitalistische Struktur aufweisen.

b)     In den Ausbeutungskolonien mit dichter Bevölkerung verfolgt das Kapital zwei Hauptzielsetzungen: Es realisiert hier seinen Mehrwert und eignet sich günstig Rohstoffe an, was eine Wachstumsbremse für das konstante Kapital und somit eine Verbesserung des Verhältnisses der Mehrwertmasse zum Gesamtkapital bedeutet. Den Prozess der Realisierung der Waren haben wir bereits beschrieben: Der Kapitalismus zwingt die Bauern und die Kleinproduzenten zur Arbeit nicht nach ihren Bedürfnissen, sondern für den Markt, wo die kapitalistisch hergestellten Produkte gegen die landwirtschaftlichen Produkte ausgetauscht werden. Die Agrarvölker in den Kolonien müssen sich unter dem Druck des Handelskapitals in die Warenwirtschaft integrieren und auf die Großkultur von Rohstoffen wie Baumwolle, Kautschuk, Reis usw. konzentrieren. Die Kolonialanleihen sind ein Vorstoß des Finanzkapitals zur Bereitstellung von Kaufkraft, die zum Aufbau eines Verkehrsnetzes für die Waren dient: Es werden Eisenbahnen und Häfen zur Erleichterung des Rohstofftransports oder aber strategische Anlagen zur Konsolidierung der imperialistischen Herrschaft gebaut. Das Finanzkapital wacht sehr streng darüber, dass diese Kapitalien nicht etwa zur wirtschaftlichen Emanzipation der Kolonien dienen, dass sich die Produktivkräfte also nur in einer Art und Weise entwickeln, in der sie für die metropolitanen Industrien keine Gefahr darstellen können. So werden beispielsweise ihre Aktivitäten auf eine erste Verarbeitung der Rohstoffe gelenkt, die mit der einheimischen Arbeitskraft quasi gratis ausgeführt wird. Die Bauern, die unter dem Gewicht der Wucherzinsen und der Steuern ächzen, müssen die Produkte ihrer Arbeit weit unter dem Wert, wenn nicht gar unter den Kosten verkaufen.

Zu den zwei erwähnten Kolonisierungsmethoden gesellt sich eine dritte: Man belegt Einflusszonen in rückständigen Staaten, macht sie durch Anleihen und Kapitalanlagen abhängig. Der breite Strom von Kapitalexporten ging einher mit der Ausweitung des monopolistischen Protektionismus und begünstigte die Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise auf Zentral- und Osteuropa, nach Amerika und selbst nach Asien, wo Japan zu einer imperialistischen Macht wurde.

Die Ungleichheit der kapitalistischen Entwicklung setzte sich im Prozess der kolonialen Ausdehnung fort. Zu Beginn des Zyklus der Kolonialkriege standen die ältesten kapitalistischen Nationen bereits auf einer soliden imperialistischen Basis. Die beiden größten damaligen Mächte, Großbritannien und Frankreich, hatten bereits erkleckliche Teile Amerikas, Asiens und Afrikas unter sich aufgeteilt. Dieser Umstand trug dazu bei, dass diese Länder zuungunsten ihrer jüngeren Konkurrenten Deutschland und Japan ihre Ausdehnung vollenden konnten, während Letztere sich mit einigen mageren Flecken in Afrika und Asien zufrieden geben mussten. Jedoch waren sie in der Lage, ihre metropolitane Stellung in ungleich höherem Rhythmus zu verstärken als die alten Nationen: Deutschland konnte als Industriemacht bald den europäischen Kontinent dominieren, sich gegenüber dem englischen Imperialismus erheben und schließlich die Frage der Weltherrschaft stellen, deren Lösung im ersten imperialistischen Krieg gesucht wurde.

Während sich im Laufe des Zyklus der Kolonialkriege die wirtschaftlichen Unterschiede und die imperialistischen Widersprüche zuspitzten, konnten die daraus resultierenden Klassenkonflikte durch die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Ländern noch friedlich „gelöst“ werden. Dies war dank der während der kolonialen Raubzüge angehäuften Reserven an Mehrwert möglich. Die Bourgeoisie konnte nun daraus schöpfen und die privilegierten Schichten der Arbeiterklasse korrumpieren.1 Die beiden letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts  schufen innerhalb der internationalen Sozialdemokratie den Boden für den Triumph des Opportunismus und Reformismus, monströse parasitäre Gewächse, die sich von den Kolonialvölkern nähren.

Der koloniale Expansionismus ist in seiner Entwicklungsfähigkeit jedoch begrenzt, da er in seinem unersättlichen Eroberungsdrang bald alle außerkapitalistischen Absatzgebiete in sich aufgesogen hat. So orientiert sich die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten, nun bar jeglicher Ausweichmöglichkeiten, hin zum imperialistischen Krieg.

„Diejenigen, die sich nun mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen“, sagt R. Luxemburg, „sind nicht einerseits die kapitalistischen Länder und andererseits Länder mit Naturalwirtschaft, sondern Staaten, die gerade durch die Identität ihrer fortgeschrittenen kapitalistischen Entwicklung zur Auseinandersetzung gedrängt werden.“

Zyklen von interimperialistischen Kriegen und Revolutionen in der allgemeinen Krise des Kapitalismus

Während die alten Naturgesellschaften Tausende von Jahren bestehen blieben und die antiken und feudalen Gesellschaftsordnung ebenfalls eine lange historische Zeitspanne durchliefen, ist „die moderne kapitalistische Produktion dagegen“, wie Engels hervorhob, „kaum 300 Jahre alt und wurde zur herrschenden erst mit der Errichtung der Großindustrie, d.h. seit 100 Jahren, hat in dieser kurzen Zeitspanne Ungleichheiten in der Verteilung hervorgebracht - Konzentration des Kapitals in einer kleinen Anzahl Hände auf der einen Seite, Konzentration der eigentumslosen Massen in den großen Städten auf der anderen Seite -, die ihren Sturz unausweichlich vorbereiten“.

Die kapitalistische Gesellschaftsordnung ist aufgrund der zugespitzten Widersprüche ihrer Produktionsweise nicht in der Lage, ihre historische Mission zu vollenden, d.h. kontinuierlich die Produktivkräfte und die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft weiter zu entwickeln. Die Revolte der Produktivkräfte gegen die private Aneignung wird nun permanent. Der Kapitalismus tritt in seine allgemeine Zerfallskrise ein, und die Geschichte wird Zeuge seiner blutigen Agonie.

Fassen wir die Hauptcharakteristiken dieser allgemeinen Krise zusammen: eine allgemeine und konstante industrielle Überproduktion; eine chronische und technische Arbeitslosigkeit, die die Produktion von Kapital erschwert; eine beträchtliche permanente Massenarbeitslosigkeit, die die Klassenwidersprüche verschärft; eine chronische landwirtschaftliche Überproduktion (wir analysieren diese weiter unten), die die industrielle Krise in eine allgemeine Krise verwandelt; eine beträchtliche Verlangsamung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, hervorgerufen durch eine Verengung des Ausbeutungsfeldes der Arbeitskräfte (organische Zusammensetzung),  und der kontinuierliche Fall der Profitrate, den Marx bereits voraussah, als er schrieb, dass „die Produktion jeden belebenden Anreiz verliert und in Schlaftrunkenheit verfällt, sobald sich die Bildung von Kapital ausschließlich in den Händen von einigen großen Kapitalisten befindet, für die die Masse des Profits die Rate kompensiert. Die Profitrate ist die Triebkraft der kapitalistischen Produktion. Ohne Profit keine Produktion.“ Schließlich die Notwendigkeit für das Finanzkapital, nach einem Extraprofit zu trachten, nicht durch die Produktion von Mehrwert, sondern durch die Ausplünderung sowohl der Konsumenten (durch die Verteuerung der Warenpreise über ihren Wert hinaus) als auch der Kleinproduzenten (durch die Aneignung eines Teils ihrer Arbeit). Der Extraprofit stellt also eine auf der Warenzirkulation erhobene indirekte Steuer dar. Der Kapitalismus weist die Tendenz auf, im wahrsten Sinn des Wortes parasitär zu werden.

Schon während der beiden letzten Jahrzehnte vor dem Weltkrieg hatten sich diese Faktoren der allgemeinen Krise entwickelt und in gewisser Weise gewirkt, obwohl sich die Konjunktur noch in einem Aufwärtstrend befand – sozusagen der „Schwanengesang“ des Kapitalismus. 1912 wurde der Kulminationspunkt erreicht, die kapitalistische Welt wurde von Waren überschwemmt. 1923 brach die Krise in den USA aus und griff nach Europa über. Der Funke von Sarajewo führte zur Explosion und zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dieser stellte die Neuaufteilung der Kolonien auf die Tagesordnung. Das folgende Massaker bildete ein beträchtliches Ventil für die kapitalistische Produktion und eröffnete „großartige“ Perspektiven.

Die Schwerindustrie fabrizierte nun nicht mehr Produktions-, sondern Destruktionsmittel und auch die Konsumgüterindustrie arbeitete nun nicht mehr in erster Linie für die Existenzsicherung der Menschen, sondern an der Beschleunigung ihrer Zerstörung. Auf der einen Seite führte der Krieg die „heilsame“ Operation der Wiederherstellung der überzogenen Kapitalwerte aus, indem er sie ersatzlos zerstörte. Auf der anderen Seite ermöglichte er durch einen beträchtlichen Preisanstieg unter dem Regime von Preiskontrollen die Realisierung von Waren weit über ihren Wert. Die Masse des Extraprofits, den das Kapital aus der Ausplünderung der Konsumenten so bezog, kompensierte bei weitem die Verminderung der Mehrwertmasse, die das Resultat einer Reduzierung von Gelegenheiten zur Ausbeutung von Arbeitskraft, eine Folge ihrer Mobilisierung für die Front, war.

Der Krieg zerstört vor allem viele Arbeitskräfte, die im Frieden nicht im Produktionsprozess verwendet werden können und somit eine zunehmende Gefahr für die Herrschaft der Bourgeoisie darstellen.2 Man schätzt die Zerstörung von reellen Werten auf einen Drittel des gesamten weltweiten, durch die Arbeit von Generationen von Arbeitern und Bauern akkumulierten Reichtums. Dieses soziale Desaster nimmt aus der Sicht der weltkapitalistischen Interessen das Aussehen einer gesunden Bilanz einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung an, die mit Wertpapieren und deren Gewinn- und Verlustrechnung handelt, von Gewinnen aufgebläht den Ruin zahlloser kleiner Unternehmen und das Elend der Arbeiter überdeckt. Denn obwohl die Zerstörungen apokalyptische Ausmaße annehmen, gehen sie nicht auf Kosten des Kapitalismus. Angesichts der dringenden Notwendigkeit, eine Kriegswirtschaft zu etablieren, versammeln sich während des Konfliktes alle Mächte unter dem Schirm des kapitalistischen Staates. Der Staat wird zum großen und unersättlichen Konsumenten, der seine Kaufkraft mittels gigantischer Anleihen unter bezahlter Mithilfe des Finanzkapitals aus dem nationalen Sparfonds beschafft. Er bezahlt mit Verträgen, die nichts anderes als eine Hypothek auf zukünftige Einkommen der Arbeiter und Bauern sind. Marx‘ vor über 75 Jahren getroffene Feststellung erhält hier die volle Bestätigung: "Der einzige Teil des so genannten nationalen Reichtums, der wirklich in das kollektive Eigentum der modernen Völker übergeht, ist ihre öffentliche Schuld."

Der Krieg beschleunigt natürlich die Zuspitzung der sozialen Widersprüche. Der Donnerschlag des Oktober 1917 eröffnet die letzte Phase des Massakers. Der schwächste Teil des globalen Kapitalismus fiel in sich zusammen. Revolutionäre Erschütterungen ließen Mittel- und Osteuropa erbeben. Die bürgerliche Macht wankte. Dem Konflikt musste ein Ende gesetzt werden. In Russland gelang es der Arbeiterklasse unter der Führung einer in 15 Jahren der Arbeiterkämpfe und ideologischen Arbeit gestählten Partei, eine noch schwache Bourgeoisie zu überwältigen und eine eigene Diktatur zu errichten; in den Ländern Zentraleuropas jedoch ist der Kapitalismus schon fester verwurzelt und der Bourgeoisie gelang es, obschon unter dem Druck der revolutionären Welle ins Wanken geraten, mit Hilfe einer noch mächtigen Sozialdemokratie und dem Umstand der völlig Unreife der kommunistischen Parteien das Proletariat in eine Richtung zu lenken, die es immer weiter von seinen eigenen Zielsetzungen entfernte. Das Anliegen des Kapitalismus wurde durch den Waffenstillstand erleichtert, der die Möglichkeit schuf, die "Kriegsprosperität" in eine Periode des wirtschaftlichen Wachstums zu verlängern, die durch die Notwendigkeit gerechtfertigt wurde, die Kriegsproduktion der Erneuerung und Instandsetzung des Produktionsapparates in Friedenszeiten anzupassen, um dem riesigen Deckungsbedarf bei den Grundbedürfnissen nachzukommen.  Dieser Aufschwung integrierte fast die Gesamtheit aller demobilisierten Arbeiter. Zudem machte die Bourgeoisie der Arbeiterklasse wirtschaftliche Zugeständnisse, wenn sie nicht gerade den Profit schmälerten (die gestiegenen Löhne folgten der Entwertung der Kaufkraft auf den Fuß). Diese Konzessionen weckten in der Arbeiterklasse die Illusion einer Verbesserung ihres Loses innerhalb des Kapitalismus. Sie isolierten die Arbeiterklasse von der revolutionären Avantgarde und erlaubten schließlich deren Liquidierung.

Die Erschütterungen auf der Ebene der Währungen verschlimmerten die bereits durch den Krieg verursachte Unordnung der Wertehierarchie und der Austauschbeziehungen. Der Aufschwung mündete (zumindest in Europa) in spekulative Aktivitäten und in eine Zunahme von fiktiven Werten statt in eine neue zyklische Phase. Er erreichte im übrigen schon bald seinen Höhepunkt. Und obwohl die Produktionskapazitäten stark vermindert worden und auch spürbar unter dem Vorkriegsniveau geblieben waren, überstieg das Produktionsvolumen schnell wieder die Kapazität der Massenkaufkraft. Deshalb erlebten wir bereits 1920 eine neue Krise, die der 3. Kongress der Kommunistischen Internationale als "Reaktion der Armut gegen die Anstrengungen, so zu produzieren, zu handeln und zu leben wie in der vorangehenden kapitalistischen Epoche", d.h. als fiktive Prosperität im Krieg und in der Nachkriegsära, definierte.

Ganz im Gegensatz zu Europa erschien die Krise in den Vereinigten Staaten noch als Schlusspunkt eines industriellen Zyklus. Der Krieg erlaubte es der US-Wirtschaft, sich vom Griff der wirtschaftlichen Depression von 1913 zu lösen und bot ihr beträchtliche Akkumulationsmöglichkeiten durch die Eliminierung ihrer europäischen Konkurrenten und der Eröffnung eines nahezu unerschöpflichen militärischen Marktes. Amerika lieferte nun Rohstoffe, landwirtschaftliche und industrielle Produkte nach Europa. Gestützt auf ihre kolossale Produktivkraft, auf eine mächtige industrialisierte Landwirtschaft, ihren enormen Kapitalressourcen und auf ihre Position als Hauptgläubiger der Welt, wurden die USA zum ökonomischen Mittelpunkt des Weltkapitalismus und verschoben so die Achse der imperialistischen Widersprüche. Der englisch-amerikanische Antagonismus trat nun an Stelle der englisch-deutschen Rivalität, die der Motor des Ersten Weltkriegs war.3 Das Ende des Krieges ließ in den USA einen starken Kontrast zwischen dem überentwickelten Produktionsapparat und dem beträchtlich zusammengeschrumpften Markt entstehen. Dieser Widerspruch entlud sich in der Krise vom April 1920, die der Wendepunkt des jungen amerikanischen Imperialismus zum Sturz seiner Ökonomie in den allgemeinen Zerfall war.

In der dekadenten Phase des Imperialismus gibt es nur noch einen Ausweg für die Gegensätze des Kapitalismus: den Krieg. Die Menschheit kann diesem Umstand allein durch die Revolution entgehen. Doch die Oktoberrevolution zeigte sich in den fortgeschrittenen westlichen Ländern nicht imstande, das Bewusstsein des Proletariats zur Reife zu bringen. Die Revolution war nicht in der Lage, die Produktivkräfte in Richtung Sozialismus zu lenken, der allein die Widersprüche des Kapitalismus überwinden konnte. So war, nachdem die letzten revolutionären Energien nach der Niederlage des deutschen Proletariats 1923 erst einmal ausgebrannt waren, die Bourgeoisie in der Lage, ihrem System wieder eine relative Stabilität zu verleihen. Obwohl sie ihre Vorherrschaft stärkte, drängte sie es nichtsdestotrotz wieder auf eine Fährte, die zu einer neuen und noch verheerenderen Feuersbrunst führt.

In der Zwischenzeit begann eine neue Periode wirtschaftlichen Aufschwungs, der alle Erscheinungsmerkmale einer Prosperität analog zu den Zyklen im aufsteigenden Kapitalismus hatte, zumindest was einen der Hauptaspekte anbelangt: nämlich die Produktionsentwicklung. Wir haben jedoch gesehen, dass das frühere Wachstum mit einer Ausdehnung des kapitalistischen Marktes einherging, der sich außerkapitalistische Gebiete einverleibte. Das Wachstum der Jahre 1924-1929 fand jedoch im Rahmen der allgemeinen Krise des Kapitalismus statt und konnte nicht auf solcherlei Möglichkeiten zurückgreifen. Im Gegenteil, wir wohnten einer Verschärfung der allgemeinen Krise bei, die von gewissen Faktoren, die wir nun kurz unter die Lupe nehmen, angetrieben wurde:

a)     Dem kapitalistischen Markt ist das große Absatzgebiet des imperialen Russland amputiert worden, einem Importeur von Industriegütern und Kapital und Exporteur von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten, die dank einer heftigen Ausbeutung der Bauern billig verkauft wurden. Schlimmer noch: Dieses letzte große vorkapitalistische Gebiet mit seinen enormen Ressourcen und den unermesslichen Arbeitskräften war in fürchterliche soziale Konvulsionen gestoßen worden, was es dem Kapitalismus unmöglich machte, hier sichere Investitionen zu tätigen.

b)     Der Zusammenbruch der weltwirtschaftlichen Mechanismen eliminierte das Gold als Universalwährung und als allgemeines Äquivalent für Waren. Das Fehlen eines gemeinsamen Maßstabs und die Koexistenz von Währungssystemen, die entweder auf dem Gold, dem fixen Wechselkurs oder der Nichtkonvertibilität fußten, verursachten derartige Preisunterschiede, dass der Wertbegriff zunehmend vage wurde, der internationale Handel aus den Fugen geriet und seine Unordnung durch die immer häufigere Zuflucht zum Dumping verschlimmert wurde.

c) Die chronische und allgemeine Krise der Landwirtschaft in den Agrarstaaten und in den landwirtschaftlichen Sektoren der Industriestaaten erreichte ihr volles Ausmaß in der Weltwirtschaftskrise. In der Vorkriegszeit erhielt die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion den Hauptimpuls von der Industrialisierung und der landwirtschaftlichen Kapitalisierung in den großen Gebieten der USA, Kanadas und Australiens und weitete sich auf die rückständigen Gebiete Zentraleuropas und Südamerikas aus, deren hauptsächliche Agrarwirtschaften ihren halbautonomen Charakter verloren und nun vollständig vom Weltmarkt abhängig wurden.

Darüber hinaus übten die Industrieländer, welche normalerweise Importeure landwirtschaftlicher Güter waren, eine Politik des wirtschaftlichen Nationalismus aus und versuchten, ihre eigenen agrarwirtschaftlichen Defizite durch die Erweiterung der Anbauflächen für Getreide und durch eine Steigerung der Erträge unter dem Schutz von Zollschranken und Subventionen auszugleichen.

Diese Praxis wurde zunehmend auch in den Ländern mit industrialisierter Landwirtschaft (USA, Kanada und Argentinien) angewendet. Aus dem monopolistischen Druck resultierte ein Regime von unrealistischen Agrarpreisen, die auf das Niveau der höchsten Produktionskosten anstiegen und schwer auf der Massenkaufkraft lasteten (dies macht sich vor allem beim Getreide, einem Massenkonsumartikel, bemerkbar).

Die völlige Integration der bäuerlichen Wirtschaften in den Markt führte zu einer für den Kapitalismus wichtigen Konsequenz: Die nationalen Märkte konnten nun nicht mehr ausgedehnt werden und hatten den Punkt der absoluten Sättigung erreicht. Der Bauer blieb zwar scheinbar ein unabhängiger Produzent, jedoch wurde er genauso wie ein Lohnabhängiger in die Sphäre der kapitalistischen Produktion integriert: Gleich wie der Arbeiter durch den Zwang zum Verkauf seiner Arbeitskraft seiner Mehrarbeit beraubt wird, ist auch der Bauer nicht in der Lage, sich die in seinem Produkt enthaltene Mehrarbeit anzueignen, da er dieses unter seinem Wert verkaufen muss.

Im nationalen Markt zeigt sich die Vertiefung der kapitalistischen Widersprüche deutlich: Einerseits nimmt der Anteil des Proletariats am Gesamtprodukt zunächst relativ, schließlich absolut ab; die Erhöhung der permanenten Arbeitslosigkeit sowie der industriellen Reservearmee vermindert den Absatz für landwirtschaftliche Güter. Die daraus resultierende Verringerung der kleinbäuerlichen Kaufkraft schränkt den Markt für kapitalistische Güter ein. Die konstante Senkung der allgemeinen Massenkaufkraft der Arbeiter und Bauern gerät nun in einen immer krasseren Gegensatz zur überbordenden landwirtschaftlichen Produktion, die vor allem Massenkonsumgüter herstellt.

Die Existenz einer endemischen landwirtschaftlichen Überproduktion (sie wird anhand des Falls der Getreidepreise zwischen 1926 und 1933 um zwei Drittel klar ersichtlich) verstärkt die Zerfallsfaktoren, die innerhalb der allgemeinen Krise des Kapitalismus wirken. Denn die landwirtschaftliche Überproduktion unterscheidet sich streng genommen von der kapitalistischen Überproduktion insofern, als ihr nicht entgegengehandelt werden kann (es sei denn durch den „glücklichen“ Umstand einer Naturkatastrophe), betrachtet man die spezifische Natur der landwirtschaftlichen Produktion, die noch immer unzureichend zentralisiert und kapitalisiert ist und Millionen von Familien beschäftigt.

Wir haben nun die Bedingungen bestimmt, in deren Rahmen sich die interimperialistischen Widersprüche entwickeln. Es ist nun leicht, den wahren Charakter der ungewöhnlichen Prosperität in der Periode der Stabilisierung des Kapitalismus zu erraten. Die Hauptzüge der Konjunkturphase von 1924 bis 1928 - die beträchtliche Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktion, des globalen Handelsvolumens und der internationalen Kapitalbewegungen – erklären sich aus der Notwendigkeit, die Spuren des Krieges zu entfernen und die früheren Produktionskapazitäten wiederaufzubauen, so dass sie für ihr fundamentales Ziel genutzt werden konnten: die Vollendung der ökonomischen und politischen Struktur der imperialistischen Staaten, die die Sicherstellung ihrer Konkurrenzfähigkeit bestimmt, und die Herrichtung der Ökonomien für den Krieg. Es wird nun klar, dass all diese konjunkturellen Schwankungen, obwohl sie sich auf einer aufsteigenden Kurve bewegen, nichts anderes als die Veränderungen der imperialistischen Kräfteverhältnisse widerspiegeln, die in der Neuaufteilung der Welt durch den Versailler Vertrag fixiert worden waren.

Der technische Fortschritt und das Wachstum der Produktionskapazitäten nahmen hauptsächlich in Deutschland gigantische Ausmaße an. Nach den inflationären Erschütterungen der Jahre 1922/23 nahmen die englischen, französischen und vor allem amerikanischen Kapitalinvestitionen derart zu, dass sie keine heimische Anlagemöglichkeit mehr vorfanden und durch die Banken insbesondere an die UdSSR zur Finanzierung des Fünfjahresplans geleitet wurden.

Im Laufe des Expansionsprozesses der Produktivkräfte wurde auch das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate wieder virulent. Die organische Zusammensetzung nahm nun noch schneller als die Entwicklung des Produktionsapparates zu, was sich vor allem in den Hauptbranchen zeigte. Das Resultat war eine Änderung im konstanten Kapital: Der fixe Teil (Maschinen) stieg stark im Verhältnis zum zirkulierenden Teil (Rohstoffe und Verbrauchsgüter) und wurde zu einem einengenden Faktor, der die Produktionskosten in dem Masse erhöhte, wie das Produktionsvolumen schrumpfte und das fixe Kapital den Gegenwert zum geliehenem Kapital darstellte. Die mächtigsten Unternehmen reagierten daher  beim geringsten Konjunktureinbruch am sensibelsten. 1929, auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Prosperität, wurden in den USA für die gesamte Stahlproduktion lediglich 85% der Produktionskapazitäten benötigt; im März 1933 war die Auslastungsrate der Produktionskapazitäten auf 15% gefallen. 1932 wurden in den großen Industrieländern wertmäßig nicht einmal mehr so viele Produktionsgüter produziert, wie eigentlich zum Ersatz des verbrauchten fixen Kapitals notwendig gewesen wären.

Solche Fakten spiegeln einen anderen widersprüchlichen Aspekt des dekadenten Imperialismus wider: die Aufrechterhaltung eines teilweise ungenutzten Produktionsapparates als wichtiges militärisches Potenzial.

In der Zwischenzeit griff das Finanzkapital, um die Produktionskosten zu vermindern, auf die uns bereits vertrauten Mittel zurück: auf die Senkung der Rohstoffpreise, um den Wert des zirkulierenden Teils des konstanten Kapitals zu reduzieren; auf die Festsetzung der Verkaufspreise über ihren Wert, um einen Extraprofit zu erzielen; auf die Reduzierung des variablen Kapitals entweder mittels direkter bzw. indirekter Lohnsenkungen oder mittels der Intensivierung der Arbeit, die durch eine Verlängerung des Arbeitstages erreicht und durch Rationalisierung und Fließbandarbeit realisiert wird. Man versteht, weshalb diese letztgenannten Methoden gerade in den technisch am meisten entwickelten Ländern, nämlich den USA und Deutschland, am rigorosesten eingeführt worden sind, d.h. in Ländern, die in Zeiten der Rezession benachteiligt sind gegenüber weniger entwickelten Staaten, in denen die Produktionspreise viel stärker auf eine Lohnsenkung reagieren.

Die Rationalisierung findet indessen ihre Grenze in der menschlichen Kapazität. Außerdem erlauben die Lohnsenkungen nur so lange eine Steigerung der Mehrwertmasse, wie es keine Senkung der Zahl der beschäftigten Arbeiter gibt. Konsequenterweise müssen zur Lösung des Grundproblems  - Erhaltung des Werts und der Rentabilität des investierten Kapitals durch die Produktion und Realisierung eines Maximums an Mehrwert und Extraprofit (bei parasitärer Ausweitung des Erstgenannten) - andere Richtungen eingeschlagen werden. Um lebensunfähiges Kapital am Leben zu halten und ihm einen Profit zu sichern, muss man ihm "frisches" Geld zur Verfügung stellen, was das Finanzkapital natürlich nicht seinen eigenen Fonds  zu entnehmen bereit ist. Es schöpft dieses Geld also entweder aus den Ersparnissen, die ihm der Staat zur Verfügung stellt, oder aus der Kaufkraft der Verbraucher. Daher die Entwicklung der Monopole, der staatlichen Teilhaberschaft an Mischbetrieben, daher die Schaffung von kostspieligen „öffentlichen Bedürfnissen“, Anleihen, der staatlichen Beihilfen für unprofitable Betriebe bzw. der staatlichen Garantien ihrer Einnahmen. Deshalb auch die Kontrolle der Haushaltsausgaben, die "Demokratisierung" der Steuern durch die Erweiterung der steuerpflichtigen Basis, die Steuererlasse zu Gunsten  des Kapitals, um die "Lebenskraft" der Nation wiederzubeleben, die Verminderung der "nichtproduktiven" sozialen Ausgaben etc.

Doch all dies genügt nicht. Die produzierte Mehrwertmasse bleibt ungenügend und die Produktionssphäre muss ausgedehnt werden. Während der Krieg das große Ventil für die kapitalistische Produktion ist, ist es in „Friedenszeiten“ der Militarismus (d.h. alle Aktivitäten, die mit der Vorbereitung auf den Krieg zu tun haben), der den Mehrwert fundamentaler Bereiche der vom Finanzkapital kontrollierten Produktion realisiert. Letzteres bestimmt die Aufnahmekapazitäten des Militarismus, indem es einen Teil der Kaufkraft der Arbeiter- und Bauernmassen konfisziert und durch die Besteuerung an den Staat überweist, welcher der Besitzer der Zerstörungsmittel und der strategischen Öffentlichkeitsarbeit ist. Doch der so gewonnene Aufschub kann die Widersprüche des Kapitalismus natürlich nicht lösen. Marx hat dies bereits vorausgesehen: "Der Widerspruch zwischen der durch das Kapital konstituierten allgemeinen gesellschaftlichen Macht und der Macht jedes einzelnen Kapitalisten, über die gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktion zu bestimmen, entwickelt sich immer weiter." All diese der Bourgeoisie innewohnenden Antagonismen müssen schließlich von ihrem Herrschaftsapparat, den kapitalistischen Staat, in die Hände genommen werden, der dazu aufgerufen ist, die fundamentalen Interessen der gesamten bürgerlichen Klasse vor der sie bedrohenden Gefahr zu beschützen und die Vereinigung der Partikularinteressen der verschiedenen kapitalistischen Formationen – die teilweise bereits vom Finanzkapital ausgeführt worden war – zu vervollständigen. Je weniger Mehrwert es zu teilen gibt, desto schärfer sind die internen Konflikte und desto mehr gebietet sich diese Konzentration. Die italienische Bourgeoisie war die erste, die Zuflucht im Faschismus suchte, weil ihre zerbrechliche ökonomische Struktur unter dem Druck nicht nur der Krise von 1921, sondern auch der gewalttätigen sozialen Konflikte auseinander zu brechen drohte.

Deutschland, eine Macht ohne Kolonien und mit einem schwachen imperialistischen Fundament, war im vierten Jahr der Weltwirtschaftskrise dazu gezwungen, die Gesamtheit der wirtschaftlichen Ressourcen im Schosse des totalitären Staates zu konzentrieren, indem es die einzige Kraft zerschlug, die sich selbständig gegen die kapitalistische Diktatur hätte wehren können. Darüber hinaus war in Deutschland der Umwandlungsprozess der Wirtschaft in ein Instrument des Krieges am fortgeschrittensten. Hingegen verfügten die weit mächtigeren imperialistischen Mächte Frankreich und England noch über beträchtliche Reserven an Mehrwert; sie hatten noch nicht definitiv den Weg der staatlichen Zentralisierung betreten.

Wir haben gerade gesehen, dass das Wachstum der Jahre 1924 bis 1928 eine Folge der Wiederherstellung und strukturellen Verstärkung der imperialistischen Mächte war, mit einer Anzahl von zweitrangigen Staaten, die entsprechend ihren eigenen Interessen und Neigungen sich in den Dunstkreis Ersterer begeben hatten. Aber gerade weil diese Expansion zwei entgegengesetzte – obwohl eng miteinander verknüpfte – Bewegungen beinhaltet, eine in Richtung einer Ausweitung der Produktion und der Zirkulation von Waren, die andere in Richtung Zersplitterung des Weltmarktes in unabhängige Volkswirtschaften, konnte dieser Sättigungspunkt nicht lange hinausgezögert werden.

Die Weltkrise, die die Traumtänzer des Wirtschaftsliberalismus als eine zyklische Krise betrachtet wissen wollen, die dank der Effekte „spontaner“ Faktoren gelöst werden könne und der der Kapitalismus daher durch die Anwendung von Arbeitsprogrammen nach Art von De Man entweichen könne, eröffnet die Periode der interimperialistischen Kämpfe, zunächst ökonomisch und politisch, dann gewaltsam und blutig, sobald die Krise alle friedlichen Möglichkeiten des Kapitalismus erschöpft hat.

Wir können hier den Prozess des in seinem Ausmaß noch nie da gewesenen wirtschaftlichen Zusammenbruchs nicht analysieren. Während der Krise werden alle von uns bereits beschriebenen Versuche, einen Ausweg aus seinen Widersprüchen zu finden, zigfach und mit verzweifelter Energie vom Kapitalismus angewendet:  Ausweitung der Monopole vom nationalen Markt auf die Kolonien und Versuche, unter dem Schutz einer einzigen Zollmauer (Ottawa) einheitliche Imperien zu bilden; die Diktatur des Finanzkapitals und die Verstärkung seiner parasitären Aktivitäten; der Rückzug der internationalen Monopole, die im Angesicht des aufsteigenden Nationalismus zur Aufgabe gezwungen wurden (Kreuger Krach); die Zuspitzung der Gegensätze durch die Errichtung von Zollschranken, zu denen sich Auseinandersetzungen über Währungen gesellen, was die Goldbestände der Zentralbanken in Mitleidenschaft zog; im Handel die Einsetzung von Institutionen zur Regulierung von Ausgleichszahlungen oder gar Tauschhandel, die die Regelfunktion des Goldes als allgemeingültiges Äquivalent für sämtliche Waren übernahmen; die Annullierung nicht wiedergutzumachender „Reparationen“ und die Nichtanerkennung der amerikanischen Schulden durch die „Sieger“staaten, die Suspendierung des Schuldendienstes für private Anleihen und Schulden in den „besiegten“ Staaten, was zu einem Zusammenbruch der internationalen Kreditpolitik und der „moralischen“ Werte des Kapitalismus führte.

Wenn wir die bestimmenden Faktoren der allgemeinen Krise des Kapitalismus erkennen, begreifen wir, warum die Weltkrise von der „natürlichen“ Wirkung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus nicht aufgefangen werden kann und warum im Gegenteil diese Gesetzmäßigkeiten durch die kombinierte Macht von Finanzkapital und kapitalistischem Staat ausgehöhlt werden, die sämtliche Manifestationen von kapitalistischen Partikularinteressen verdichtet haben. Unter diesem Gesichtswinkel müssen all die vielfältigen "Experimente" und Versuche zur Verbesserung der Lage, zur Wiedergenesung gesehen werden, die während der Krise auftauchten. All diese Aktivitäten  werden nicht auf internationaler Ebene im Sinne einer Verbesserung der Weltkonjunktur, sondern auf der nationalen Ebene der imperialistischen Wirtschaften und in einer Form ausgeübt, die ihren Strukturen angepasst ist. Wir können hier nicht spezifische Ausdrücke wie die der Deflation, Inflation oder Währungsabwertung analysieren. Sie sind lediglich von zweitrangigem Interesse, da sie untergeordnet und kurzlebig sind. All diese künstlichen Wiederbelebungsversuche der sich im Zerfall befindlichen Wirtschaft bringen dennoch gemeinsame Früchte hervor. Diejenigen, die demagogisch versprachen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Kaufkraft der Massen zu steigern, endeten mit dem gleichen Resultat: nicht mit der Senkung der Arbeitslosenzahlen, mit denen sich die offiziellen Statistiken brüsten, sondern mit der Verteilung der verfügbaren Arbeit unter immer mehr Arbeitern, was natürlich nur eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen verursacht.

Die Steigerung der Produktion im Bereich der Investitionsgüter (und nicht der Konsumgüterindustrie), die sich in jedem Imperialismus bemerkbar macht, wird einzig durch die Politik der öffentlichen (strategischen) Arbeiten und des Militarismus alimentiert, deren Bedeutung wir sehr gut kennen.

Wohin er sich auch immer wendet, was auch immer er versucht, um dem Griff der Krise zu entkommen, der Kapitalismus wird unaufhaltsam zu seinem Schicksal, der Auslösung eines neuen Krieges, getrieben. Heute ist es noch nicht möglich zu bestimmen, wann und wo er ausbrechen wird. Es ist jedoch wichtig zu unterstreichen, dass er im Zusammenhang mit der Aufteilung Asiens ausbrechen und weltweit sein wird.

Alle Imperialismen steuern zum Krieg, ob sie nun im demokratischen Gewand oder in der faschistischen Uniform daher kommen. Das Proletariat darf sich nicht in eine abstrakte Unterscheidung zwischen „Demokratie“ und Faschismus ziehen lassen, denn dies lenkt es nur von seinem täglichen Kampf gegen die eigene Bourgeoisie ab. Seine Aufgaben und Taktiken von den illusorischen Perspektiven einer wirtschaftlichen Wiedergenesung oder von der Scheinexistenz von gegen den Krieg eingestellten, kapitalistischen Kräften abhängig zu machen würde das Proletariat geradewegs in den Krieg führen oder es jeder Möglichkeit berauben, den Weg zur Revolution zu finden.

MITCHELL


1 Wir lehnen diese falsche Auffassung über die "privilegierten Schichten der Arbeiterklasse" ab, die unter dem Konzept der "Arbeiteraristokratie" bekannt ist. Dieses Konzept ist hauptsächlich von Lenin entwickelt worden (der es wiederum von Engels aufgegriffen hatte) und wird heute noch von den bordigistischen Gruppen vertreten. Wir haben unsere Auffassung zu dieser Frage im Artikel "Die Arbeiteraristokratie: eine soziologische Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse" (Internationale Revue, Nr. 25, franz., engl. und span. Ausgabe, 2. Halbjahr 1981) dargelegt.

2 Auch wenn es unbestreitbar ist, dass der „Krieg enorme Mengen an Arbeit zerstört“, mit anderen Worten: dass er zu Massakern an einer großen Anzahl von Proletariern führt, so kann dieser Satz doch zum Schluss führen, dass die Bourgeoisie das Mittel des Krieges ergreift, um der Gefahr durch das Proletariat zu begegnen. Diese Auffassung teilen wir nicht. Diese unmarxistische Sichtweise, gemäß der der Krieg im Kapitalismus tatsächlich „ein Bürgerkrieg der Bourgeoisie gegen das Proletariat“ sei, wurde innerhalb der Italienischen Linken vor allem von Vercesi vertreten.

3 Diese Behauptung sollte bald durch die Realität widerlegt werden. Sie stützte sich auf eine politische Position, gemäß der die Hauptkonkurrenten im Handel zwingend auch die Hauptfeinde auf imperialistischer Ebene sein mussten. Diese Auffassung ist bereits in einer Debatte der Komintern vertreten worden. Es war Trotzki, der ihr zu Recht aus dem Grunde widersprach, dass militärische Antagonismen nicht notwendig ökonomische Rivalitäten widerspiegeln.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [1]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [4]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [5]

Deutsche Revolution XII (Teil 1)

  • 3431 reads

1923: Die Bourgeoisie will der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beifügen

Wir haben in den vorherigen Artikeln gesehen, wie nach dem Erreichen des Höhepunktes der revolutionären Welle 1919  das Proletariat in Russland isoliert blieb. Während die Komintern gegenüber dem Rückflussß der Welle durch eine opportunistische Kehrtwende zu reagieren versuchte, dadurch ihre Degenerierung einleitete, verselbständigte sich der russische Staat zunehmend gegenüber der Klassenbewegung und versuchte, die Komintern verstärkt in seinen Dienst zu stellen.

Gleichzeitig spürte die Bourgeoisie, nachdem sie den Bürgerkrieg gegen Russland beendet hatte, dass nicht mehr die gleiche Gefahr von der Arbeiterklasse in Russland ausging und dass international die Welle von Kämpfen rückläufig war. Sie hatte bemerkt, dass die Komintern nicht mehr mit aller Kraft die Sozialdemokratie bekämpfte, ja, statt dessen sich gar mit ihr durch Einheitsfronten zu verbünden suchte. Instinktiv erkannte die bürgerliche Klasse, dass der russische Staat nicht mehr nach Ausdehnung der Revolution strebte, sondern zu einer Kraft geworden war, die nach einem eigenständigen Platz als Staat suchte, wie es die Konferenz von Rapallo hatte deutlich werden lassen. Die Bourgeoisie spürte, dass sie gegen die Arbeiterklasse eine internationale Offensive einleiten konnte, deren Schwerpunkt in Deutschland liegen sollte.

Neben Russland 1917 war die Arbeiterklasse in Deutschland und Italien am weitesten gegangen. Trotz der Niederlagen im Frühjahr 1920 nach der Abwehr des Kapp-Putsches und selbst nach den Märzkämpfen 1921 zeigte sich die Arbeiterklasse in Deutschland immer noch kämpferisch, aber international war sie relativ isoliert. Während  die Arbeiter in Österreich, Ungarn und Italien bereits besiegt waren und sich massiven Angriffen ausgesetzt sahen, und  das Proletariat Deutschlands, Polens und Bulgariens zu verzweifelten Reaktionen getrieben wurde,  blieb die Lage in Frankreich und Großbritannien vergleichsweise  stabil.

Bei ihrem Vorhaben, der Arbeiterklasse in Deutschland eine entscheidende Niederlage beizufügen und somit die ganze internationale Arbeiterklasse zu schwächen, konnte die Bourgeoisie mit der internationalen Unterstützung der gesamten Kapitalistenklasse rechnen. Zudem hatte sie sich gleichzeitig durch die Integration der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den Staatsapparat beträchtlich verstärken können.

1923 versuchte die Bourgeoisie, die Arbeiterklasse in eine nationalistische Falle zu locken, in der Hoffnung, sie so von ihrem Kampf gegen den Kapitalismus abzulenken.

Die verheerende Politik der KPD: Schutz der Demokratie und Einheitsfront

Wir haben in früheren Artikeln aufgezeigt, wie die KPD sich durch den Ausschluss der ‘Linksradikalen’, die später die KAPD gründeten, selbst schwächte und dadurch die Tür zum Opportunismus weit öffnete.

Während die KAPD vor den Gefahren des Opportunismus und der Degenerierung der Komintern sowie vor dem Staatskapitalismus in Russland warnte, reagierte die KPD opportunistisch. Sie war es, die 1921 in einem „Offenen Brief an die Arbeiterparteien“ als erste Partei zu einer Einheitsfront aufrief.

„Der Kampf um die Einheitsfront führt zur Eroberung der alten proletarischen Klassenorganisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften usw.). Er verwandelt die durch die Taktik der Reformisten zu Werkzeugen der Bourgeoisie gewordenen Organe der Arbeiterschaft wieder in Organe des proletarischen Klassenkampfes.“

Und das, obwohl die Gewerkschaften selbst mit Stolz bekannt hatten: „Aber die Tatsache, dass die Gewerkschaften der einzige, feste Damm sind, der Deutschland bisher vor der bolschewistischen Flut geschützt hat, bleibt bestehen!“ (Korrespondenzblatt der Gewerkschaften, Juni 1921)  Der KPD-Gründungsparteitag hatte sich nicht getäuscht, als er mit der Stimme Rosa Luxemburgs erklärte: „Die offiziellen Gewerkschaften haben sich im Verlaufe des Krieges und in der Revolution bis zum heutigen Tage als eine Organisation des bürgerlichen Staates und der kapitalistischen Klassenherrschaft gezeigt.“ Nun jedoch trat man für die Rückverwandlung der zum Klassenfeind übergelaufenen Organe in Arbeiterorgane ein.

Gleichzeitig plädierte die KPD-Führung unter Brandler für eine Einheitsfront von Oben, also mit der SPD-Führung. Dieser Ausrichtung stellte sich der Flügel um Fischer und Maslow mit der Losung der ‚Arbeiterregierung‘ innerhalb der KPD entgegen. Er meinte, die Losung der ‘Arbeiterregierung’ ebenso wie „die Unterstützung der sozialdemokratischen Minderheitsregierung (bedeutet) (...) nicht ein Weitertreiben der Zersetzung der SPD“, sie fördere „die Illusionen der Massen, als ob das sozialdemokratische Kabinett eine Machtposition der Arbeiterklasse wäre“; „es heiße die KPD zu liquidieren, wolle man der SPD als Partei zugestehen, dass sie revolutionär kämpfen könne“.

Aber vor allem die gerade entstandenen Strömungen der Kommunistischen Linken in Deutschland und in Italien wandten sich gegen diese Politik der Einheitsfront.

„Was die Arbeiterregierung angeht, fragen wir: Warum will man sich mit den Sozialdemokraten verbünden? Um nur das zu machen, was sie zu machen verstehen, was sie können und wollen, oder um sie zu aufzufordern, das zu machen, was sie nicht vermögen, nicht können und nicht wollen? Erwartet man von uns, dass wir den Sozialdemokraten sagen, wir seien bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten, gar im Parlament und gar in dieser Regierung, die man als ‘Arbeiterregierung’ bezeichnet? In diesem Fall, d.h. wenn man von uns verlangt, dass wir im Namen der Kommunistischen Partei ein Projekt der Arbeiterregierung erarbeiten, an dem sich die Kommunisten und Sozialdemokraten beteiligen sollten, und diese Regierung den Massen als eine ’anti-bürgerliche Regierung’ präsentieren, entgegnen wir: Wir übernehmen die volle Verantwortung für unser Handeln, denn solch eine Haltung steht im völligen Gegensatz zu den Grundprinzipien des Kommunismus.“ (Il Comunista, 26.3.1922)

Auf dem 4. Kongress „akzeptierte die KP Italiens somit nicht, sich an gemeinsamen Organen mit verschiedenen politischen Organisationen zu beteiligen (...) Sie vermied es auch, gemeinsame Erklärungen mit politischen Parteien zu verabschieden, wenn diese Erklärungen im Widerspruch zu ihrem Programm standen und der Arbeiterklasse als das Ergebnis von Verhandlungen dargestellt wurden, die darauf abzielten, eine gemeinsame Linie zu finden (...) Von Arbeiterregierung zu sprechen (....) heißt, in der Praxis das politische Programm des Kommunismus zu verwerfen, d.h. die Notwendigkeit, die Massen auf den Kampf für die Diktatur des Proletariats vorzubereiten.“ (Bericht der KPI auf dem 4. Kongress der Kommunistischen Internationale, Nov. 1922)

Ungeachtet dieser Kritik der Linkskommunisten bot schon im November 1922 die KPD entgegen dem Votum der Komintern der SPD in Sachsen eine Koalition an.

Die gleiche KPD, die es auf ihrer Gründungskonferenz Anfang 1919 noch abgelehnt hatte, „mit den Handlangern der Bourgeoisie, mit den Scheidemann-Ebert die Regierungsgewalt zu teilen, weil er (der Spartakusbund) in einer solchen Zusammenwirkung einen Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus, eine Stärkung der Gegenrevolution und eine Lähmung der Revolution erblickt“, trat nun für das exakte Gegenteil ein.

Zudem ließ die KPD sich von den in den Parlamentswahlen errungenen Stimmenanteil   blenden, als sie glaubte,  diese Stimmen würden das tatsächliche Kräfteverhältnis oder gar einen entsprechenden Einfluss der Partei zum Ausdruck bringen.

Die ersten faschistischen Gruppierungen rekrutierten sich bereits aus Mittelstand und der Kleinbourgeoisie, etliche rechtsradikale Wehrgruppen fingen,  meist mit Kenntnis des Staates, an, Militärübungen abzuhalten. Der Großteil dieser Gruppen war direkt aus den Freikorps hervorgegangen, die die SPD-geführte Regierung 1918-1919 als Antwort auf die revolutionären Kämpfe der Arbeiter aufgestellt hatte. Schon am 31. August 1921 hatte die Rote Fahne erklärt, dass „die Arbeiterschaft das Recht und die Pflicht hat, den Schutz der Republik vor der Reaktion zu übernehmen...“. Ein Jahr später, im November 1922, unterzeichnete die KPD ein Abkommen mit den Gewerkschaften und der SPD (‘Berliner Abkommen’), das die „Demokratisierung der Republik“ (Republikschutzgesetz, Entfernung der Reaktionäre aus Verwaltung, Justiz und Armee) anstrebte. Damit verstärkte die KPD die Illusionen der Arbeiter über die bürgerliche Demokratie und stellte sich in direkten Gegensatz zu den Positionen der Italienischen Linken um Bordiga, die auf dem 4. Weltkongress im November 1922 in ihrer Analyse des Faschismus  betonte, dass die bürgerliche Demokratie nur die Maske der Diktatur der Bourgeoisie sei.

In einem früheren Artikel haben wir bereits hervorgehoben, dass die Komintern insbesondere in der Person Radeks ihre Kritik an der Politik der KPD nicht den Statuten entsprechend vortrug und der KPD-Führung oft dadurch in den Rücken fiel, indem sie parallel zu ihr fungierte. Zudem drangen immer mehr kleinbürgerliche Umgangsformen in die  Partei ein. Eine Stimmung des Misstrauens  und der Verdächtigungen machte sich breit, anstatt durch brüderliche Kritik, wo notwendig, eine Stärkung der Organisation herbeizuführen[1].

 

Die herrschende Klasse spürte, dass die KPD dabei war, Verwirrung in der Arbeiterklasse zu stiften, statt durch Klarheit und Entschlossenheit eine echte Führungsrolle zu übernehmen. Die herrschende Klasse ahnte, dass sie die opportunistische Haltung der KPD noch gegen die Arbeiterklasse einsetzen konnte.

Mit dem Abebben der revolutionären Welle eine Zuspitzung der imperialistischen Konflikte 

Die Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat nach dem Abebben der revolutionären Welle nach 1920 wurde auch anhand der interimperialistischen Beziehungen sichtbar. Kaum war die unmittelbare Bedrohung durch die Arbeiterklasse zurückgegangen und die revolutionäre Flamme der russischen Arbeiterklasse erloschen, begannen die imperialistische Spannungen wieder an Schärfe zuzunehmen.

Deutschland selbst strebte mit allen Tricks danach, seine durch den Ausgang des Weltkriegs und die Unterzeichnung des Versailler Vertrages eingetretene Schwächung rückgängig zu machen. Gegenüber den ‘Siegerländern’ im Westen bestand seine Taktik darin zu versuchen, Großbritannien und Frankreich gegeneinander auszuspielen, da an eine offene militärische Konfrontation mit ihnen nicht zu denken war. Gleichzeitig versuchte Deutschland, die traditionell engen Beziehungen zu seinen Nachbarn im Osten wieder zu erneuern. Wir haben in einem früheren Artikel beschrieben, wie zielstrebig die deutsche Bourgeoisie in Anbetracht der imperialistischen Spannungen im Westen geheime Waffenlieferungen und militärische Zusammenarbeit mit dem neuen russischen Staat beschlossen hatte.

So erkannte einer der großen Militärchefs in Deutschland: „Seit dem Friedensabschluss sind die Beziehungen zu Russland die erste und bislang nahezu einzige Verstärkung, die wir durchsetzen konnten. Dass sich die Grundlagen dieser Beziehung in der Wirtschaft befinden, liegt in der Natur der Sache; aber die Stärke liegt darin begründet, dass diese wirtschaftliche Annäherung die Möglichkeit einer politischen und damit auch militärischen Verbindung eröffnet.“ (Seeckt, zitiert von Carr, S. 434)

Gleichzeitig hatte der russische Staat in Gestalt Bucharins verlauten lassen: „Ich behaupte, dass wir schon mächtig genug sind, ein Bündnis mit einer ausländischen Bourgeoisie einzugehen, damit wir mittels dieses bürgerlichen Staates eine andere Bourgeoisie besiegen (...) Falls ein Militärbündnis mit einem bürgerlichen Staat geschlossen wird, besteht die Aufgabe der Genossen in jedem Land darin, zum Sieg der beiden Verbündeten beizutragen.“ (Bucharin, zitiert von Carr, ebenda)

„Wir sagen diesen Herren der deutschen Bourgeoisie (...) wenn Sie wirklich gegen die Besatzung, wirklich gegen die Beleidigungen durch die Entente ankämpfen wollen, haben Sie keine andere Wahl als eine Annäherung mit dem ersten proletarischen Land zu suchen, das unbedingt diese Länder unterstützen muss, die jetzt in einer erbärmlichen Abhängigkeit gegenüber dem internationalen Imperialismus stecken.“ (Sinowjew, 12. Parteikongress, April 1923)

In nationalistischer Manier sprach das  deutsche Kapital von der ‘Schmach und der Unterjochung’ durch das Auslandskapital, insbesondere durch Frankreich. So gaben  deutsche Militärführer sowie prominente Vertreter der deutschen Bourgeoisie  wiederholt öffentliche Erklärungen von sich, denen zufolge die einzige Rettung für die deutsche Nation gegen die Knechtschaft von Versailles in einem Militärbündnis mit der Sowjetunion und einem „revolutionären Volkskrieg“ gegen den französischen Imperialismus lag.

Innerhalb des russischen Staates, wo sich mittlerweile eine neue Schicht von staatskapitalistischen Verwaltern herausgebildet hatte, stieß diese Politik auf ein großes Echo.

Auch die proletarischen Internationalisten innerhalb der Komintern und der russischen Partei, die noch am Ziel der Ausdehnung der Weltrevolution festhielten, ließen sich durch diese Lockrufe des deutschen Kapitals blenden. Während es für das deutsche Kapital nie in Frage gekommen wäre, ein wirkliches Bündnis mit Russland gegen den Westen einzugehen, erschien den damaligen russischen Staatsführern und der Komintern-Spitze dieses Angebot als echt, sie ließen sich täuschen und liefen in die Falle. So trugen sie aktiv dazu bei, dass die Arbeiterklasse in die gleiche Falle getrieben wurde.

Mit Rückendeckung der gesamten Kapitalistenklasse heckte die deutsche Bourgeoisie folgenden Plan gegen die Arbeiterklasse aus. Einerseits wollte das deutsche Kapital dem Druck des Versailler Vertrages ausweichen, indem man insbesondere gegenüber Frankreich die Reparationsleistungen verschleppte und einzustellen drohte, andererseits sollte die Arbeiterklasse in Deutschland in eine nationalistische Falle gelockt werden. Dazu war jedoch die `Mithilfe‘ des russischen Staates und der Komintern erforderlich.

So fasste die deutsche Bourgeoisie den bewussten Entschluss, das französische Kapital durch Zahlungsverweigerung der Reparationsschulden zu provozieren. Frankreich reagierte darauf am 11. Januar 1923 mit der Besetzung des Ruhrgebietes.

Gleichzeitig ergänzte das deutsche Kapital seine Taktik durch den Entschluss, an der durch die Krise hervorgerufenen Inflationsspirale bewusst zu drehen. Das deutsche Kapital setzte die Inflation als eine Waffe ein, um die Reparationskosten abzuschwächen und um die Last der Kriegsanleihen zu erleichtern. Außerdem sollte somit die Modernisierung seiner Produktionsanlagen finanziert werden.

Die Bourgeoisie war sich dessen bewusst, dass die Inflation der Stachel im Fleisch der Arbeiterklasse sein würde, der sie in den Kampf treiben würde. Und der herrschenden Klasse kam es darauf an, diesen einkalkulierten Abwehrkampf der Arbeiterklasse auf ein nationalistisches Terrain zu locken. Der ausgelegte Köder war die in Kauf genommene Ruhrgebietsbesetzung durch französisches Militär. Es war daher kreuzwichtig für die Arbeiterklasse und ihre Revolutionäre, diese Falle der sich im Überlebenskampf befindlichen deutschen Bourgeoisie zu erkennen und zu entblößen. Andernfalls drohte die Gefahr, dass die deutsche Bourgeoisie der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beifügte. So war die deutsche Bourgeoisie also bereit, erneut die Arbeiterklasse herauszufordern, da sie spürte, dass das internationale Kräfteverhältnis gekippt war und Teile des russischen Staates zu dieser Politik verführt werden konnten, ja, gar die Komintern in diese Falle gelockt werden konnte.

Die Provokation der Ruhrgebietsbesetzung: Welche Aufgabe der Arbeiterklasse?

Frankreich hoffte, durch die Einverleibung des Ruhrgebiets zum größten Stahl- und Kohleproduzenten in Europa aufzusteigen, denn das Ruhrgebiet lieferte für Deutschland 72% der Kohleproduktion, 50% der Eisen-Stahl-Produktion, 25% der gesamten deutschen Industrieproduktion. Es lag auf der Hand, dass, sobald diese Produktion für Deutschland ausfiel, der starke Produktionsrückgang zu Güterknappheit und schwerwiegenden wirtschaftlichen Zerrüttungen führen musste. Die deutsche Bourgeoisie war also zu einem großen Opfer bereit, weil für sie viel auf dem Spiel stand. Das Kapital setzte alles daran, die Arbeiter zu Streiks und Arbeitsniederlegungen mit nationalistischem Hintergrund anzustacheln. Unternehmer und die Regierung in Berlin beschlossen die Aussperrung, und wer unter den französischen Besatzungstruppen arbeitete, wurde mit Entlassung bedroht. Am 4. März kündigte SPD-Reichspräsident Ebert schwere Strafen für die Arbeiter an, die in den Gruben oder bei der Eisenbahn für Frankreich arbeiteten. Am 24. Januar 1923 appellierten Unternehmer und der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund gemeinsam, „sofort Geldmittel“ im Kampf gegen Frankreich zur Verfügung zu stellen. Die Folge: Immer mehr Firmen im Ruhrgebiet schmissen ihre Beschäftigten auf die Straße. Und das vor dem Hintergrund einer galoppierenden Inflation:  Während der Dollar noch im April 1922 1.000 Mark kostete, betrug sein Preis im November 1922 schon 6.000, nach der Ruhrgebietsbesetzung im Februar 1923 20.000 Mark. Im Laufe des Jahres stieg er dann  auf 100.000 Mark (Juni), auf 1 Mio. Mark Ende Juli auf 10 Mio. Mark Ende August, 100 Mio. Mark Mitte September und schließlich im November auf 4.200.000.000.000 Mark.

Diese Entwicklung traf die Kohlebarone im Ruhrgebiet nicht so hart, da sie in der Zwischenzeit eine Bezahlung in Gold bzw. in Sachwerten eingeführt hatten. Für die Arbeiterklasse dagegen bedeutete dies, am Hungertuch zu nagen. Häufig marschierten Arbeitslose und Beschäftigte zu den Rathäusern, um ihre Forderungen vorzulegen. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen mit den französischen Truppen.

Die Komintern treibt die Arbeiter in die Falle des Nationalismus

Den Sirenengesängen des deutschen Kapitals über einen gemeinsamen Kampf zwischen den ‘unterdrückten Nationen’ Deutschland und Russland erlegen, verbreitete die Komintern selbst die Idee, in Deutschland sei eine starke Regierung erforderlich, die der französischen Besatzerregierung entschlossen und ungestört von jeglichem Klassenkampf die Stirn biete. Damit opferte die Komintern den  proletarischen Internationalismus zugunsten der Interessen des russischen Staates.[2]

Diese Politik wurde im Namen des ‘Nationalbolschewismus’ vollzogen. Während die Komintern sich im Herbst 1920 noch energisch und entschlossen ‘national-bolschewistischen Tendenzen’ entgegengestellt und in den Verhandlungen mit der KAPD den Ausschluss der Nationalbolschewisten Laufenberg und Wolffheim aus ihren Reihen gefordert hatte, plädierte sie nun selbst für diese Linie.

Diese Kehrtwende der Komintern läßt sich nicht nur mit den Konfusionen und dem Opportunismus innerhalb des EKKI erklären. Jene  ‘unsichtbare Hand’ der Kräfte, die nicht an der Revolution, sondern an der Stärkung des Staates interessiert waren, spielte dabei auch eine Rolle. Der Köder des Nationalbolschewismus konnte erst ausgelegt werden, als die Komintern schon in der Entartung begriffen, in die Fangarme des russischen Staates geraten und von diesem einverleibt worden war. Radek argumentierte: „Die Sowjetunion ist in Gefahr, alle Aufgaben müssen der Verteidigung der Sowjetunion untergeordnet werden, auf Grund dieser Analyse würde eine revolutionäre Bewegung in Deutschland gefährlich sein und den Interessen der Sowjetunion zuwiderlaufen (.....) Die deutsche kommunistische Bewegung ist nicht fähig, den deutschen Kapitalismus zu stürzen, sie hat als Stütze der russischen Außenpolitik zu dienen. Ein unter Führung der bolschewistischen Partei organisiertes Europa, das die militärische Leistungsfähigkeit der deutschen Armee gegen den Westen einsetzt, das ist die Perspektive, der einzige Ausweg.“

Die Rote Fahne schrieb im Januar 1923:  „Die deutsche Nation wird in den Abgrund gestoßen, wenn das Proletariat sie nicht rettet. Die Nation wird von den deutschen Kapitalisten verkauft und vernichtet, wenn sich die Arbeiterklasse nicht dazwischen wirft. Entweder verhungert und zerfällt die deutsche Nation unter der Diktatur der französischen Bajonette oder sie wird durch die Diktatur des Proletariats gerettet.“

„Heute bedeutet jedoch der Nationalbolschewismus, dass alles von dem Gefühl durchdrungen ist, dass die Rettung nur bei den Kommunisten vorhanden ist. Wir sind heute der einzige Ausweg. Die starke Betonung der Nation in Deutschland ist ein revolutionärer Akt, wie die Betonung der Nation in den Kolonien“ (Rote Fahne, 21.06.1923). „Die Nation zerfällt. Das Erbe des deutschen Proletariats (...) ist bedroht. Nur die Arbeiterschaft kann die Nation retten.“ (1.4.1923, Rote Fahne)

Rakosi, Delegierter der Komintern, lobte die KPD für diese Linie: „... eine kommunistische Partei muss an die nationale Frage ihres Landes herantreten. Die deutsche Partei hat diese Frage mit glücklicher Hand angeschnitten. Sie ist dabei, den deutschen Faschisten die nationalistische Waffe aus den Händen zu schlagen.“ (Schüddelkopf, S. 177)

In einem Manifest an Sowjetrussland meinte die KPD: „Der Parteitag dankt Sowjetrussland für die mit Strömen von Blut und unermesslichen Opfern unverwischbar in die Geschichte geschriebene große Lehre, dass die Sache der Nation heute die Sache der Arbeiterklasse ist.“

Thalheimer sprach am 18. April sogar davon, „der proletarischen Revolution sei es vorbehalten, nicht allein Deutschland zu befreien, sondern das Werk Bismarcks mit dem Anschluss Österreichs zu vollenden. Diese Aufgabe muss das Proletariat an der Seite des Kleinbürgertums erfüllen.“ (Die Internationale, V 8, 18.4.23, S. 242-247)

Welche Perversion der Grundsatzpositionen der Kommunisten in der nationalen Frage! Welche Abkehr von der internationalistischen Position der Revolutionäre im 1. Weltkrieg, an deren Spitze Lenin und Rosa Luxemburg gestanden hatten, die für die Abschaffung aller Nationen eingetreten waren!

Im Rheinland und in Bayern war die separatistische Bewegung nach dem Krieg im Aufschwung begriffen. Die Gunst der Stunde witternd und mit französischer Unterstützung wollten diese Kräfte eine Loslösung des Rheinlands vom Reich durchsetzen.  Mit Stolz berichtete die KPD-Presse, wie man der Cuno-Regierung unter die Arme griff, um gegen die Separatisten zu kämpfen. „Aus dem Ruhrgebiet wurden kleine bewaffnete Stoßtrupps nach Düsseldorf gezogen, die den Auftrag erhielten, die Ausrufung der ‘Rheinischen Republik’ unmöglich zu machen. Als mittags gegen 14.00 Uhr die Separatisten auf den Rheinwiesen versammelt waren und die Kundgebung beginnen sollte, griffen einige Stoßtrupps mit Handgranaten die Separatisten an. Einige wenige Handgranaten genügten, und die ganze Separatistenbande versuchte in völliger Auflösung und Panik, die Rheinwiesen zu räumen (...) Von einer Kundgebung oder Ausrufung der ‘Rheinischen Republik’ konnte keine Rede mehr sein.“ (W. Ulbricht, S. 132, Bd. I)

„Wir verraten kein Geheimnis, wenn wir aussprechen, dass die kommunistischen Stoßtrupps, die in der Pfalz, in der Eifel und am Düsseldorfer Totensonntag mit Revolvern und Handgranaten die Separatisten auseinandergetrieben haben, unter der Führung von nationalgesinnten preußischen Offizieren standen.“ (Vorwärts, 4.9.1930/Flugblatt der Gruppe)

Diese nationalistische Orientierung war aber nicht allein das Werk der KPD, sondern die Ausgeburt der Politik des russischen Staates und bestimmter Teile der Komintern.

Nach Absprache mit dem EKKI sollte der Zentrale zufolge der Kampf in erster Linie gegen Frankreich und erst in zweiter Linie gegen die deutsche Bourgeoisie geführt werden. Deshalb behauptete die Zentrale: „Die Niederlage des französischen Imperialismus im Weltkrieg war kein kommunistisches Ziel, seine Niederlage im Ruhrgebiet ist ein kommunistisches Ziel.“

Die KPD und die Hoffnung auf ein ‘nationales Bündnis’

Folglich wandte sich die KPD-Zentrale gegen die Auslösung von Streiks.

Schon auf dem Leipziger Parteitag Ende Januar, kurze Zeit nach Beginn der Ruhrgebietsbesetzung, hatte die Zentrale mit Unterstützung der Komintern eine Diskussion über ihre Orientierung blockiert, da sie befürchtete, es würde zu einer Ablehnung ihrer Orientierung kommen, weil der Großteil der Partei sich ihr widersetzte. 

Als die Ruhrgebiets-Verbände der KPD am 23. März einen Bezirksparteitag abhielten, um über Kampfmaßnahmen zu entscheiden, wandte sich die Zentrale gegen die Ausrichtung der Ortsgruppen der KPD im Ruhrgebiet. Die Zentrale der KPD behauptete, „eine starke Regierung allein kann Deutschland retten, eine Regierung, die getragen ist von der lebendigen Kräften der Nation“ (Rote Fahne, 1. April 23).

Dennoch traten die meisten Delegierten der KPD-Konferenz im Ruhrgebiet ein für:

-          die Niederlegung der Arbeit in allen militärisch besetzten Gebieten, 

-          die Übernahme der Betriebe unter Ausnutzung des deutsch-französischen Konfliktes und, wenn möglich, die lokale Machtergreifung.

Innerhalb der KPD prallten somit zwei inhaltlich unterschiedliche Orientierungen aufeinander: eine proletarisch- internationalistische Ausrichtung, die für die Konfrontation mit der Cuno-Regierung und eine Radikalisierung der Bewegung im Ruhrgebiet eintrat[3]; dagegen stand die Position der KPD-Zentrale, die sich energisch und mit Unterstützung der Komintern gegen Streiks aussprach und die Arbeiterklasse auf ein nationalistisches Terrain drängte.

Das Kapital war sich der Sabotage der Arbeiterkämpfe so sicher, dass der Staatssekretär von Malzahn nach einem Gespräch mit Radek am 26. Mai in einer streng geheimen Denkschrift an Ebert und die wichtigsten Minister berichtete: „Er (Radek) könne mir versichern, dass russische Sympathien schon aus eigenen Interesse im Ruhrkampf auf Seiten der deutschen Regierung ständen(...) Er habe in den letzten acht Tagen mit allen Kräften auf die kommunistischen Parteiführer eingewirkt, um ihnen die Dummheit ihres jetzigen Vorgehens gegen die deutsche Regierung vorzuhalten. Wir würden ja sehen, dass in einigen Tagen die Kommunistenputsche in der Ruhr abnehmen würden.“ (Archive des Auswärtigen Amtes, Bonn, Deutschland 637.442ff; in Dupeux, S. 181).

Nach dem Angebot der Einheitsfront an die konterrevolutionäre SPD und die Parteien der 2. Internationalen nun die Stillhaltepolitik gegenüber der kapitalistischen deutschen Regierung.

Wie weit die KPD-Führung sich darüber im Klaren war, dass sie der Regierung „nicht in den Rücken fallen durfte“, beweist eine Stellungnahme der Roten Fahne: „Die Regierung weiß, dass die KPD aus Rücksicht auf die Gefahr seitens des französischen Kapitalismus über vieles geschwiegen hat, was diese Regierung (...) unmöglich machen würde für jede internationale Verhandlung. Solange die sozialdemokratischen Arbeiter nicht zusammen mit uns für die Arbeiterregierung kämpfen, hat die Kommunistische Partei kein Interesse daran, dass an die Stelle dieser kopflosen Regierung eine andere bürgerliche tritt (...) Entweder lässt die Regierung die Mordhetze gegen die KP verstummen, oder wir werden das Schweigen brechen.“ (27.5.1923, Rote Fahne, Dupeux, S. 181)

Nationalistische Lockrufe an die patriotische Kleinbourgeoisie

Da die Inflation auch die Kleinbourgeoisie und den Mittelstand praktisch enteignet hatte, erblickte die KPD die Möglichkeit, diesen Schichten ein Bündnis vorzuschlagen. Statt auf den eigenständigen Kampf der Arbeiterklasse zu pochen, der in dem Maße, wie er an Stärke und Ausstrahlung zunimmt, andere nicht-ausbeutende Schichten mit einbeziehen kann, wurden diese Schichten mit der Aussicht geködert, ein Bündnis mit der Arbeiterklasse einzugehen. „Wir müssen vor die leidenden, verwirrten, aufgebrachten Massen des proletarischen Kleinbürgertums treten und ihnen sagen, dass sie sich selbst und die Zukunft Deutschlands nur dann verteidigen können, wenn sie sich mit dem Proletariat zum Kampf gegen die wahre Bourgeoisie verbunden haben.“ (Carr, Interregnum, S. 176)

„Aufgabe der KPD ist es, den breiten kleinbürgerlichen und intellektuellen nationalistischen Massen die Augen darüber zu öffnen, dass nur die Arbeiterklasse, nachdem sie gesiegt hat, imstande sein wird, den deutschen Boden, die Schätze der deutschen Kultur und die Zukunft der deutschen Nation zu verteidigen.“ (Rote Fahne vom 13. Mai 1923)

Auch diese Politik - Sammlung auf nationaler Grundlage - war nicht das Produkt der KPD allein, sondern wurde von der Komintern selbst mitgetragen. Die Rede, die Radek am 20. Juni 1923 vor dem EKKI hielt, legt Zeugnis davon ab. In dieser Rede lobte er Schlageter, Mitglied rechtsradikaler separatistischer Kreise, der am 26. Mai bei Sabotageaktionenen gegen Eisenbahnbrücken bei Düsseldorf von den französischen Militärs gefasst und erschossen worden war. Es war der gleiche Radek, der in den Reihen der Komintern 1919 und 1920 mit darauf gedrängt hatte, die Hamburger Nationalbolschewisten aus den Reihen der KPD und KAPD zu werfen. „Aber wir glauben, dass die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört. Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, dass Männer, wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden.“ (Radek, 20.06.23)

„Es ist klar, die deutsche Arbeiterklasse wird nie zur Macht kommen, wenn sie nicht imstande ist, den breiten Massen des deutschen Volkes das Vertrauen zu geben, dass sie für die Abschaffung des Joches des fremden Kapitals mit allen Kräften kämpfen wird.“ (Dupeux, S. 190)

Diese Idee, dass das „Proletariat als Vorhut, das nationalistische Kleinbürgertum als Nachhut“, kurzum: das Volk für die Revolution eintreten könnte, dass man die Nationalisten auf die Seite der Arbeiter ziehen müsse, wurde  später vom 5. Kongress der Komintern 1924 vorbehaltlos bestätigt.

Während die KPD-Opposition sich gegen diese Orientierung auf die ‘Stillhaltepolitik’ wandte, die von der KPD-Zentrale bis September 1923 praktizierte wurde, schützte es sie nicht davor, die Arbeiterklasse selbst in Sackgassen zu lenken und nationalistischen Verlockungen anheim zu fallen. So betrieb Ruth Fischer eifrig anti-semitische Propaganda. „Wer gegen das Juden-Kapital aufruft, (...) ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß (...) Tretet die Juden-Kapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie (...) Der französische Imperialismus ist jetzt die größte Gefahr der Welt, Frankreich ist das Land der Reaktion (...) Nur im Bunde mit Russland (...) kann das deutsche Volk den französischen Kapitalismus aus dem Ruhrgebiet herausjagen...“ (Flechtheim S. 178)

Die Arbeiterklasse wehrt sich auf ihrem Klassenterrain

Während es der Bourgeoisie also darum ging, die Arbeiterklasse in Deutschland auf nationalistisches Terrain zu locken, sie damit von der Verteidigung ihrer eigenständigen Klasseninteressen abzubringen, während das EKKI und die KPD-Führung dabei tatkräftig mithalfen, ließ sich der Großteil der Arbeiterklasse im Ruhrgebiet und in den anderen Städten nicht auf dieses Terrain ziehen. Es gab fast keinen Betrieb, wo die Arbeiter nicht in den Streik traten.

Immer wieder und zunehmend landesweit kam es zu kleineren Streik- und Protestwellen. So am 9. März in Oberschlesien, wo 40‘000 Bergarbeiter streikten, am 17. März in Dortmund, wo ebenfalls Bergarbeiter in den Ausstand traten. Immer häufiger kam es zu Zusammenschlüssen zwischen demonstrierenden Arbeitslosen, Beschäftigten und Notstandsarbeitern, wie am 2. April in Mühlheim /Ruhr.

Obwohl sich Teile der KPD-Führung durch die nationalistischen Umwerbungsversuche verführen und täuschen ließen, war für die deutsche Bourgeoisie, sobald die Streiks im Ruhrgebiet ausgebrochen waren, klar, dass sie die Hilfe der anderen kapitalistischen Staaten einfordern musste. In Mühlheim/Ruhr hatten am 12. April  Arbeiter mehrere Betriebe besetzt. Nahezu die ganze Stadt wurde bestreikt, das Rathaus besetzt. Da aufgrund der Besetzung durch französische Truppen die Reichswehr im Ruhrgebiet zur Niederschlagung der Streiks nicht intervenieren durfte, wurde die Polizei gerufen, deren Kräfte jedoch nicht ausreichten, um die Arbeiter vernichtend zu schlagen. Deshalb appellierte der Bürgermeister von Düsseldorf in einem Brief an den Oberbefehlshaber der französischen Besatzungstruppen um Unterstützung: „Ich muss sie daran erinnern, dass während des Kommune-Aufstandes das deutsche Oberkommando den französischen Truppen in jeder Beziehung entgegenkam, um den Aufstand gemeinsam zu unterdrücken. Ich bitte Sie, uns die gleiche Unterstützung zu erweisen, wenn Sie nicht wollen, dass künftig eine gefährliche Situation entsteht.“ (Dr. Lutherbeck, Brief an  General de Goutte)

So wurde wiederholt die Reichswehr zu Niederschlagungsaktionen in verschiedene Städte geschickt - unter anderem nach Gelsenkirchen und Bochum. Während die deutsche Regierung ihre angebliche Feindschaft gegenüber Frankreich zur Schau trug, zögerte sie nie, ihr Militär gegen die Arbeiter zu schicken, die dem Nationalismus widerstanden hatten.

Die rasante Beschleunigung der Wirtschaftskrise, vor allem die Inflation, heizten die Kampfbereitschaft der Arbeiter wieder an. Löhne und Gehälter der Arbeiter verloren stündlich an Wert. Im Vergleich zur Vorkriegszeit war die Kaufkraft um drei Viertel gesunken. Immer mehr Arbeiter wurden arbeitslos. Im Sommer zählte man ca. 60% Arbeitslose. Selbst Beamte erhielten vom Staat nur Spottlöhne. Unternehmen wollten ihre eigene Währungen drucken, Gemeindeverwaltungen führten ‘Notwährungen’ zur Bezahlung ihrer Beamten ein. Da der Verkauf von Lebensmitteln für die Bauern nicht mehr Gewinn bringend war, hielten sie ihre Produkte zurück und horteten sie. Die Nahrungsmittelversorgung kam teilweise zum Erliegen. Arbeiter und Arbeitslose demonstrierten immer öfter gemeinsam. Überall kam es zu Hungerrevolten und Plünderungen. Oft konnte die Polizei den Hungerrevolten nur noch ohnmächtig zusehen. 

Ende Mai traten im Ruhrgebiet ca. 400‘000 Arbeiter in den Streik, im Juni wiederum ca.  100‘000 Berg- und Hüttenarbeiter in Schlesien sowie 150‘000 Metaller in Berlin. Im Juli brach eine weitere Streikwelle aus, die auch von gewalttätigen Zusammenstößen gekennzeichnet war.

In diesen Kämpfen trat erneut ein Merkmal auf, das die Radikalisierung aller Arbeiterkämpfe in der Dekadenz auszeichnet: eine große Welle von Gewerkschaftsaustritten. Die Arbeiter kamen in den Betrieben zu Vollversammlungen zusammen und versammelten sich immer häufiger auch auf den Straßen. Man verbrachte mehr Zeit auf der Straße, in Diskussionen und Demonstrationen, als auf der Arbeit. Die Gewerkschaften stemmten sich mit aller Kraft gegen diese Entwicklung. Die Arbeiter strebten spontan danach, sich in Vollversammlungen, Fabrikkomitees und Fabrikausschüssen vor Ort zusammenzuschließen. Die Bewegung gewann weiter an Auftrieb. Sie scharte sich dabei nicht um nationalistische Forderungen, sondern suchte nach einer Klassenorientierung.

Was machten die revolutionären Kräfte an ihrer Seite?

Die KAPD, die mittlerweile durch das Fiasko der Spaltung in die Essener und Berliner Richtung und durch die Gründung der Kommunistischen Arbeiter-Internationale (KAI) zahlenmäßig stark geschrumpft und organisatorisch erheblich geschwächt war, konnte als solche in dieser Situation keine Präsenz zeigen, obwohl sie laut ihre Ablehnung der nationalbolschewistichen Falle äußerte.

Auch die KPD, die immer mehr Zulauf erhielt, hatte sich einen Strick um den Hals gelegt. Sie konnte keine klare Orientierung bieten - im Gegenteil. Was schlug sie vor?[4] Sie weigerte sich, auf den Sturz der Regierung hin zu arbeiten. Sie KPD und die Komintern stifteten mit ihrer Politik große Verwirrung und trugen zur Schwächung der Arbeiterklasse bei.

Einerseits wetteiferte die KPD mit den Faschisten auf nationalistischem Terrain. So hielt am 10. August z.B. (am gleichen Tag, als in Berlin eine Streikwelle ausbrach) in Stuttgart Thalheimer im Namen der KPD noch gemeinsame Versammlungen mit Nationalsozialisten ab. Andererseits rief sie gleichzeitig zum Kampf gegen die faschistische Gefahr auf. Während die Berliner Regierung jegliche Demonstrationen verboten hatte und die KPD-Zentrale sich dem Verbot beugen wollte, pochte die Parteilinke auf der unbedingten Durchführung einer Demonstration am 29. Juni, die zu einer großen Einheitsfrontdemonstration gegen die Faschisten werden sollte.

In ihrer Unfähigkeit, eine klare Entscheidung zu treffen, ließ die KPD am Tag der Demo 250‘000 Teilnehmer auf den Straßen und vor den Parteibüros vergeblich auf ihre Anweisungen warten.

Die KPD gegen die Intensivierung der August-Kämpfe

Im August setzte eine erneute Streikwelle ein.  Nahezu täglich demonstrierten Arbeiter -  beschäftigte wie arbeitslose. In den Betrieben brodelte es, an vielen Orten entstanden Fabrikkomitees. Der Einfluß der KPD erreichte seinen Höhepunkt.

Am 10. August traten die Drucker der Notenbankpresse in den Ausstand. In einer Wirtschaft, in der der Staat stündlich immer mehr Geld drucken musste, sollte der Streik der Notenscheindrucker eine besonders lähmende Wirkung auf die Wirtschaft haben. Die Papiergeldreserve war innerhalb weniger Stunden verbraucht. Die Löhne konnten nicht mehr ausgezahlt werden. Der Drucker-Streik, der in Berlin einsetzte, griff wie ein Lauffeuer auf andere Teile der Klasse über. Von Berlin aus pflanzte er sich fort über die Wasserkante, das Rheinland, Württemberg, Oberschlesien, Thüringen bis nach Ostpreussen. Immer mehr Teile der Arbeiterklasse schlossen sich der Bewegung an. Am 11. und 12. August kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen in mehreren Städten; über 35 Arbeiter wurden dabei erschossen. Wie schon in allen vorangegangenen Bewegungen der Arbeiterklasse seit 1914 zeichneten sich auch diese Kämpfe dadurch aus, dass sie sich außerhalb und gegen den Willen der Gewerkschaften entwickelten.

Die Gewerkschaften erkannten den Ernst der Lage. Einige von ihnen wollten vortäuschen, den Streik zu unterstützen, um ihn besser von Innen her sabotieren zu können. Andere stellten sich ihm offen entgegen. Die KPD selbst bezog nach der Ausdehnung der Berliner Streiks Stellung: „Für eine Verschärfung der ökonomischen Streiks, nicht aber für das Aufstellen von politischen Forderungen“.

Und sobald die Gewerkschaftsführung verkündet hatte, dass sie den Streik nicht unterstützte, rief die KPD-Zentrale zum Abbruch des Streiks auf. Man wolle nicht außerhalb der Gewerkschaften streiken.

Während Brandler darauf bestand, den Streik abzubrechen, da der ADGB offiziell nicht mitmachte, wollten örtliche Parteiorganisationen dagegen die zahlreichen lokalen Streiks ausdehnen und zu einer einzigen Bewegung gegen die Cuno-Regierung  zusammenfassen. So wurde die „übrige Arbeiterschaft (aufgerufen), ihre Bewegung mit der mächtigen Bewegung des Berliner Proletariats zu vereinen und den Generalstreik über ganz Deutschland auszudehnen“.

Die Partei hatte sich selbst in eine Sackgasse manövriert. Denn die Parteileitung wandte sich gegen die Fortsetzung und Ausdehnung der Streiks, da andernfalls die Ablehnung des nationalistischen Sumpfes, in den das Kapital die Arbeiter zerren wollte, notwendig geworden wäre. Gleichzeitig wäre damit auch die Einheitsfront mit SPD und Gewerkschaften gefährdet gewesen. Noch am 18.August schrieb die Rote Fahne: „Sogar mit Leuten, die Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet haben, werden wir zusammengehen, wenn sie in unsere Reihen treten wollen“ (18.08.1923).

Die Ausrichtung auf die Einheitsfront, die Verpflichtung, in den Gewerkschaften zu arbeiten, unter dem Vorwand, dort die Arbeiter zu ‘erobern’, bedeutete in Wirklichkeit, sich der gewerkschaftlichen Ausrichtung und Struktur zu unterwerfen, dazu beizutragen, dass die Arbeiter ihren Kampf nicht in die eigenen Hände nehmen können. All das brachte die KPD in einen schrecklichen Konflikt: entweder die Dynamik des Arbeiterkampfes anerkennen, die nationalistische Orientierung und die gewerkschaftliche Sabotage zu verwerfen, oder sich gegen die Streiks wenden, in den gewerkschaftlichen Apparat aufgesogen, letztendlich zu einer Schutzmauer des Staates zu werden und als Hindernis der Interessen der Arbeiter zu wirken. Zum ersten Mal war damit die KPD wegen ihrer gewerkschaftlichen Ausrichtung in eine offene Konfrontation mit der kämpfenden  Arbeiterklasse geraten, denn die Dynamik des Kampfes selbst zwang die Arbeiter dazu, den gewerkschaftlichen Rahmen zu sprengen. Die Konfrontation mit den Gewerkschaften war unausweichlich. Statt dessen diskutierte die KPD-Zentrale, wie sie die Unterstützung der Gewerkschaftsführer für den Streik gewinnen kann!

Unter dem Druck dieser Streikwelle trat am  12. August die Cuno-Regierung zurück. Am 13. August gab die Zentrale der KPD einen Aufruf zur Beendigung des Streiks heraus. Dieser Aufruf der Zentrale stieß auf den Widerstand der Betriebsräte in Berlin, die sich mittlerweile radikalisiert hatten, wie auch der örtlichen Parteileitungen, die für eine Fortführung der Bewegung eintraten. Die örtlichen Parteileitungen warteten auf Anordnungen der Zentrale. Sie wollten isolierte Zusammenstöße mit der Reichswehr vermeiden, bis die Waffen, die das Zentralkomitee angeblich zur Verfügung hatte, verteilt sein würden.

Während die KPD Opfer ihrer eigenen nationalbolschewistischen Politik und der Einheitsfronttaktik geworden war, die Arbeiterklasse damit wie benommen dastand und nicht wusste, was zu tun war, war die Bourgeoisie bereit, die Initiative zu ergreifen.

Wie auch in früheren Situationen aufsteigender Kampfkraft der Arbeiterklasse sollte die SPD die besondere Rolle übernehmen, der Bewegung die Spitze zu brechen. An die Stelle des der Zentrumspartei nahestehenden Cuno trat eine ‘große’ Koalition, an deren Spitze der Zentrumspolitiker Gustav Stresemann stand, der aber von vier SPD-Ministern unterstützt wurde (mit Hilferding als Finanzminister). Dieser Eintritt der SPD in die Regierung war nicht Ausdruck einer lähmenden Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit des Kapitals, wie die KPD fälschlicherweise vermutete, sondern ein bewusster Schachzug der Bourgeoisie zur Eindämmung der Bewegung. Die SPD war keineswegs dabei auseinander zu brechen, wie die KPD-Führung später behauptete, noch war die Bourgeoisie gespalten oder unfähig, eine neue Regierungsclique aufzustellen.

Am 14. August kündigte Stresemann die Einführung einer neuen Währung und  wertbeständiger Löhne an. Die Bourgeoisie hatte die  Zügel in der Hand behalten und beschloss bewusst die Beendigung der Inflationsspirale - genauso wie sie sich ein Jahr zuvor dazu entschlossen hatte, diese bewusst auszulösen.

Gleichzeitig rief die Regierung zum Abbuch des ‘passiven Widerstandes’ gegen Frankreich im Ruhrgebiet auf und erklärte nach dem Kokettieren mit Russland nun den ‘Kampf gegen den Bolschewismus’  zu einem der  obersten Ziele der deutschen Politik.

Durch das Versprechen, die Inflation zu beenden, konnte die Bourgeoisie eine Wende im Kräfteverhältnis herbeiführen - denn auch wenn nach dem Abbruch der Bewegung in Berlin am 20. August im Rheinland und Ruhrgebiet erneut eine Streikwelle aufloderte, flachte die Bewegung insgesamt schnell ab.

Auch wenn die Arbeiterklasse sich nicht auf das nationalistische Terrain hatte ziehen lassen, konnte sie ihre Bewegung nicht weiter vorantreiben. Einer der Gründe: Die KPD selbst war zum Gefangenen ihrer nationalbolschewistischen Politik geworden. So war die Bourgeoisie ihrem Ziel, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen, einen Schritt näher gekommen.

Die Arbeiterklasse ging desorientiert aus diesen Kämpfen hervor, mit dem Gefühl, gegenüber der Krise hilflos zu sein. 

Die linken Fraktionen in der Komintern, die sich nach der Aufkündigung des erhofften Bündnisses zwischen dem ‘unterdrückten Deutschland’ und Russland noch isolierter fühlten, versuchten nach dem Fiasko des Nationalbolschewismus nun, das Blatt durch einen verzweifelten Aufstandsversuch zu wenden. Dies werden wir im nächsten Artikel behandeln.   

Dv


[1] Der Parteivorsitzende des Jahres 1922, Ernst Meyer, beschimpfte in seiner Privatkorrespondenz die Zentrale und einzelne Parteiführer. So schickte Meyer Charakterisierungen anderer Parteiführer an seine Frau. Er bat seine Frau, sie solle ihm über die Stimmung in der Partei unterrichten, während er in Moskau weilte. So gab es Privatkorrespondenzen von Mitgliedern der KPD-Zentrale mit der Komintern, und jeder der verschiedenen Flügel innerhalb der Komintern pflegte seine besondere Beziehungen zum entsprechenden ‘Flügel’ innerhalb der KPD. Das Netz ‘informeller Kanäle’ war weit verzweigt. Darüber hinaus war die Atmosphäre in weiten Teilen der Partei vergiftet. Auf dem 5. Kongress der Komintern  berichtete Ruth Fischer, die selbst entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen hatte: „Auf dem Leipziger Parteitag (im Jan. 1923) kam es vor, dass Arbeiter verschiedener Bezirke an einem Tische saßen. Dann fragten sie zum Schluss: Woher kommst du? Und dann sagte der brave Arbeiter: Ich komme aus Berlin. Dann standen die anderen vom Tisch auf und ließen ihn sitzen. So war die Lage in unserer Partei.“ (R. Fischer auf dem 5. Kongreß der Komintern, S. 201)

[2] Innerhalb der tschechischen KP erhob sich dagegen Widerstand. So griff Neurath Thalheimers Position als einen Ausdruck der Zersetzung durch patriotische Gefühle an. Auch ein anderer tschechischer Kommunist, Sommer, verlangte in der Roten Fahne die Ablehnung dieser Orientierung. „Es kann keine Verständigung mit dem inneren Feind geben“ (Carr, Interregnum, S. 168).

[3] Gleichzeitig wollte man selbständige Wirtschaftseinheiten aufzubauen, was zum Teil auf starke syndikalistische Strömungen zurückzuführen ist. Die Vorstellung der KPD-Opposition war, eine im Rhein-Ruhr-Gebiet errichtete Arbeiterrepublik sollte eine Armee nach Mitteldeutschland schicken, um dort zur Machtergreifung beizutragen. Diese von R. Fischer eingebrachte Resolution wurde mehrheitlich mit 68 zu 55 Stimmen abgelehnt.

[4] Viele Arbeiter, die ohne Erfahrung, ohne größere theoretische und politische Bildung waren, fühlten sich zur Partei hingezogen. Die Partei öffnete sich für Masseneintritte. Jeder war willkommen. Bereits im April 1922 hatte die KPD verkündet: „In der gegenwärtigen politischen Situation [hat die KPD] die Pflicht, jeden Werktätigen, der zu ihr will, in ihre Reihen aufzunehmen.“ Im Sommer 1923 gingen viele lokale Parteibezirke in die Hände junger, radikaler Elemente über. Damit strömten noch mehr ungeduldige und unerfahrene Elemente in die Partei. Innerhalb von sechs Monaten verzeichnete sie einen Mitgliederzuwachs von 225.000 auf 295.000, von September 1922 bis September 1923 stieg die Zahl der Ortsgruppen von 2481 auf 3321. Damals verfügte die KPD über einen eigenen Pressedienst und 34 Tageszeitungen sowie zahlreiche Zeitschriften. Gleichzeitig hatten viele dubiose Kräfte die Partei infiltriert, um sie zu unterwandern.

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [6]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [7]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarische Revolution [9]

Internationale Revue 28 - Editorial

  • 3192 reads

In New York wie überall auf der Welt sät der Kapitalismus Tod.

Wir wissen nun, dass die Attentate von New York mehr als 6‘000 Tote verursacht haben. Abgesehen von dieser unglaublichen Zahl stellt die Zerstörung des World Trade Centres einen Wendepunkt in der Geschichte dar, dessen Ausmaß wir noch nicht voll erfassen können. Es handelt sich um den ersten Angriff auf US-Territorium seit Pearl Harbour 1941, die erste Bombardierung auf dem US-amerikanischen Kontinent in seiner Geschichte, die erste Bombardierung einer Metropole der entwickelten Industriestaaten seit dem 2. Weltkrieg. Wie die Medien sagen, handelt es sich um eine wirkliche Kriegshandlung. Und wie alle Kriegshandlungen ist es ein schreckliches Verbrechen, das gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung verübt wurde. Wie immer ist die Arbeiterklasse Hauptopfer dieser Kriegshandlungen. Die Sekretärinnen, das Reinigungs- und Unterhaltungspersonal, die Büroangestellten, die den Hauptteil der Getöteten ausmachten, gehören zu uns.

Und wir verwehren der heuchlerischen Bourgeoisie und den ihr ergebenen Medien den Anspruch darauf, wegen der ermordeten Arbeiter Trauer zu zeigen. Die herrschende Kapitalistenklasse ist schon verantwortlich für so viele Massaker und so viele Gemetzel: das schreckliche Abschlachten des 1. Weltkriegs, das noch größere Abschlachten des 2. Weltkriegs, als zum ersten Mal die Zivilbevölkerung zur Hauptzielscheibe wurde. Erinnern wir uns, zu was die herrschende Klasse fähig war: Sie hat London, Dresden, Hamburg, Hiroshima, Nagasaki bombardiert und Millionen Tote in den KZs der Nazis und im Gulag des Stalinismus hinterlassen.

Erinnern wir uns an die Hölle der Bombardierungen der Zivilbevölkerung und der flüchtenden irakischen Armee während des Golfkrieges 1991 und der Hunderttausenden von Toten. Erinnern wir uns an die alltäglichen und noch fortdauernden Massaker in Tschetschenien, die in Komplizenschaft mit den Demokratien des Westens verübt werden. Erinnern wir uns an die Komplizenschaft des belgischen, französischen und amerikanischen Staates während des Bürgerkriegs in Algerien, an die schrecklichen Pogrome in Ruanda.

Erinnern wir uns auch an die afghanische Bevölkerung, die heute durch amerikanische Bomben terrorisiert wird und die schon mehr als 20 Jahre an ununterbrochenem Krieg leidet, der zur Flucht von 2 Millionen Menschen in den Iran, von 2 Millionen nach Pakistan, mehr als einer Million Toten geführt hat. Die Hälfte der Bevölkerung ist von Nahrungsmittellieferungen der UNO und anderer NGOs abhängig.

Dies sind nur einige Beispiele von vielen für das Wüten eines Kapitalismus, der immer mehr in einer unüberwindbaren Wirtschaftskrise versinkt und unwiderruflich im Niedergang steckt. Der Kapitalismus steckt in einer verzweifelten Lage.

Die Bombenangriffe von New York sind kein Angriff „gegen die Zivilisation“, sondern sie sind im Gegenteil der Ausdruck dieser bürgerlichen „Zivilisation“.

Heute tritt diese unendlich heuchlerische herrschende Klasse mit blutbeschmierten Händen vor uns - ein Blut, das von den Arbeitern und den anderen Ausgebeuteten stammt, die durch ihre Bomben umgekommen sind - und wagt vorzugeben, sie trauere über die Toten, obwohl sie selbst für den Tod dieser Menschen verantwortlich ist.

Die gegenwärtigen Kampagnen der westlichen Demokratien gegen den Terrorismus sind besonders heuchlerisch. Nicht nur, weil das zerstörerische Wüten unter der Zivilbevölkerung durch den staatlichen Terror dieser Demokratien viel tödlicher ist als die schlimmsten Attentate (Millionen von Toten in den Kriegen in Korea und Vietnam – um nur einige zu nennen). Nicht nur weil diese Demokratien sich unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus unter anderem mit Russland zusammenschließen, obwohl sie häufig dessen Kriegsverbrechen gegen die Bevölkerung in Tschetschenien angeprangert haben. Nicht nur weil sie nie gezögert haben, mittels Staatsstreichen und blutiger Diktaturen ihre eigenen Interessen durchzusetzen (wie die USA im Falle Chiles z.B.). Sie sind auch Heuchler, weil sie nie davor zurückgeschreckt haben, terroristische Mittel einzusetzen oder das Leben von Zivilisten zu opfern, solange diese Methoden auch nur vorübergehend ihren Interessen dienten. Erinnern wir uns einiger Beispiele aus der jüngsten Geschichte:

In den 80er Jahren schossen russische Flugzeuge eine Boeing der Korean Airlines über dem Luftraum der UdSSR ab. Im Nachhinein fand man heraus, dass das Abweichen von der Flugroute durch den US-Geheimdienst eingefädelt worden war, um so die Reaktion der Russen gegenüber dem Eindringen eines Flugzeuges in ihren Luftraum zu testen.

Während des Iran-Irak-Krieges schossen die USA ein iranisches Linienflugzeug über dem Persischen Golf ab. Der iranische Staat sollte gewarnt werden, sich ruhig zu verhalten, und davon abgeschreckt werden, einen Krieg am Golf auszulösen.

Während französischen Atomwaffenversuchen in Mururoa im Pazifik hat Frankreich Agenten seines Geheimdienstes nach Neuseeland geschickt, um das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrier in die Luft zu jagen und zu versenken.

Das Attentat im Bahnhof von Bologna, bei dem in den 70er Jahren ca. 100 Menschen ihr Leben verloren, wurde lange Zeit den Roten Brigaden in die Schuhe geschoben, bis man schließlich herausfand, dass der italienische Geheimdienst am Werk gewesen war. Dieser Geheimdienst war zutiefst verbunden mit Mafia-Aktivitäten um das Netz Gladio, das von den USA in ganz Europa aufgebaut worden war und das im Verdacht steht, an einer Reihe von mörderischen Attentaten in Belgien beteiligt gewesen zu sein.

Während des Bürgerkrieges in Nicaragua lieferte die Reagan-Regierung Waffen und Geld an die „Contras“. Es handelte sich um eine Geheimaktion, die gegenüber dem US-Kongress verschwiegen und durch den Waffenverkauf an den Iran (auch illegal) sowie den Drogenhandel finanziert wurde.

Der sehr demokratische Staat Israel setzt auch heute noch seine Politik der Attentate und des Mordens in den Gebieten Palästinas gegen die Führer der Fatah, Hamas usw. fort1 [10].

Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, dass heute Osama Bin Laden wirklich verantwortlich ist für die Angriffe auf das World Trade Centre, wie dies der US-Staat behauptet. Aber wenn diese Hypothese sich als richtig herausstellt, dann ist nur ein Kriegsherr der Kontrolle seiner alten Herren entwichen. Bin Laden ist nicht einfach ein fanatischer, islamisierter Terrorist. Im Gegenteil – seine Karriere fing an, als er ein Teil der US-imperialistischen Kette im Krieg gegen die UdSSR in Afghanistan war. Aus einer stinkreichen saudischen Familie stammend, die von der Königsfamilie um Bin Saoud unterstützt wurde, wurde Bin Laden 1979 in Istanbul von der CIA rekrutiert. „Der Afghanistankrieg war soeben ausgebrochen und Istanbul war eine Durchgangsstelle, die die Amerikaner ausgewählt hatten, um von dort Freiwillige an die afghanische Guerrillafront zu schicken. Zunächst für die Logistik verantwortlich, wurde Bin Laden zum Finanzvermittler des Waffenhandels, der jeweils von den USA und Saudi-Arabien mit einem gleichen Anteil von ca. 1,2 Mrd. $ pro Jahr finanziert wurde. 1980 traf Bin Laden in Afghanistan ein, wo er praktisch bis zum Abzug der Russen 1989 verblieb. Er hatte die Aufgabe, die Mittel unter den verschiedenen Fraktionen des Widerstands zu verteilen, d.h. er nahm eine höchst politische Schlüsselrolle ein. Damals unterstützten ihn die USA und Saudi-Arabien vollständig, wobei sein Freund, der Prinz Turki Bin Faycal, der Bruder des saudischen Königs und Chef der saudischen Geheimdienste sowie dessen Familie eine entscheidende Rolle spielten. Er beteiligte sich an Geldwäsche zur Umwandlung von schmutzigem in sauberes Geld und umgekehrt.“ (Le Monde 15.9.2001). Dieser gleichen Zeitung zufolge habe Bin Laden ebenso ein Netz für den Opiumhandel aufgebaut - zusammen mit seinem Freund Gulbuddin Hekmatyar, einem Taliban-Führer, der auch von den USA unterstützt wurde. Diese und jener beschuldigen sich heute gegenseitig „der große Teufel“ und „der Welt führender Terrorist“ zu sein, als ob sie unversöhnliche Feinde wären; tatsächlich aber sind sie die treuen Verbündete von gestern.2 [11]

Der allgemeine Rahmen

Aber abgesehen von dem Ekel, den die Anschläge von New York und die Heuchelei der Bourgeoisie hervorrufen, müssen die Revolutionäre und die Arbeiterklasse die Gründe dieses Massakers begreifen, wenn wir keine einfache Zuschauer sein wollen, die die Ereignisse mit Schrecken verfolgen. Gegenüber den bürgerlichen Medien, die behaupten, verantwortlich seien die islamischen „Fundamentalisten“, die „Schurkenstaaten“, die „Fanatiker“, entgegnen wir: Der wahre Verantwortliche ist das ganze kapitalistische System.

Aus unserer Sicht trat der Kapitalismus zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf der ganzen Welt in sein Niedergangsstadium ein3 [12]. In den Jahren um 1900 schloss der Kapitalismus seine historische Aufgabe ab: Die Einverleibung des gesamten Erdballs in einen einzigen Weltmarkt, die Auslöschung des Einflusses früherer Machtstrukturen (feudaler, Stammesgesellschaften usw.) lieferten die materiellen Grundlagen dafür, dass zum ersten Mal in der Geschichte eine wirkliche Menschengemeinschaft errichtet wird. Wenn die Produktivkräfte diesen Entwicklungsstand erreicht hatten, bedeutete dies, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für ihre weitere Entwicklung geworden sind. Seitdem kann der Kapitalismus kein fortschrittliches System mehr sein; statt dessen ist er zu einer Fessel für die Gesellschaft geworden.

Die Dekadenz einer Gesellschaft eröffnet nie einfach einen Zeitraum des Zerfalls oder der Stagnation. Im Gegenteil – der Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kann nur ein gewalttätiger sein. Dies belegt die Geschichte zur Zeit des Niedergangs der römischen Sklavengesellschaft, die geprägt war von gesellschaftlichen Erschütterungen, Kriegen im Innern und nach Außen, die Invasion von Barbaren, bis die Reifung neuer Produktionsverhältnisse, der Feudalismus, den Durchbruch einer neuen Gesellschaftsform ermöglichte. Der Niedergang des Feudalismus war ebenso von zwei Jahrhunderten zerstörerischer Kriege bis zum Beginn der bürgerlichen Revolutionen geprägt (insbesondere in England im 17. Jahrhundert, Frankreich im 18. Jahrhundert), wodurch die Macht der Feudalherren und der absoluten Monarchen gebrochen und ein Zeitraum kapitalistischer Herrschaft eröffnet wurde.

Die kapitalistische Produktionsform ist die dynamischste der ganzen Menschengeschichte, da sie nur durch eine ständige Umwälzung der vorhandenen Produktionsformen und - wichtiger noch – eine ständige Erweiterung ihres Handlungsraumes überleben kann. Weniger noch als bei den früheren Gesellschaften konnte ihr Niedergang ein Zeitraum des Friedens sein. Materiell wurde der Beginn des Niedergangs des Kapitalismus durch zwei gewaltige und entgegengesetzte Ereignisse geprägt: den Ersten Weltkrieg und die proletarische Revolution in Russland 1917.

Seit dem Ersten Weltkrieg konnten die Zusammenstöße zwischen den imperialistischen Großmächten keine begrenzten Kriege mehr sein oder beschränkt bleiben auf entfernt gelegene Länder wie während der Eroberung der Kolonien. Von 1914 an wurden die imperialistischen Konflikte zu unglaublich mörderischen, zerstörerischen Konflikten mit weltweiter Ausstrahlung.

In der Oktoberrevolution 1917 gelang es dem russischen Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte, die Kapitalistenherrschaft zu zerschlagen; die Arbeiterklasse stellte ihr revolutionäres Wesen unter Beweis und zeigte, dass sie dazu in der Lage ist, die Barbarei des Krieges zu beenden und das Tor zur Bildung einer neuen Gesellschaft aufzustoßen.

In ihrem Manifest, das die 3. Internationale verfasst hatte, um dem Proletariat auf dem Weg zur Weltrevolution die Richtung zu weisen, erklärte sie, dass der durch den Krieg eröffnete Zeitraum der des kapitalistischen Niedergangs ist, die „Periode der Kriege und der Revolutionen“, oder wie Marx im Kommunistischen Manifest gesagt hatte, bestand die Alternative im Sieg der Revolution einerseits und dem gemeinsamen Ruin der sich bekämpfenden Klassen andererseits. Die Revolutionäre der Kommunistischen Internationale fassten entweder diesen Sieg ins Auge oder den Abstieg der gesamten menschlichen Zivilisation in die Hölle.

Sie konnten sich sicher nicht den Horror des 2. Weltkriegs ausmalen, die KZs, die Atombombenabwürfe usw. Und noch weniger konnten sie sich die noch nie da gewesene historische Lage von heute vorstellen.

So wie der Erste Weltkrieg den Eintritt des Kapitalismus in seinen Niedergang eröffnete, stellte der Zusammenbruch des russischen Blocks 1989 dessen Eintritt in eine neue Phase dieses Niedergangs dar: den seines Zerfalls. Der Dritte Weltkrieg, der seit dem Zweiten Weltkrieg seit 1945 vorbereitet wurde, fand nicht statt. Seit dem Mai 1968 in Frankreich, d.h. dem massivsten Streik in der Geschichte, und einer Reihe von Arbeiterkämpfen, die die großen kapitalistischen Staaten bis Ende der 80er Jahre erschüttert haben, wurde deutlich, dass die Arbeiterklasse, insbesondere die Arbeiterklasse im Zentrum des kapitalistischen Systems, nicht bereit war, wie 1914 oder wie 1939 in einem neuen Krieg verheizt zu werden. Aber während die Arbeiterklasse sich implizit dem Krieg verweigerte, hat sie es dennoch nicht geschafft, eine Bewusstseinsstufe zu erreichen, die ihrer eigentlichen Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer historischen Rolle als Totengräber des Kapitalismus entspricht. Eine der auffallenden Ausdrücke dieser Schwierigkeit zeigt sich in der Unfähigkeit der heutigen kommunistischen Gruppen, etwas anderes als kleine, zerstreute Gruppen zu sein, ohne ein bedeutendes Echo in der Arbeiterklasse.

Die Gefahr eines Weltkrieges zwischen den beiden imperialistischen Blöcken ist verschwunden, aber die Menschheit ist weiterhin bedroht. Die Fäulnis des Kapitalismus ist nicht einfache eine Phase, der andere folgen werden. Sie ist die Endphase des Niedergangs, die nur zu einem der beiden „Wege“ führen kann: entweder proletarische Revolution und Übergang zu einer neuen Form menschlicher Gesellschaft, oder der immer schnellere Abstieg in eine grenzenlose Barbarei, mit der viele unterentwickelte Staaten jetzt schon konfrontiert sind und die jetzt zum ersten Mal auch im Herzen der bürgerlichen Gesellschaft zugeschlagen hat. Vor dieser Wahl steht die Gesellschaft jetzt.

Das Auseinanderbrechen des russischen Blocks hat die imperialistischen Rivalitäten nicht aus der Welt geschafft; im Gegenteil: Die imperialistischen Ambitionen nicht nur der alten europäischen Großmächte können jetzt ungehindert walten, sondern auch die der zweitrangigen Regionalmächte, bis hin zu den kleinsten Ländern und den jämmerlichsten Kriegsherren.

1989 kündigte uns Präsident Bush das Ende des Konfliktes mit dem „Reich des Bösen“ an und versprach uns einen neuen Zeitraum des Friedens und des Wohlstands. 2001 wurden die USA zum ersten Mal in der Geschichte in ihrem Herzen getroffen, und der Sohn Bushs, der mittlerweile Präsident geworden ist, kündigte danach einen „Kreuzzug des Guten gegen das Böse“ an, ein Kreuzzug, der bis „zur weltweiten Auslöschung all der terroristischen Gruppen“ dauern werde. Am 16. September wiederholte Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister, dass es sich um „lange, breitgefächerte Anstrengungen“ handelte, die „nicht nur Tage oder Wochen dauern werden, sondern Jahre“ (Le Monde, 18. 9.01). So stehen wir vor einem Krieg, dessen Ende selbst die herrschende Klasse nicht absehen kann. Keiner redet mehr euphorisch über die hinter uns liegenden zehn Jahre amerikanischen „Wohlstands“, sondern man wird sich bewusst über das, was Winston Churchill 1940 dem englischen Volk angekündigt hatte: „Blut, Schweiß und Tränen“.

Die Lage, vor der wir heute stehen, bestätigt in jedem Punkt das, was wir in unserer Resolution zur internationalen Situation auf dem 14. Kongress der IKS im Frühjahr dieses Jahres schrieben:

„Das Auseinanderbrechen der alten Blockstrukturen und der Blockdisziplin ließ der Entfaltung der nationalen Rivalitäten auf einem bislang nie gekannten Niveau freien Lauf und brachte einen wachsenden chaotischen Kampf des Jeder-gegen-jeden mit sich - von den Großmächten der Welt bis hin zu den finstersten örtlichen Warlords. Das äußerte sich in einer Zunahme lokaler und regionaler Kriege, in denen die Großmächte ständig Vorteile für sich herausschlagen wollen (...)

Die für die gegenwärtige Phase des kapitalistischen Zerfalls charakteristischen Kriege sind nicht weniger imperialistisch als die Kriege in den früheren Phasen der Dekadenz, aber sie haben an Ausmaß zugenommen, sind weniger kontrollierbar und schwieriger auch nur vorübergehend zu beenden. (...) Die kapitalistischen Staaten sind alle Gefangene einer Logik, die sich ihrer Kontrolle entzieht und die selbst im kapitalistischen Sinne immer weniger Sinn macht, und deshalb ist die Lage, vor der die Menschheit steht, so gefährlich und instabil.“ (vgl. Weltrevolution Nr. 106)

Wem nützt das Verbrechen?

Zum Zeitpunkt, als wir diesen Artikel verfassen, hat niemand – kein Staat, keine Terroristengruppe – die Verantwortung für die Attentate übernommen. Dabei liegt es auf der Hand, dass dazu eine lange Vorbereitung und großer Materialeinsatz erforderlich war; die Debatte unter den „Experten“ hat begonnen, ob dies nur die Tat einer Terroristengruppe sein konnte oder allein das Ausmaß der Angriffe die Beteiligung von Geheimdiensten irgendeines Staates erforderlich machte. All die öffentlichen Erklärungen der US-Behörden weisen mit dem Finger auf die Organisation al-Kaida Osama Bin Ladens, aber sollen wir diese Erklärungen notwendigerweise für bare Münze nehmen?4 [13]

In Ermangelung wirklich konkreter Beweise und aufgrund des geringen Vertrauens, das wir den bürgerlichen Medien schenken können, müssen wir der alten Detektivmethode treu bleiben und den Beweggrund für das Verbrechen finden. Wem nützt das Verbrechen?

Hätte eine andere Großmacht geneigt sein können, diesen Schlag zu wagen? Hätte ein europäischer Staat oder Russland oder China, - d.h. ein Staat, der durch die US-Supermacht verletzt worden ist, aber seine eigenen Ambitionen verdunkelt - geneigt sein können, den USA einen Schlag ins Herzen zu versetzen und damit das Ansehen dieser Supermacht auf der Welt zu untergraben? Diese These scheint uns a priori als unmöglich, da das Resultat der Attentate auf internationaler Ebene vorhersehbar war: Die USA mussten ihre Vorherrschaft erneut behaupten und ihre Entschlossenheit zeigen, militärisch überall gegen jeden loszuschlagen und ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, alle Staaten der Erde – ob sie wollen oder nicht - hinter sich zu scharen.

Dann gibt es die sogenannten „Schurkenstaaten“ wie Irak, Iran, Libyen usw. Die Vermutung, dass sie beteiligt waren, erscheint uns zumindest unwahrscheinlich. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Staaten in der Regel weniger „Schurken“ sind als von ihnen behauptet wird (die iranische Regierung z.B. unterstützt eher die Allianz mit den USA), liegt es auf der Hand, dass sie ein großes Risiko eingehen würden, wenn ihre Mittäterschaft aufgedeckt würde. Sie würden das Risiko der vollständigen militärischen Zerstörung auf sich nehmen, und der Vorteil solch einer Aktion erscheint für sie sehr ungewiss.

Im Nahen Osten beschuldigen die Palästinenser und der israelische Staat sich gegenseitig der terroristischen Umtriebe. Wir schließen sofort eine palästinensische Beteiligung aus: Arafat und seine Konsorten wissen genau, dass nur die USA Israel daran hindern können, die Missgeburt ihres Staates zu zerstören; und aus ihrer Sicht sind die Anschläge in New York ein totales Desaster, das „alles Arabische“ sofort in Misskredit geraten lässt. Die gleiche Herangehensweise – aber mit umgekehrten Vorzeichen, um der Welt und vor allem den USA aufzuzeigen, dass man den „Terroristen“ Arafat auslöschen muss – könnte jetzt angewendet werden mit der Frage nach einer israelischer Beteiligung: Der israelische Geheimdienst Mossad wäre sicherlich von seinen organisatorischen Fähigkeiten her dazu in der Lage, solche Angriffe durchzuführen, aber es ist kaum vorstellbar, dass der Mossad solch einen Schritt ohne die Zustimmung des US-Staates wagen würde.

Die US-Beschuldigungen sind vielleicht gerechtfertigt: Diese Attentate seien das Werk einer Gruppe, d.h. eines Teils dieser nebulösen Menge von Terroristengruppen, die es zuhauf im Nahen Osten und in anderen Teilen der Welt gibt. Dann wäre es viel schwerer, das Motiv zu erhellen, denn diese Gruppen haben keine leicht erkennbaren staatlichen Interessen. Aber man kann hinzufügen: Selbst wenn die Gruppe al-Kaida beteiligt wäre, würde das nicht viel zur Klärung beitragen: Der Zerfall der kapitalistischen Weltwirtschaft wird seit Jahren geprägt von dem Aufblühen einer gewaltigen Schattenwirtschaft, die sich auf den Drogenhandel, die Prostitution, Waffen- und Flüchtlingshandel stützt. So hat das finstere islamische Regime der Taliban Afghanistan nicht daran gehindert, zum Hauptlieferanten für Opium und Heroin zu werden – im Gegenteil. In Russland hat der Geschäftsmann Berezowski, ein enger Freund Jelzins, nie ein Hehl aus seinen Geschäftsverbindungen zur tschetschenischen Mafia gemacht. In Lateinamerika finanzieren sich linksextreme Guerrillagruppen wie die kolumbianische FARC durch den Verkauf von Kokain. Überall manipulieren die Staaten diese Gruppen gemäß ihrer eigenen Interessen. Und das zumindest seit dem 2. Weltkrieg, als die US-Armee den Mafia-Boss Lucky Luciano aus dem Gefängnis ließ, um den USA bei der Landung ihrer Truppen in Sizilien behilflich zu sein. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass gewisse Geheimdienste auf eigene Faust gehandelt haben, unabhängig vom Willen ihrer Regierungen.

Die letzte Hypothese mag als „wahnsinnigste“ erscheinen: Die US-Regierung oder ein Teil von ihr - innerhalb der CIA zum Beispiel - hätte vielleicht die Attentate mit vorbereitet, sie hervorgerufen und sie stattfinden lassen ohne einzugreifen. Es stimmt, dass der Schaden, der für die weltweite Glaubwürdigkeit der USA und auch auf wirtschaftlicher Ebene entstanden ist, zu groß erscheint, um sich eine solche Vermutung überhaupt vorzustellen.

Bevor man sie jedoch verwirft, sollte man den weiter reichenden Vergleich mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour (dieser Vergleich wird übrigens in der Presse oft gezogen) ziehen und einen Blick auf die Geschichte werfen.

Am 8. Dezember 1941 griffen japanische Marine- und Flugzeugverbände den US-Stützpunkt in Pearl Harbour auf Hawaii an, wo nahezu die gesamte US-Flotte des Pazifiks vor Anker lag. Die für die Sicherheit auf dem Stützpunkt verantwortlichen Militärs waren durch diesen Angriff völlig überrascht, und der Angriff richtete großen Schaden an: Die meisten vor Anker liegenden Schiffe sowie mehr als die Hälfte der Flugzeuge wurden zerstört; man beklagte 4‘500 Tote und Verletzte auf amerikanischer Seite im Vergleich zu 30 verlorenen Flugzeugen auf japanischer Seite. Während bis zum damaligen Zeitpunkt die Mehrheit der US-Bevölkerung gegen einen Kriegseintritt der USA gegen die Achsenmächte war und die isolationistischen Bereiche der US-Bourgeoisie, die im Komitee „Amerika zuerst“ zusammengeschlossen waren, eine große Rolle spielten, brachte der „heuchlerische und feige“ Angriff der Japaner jeglichen Widerstand gegen einen Kriegseintritt zum Schweigen. Präsident Roosevelt, der von Anfang an für den Kriegseintritt war und seit geraumer Zeit für eine militärische Unterstützung Englands eintrat, erklärte: „Wir müssen feststellen, dass der moderne Krieg, so wie er von den Nazis geführt wird, eine widerwärtige Angelegenheit ist. Wir wollten nicht in den Krieg eintreten. Jetzt sind wir am Krieg beteiligt und wir werden mit all unseren Kräften kämpfen.“ Er vermochte es, eine lückenlose nationale Einheit um seine Politik herzustellen.

Nach dem Krieg wurde auf Betreiben der Republikaner eine umfassende Untersuchung angestellt, die aufklären sollte, warum das US-Militär so stark von den japanischen Angriff überrascht worden war. Diese Untersuchung brachte deutlich ans Tageslicht, dass höchste politische Stellen die Verantwortung für den japanischen Angriff und dessen Erfolg trugen. Einerseits hatten sie während der japanisch-amerikanischen Verhandlungen, die zu diesem Zeitpunkt stattfanden, für Japan unannehmbare Bedingungen aufgestellt, insbesondere ein Embargo für Öllieferungen an Japan. Andererseits hatten sie, obwohl sie über die japanischen Vorbereitungen (insbesondere durch Entschlüsselung des Nachrichtenkodes des japanischen Generalstabs) voll im Bild waren, die Leitung des Militärstützpunktes in Pearl Harbour nicht unterrichtet. Roosevelt hatte gar den Admiral Richardson getadelt, der sich der Bündelung der gesamten Pazifikflotte in dieser Basis widersetzt hatte. Man muss allerdings bemerken, dass die drei Flugzeugträger (d.h. bei weitem die wichtigsten Kriegsschiffe), die dort normalerweise stationiert waren, den Hafen einige Tage zuvor verlassen hatten. Tatsächlich stimmen heute die meisten ernsthaften Historiker darin überein, dass die US-Regierung Japan provoziert hatte, um den Kriegseintritt der USA in den 2. Weltkrieg zu rechtfertigen und die Unterstützung der US-Bevölkerung und aller Teile der Bourgeoisie zu erlangen.

Es ist heute schwierig zu sagen, wer der Verantwortliche für die Attentate in New York ist; insbesondere ist es schwierig zu behaupten, dass es sich um eine Neuauflage des Angriffs auf Pearl Harbour handelt. Was wir dagegen mit Sicherheit sagen können, ist, dass die USA als allererste davon profitieren, womit sie eindrucksvoll unter Beweis stellen, wie sie aus dem Schlag gegen sie Kapital schlagen können.

Wie die USA Nutzen aus der Lage ziehen

The Economist fasste es sehr knapp zusammen: „Die von den USA zusammengestellte Koalition ist sehr außergewöhnlich. Diese Allianz umfasst Russland, die NATO-Länder, Usbekistan, Tadschikistan, Pakistan, Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten, schweigende Zustimmung Irans und Chinas – das wäre vor dem 11. September nicht denkbar gewesen.“

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die NATO den Bündnisfall gemäß Artikel 5 erklärt, wonach alle Mitgliedsstaaten gezwungen sind, einem von Außen angegriffenen Mitgliedsstaat Hilfe zu leisten. Noch außergewöhnlicher ist, dass der russische Präsident Putin seine Zustimmung zur Benutzung russischer Stützpunkte für „humanitäre Operationen“ (die sicherlich ebenso „humanitär“ sind wie die Bombardierung des Kosovos) gegeben und gar logistische Hilfe angeboten hat. Russland stellt sich nicht dagegen, dass Tadschikistan und Usbekistan es den USA erlaubt haben, ihre Flughäfen für militärische Operationen der USA gegen Afghanistan zu benutzen. Amerikanische und britische Truppen befinden sich wohl schon vor Ort und leisten der Nordallianz Hilfe, die als einzige afghanische Gruppe noch gegen die Taliban-Regierung aufmarschieren kann.

Offensichtlich geschieht all dies nicht ohne Hintergedanken. Russland, um damit zu beginnen, beabsichtigt aus der gegenwärtigen Situation einen Vorteil zu erringen, indem es jede Kritik an seinem blutigen Krieg in Tschetschenien zum Verstummen bringt und die Versorgung der Rebellen aus Afghanistan (die bestimmt nicht ohne Mitwirkung des ISI, des pakistanischen Geheimdienstes, zustande kam) unterbindet. Usbekistan begrüßt die Ankunft US-amerikanischer Truppen als Druckmittel gegen Russland, den lästigen Grossen Bruder.

Was die europäischen Staaten betrifft, so schliessen sich diese nicht aus freien Stücken den USA an, und jeder versucht, möglichst seine Handlungsfreiheit zu erhalten. Im Moment erklärt einzig die britische Bourgeoisie eine totale, auch militärische Solidarität mit den USA mit der Präsenz von 20‘000 Soldaten im Persischen Golf (dem größten Kontingent seit dem Falklandkrieg) und der Entsendung der Eliteeinheit SAS nach Usbekistan. Auch wenn die englische Bourgeoisie in den letzten Jahren gegenüber den USA mit ihrer Unterstützung für eine europäische schnelle Eingreiftruppe, die unabhängig von den USA agieren kann, und der Zusammenarbeit mit den französischen Seestreitkräften eine gewisse Distanz aufgebaut hat, so ist sie durch ihre eigene Geschichte im Nahen Osten und ihren historischen und vitalen Interessen in dieser Region gezwungen, sich heute hinter die USA zu stellen. England spielt wie alle anderen sein eigenes Spiel, und in der jetzigen Situation beinhaltet dies eine treue Zusammenarbeit mit Amerika. So drückte es Lord Palmerston schon im 19. Jahrhundert aus: „Wir haben keine ewigen Verbündeten und keine dauernden Feinde. Unsere Interessen sind permanent, und es ist unsere Pflicht, diese aufrecht zu erhalten.“ (zitiert aus Kissinger, Die Diplomatie) Lord Robertson, der aktuelle NATO-Generalsekretär konnte es sich nicht verkneifen, die Selbständigkeit jedes Mitgliedslandes zu betonen: „Es ist klar, dass für jeden Staat eine würdevolle moralische Verpflichtung besteht, Hilfe zu leisten. Diese wird einmal davon abhängen, was das angegriffene Land entscheidet, und auch von der Art, wie die Mitgliedsländer an dieser Operation teilnehmen können.“ (Le Monde, 15.9.2001) Frankreich ist da noch nuancierter: Für Alain Richard, den Verteidigungsminister, können die Prinzipien „der gegenseitigen Unterstützung (der NATO) gut angewandt werden“, doch „jede Nation macht dies mit den für sie passenden Mitteln“, und wenn „die militärische Aktion notwendig ist, um die terroristische Bedrohung einzudämmen, dann gibt es nichts anderes“. „Solidarität bedeutet nicht Blindheit“, fügte Henri Emmanuelli, ein Führer der Sozialdemokratischen Partei an.5 [14] Präsident Chirac setzte bei seinem Besuch in Washington das Tüpfchen aufs I: „Die militärische Zusammenarbeit kann selbstverständlich in Erwägung gezogen werden, doch nur in dem Maße, wie wir uns zuvor über die Ziele und Modalitäten einer Aktion, deren Ziel die Ausschaltung des Terrorismus ist, absprechen.“ (zitiert aus Le Monde, 15. und 20.9.2001).

Es gibt einen Unterschied zwischen der heutigen Situation und derjenigen des Golfkrieges von 1990/91. Vor 11 Jahren schloss die von den USA einberufene Allianz die militärischen Kräfte verschiedener europäischer und arabischer Staaten (vor allem Saudi-Arabien und Syrien) zusammen. Heute sind die USA gewillt, auf der militärischen Ebene alleine vorzugehen. Dies zeigt auf, wie sehr ihre diplomatische Isolation wie auch das Misstrauen gegenüber ihren „Alliierten“ seit jenem Krieg zugenommen haben. Die USA werden diese sicher dazu verpflichten, sie zu unterstützen, insbesondere indem sie versuchen werden, sich deren nachrichtendienstliche Netze dienstbar zu machen, doch werden die USA keine Fessel bei der militärischen Aktion dulden.

Es gilt noch einen anderen Vorteil hervorzuheben, den die herrschende Fraktion der US-amerikanischen Bourgeoisie auf der innenpolitischen Ebene aus der heutigen Lage zieht. Es gab schon immer eine „isolationistische“ Tendenz innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie, die davon ausgeht, dass ihr Land durch die Weltmeere genügend abgeschirmt und genug reich sei, um sich nicht in die Angelegenheiten der Welt einmischen zu müssen. Es war diese Fraktion, die sich gegen den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg stemmte und die von Roosevelt nach dem Angriff auf Pearl Harbour zum Schweigen gebracht wurde. Es ist klar, dass diese Fraktion heute nichts zu sagen hat, und der Kongress bewilligte 40 Milliarden Dollar mehr für den „Kampf gegen den Terrorismus“, von denen 20 Milliarden ausschließlich dem Präsidenten zu Verwendung bereit stehen. Dies bedeutet eine enorme Verstärkung der zentralen Staatsmacht

Weshalb Afghanistan?

Mit einer außerordentlichen Schnelligkeit hat die Polizei und der amerikanische Geheimdienst einen Urheber des Attentats präsentiert: Osama Bin Laden und seine Taliban-Freunde.6 [15] Und bevor auch nur ein einziger konkreter Beweis vorlag, hat der amerikanische Staat sein Ziel und seine Absicht bekannt gegeben: dem Taliban-Regime den Garaus zu machen. Zum Zeitpunkt, als wir diesen Artikel schreiben (und es ist sicher, dass sich die Situation dramatisch weiterentwickelt, bis diese Zeitschrift die Druckerei verlässt) kündigt die Presse die Präsenz von fünf amerikanischen und britischen Transportflugzeugen in der Region, die Landung von US-Flugzeugen in Usbekistan und einen vorgesehenen Angriff in den nächsten 48 Stunden an. Wenn man einen Vergleich anstellt mit den sechs Monaten Vorbereitungszeit vor der Attacke gegen den Irak 1991, so kann man sich wahrlich fragen, ob das alles nicht schon vorher geplant war. In jeden Fall ist es für die amerikanische Bourgeoisie entscheidend, ihre eigene Ordnung in Afghanistan durchzusetzen. Und das offensichtlich nicht um die reiche Wirtschaft oder die Märkte diese ausgebluteten Landes zu erobern. Weshalb also Afghanistan?

Dieses Land ist auf der ökonomischen Ebene nie von Interesse gewesen, doch genügt ein Blick auf die Landkarte, um seine strategische Wichtigkeit zu verstehen, die es seit mehr als zwei Jahrhunderten hat. Seit der Bildung des Raj (dem britischen Reich in Indien) und während des gesamten 19. Jahrhunderts war Afghanistan ein Ort der Konfrontation zwischen dem britischen und dem russischen Imperialismus in dem, was damals „das Große Spiel“ hieß. Großbritannien beobachtete mit Besorgnis das Vorrücken des russischen Imperialismus in Richtung der Emirate von Taschkent, Samarkand und Bukhara und noch mehr gegenüber seinen Jagdgründen in Persien (dem heutigen Iran). Großbritannien nahm nicht ohne Grund an, dass das Ziel der zaristischen Armeen die Eroberung Indiens sei, aus dem es enorme Profite und ein großes Prestige herausschlug. Deshalb unternahm es zwei militärische Feldzüge in Afghanistan (der erste endete in einer bitteren Niederlage mit dem Verlust von 16‘000 Mann und einem einzigen Überlebenden).

Das 20. Jahrhundert machte den Nahen Osten mit der Entdeckung von riesigen Ölreserven in dieser Region, mit der Abhängigkeit der Wirtschaft der entwickelten Länder und vor allem deren Armeen vom Öl, zu einem strategisch noch wichtigeren Gebiet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Afghanistan für die militärischen Pläne der beiden großen imperialistischen Blöcke zur Drehscheibe in der Region. Die USA vereinigten die Türkei, Iran und Pakistan in der CENTO (Central Treaty Organisation), der Iran war gespickt mit amerikanischen Abhörstationen, und die Türkei wurde eine der stärksten militärischen Mächte des Nahen Ostens. Pakistan wurde von den USA unterstützt als Bollwerk gegen Indien, welches gegenüber den russischen Ansprüchen sehr offen war.

Die islamische „Revolution“ im Iran entriss dieses Land dem Einfluss der USA. Russlands Invasion in Afghanistan 1979, das die Schwäche der USA zu seinen Gunsten nutzen wollte, bedeutete für die ganze Strategie des amerikanischen Blocks ein große Gefahr, und zwar nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern in ganz Asien. Da sie die russischen Stellungen nicht direkt angreifen konnten (vor allem wegen dem spektakulären Wiederaufflammen von Arbeiterkämpfen, ausgelöst durch den Massenstreik in Polen) reagierten die USA mittels einer auf die Beine gestellten Guerilla. Seit diesem Zeitpunkt haben die USA zusammen mit dem pakistanischen Staat und seinem ISI als Handlangern mit den modernsten Waffen die zweifellos rückständigste „Befreiungsbewegung“ auf der ganzen Welt unterstützt. Und um auch ihre Finger mit im Spiel zu haben beeilten sich die Geheimdienste Großbritanniens und Frankreichs, der Nordallianz von General Massud ihre Hilfe anzubieten.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben zwei neue Ereignisse die strategische Bedeutung Afghanistans verstärkt. Einerseits förderten das Auseinanderfallen Russlands und das Auftauchen neuer unbeständiger Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien, Turkmenistan, Armenien, Aserbaidschan und Georgien) den Appetit zweitrangiger imperialistischer Mächte: Die Türkei versuchte mittels Allianzen in den neuen Türkei-freundlichen Staaten Fuß zu fassen; Pakistan setzte auf das Taliban-Regime, um seinen Einfluss zu vergrößern und um Rückendeckung im Kaschmir-Krieg gegen Indien zu erhalten; und letzten Endes darf auch der Versuch Russlands, von neuem seine militärische Präsenz in der Region aufzubauen, nicht vergessen werden. Andererseits zieht die Entdeckung neuer wichtiger Ölreserven rund ums Kaspische Meer und vor allem in Kasachstan die großen westlichen Erdölkonzerne an.

Wir können an dieser Stelle nicht alle imperialistischen Rivalitäten und Konflikte genau beleuchten, welche diese Region seit 19897 [16] erschüttern. Doch um ein Bild des Pulverfasses zu bekommen, welches Afghanistan umgibt, genügt es, einige dieser Konflikte und Gegnerschaften aufzulisten:

Die absurden Grenzen, die durch das Auseinanderfallen der UdSSR entstanden sind, bringen es mit sich, dass die reichste und bevölkertste Region - das Fergana-Tal – aufgeteilt ist zwischen Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien, und zwar so, dass keiner dieser Staaten über eine direkte Route zwischen der Hauptstadt und seinem bevölkerungsreichsten Teil besitzt.

Nach einem fünfjährigen Bürgerkrieg sind die Islamisten der „Tadschikischen Vereinigten Union“ in die Regierung eingetreten; dennoch muss man sich bewusst sein, dass sie ihre Verbindungen zur islamischen Bewegung in Usbekistan (der stärksten Guerillabewegung) nicht abgebrochen haben, vor allem weil letztere tadschikisches Gebiet passieren muss, um Usbekistan von ihren Basen in Afghanistan aus anzugreifen:

Usbekistan ist das einzige Land, welches die Präsenz russischer Truppen auf seinem Territorium zurückgewiesen hat, und steht deshalb unter dem Druck Russlands.

Pakistan unterstützt seit jeher die Taliban, dies auch mit einer Beteiligung von 2000 Soldaten an den letzten Offensiven gegen die Nordallianz. Es erhofft sich damit, eine „strategische Vertiefung“ in der Region gegenüber Indien und Russland zu schaffen, nicht zu sprechen vom lukrativen Heroinhandel, der zum größten Teil via Pakistan läuft und von den Generälen des ISI kontrolliert wird.

China, welches seine eigenen Probleme mit den Uigur-Separatisten in Xinjiang hat, versucht, seinen Einfluss in der Region auch durch die Shanghai-Coorporation-Organisation, welche die oben aufgeführten, nach dem Auseinanderbrechen der UdSSR entstandenen Staaten (mit Ausnahme von Turkmenistan, das von der UNO als neutral anerkannt wurde) und Russland umfasst, zu verstärken. Gleichzeitig will China mit den Taliban gut Freund bleiben und schickte sich an, einen Industrie- und Handelsvertrag mit ihrer Regierung abzuschließen.

Natürlich stehen die USA nicht abseits. Sie haben der wenig anerkannten usbekischen Regierung bereits Hilfe zukommen lassen: „Das US-Militär kennt das usbekische Militär und die Luftwaffenstützpunkte von Taschkent gut. Amerikanische Verbände haben an Manövern mit Truppen aus Usbekistan, Kasachstan und Kirgisien teilgenommen, als Teil der Centrazbat-Übungen im Rahmen des NATO-Programms „Partnerschaft für den Frieden“. Mehrere dieser Übungen fanden auf der Militärbasis von Chirchik, in der Nähe von Taschkent statt. Usbekistan hat sich seit seiner Unabhängigkeit 1991 auch aktiv um US-Unterstützung bemüht, oft auf Kosten seiner Verbindungen zu Russland (...) Anlässlich einer Reise der damaligen Staatssekretärin Albright in dieser Region im Jahre 2000 haben die USA Usbekistan militärisches Material für mehrere Millionen Dollar versprochen, und amerikanische Spezialeinheiten haben usbekische Truppen im Anti-Terror- und Gebirgskampf geschult.“.

Die USA intervenieren also in einem wahren Pulverfass, angeblich um dort den „dauerhaften Frieden“ einzuführen. Heute können wir nicht genau voraussagen, was das Resultat der ganzen Sache sein wird. Doch die Geschichte des Golfkrieges zeigt uns, dass heute, zehn Jahre nach Ende des Krieges:

die Region keinen Frieden kennt, solange Zusammenstöße zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Kurden und Türken, zwischen Regierungen und fundamentalistischen Guerillas sich zuspitzen, sowie auch die wöchentlichen Bombardierungen des Iraks durch amerikanische und britische Flugzeuge anhalten;

die US-Truppen sich in der Region fest auf ihren neuen Basen in Saudi-Arabien installiert haben und diese Präsenz selbst zu einer Quelle der Instabilität wird (antiamerikanisches Attentat in Dahran).

Wir können aber mit Sicherheit voraussagen, dass die in Afghanistan geführte Intervention keinen Frieden, keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keine Stabilität bringen wird, sondern einzig und allein mehr Krieg und Elend, so dass das Feuer des Hasses und die Hoffnungslosigkeit der Bevölkerung noch stärker geschürt werden, dieselbe Hoffnungslosigkeit, von welcher die Kamikazepiloten am 11. September beseelt waren.

Die Krise und die Arbeiterklasse

Nur einige Tage vor dem Attentat auf New York kündigte Hewlett-Packard die Übernahme von Compaq an. Diese Fusion wird 14'500 Stellen kosten. Das ist nur ein Beispiel unter vielen für die Vertiefung der Krise, die immer mehr zu- und immer stärker auf die Arbeiter einschlägt.

Nur einige Tage nach dem Anschlag kündigten United Airlines, US Air und Boeing Zehntausende von Entlassungen an. Seither sind ihrem Beispiel diverse Fluggesellschaften und Flugzeugproduzenten in der ganzen Welt gefolgt (Bombardier Aircraft, Air Canada, Scandinavian Airlines, British Airways und Swissair, um nur die letzten paar zu erwähnen).

Darüber hinaus behauptet die Bourgeoisie, ohne dabei rot zu werden, dass der Anschlag auf das World Trade Centre verantwortlich sei für die neue Krise, die nun über die Arbeiterklasse hereinbricht8 [17]. Die Erklärung scheint einen Anstrich von Wahrheit zu haben, da sich doch an der Börse aufgrund des Krachs nach dem 11. September 6,6 Billionen Dollar in Luft auflösten. Doch die Krise war schon vorher eine Tatsache, die Bosse nützten nur die Situation aus. Nach den Aussagen von Leo Mullin, dem CEO von Delta Airlines, wurde „die Sonderliquidität aufgrund des Geschäftsverlusts, der nur durch die Ereignisse vom 11. September verursacht wurde, berechnet, auch wenn der Kongress eine allgemeine Finanzspritze für die Industrie beschlossen hat (...) Die Nachfrage sinkt, während die laufenden Kosten steigen. Delta erleidet deshalb einen Abfluss von Mitteln.“ (Le Monde).

Die kapitalistische Welt ist schon voll von der Rezession erfasst, die sich natürlich zuerst in Angriffen auf die Arbeiterklasse ausdrückt. In den Vereinigten Staaten hat die Zahl der Arbeitslosen zwischen Januar und August 2001 um mehr als eine Million zugenommen. Riesenunternehmen wie Motorola und Lucent, die kanadische Nortel, die französische Alcatel, die schwedische Ericsson haben Zehntausende von Arbeitern entlassen. In Japan ist die Arbeitslosenrate in diesem Jahr von 2% auf 5% angestiegen9 [18]. Die haarsträubende Beschleunigung, mit der neue Entlassungswellen angekündigt werden (57‘000 zwischen 17. und 21. September in den USA) zeigt, wie die Bosse den Vorwand der Anschläge benutzten, um die Entlassungspläne, die sie schon seit Monaten vorbereitet hatten, in die Tat umzusetzen.

Die Arbeiterklasse bezahlt nicht nur für die Krise, sondern auch für den Krieg, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten, wo sich die Rechnung bereits auf mindestens 40 Milliarden Dollar beläuft. In Europa sind sich alle Regierungen darin einig, dass sie ihre Anstrengungen im Hinblick auf die Bildung einer schnellen Eingreiftruppe, die den europäischen Mächten die unabhängige Intervention erlauben würde, erhöhen wollen. In Deutschland hat man 20 Milliarden DM für die militärische Aufrüstung noch nicht im Bundesbudget unterbringen können. Zweifellos wird man aber bald einen Platz dafür finden, und auch diese Rechnung werden die Arbeiter bezahlen müssen.

Die Solidarität des Burgfriedens ist entschieden eine Einbahnstraße, nämlich von den Arbeitern zur herrschenden Klasse! Und der Zynismus dieser herrschenden Klasse, die den Tod von Arbeitern als Vorwand für Stellenabbau benützt, kennt keine Grenzen.

Heute wie seit eh und je ist die Arbeiterklasse das erste Opfer des Krieges.

Ein Opfer mit dem eigenen Leib, aber vor allem auch in seinem Bewusstsein. Die Arbeiterklasse ist die einzige gesellschaftliche Kraft, die diesem System, das verantwortlich ist für den Krieg, ein Ende bereiten kann; die herrschende Klasse dagegen bedient sich des Kriegs, um zum Burgfrieden und der nationalen Einheit aufzurufen. Zur Einheit der Ausgebeuteten mit ihren Ausbeutern. Zur Einheit derer, die zuallererst unter dem Kapitalismus leiden, mit denen, die daraus ihre Genüsse befriedigen und ihre Privilegien ziehen.

Die erste Reaktion der Proletarier von New York, einer der größten Arbeiterstädte der Welt, war nicht diejenige eines rachedurstigen Chauvinismus. Zunächst gab es eine spontane Reaktion der Solidarität gegenüber den Opfern, wie dies mit den Schlangen von Blutspendern oder den Tausenden von individuellen Hilfeleistungen und Trostspenden bewiesen wurde. In den Arbeiterquartieren, wo man dann über die Toten trauerte, die nicht beerdigt werden konnten, stand auf Transparenten: „Hassfreie Zone“, „Zusammen zu leben ist die einzige Art, die Toten zu ehren“, „Krieg ist nicht die Antwort“. Es ist klar, dass diese Parolen von demokratischem und pazifistischem Geist durchdrungen sind. Ohne eine Kampfbewegung, die fähig ist, den kapitalistischen Angriffen einen starken Widerstand entgegen zu setzen, und vor allem ohne revolutionäre Bewegung, die fähig ist, sich in der Arbeiterklasse Gehör zu verschaffen, wird diese spontane Solidarität erbarmungslos weggefegt durch die gewaltige Patriotismuswelle, die die Medien seit den Attentaten in Bewegung gesetzt haben. Für diejenigen, die versuchen, sich der Kriegslogik zu entziehen, breitet der Pazifismus seine Arme aus, der immer der erste Kriegstreiber ist, wenn sich das „Vaterland in Gefahr“ befindet. So kann man beispielsweise auf einer pazifistischen Website folgende Erklärung (eines Einzelnen) lesen. „Wenn eine Nation angegriffen wird, muss der erste Entscheid sein, ob man kapituliert oder kämpft. Ich denke, dass es da keinen Mittelweg gibt: Entweder kämpft ihr, oder ihr kämpft nicht, und nichts zu tun heißt zu kapitulieren.“ (Willamette Week Online) Für die Grünen ist „die Nation heute geeint: Wir wollen nicht als uneinig mit der Regierung erscheinen.“ (Alan Metrick, Sprecher von Natural Resources Defence Council, 530‘000 Mitglieder, zitiert in Le Monde, 28. September 2001):

„Der Weltfriede kann weder durch internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten noch durch diplomatische Abmachungen über ‚Abrüstung‘, (...) und dergleichen utopische oder in ihrem Grunde reaktionäre Projekte gesichert werden. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen und nicht einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben. Die einzige Sicherung und die einzige Stütze des Weltfriedens ist der revolutionäre Wille und die politische Aktionsfähigkeit des internationalen Proletariats.“

Das schrieb Rosa Luxemburg 1915 (Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie) mitten in einer der dunkelsten Zeiten, die die Menschheit bis dahin gekannt hatte, während sich die Proletarier der am meisten entwickelten Länder auf den Schlachtfeldern des imperialistischen Krieges massakrierten. Auch heute ist die Zeit eine schwierige, sowohl für die Arbeiter im allgemeinen als auch für die Revolutionäre im besonderen, die das Banner der kommunistischen Revolution, koste es, was es wolle, hoch halten. Aber wir sind mit Rosa Luxemburg davon überzeugt, dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei heißt und dass die Arbeiterklasse die einzige gesellschaftliche Kraft bleibt, die fähig ist, der Barbarei zu widerstehen und den Sozialismus zu errichten. Mit Rosa Luxemburg behaupten wir, dass die Beteiligung der Arbeiter am Krieg nicht bloß „ein Attentat (...) auf die bürgerliche Kultur der Vergangenheit (ist), sondern auf die sozialistische Kultur der Zukunft, ein tödlicher Streich gegen diejenige Kraft, die die Zukunft der Menschheit in ihrem Schoß trägt und die allein die kostbaren Schätze der Vergangenheit in eine bessere Gesellschaft hinüberretten kann. Hier enthüllt der Kapitalismus seinen Totenschädel, hier verrät er, dass sein historisches Daseinsrecht verwirkt, seine weitere Herrschaft mit dem Fortschritt der Menschheit nicht mehr vereinbar ist. (...) Der Wahnwitz wird erst aufhören und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter (...) endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Jens, 3. Oktober 2001


1 [19] Es sei hinzugefügt, dass alle Staaten Geheimdienste unterhalten, die jeweils Abteilungen für „schmutzige Angelegenheiten“ haben, und wenn sie nicht ihre eigenen Killer beschäftigen, immer bereit sind, auf die Dienste von anderen, unabhängig Handelnden zurückzugreifen.

2 [20] Den Enthüllungen von Robert Gates (ehemaliger CIA-Chef) zufolge haben die USA nicht nur auf die russische Invasion Afghanistans reagiert, sondern sie haben sie absichtlich hervorgerufen, indem sie der damaligen pro-sowjetischen Opposition in Kabul unter die Arme griffen. Zbigniew Brzezinski (ehemaliger Berater Präsident Carters) sagte 1998 in einem Interview mit dem Nouvel Observateur: „Diese geheime Operation war eine exzellente Idee. Sie machte es möglich, die Russen in die afghanische Falle zu locken; erwarten Sie, dass ich das bedauere? An dem Tag, als die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter im wesentlichen: ‚Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg aufzuzwingen (...) Wer ist wichtiger für die Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetreiches?‘“ (zitiert in Le Monde Diplomatique, Sept. 2001).

 

3 [21] Siehe unsere Broschüre „Die Dekadenz des Kapitalismus“.

4 [22] Erinnern wir uns an den Lockerbie-Prozess gegen die Agenten des libyschen Geheimdienstes. Die USA und Großbritannien haben steif und fest behauptet, dass die Libyer verurteilt werden müssten, auch nachdem klar geworden war, dass die Verantwortlichen eher auf syrischer Seite zu suchen waren. Aber damals streckten die USA gegenüber Syrien die Hand aus, um zu versuchen, es am Friedensprozess zwischen Israel und Palästina zu beteiligen.

5 [23] Nebenbei sei bemerkt, dass die sogenannte Kommunistische Partei Frankreichs keine derartigen Gefühlsregungen zeigte: Am 13. September hielt der nationale Rat des PCF eine zweiminütige Schweigeminute ein, „um dem ganzen amerikanischen Volk, der Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger dieses großen Landes und der Regierung, die sie sich gegeben haben, die Solidarität auszudrücken“. Oder was soll man sagen zum Titel von Lutte Ouvrière: „Man kann den Krieg nicht an allen vier Ecken der Welt aufrechterhalten, ohne dass es einem eines Tages selbst trifft“. Mit anderen Worten: „Getötete amerikanische Arbeiter, das stopft euch die Fresse“.

6 [24] Bezüglich dieser Schnelligkeit tun sich einige Fragen auf: ein Mietwagen mit arabischen Flughandbüchern wurde nur wenige Stunden nach dem Attentat entdeckt, auch wenn die Kamikaze-Piloten seit Monaten, wenn nicht sogar seit Jahren in den USA gewohnt hatten; der Bericht über ein in den Trümmern des World Trade Centers gefundenen Passes, der einem der Terroristen gehörte und offenbar nicht einmal durch die Explosion von einigen hundert Tonnen Kerosin zerstört wurde...  

7 [25] Wir gehen hier nicht im Besonderen auf die dauernden Konflikte um den Bau von neuen Pipelines zum Transport des Erdöls vom Kaspischen Meer zu den hochentwickelten Ländern ein, bei denen Russland versucht, eine Linie durch Tschetschenien und Russland bis nach Novorossiysk an der russischen Schwarzmeerküste zu errichten und die US-Regierung dagegen die Route Baku-Tiflis-Ceyhan (also Aserbaidschan-Georgien-Türkei) bevorzugt, welche Russland komplett umgeht. Es sei hier lediglich bemerkt, dass die US-Regierung ihre bevorzugte Route zum Nachteil der großen Erdölkonzerne erzwingen musste, welche diese als wirtschaftlich uninteressant bezeichneten.    

8 [26] Wie sie es schon 1974 tat, als die Krise angeblich durch den Anstieg der Ölpreises verursacht wurde, welche Erklärung dann auch wieder 1980 herhalten musste. Und was die Krise von 1990-93 betrifft, so sei sie die Folge des Golfkriegs gewesen ...

9 [27] Anzufügen bleibt, dass zwar diese Rate im Vergleich zu beispielsweise Frankreich als niedrig erscheint, dies aber nur den Erfolg des japanischen Staates nicht im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, sondern in der Zahlenschieberei unter Beweis stellt.

Aktuelles und Laufendes: 

  • 11. September [28]

Theoretische Fragen: 

  • Terrorismus [29]

Zehn Jahre nach dem Golfkrieg

  • 3349 reads

Halbwahrheiten, Lügen und Intrigen oder Wie die „demokratischen Goebbels“ arbeiten

Beim deutsch-französischen Fernsehsender Arte lief kürzlich eine lange Dokumentation mit dem vielsagenden Titel: „Les dessous de la guerre du Golf“ (was man in etwa mit „Die Wahrheit hinter dem Golfkrieg“ übersetzen kann). Zur selben Zeit wie die Dokumentation erschien in etlichen Wochenmagazinen eine Reihe von Artikeln, die voller „Enthüllungen“ über die Vorbereitung und Durchführung des Golfkrieges waren. Der Titel des französischen Wochenmagazins Marianne (22.-28. Januar 2001) wurde sogar noch ausdrücklicher: „Die Lügen über den Golfkrieg“. Warum kommen diese „Enthüllungen“ jetzt, zehn Jahre nach dem Ereignis, ans Tageslicht? Warum bringen jetzt, nach dem Haufen von Lügen während des Krieges, einige Fraktionen der Bourgeoisie Licht ins Dunkle der kriminellen Manöver der US-Administration unter Bush sen. bei ihrer Vorbereitung, Eröffnung und Führung des Krieges von seinem Beginn im Sommer 1990 bis Februar 1991, ja, bis heute?

Die offizielle Version

„Der Golfkrieg war eine militärische Operation, durchgeführt im Januar und Februar 1991 von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten, welche mit dem Mandat der Vereinten Nationen gegen den Irak handelten, mit dem Ziel, die Besetzung Kuwaits durch die Truppen der Armee Saddam Husseins zu beenden, die am 2. August 1990 in das Land eingedrungen waren. Der UN-Sicherheitsrat forderte noch am 2. August den Rückzug der irakischen Truppen und rief dann ein ökonomisches, finanzielles und militärisches Embargo (‚Operation Desert Shield‘) aus, das anschließend in eine Blockade mündete. Am 29. November autorisierte eine weitere Resolution des Sicherheitsrates die Mitgliederstaaten dazu, Gewalt anzuwenden, falls sich die irakischen Truppen nicht bis zum 15. Januar 1991 aus Kuwait zurückgezogen haben. Am 17. Januar begann die anti-irakische Front, die unter amerikanischem Kommando in Saudi-Arabien stationiert und aus Truppen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und rund zwanzig weiterer verbündeter Länder zusammengesetzt war, die Operation Wüstensturm, indem sie militärische Ziele im Irak und in Kuwait bombardierte. Eine vom 24. bis zum 28. Februar erfolgte, erfolgreiche Bodenoffensive in Richtung Kuwait City machte dem Krieg an der Front ein Ende. Der Irak verlor mehrere zehntausend Soldaten und Zivilisten, die Koalition verzeichnete dagegen weniger als 200 Opfer. Zwei Drittel der militärischen Kapazität des Iraks wurden zerstört. Der Krieg endete offiziell am 11. April 1991 mit der Annahme der vom Sicherheitsrat auferlegten Bedingungen, insbesondere der Zerstörung der chemischen und biologischen Waffen sowie der Lang- und Mittelstreckenraketen des Iraks, durch Saddam Hussein.“1

Dies ist die Art von Darstellung, wie wir sie aus den Schulbüchern kennen. Alles soll uns glauben machen, dass die so genannte historische „Objektivität“ gewahrt bleibt. Dies war im Wesentlichen der Kern dessen, was uns (abgesehen von den Opferzahlen) vor zehn Jahren erzählt worden war.

Der Krieg wurde mit der Verteidigung des unantastbaren Völkerrechts gerechtfertigt, das von der „hinterhältigen“ Invasion Kuwaits durch die Truppen Saddam Husseins mit Füßen getreten worden sei. Dies geschah just zu dem Zeitpunkt, als der Zusammenbruch des Ostblocks angeblich den Weg der Menschheit zu einer strahlenden Zukunft des „Friedens und Wohlstands“ eröffnet hatte. Letzteres wurde uns bei jeder Gelegenheit versprochen und stellte dar, was vom US-Präsidenten mit der Phrase von der „neuen Weltordnung“ bezeichnet wurde. Der Kriegstreiber, der sich weigerte, Völkerrecht zu respektieren, musste mit allen erdenklichen Mitteln gestoppt werden. Die UNO, internationales „Friedens“forum, wurde zur Bühne, auf der, vom Embargo bis zur Blockade, der Weltbevölkerung (mit anderen Worten: dem Proletariat) eine hinterhältige, diplomatische Farce vorgespielt wurde, damit Letztere den kommenden Krieg akzeptierte. Schließlich war der Krieg selbst angeblich ein „sauberer“, chirurgischer Krieg, in dem die einzigen Leute, die getötet wurden, die „bösen Jungs“ waren. Offiziell wurde der Krieg im April 1991 beendet, doch in Wahrheit ist sein Schlusswort noch nicht geschrieben, da die amerikanische Bourgeoisie seit zehn Jahren den einsamen Rächer mimt (manchmal von ihrem britischen Messdiener begleitet), indem sie Saddam (oder vielmehr die irakische Bevölkerung) regelmäßig als Punchingball benutzt, um in einer Welt, die immer tiefer vom Krieg in die Barbarei gedrängt wird, ihre Muskeln spielen zu lassen.2

Die „enthüllte Wahrheit“

 Heute erkennen einige Teile der bürgerlichen Presse die Wahrheit dessen an, was die IKS bereits vor zehn Jahren gesagt hatte. Wir sind auf diese Tatsache nicht „stolz“ – dies ist für uns nicht von Belang. Was uns jedoch interessiert, ist mehr denn je die Betonung der Notwendigkeit für die Revolutionäre, angesichts der Ereignisse wachsam zu bleiben, ihre Analysen in der marxistischen Methode einzubetten und der Überprüfung durch die Wirklichkeit zu unterwerfen, kritisch zu sein und ihre Orientierungen nicht wie ein Wetterhahn bei jeder Änderung der Windrichtung zu drehen. Dies ist Vorbedingung für das Fortschreiten des Klassenkampfes und eine der Hauptfunktionen der revolutionären Organisation. Wir sind ebenfalls daran interessiert zu verstehen, warum sich heute die Bourgeoisie entschlossen hat zu enthüllen, was sie einst verborgen hatte: d.h. die Arbeit derjenigen zu verstehen, die man die „demokratischen Goebbels‘“ nennen kann.3

Washingtons Falle

Die Arte-Dokumentation und die Zeitschrift Marianne sagen Folgendes: „Washingtons Falle: (...) Washington nahm kaum Notiz, als Saddam davon sprach, in seine einstige Provinz einzufallen“; die USA beteuerten, dass sie „kein Verteidigungsabkommen mit den Kuwaitis hatten“.  „Es war ein Manöver, um ihn zu täuschen“, und: „‘Wir können feststellen, dass die USA nach der Invasion keine diplomatische Lösung wollten‘, schlussfolgerte Dr. Halliday von der UN.“

Und genau dies sagten wir im frühen September 1990, einen Monat nach der Invasion Kuwaits durch Saddams Truppen und noch vor dem Kriegsausbruch: „Doch dies ist nicht das Ende ihrer Heuchelei und ihres Zynismus. Es scheint, als haben die USA diskret, aber absichtlich dem Irak gestattet, ein militärisches Abenteuer zu wagen. Ob richtig oder falsch – und es ist zweifellos richtig -, wirft es ein bezeichnendes Licht auf das Verhalten und die Praktiken der Bourgeoisie, ihrer Lügen und Manipulationen, auf den Nutzen, den sie aus den Ereignissen schlägt. (...) Der Irak hatte keine Wahl. Das Land wurde dahin gelenkt, diese Politik auszuführen. Und die USA ließen es gewähren, ermutigten es, um Saddam Husseins militärisches Abenteuer auszunutzen, wohl bewusst des wachsenden Chaos‘, wohl bewusst in der Absicht, ein Exempel zu statuieren.“  Im Sommer 1990 hatte die bürgerliche Presse diese Information sehr diskret enthüllt. Und hier können wir sehr gut sehen, wie die Propagandamaschinerie unter der demokratischen Diktatur arbeitet: Selbst nachdem einige Zeitungen eine verschleierte Darstellung der Falle gebracht hatten, die die USA für Saddam ausgelegt hatten, gaben sie die militärische Propaganda der anti-irakischen Koalition fast einstimmig wieder. Diese Heuchler geben dies heute freimütig zu: „Diesmal stellte die US-Armee sicher, dass die Journalisten ‚loyal‘ blieben.“ Es gelang der Regierung, die Presse auf Abstand zu halten. Tatsächlich wusste man nie, was los war, „sagte Paul Sullivan, Präsident des Hilfszentrums für Kriegsveteranen (...) Vier Monate lang spielten sie mit der Angst vor der fixen Idee, dass die irakische Armee, ‚die viertgrößte der Welt‘, ein gefährlicher Gegner sei...“ (Marianne). „Diese maßlose Blindheit (sic!) hinderte westliche Journalisten nicht daran, Märchen über (Saddams) diabolische Manövrierkünste zu verfassen (...) Die westliche Presse erging sich endlos über die tatsächlichen oder angeblichen Gräueltaten der Besatzerarmee. Zum Beispiel veröffentlichte sie die Geschichte einer ‚jungen Frau aus dem Volk‘, die Zeuge unbeschreiblichen Horrors gewesen sei. Diese ‚Überlebende‘ war in Wahrheit die Tochter des Botschafters Kuwaits in Washington ...“ So war nach der irakischen Invasion in Kuwait am 2. August alles getan, um die öffentliche Meinung zu „konditionieren“ und dazu zu bringen, das, was folgte, zu akzeptieren. Und die Journalisten, ob mit ihrer Übereinstimmung oder mehr oder weniger ohne ihr Wissen, erfüllten ihre Rolle voll und ganz.

Doch was die Journalisten trotz ihres heutigen Anspruchs, „ehrlich“ zu sein, nicht sagen, ist, dass die US-Falle vor allem ihren einstigen „Verbündeten“, mit anderen Worten: den anderen Großmächten, galt.

In einem Artikel unserer International Review4, datiert vom November 1990, nahmen wir ausführlicher zur von der Golfkrise geschaffenen Lage kurz vor Ausbruch des Krieges Stellung. Unsere Analyse basierte auf Positionen, die wir zuvor gefasst und in denen wir die Tatsache zum Ausdruck gebracht hatten, dass der Zusammenbruch des Ostblocks das Verschwinden des westlichen Blocks und die Entwicklung zentrifugaler Tendenzen in Letzterem, die Neigung aller Hauptmächte herbeigeführt habe, danach zu trachten, zur „Nummer 1“ zu werden. Die so genannte „neue Weltordnung“ war also nichts anderes als eine üble Täuschung. Obwohl sie dem Irak eine Falle stellte, galt die hauptsächliche Absicht der US-Politik nicht dem Irak, auch nicht der Region des Nahen Ostens oder gar dem Erdöl, sondern den anderen Hauptmächten, vor allem Frankreich, das gezwungen wurde, seinen langjährigen irakischen Verbündeten anzugreifen, während Deutschland und Japan genötigt wurden, finanzielle Unterstützung für die Kriegsausgaben herauszurücken. Die UdSSR befand sich bereits im Zustand der Auflösung, so dass ein paar diplomatische Floskeln ausreichten, um sie gefügig zu machen. So „gelang es den USA, eine Fassade der Einheit in der ‚internationalen Gemeinschaft‘ zu schaffen, indem sie im August 1990 die ‚Golfkrise‘ gegen den ‚verrückten Saddam‘ provozierten. Doch kaum zwei Monate später waren alle Mitglieder dieser ‚internationalen Gemeinschaft‘ offen darauf aus, ihre eigenen Interessen zu verteidigen.“ (International Review, Nr. 64) Ende Oktober begann Saddam wahrscheinlich die Falle zu dämmern, in die die US-Administration ihn gelockt hatte; jedenfalls spekulierte er, vielleicht „weil er sich der Klüfte zwischen den verschiedenen Ländern bewusst war“ (ebenda), auf die offensichtlichen Unstimmigkeiten innerhalb der westlichen Koalition: Ende Oktober 1990 ließ er alle französischen Geiseln frei und empfing etwa zur gleichen Zeit den deutschen Ex-Bundeskanzler Willy Brandt (dem prompt die Freilassung der deutschen Geiseln folgte).

In der Tat benutzten die USA den Irak zu einem Zeitpunkt, als ihr Status als einzige Weltsupermacht dabei war, in Frage gestellt zu werden, um „den anderen entwickelten Ländern ihre Macht und Entschlossenheit zu demonstrieren“ (ebenda), indem sie eine brutale und blutige Vergeltungsaktion gegen den Irak auslösten. Im gleichen Artikel schrieben wir unter der Überschrift „Der Gegensatz zwischen den USA, sekundiert von Großbritannien, und den anderen“: „Mit dem Zusammenbruch des russischen imperialistischen Blocks wurde das gesamte politisch-militärische und geostrategische Gleichgewicht auf dem Planeten zu Fall gebracht. Und diese Situation hat nicht nur in den Ländern und Gebieten des alten Ostblocks eine Periode des völligen Chaos‘ eröffnet, sie hat  überall die Tendenzen zum Chaos beschleunigt, womit die kapitalistische ‚Weltordnung‘ bedroht ist, deren Hauptnutznießer die Vereinigten Staaten sind. Letztere mussten als Erste reagieren. Sie (...) provozierten im August 1990  die ‚Golfkrise‘, nicht nur, um eine entscheidende Ausgangsposition in dieser Region zu erlangen, sondern auch und vor allem (....), um ein Exempel zu statuieren, das als eine Warnung gegen jeden dienen sollte, der sich ihrer Position als vorherrschende Supermacht in der weltkapitalistischen Arena  widersetzt.“ (ebenda).

Der Krieg bricht aus: Die Medien stehen Gewehr bei Fuß

Spätestens im Januar 1991 gelang es den USA, die Oberhand über die UN-Koalition zu erlangen. Eine Unmenge von Bomben regnete auf den Irak nieder. Der Zynismus der Gangster, die diese Koalition am Laufen hielten, ging so weit, dies einen „sauberen Krieg“ zu nennen. „Dem Pentagon zufolge waren diese Angriffe äußerst präzise. Das ist völlig unwahr. In einem Zeitraum von 41 Tagen wurden 85.000 Tonnen Bomben auf den Irak abgeworfen, was dem Siebeneinhalbfachen Hiroshimas entspricht! Zwischen 150’000 und 200’000 Menschen wurden getötet, die meisten von ihnen Zivilisten.“ (Ramsey Clark, ehemaliger Bevollmächtigter US-General in Marianne und in der Arte-Dokumentation) „Tatsächlich tat die Koalition weitaus mehr, als die irakische Militärmaschinerie auszulöschen: Sie zerstörte systematisch seine ökonomische Infrastruktur.“

Die Presse kollaborierte meist ohne Zögern mit den Regierungen der verschiedenen Krieg führenden Länder. Sie begnügte sich nicht damit, das irakische Regime und seinen Blut triefenden Diktator anzuklagen5: Sie stellte sich selbst auch unter das Kommando der Militärs der Koalition. Wir wollen hier an die Fernsehdokumentationen mit ihren zivilen und militärischen Experten erinnern, die in ihren gelehrten Reden von der „hochgefährlichen“ irakischen Armee sprachen, der angeblich viertgrößten auf der Welt. Dieselben Journalisten überschwemmten uns mit Details über die schrecklichen Waffen Bagdads, die fähig seien, die gesamte zivilisierte Welt zu bedrohen. Uns wurde erzählt, dass Saddams blutrünstige Armee Säuglinge in den Kinderkrippen Kuwaits getötet hätte. Auf westlicher Seite hätten unsere netten Piloten dagegen darauf geachtet, nur die strategischen Ziele der verhassten Macht zu zerstören. Heute bestätigt die Wochenzeitschrift Marianne die feige Unterwerfung und Komplizenschaft der Medien: „Vier Monate lang spielten sie mit der Angst davor, dass die irakische Armee (...) ein gefährlicher Gegner sei. Sie sprachen von verborgenen Pestizidfabriken, von Vorkommen angereicherten Urans (...), von der Reichweite der 'Superkanone‘. Niemand, so schien es, wagte es, die offensichtlichste Hypothese aufzugreifen: dass dieser großspurige Aufschneider (Saddam) lediglich so dumm wie widerspenstig war. Die wirklichen Spezialisten, die Militärhistoriker, ließen sich durch diese Konditionierung nicht täuschen: ‚Ohne jeglichen Schutz in der offenen Wüste werde die irakische Armee nicht eine Stunde der Feuerkraft der Koalition standhalten.‘ (...) Völlig konditioniert, nahm die öffentliche Meinung des Westens die Fiktion von den ‚intelligenten Waffensystemen‘ und den auf das strikte Minimum reduzierten Bombardierungen für bare Münze.“ (Marianne) Doch die Manipulationen endeten nicht etwa hier: Die USA ermutigten die Kurden im Norden Iraks und die Schiiten im Süden zum Aufstand gegen Saddam. „Am 3. März nahm General Schwarzkopf die irakische Kapitulation an und gestattete es dem Irak, seine Hubschrauber zu behalten (um die Aufstände niederzuschlagen)6. Wochenlang rief der CIA-Radiosender zum Aufstand auf, und dennoch rührten sich die Alliierten nicht, als Saddam die Aufständischen mit den Eliteeinheiten der Republikanischen Garden angriff und auf wundersame Weise dabei von den Bombern verschont wurde.“ (ebenda)

Warum „enthüllen“ die Medien heute all dies?

In diesen Zitaten spricht Marianne von „Konditionierung“. Diese Aufgabe fällt den Medien im Allgemeinen und dem Fernsehen im Besonderen zu. Wir wissen sehr wohl zu beurteilen, was die „demokratische“ Bourgeoisie unter der „Pressefreiheit“ versteht, vor allem zu derart wichtigen Zeitpunkten wie dem des Golfkriegs. All die Verteidiger der „Pressefreiheit“ stellten sich selbst ohne Zögern und auf Dauer unter die militärische Zensur. Und war einer von ihnen versucht, auf der Suche nach der Wahrheit oder einem sensationellen Aufmacher hinter den Vorhang zu schauen, so war unverzüglich die Armee zur Stelle, um ihn zur Ordnung zu rufen. Wie Marianne auf ihre Weise sagt: „Niemand, so schien es, wagte es, die offensichtlichste Hypothese aufzugreifen.“

Wir sehen deutlich die Funktionsweise der Propagandadienste in den demokratischen Staaten. Wenn Ereignisse Ruhe erfordern, wird nichts Wichtiges raus gelassen. Stattdessen werden wir mit allen Arten von Lügen, Halbwahrheiten, Manipulationen gefüttert, die durch die Auffassungen „unabhängiger“ Experten, Universitätsprofessoren u.ä. aufgedonnert und durch die „freie“ Stimme der Presse in den demokratischen Ländern noch glaubwürdiger gemacht werden. Nach den Ereignissen wird alles (oder beinahe alles) nach und nach „ans Tageslicht“ gebracht. Doch auch zehn Jahre später kann die „Wahrheit“ nur in Zeitschriften mit geringer Auflage oder in  Fernsehsendern mit kleiner Zuschauerquote gefunden werden. Die populäreren Massenmedien werden nach wie vor von einer Lawine der Desinformationen überschwemmt. Wir haben dieselben Mechanismen 1995 während des Genozids in Ruanda und vor allem während des letzten Krieges in Ex-Jugoslawien (Kosovo) arbeiten sehen, wo sich das Modell der Medienkontrolle aus dem Golfkrieg erneut bewährte.

Im Anschluss an den Golfkrieg und die Auslieferung der kurdischen und schiitischen Bevölkerung an die von Saddam Hussein angeheuerten Killer besaßen die „großen Demokratien“ den unglaublichen Zynismus, zu ihren berühmten „humanitären Interventionen“ und „Flugeinsätzen zur Rettung bedrohter Völker“ zu greifen. Bis zum Überdruss ist uns die „Pflicht zur humanitären Einmischung“ aufgetischt worden. Der Golfkrieg ist eine Art Schablone für all die imperialistischen Kampagnen gewesen, die ihm überall auf der Welt folgten.

Wenn heute ein Teil der Wahrheit veröffentlicht wird, so im Wesentlichen, weil die herrschende Klasse ihr System rechtfertigen muss. Uns soll glauben gemacht werden, dass solch eine Offenheit nur im „demokratischen“ Kapitalismus möglich ist. Die Möglichkeit, „in der Demokratie alles sagen zu dürfen“, wird dazu benutzt, um umgekehrt die Momente zu rechtfertigen, wo alles manipuliert, verzerrt oder versteckt werden muss.

Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum gewisse Medien solche Fakten heute veröffentlichen. All diese Artikel und Dokumentationen haben eins gemeinsam: In ihnen erscheint der US-Staat als der allein Schuldige. Obwohl es zutrifft, dass die USA den „Kreuzzug“ anführte, die Falle vorbereitete und sie zuschnappen ließ sowie das meiste der bewaffneten Macht der Koalition bereitstellte, tragen alle Großmächte die Verantwortung für die im Krieg verursachten Massaker. Doch gewisse europäische Mächte – insbesondere Frankreich und Deutschland, für die die USA der Hauptrivale auf der imperialistischen Weltbühne sind – haben ein großes Interesse daran, ihre eigene Verantwortung zu minimieren sowie die Barbarei und den Zynismus des amerikanischen Imperialismus (der natürlich real genug ist) zu enthüllen.

Die revolutionäre Intervention

Natürlich erhalten auch wir unsere Informationen aus der bürgerlichen Presse. Schon 1990 gab es in einigen Zeitungen begrenzte Berichterstattungen über die Manipulationen. Seither war die Flut an Lügen so groß, dass das, was wir in unserer Presse sagten, bei einigen Leuten (einschließlich jener Gutgläubigen und selbst einiger linkskommunistischer Militanter) den Eindruck erweckte, wir seien nun völlig außer Rand und Band geraten und besessen von machiavellistischen Komplotten.

Doch diese Informationen sind an sich nicht das Wichtigste. Was bedeutsam ist, ist die Methode, die zur Analyse der Ereignisse benutzt wird. Wenn wir fähig waren zu begreifen, was zwischen 1990 und 1991 im Nahen Osten vor sich ging, so deshalb, weil wir uns analytisch die Konsequenzen des Zusammenbruchs des Ostblocks und des Zerfalls des Kapitalismus erarbeitet haben. Revolutionäre haben keine „geheimen Informanten“ und können auch keine haben. Unsere Stärke liegt in unserer Zugehörigkeit zu unserer Klasse, dem Proletariat, zu ihrer Geschichte und zur marxistischen Methode, die sie geschaffen hat.

Auch sollten wir nicht naiver Illusion anheimfallen: Auch Revolutionäre veröffentlichen heute nur unter Überwachung. Unser einziger Schutz ist nicht die „Pressefreiheit“, sondern die Stärke und der Kampf unserer Klasse.

Während der Ereignisse selbst waren allein Revolutionäre imstande, aufzuzeigen, was auf dem Spiel stand, und somit die Barbarei des Krieges und die Manipulation der Wahrheit durch die herrschende Klasse zu denunzieren. Zwar denunzierten einige Fraktionen der Bourgeoisie die Barbarei, die den Irak heimsuchte, doch geschah dies nur aus nationalistischen (anti-amerikanischen) oder offen pro-irakischen Gründen (wie dies bei gewissen linksextremen Gruppierungen der Fall war). Allein die Gruppen der Kommunistischen Linken verteidigten die internationalistische, proletarische Stellung während des Golfkrieges. Und unter diesen Gruppen war allein die IKS in der Lage, ein Licht darauf zu werfen, was in dieser Situation wirklich auf dem Spiel stand. Die für den Irak aufgestellte Falle wäre gegenstandslos gewesen, wenn es allein um Erdöl gegangen wäre. Ihr Zweck wird erst klar, wenn wir berücksichtigen, dass das, was wirklich auf dem Spiel stand, die US-Führerschaft in der Zeit nach dem Kollaps des Blocksystems war7. Erst in diesem Zusammenhang erhält die Ölfrage als ein Element in der allgemeinen imperialistischen Politik ihre volle Bedeutung.

Im Rahmen ihrer Propaganda und „News“ tut die Bourgeoisie alles, was sie kann, die Arbeiterklasse – die allein der Bourgeoisie und ihrem System ein Ende machen kann – daran zu hindern, sich darüber bewusst zu werden, was auf dem Spiel steht. Sie verdoppelt ihre Bemühungen, wann immer die tödliche Wirtschaftskrise, die das System seit den letzten 30 Jahren erfasst hat, oder Ereignisse wie der Golfkrieg zur Debatte stehen. Was ihre ideologischen Kapazitäten angeht, ihre Fähigkeit zu lügen, zu verstecken und die Realität zu verzerren, so bieten die Propagandaspezialisten totalitärer Regimes nichts, was die demokratische Bourgeoisie noch lernen könnte. Die Revolutionäre haben die Pflicht, nicht nur die imperialistische Barbarei, sondern auch die Propagandamechanismen zu denunzieren, womit die Bourgeoisie versucht, das Proletariat zu narkotisieren und für dumm zu verkaufen.

 PA, 30. März 2001


1 Dieses Zitat ist der Enzyklopädia Universalis entnommen. Ihre Artikel wurden von bedeutenden Historikern verfasst, und wir können davon ausgehen, dass die Kapitel in den Schulbüchern zur Indoktrination der jungen Generationen auf dieselbe Art und Weise geschrieben werden.

2 Dieser Bericht erwähnt nicht die Statisten, die der Vervollständigung des Szenarios dienen: die so genannten „Anti-Imperialisten“ und die Pazifisten. Einige Fraktionen der europäischen Bourgeoisie (von den Rechtsextremen bis hin zu den Linksextremen, in Frankreich einschließlich der „Nationalrepublikaner“ und anderer „Verteidiger der nationalen Souveränität“) heizen anti-amerikanische Ressentiments auf, um ihre Nichtübereinstimmung mit den gegenwärtigen rechten oder linken Regierungen in Europa auszudrücken. Im Allgemeinen betonen all diese bürgerlichen Fraktionen, die die anti-irakische Koalition kritisieren, die Bedeutung des Erdöls als Hauptursache des Krieges.

Frankreich befand sich damals unter der sozialistischen Regierung François Mitterands. Das einzige Regierungsmitglied, das seine Ablehnung gegenüber der anti-irakischen Koalition offen zum Ausdruck brachte, war der linke, nationalrepublikanische Chevènement. Spaniens sozialistische Regierung unter Felipe Gonzales nahm ebenfalls an der anti-irakischen Koalition teil, trotz des Gezeters gewisser Sozialisten. Es ist bemerkenswert, dass die Grünen in Deutschland durch und durch Pazifisten waren. Während des letzten Krieges in Ex-Jugoslawien – sie befanden sich bereits in der Regierung – waren sie, ohne zu zaudern, für die Bombardierung Serbiens. Wenn man etwas Gutes über die deutschen Grünen sagen kann, dann, dass sie uns langatmige Analysen über die wahre Natur des Pazifismus erspart haben. Es reicht aus, ihre Taten zu betrachten.

3 Dr. Goebbels war der Minister für Propaganda und Information im deutschen Naziregime. Wenn wir diesen Ausdruck benutzen, dann aus dem Grunde, weil Goebbels seither als archetypisches Muster für die Propaganda, Indoktrination und Manipulation des bürgerlichen Staates gilt. Doch wie dieser Artikel aufzuzeigen beabsichtigt, gibt es an ähnlichen Exemplaren auch in stalinistischen oder demokratischen Regimes keinen Mangel.

4 „Against the spiral of military barbarism, there is only one solution: the development of the class struggle“, International Review, Nr. 64, erstes Vierteljahr 1991;

5 In der Tat hat bis zum Zeitpunkt der Golfkrise die westliche Presse ein Loblied auf Saddam gesungen, indem sie ihn als „modernen“ Herrscher und vor allem als jemanden schilderte, der gegen die Ambitionen der iranischen Ajatollahs während des iranisch-irakischen Krieges unterstützt werden sollte. 1988 unterstützten westliche Regierungen Saddams Unterdrückung der Kurden, der dabei von chemischen Waffen Gebrauch machte, da er zu jener Zeit das Schlüsselelement gegen den Iran darstellte.

6 Marianne fährt fort, dass es „ein bisschen so war, als ob die Alliierten im Winter 1945 am Rhein gestoppt und Hitler genügend Waffen gelassen hätten, um mit eventuellen Aufständischen fertig zu werden“. Doch es ist nicht „ein bisschen so“, genau dies taten die Alliierten in Italien 1944, als sie ihre Nordoffensive gestoppt hatten, um dem faschistischen Regime freie Hand bei der Zerschlagung von Arbeiterstreiks und Aufständen zu gewähren, die dort ausgebrochen waren.

7 s. „The proletarian political milieu confronted with the Gulf War“ (1. November 90), International Review, Nr. 64 und unseren „Appeal to the proletarian political milieu“ in Nr. 67 (Juli 1991);

Geographisch: 

  • Naher Osten [30]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Irak [31]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [8]

Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/724

Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke [2] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische [3] https://de.internationalism.org/en/tag/2/37/die-revolution-re-welle-1917-1923 [4] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke [5] https://de.internationalism.org/en/tag/2/24/marxismus-die-theorie-der-revolution [6] https://de.internationalism.org/en/tag/1/223/deutsche-revolution [7] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1919-deutsche-revolution [8] https://de.internationalism.org/en/tag/3/44/internationalismus [9] https://de.internationalism.org/en/tag/2/26/proletarische-revolution [10] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn1 [11] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn2 [12] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn3 [13] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn4 [14] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn5 [15] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn6 [16] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn7 [17] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn8 [18] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftn9 [19] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref1 [20] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref2 [21] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref3 [22] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref4 [23] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref5 [24] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref6 [25] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref7 [26] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref8 [27] https://de.internationalism.org/golfkrieg#_ftnref9 [28] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/11-september [29] https://de.internationalism.org/en/tag/3/51/terrorismus [30] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/naher-osten [31] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/irak