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Internationale Revue 20

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Der Kampf des Marxismus gegen das politische Abenteurertum

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In den ersten drei Teilen dieser Artikelserie haben wir gesehen, wie der Bakunismus, unterstützt und manipuliert von den herrschenden Klassen und von einem ganzen Netzwerk politischer Parasiten, einen versteckten Kampf gegen die Erste Internationale führte. Insbesondere richtete sich dieser Kampf gegen die Etablierung wahrhaft proletarischer Prinzipien und Regeln für die Funktionsweise innerhalb der Internationalen. Während die Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation mit ihrer Verteidigung einer einheitlichen, kollektiven, zentralisierten, transparenten und disziplinierten Funktionsweise einen qualitativen Sprung gegenüber der vorherigen sektiererischen, hierarchischen und konspirativen Phase der Arbeiterbewegung darstellte, mobilisierte Bakunins Allianz all die nicht-proletarischen Elemente, die diesen Schritt vorwärts nicht akzeptieren wollten. Mit der Niederlage der Pariser Kommune und dem internationalen Rückfluß des Klassenkampfes nach 1871 verdoppelte die Bourgeoisie ihre Anstrengungen, um die Internationale zu zerstören und vor allem die marxistische Vision einer Arbeiterpartei und ihrer Organisationsprinzipien, die sich in wachsendem Maße etabliert hatte, zu diskreditieren. So blies die Internationale vor ihrer Auflösung, auf dem Haager Kongreß von 1872, zur offenen und entscheidenden Konfrontation mit dem Bakunismus. Sich vergegenwärtigend, daß eine Internationale angesichts solch einer wichtigen Niederlage des Weltproletariats nicht weiter existieren kann, war die Hauptsorge der Marxisten auf dem Haager Kongreß, daß die politischen und organisatorischen Prinzipien, die sie gegen den Bakunismus verteidigt hatten, an die zukünftigen Generationen von Revolutionären weitergereicht werden und als Basis für künftige Internationalen dienen. Daher wurden die Enthüllungen des Haager Kongresses über Bakunins Verschwörung innerhalb der Internationalen und gegen sie veröffentlicht und der gesamten Arbeiterklasse verfügbar gemacht.

Die vielleicht wichtigste Lehre aus dem Kampf gegen Bakunins Allianz, die die Erste Internationale an uns weitergereicht hat, ist die der Gefahr, die deklassierte Elemente im allgemeinen und politisches Abenteurertum im besonderen für kommunistische Organisationen darstellen. Gleichzeitig ist es gerade diese Lehre, die von vielen Gruppen des gegenwärtigen revolutionären Milieus am meisten ignoriert oder unterschätzt wird. Daher ist der letzte Teil unserer Serie über den Kampf gegen den Bakunismus dieser Frage gewidmet.

Die historische Bedeutung der Analyse der Ersten Internationalen über Bakunin

Warum entschied sich die Erste Internationale nicht dafür, ihren Kampf gegen den Bakunismus als eine rein interne Angelegenheit zu behandeln, ohne Belang für alle außerhalb der Organisation? Warum bestand sie so sehr darauf, daß die Lehre dieses Kampfes an die Zukunft weitergereicht wurde? Grundlage der marxistischen Organisationsauffassung ist die Überzeugung, daß revolutionäre kommunistische Organisationen ein Produkt des Proletariats sind. Historisch gesprochen, haben sie ein Mandat von der Arbeiterklasse erhalten. Als solche sind sie dazu verpflichtet, gegenüber der Klasse als Ganzes, insbesondere aber gegenüber anderen politischen Organisationen und Ausdrücken der Klasse, dem proletarischen Milieu, Rechenschaft über ihre Handlungen abzulegen. Dieses Mandat gilt nicht nur in der Gegenwart, sondern auch gegenüber der Geschichte an sich. Gleichzeitig sind die künftigen Generationen von Revolutionären, die das von der Geschichte an sie weitergereichte Mandat akzeptieren, dazu verpflichtet, von den Kämpfen ihrer Vorgänger zu lernen und sich ein Urteil darüber zu bilden.

Deshalb war der letzte große Kampf der Ersten Internationalen dazu bestimmt, dem Weltproletariat und der Geschichte gegenüber das von Bakunin und seinen Anhängern gegen die Arbeiterpartei angezettelte Komplott zu enthüllen. Und deshalb ist es die Verantwortung der marxistischen Organisationen von heute, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, um für den Kampf gegen den heutigen Bakunismus, gegen das heutige politische Abenteurertum gewappnet zu sein.

Nachdem sie die historische Gefahr begriffen hat, die die von der Ersten Internationalen gezogenen Lehren für ihre eigenen Klasseninteressen darstellen, unternahm die Bourgeoisie in Erwiderung auf die Enthüllungen des Haager Kongresses alles, um diese Bemühungen zu diskreditieren. Die bürgerliche Presse und bürgerliche Politiker erklärten, daß der Kampf gegen den Bakunismus nicht ein Kampf ums Prinzip, sondern ein schmutziger Machtkampf innerhalb der Internationalen gewesen sei. Demnach ging es Marx nur darum, seinen Rivalen Bakunin durch eine Lügenkampagne auszuschalten. Mit anderen Worten, die Bourgeoisie versuchte die Arbeiterklasse davon zu überzeugen, daß ihre Organisationen auf genau dieselbe Weise funktionierten und somit nicht besser seien als jene der Ausbeuter. Die Tatsache, daß die große Mehrheit der Internationalen Marx unterstützte, wurde dem ''Triumph des Autoritätsglaubens'' in ihren Reihen und der angeblichen Neigung ihrer Mitglieder zugeschrieben, überall Feinde der Assoziation lauern zu sehen. Die Bakunisten und die Lassalleaner verbreiteten Gerüchte, wonach Marx selbst ein Agent Bismarcks gewesen sei.

Wie wir wissen, sind dies exakt dieselben Beschuldigungen, die heute von der Bourgeoisie, durch den politischen Parasitismus, gegen die IKS erhoben werden.

Solche Verunglimpfungen seitens der Bourgeoisie, verbreitet vom politischen Parasitismus, sind eine unvermeidliche Begleiterscheinung jedes proletarischen Organisationskampfes. Weitaus ernster und gefährlich ist es, wenn solche Verunglimpfungen ein gewisses Echo innerhalb des revolutionären Lagers selbst erzeugen. Dies war bei Franz Mehrings Biographie von Marx der Fall. In diesem Buch erklärte Mehring, der dem erklärten linken Flügel der Zweiten Internationalen angehörte, daß die Broschüre des Haager Kongresses über die Allianz ''unentschuldbar'' und ''der Internationalen unwürdig'' gewesen sei. In seinem Buch verteidigte Mehring nicht nur Bakunin, sondern auch Lassalle und Schweitzer gegen die von Marx und den Marxisten erhobenen Anschuldigungen. Die von Mehring gegen Marx erhobene Hauptbeschuldigung war, daß er in seinen Schriften gegen Bakunin die marxistische Methode verworfen habe. Während Marx in all seinen anderen Werken immer von einer materialistischen Klassenanalyse der Ereignisse ausging, versuchte er in seiner Analyse der Allianz Bakunins, so Mehring, das Problem mit der Persönlichkeit und den Handlungen einer kleinen Zahl von Individuen, den Führern der Allianz, zu erklären. Mit anderen Worten, er beschuldigte Marx, anstelle einer Klassenanalyse einer personalisierten, verschwörerischen Sichtweise zu verfallen. Gefangen in dieser Sichtweise, war Marx, so Mehring weiter, gezwungen, die Fehler und Sabotage von Bakunin, aber auch der Führer des Lassalleanismus in Deutschland stark überzubetonen.

Tatsächlich erklärte Mehring, nachdem er sich ''aus Prinzip'' weigerte, das Material zu untersuchen, welches Marx und Engels über Bakunin präsentierten:

''Was ihren sonstigen polemischen Schriften den eigentümlichen Reiz und den dauernden Wert verleiht, die positive Seite der neuen Erkenntnis, die durch die negative Kritik entbunden wird, das fehlt dieser Schrift vollständig.''

Auch hier wird dieselbe Kritik heute innerhalb des revolutionären Milieus gegenüber der IKS erhoben. Mit unserer Antwort auf diese Kritik werden wir jetzt demonstrieren, daß die Position von Marx gegen Bakunin doch auf einer materialistischen Klassenanalyse basierte. Es handelte sich dabei um die Analyse des politischen Abenteurertums und der Rolle der Deklassierten. Es ist diese ungeheuer wichtige ''neue Erkenntnis von dauerndem Wert'', welche Mehring und mit ihm die Mehrheit der gegenwärtigen revolutionären Gruppen vollkommen übersehen oder mißverstanden haben.

(Mehring: Karl Marx, Geschichte seines Lebens, S. 500)

Die Deklassierten: Feinde der proletarischen Organisationen

Im Gegensatz zu dem, was Mehring glaubte, schuf die Erste Internationale in der Tat eine Klassenanalyse der Ursprünge und der sozialen Grundlage von Bakunins Allianz.

''Ihre Gründer und die Vertreter der Arbeiterorganisationen beider Welten, die auf den internationalen Kongressen die Allgemeinen Statuten der Assoziation sanktionierten, vergaßen, daß gerade die Weite ihres Programms selbst den Deklassierten erlauben würde, sich einzuschleichen und im Schoße der Assoziation geheime Organisationen zu bilden, deren Tätigkeit sich nicht gegen die Bourgeoisie und die bestehenden Regierungen, sondern sich gegen die Internationale selbst richten würde. Dies war der Fall mit der Allianz der Sozialistischen Demokratie''

Die Schlußfolgerung desselben Dokuments faßt die Hauptaspekte des politischen Programms Bakunins in vier Punkten zusammen, von denen zwei erneut die entscheidende Rolle der Deklassierten unterstreichen.

''1. Alle Scheußlichkeiten, in denen sich nun einmal, wie durch Schicksalsschluß, das Leben der Deklassierten der höheren gesellschaftlichen Schichten bewegt, werden als ebenso viele ultrarevolutionäre Tugenden gepriesen".

''4. An die Stelle des ökonomischen und politischen Kampfes der Arbeiter um ihre Emanzipation treten die allzerstörenden Taten des Zuchthausgesindels, als der höchsten Verkörperung der Revolution. Mit einem Worte, man muß das bei den 'Revolutionen nach dem klassischen Muster des Westens' von den Arbeitern selbst niedergehaltene Lumpentum loslassen und so aus eigenem Antrieb den Reaktionen eine wohldisziplinierte Bande von Agents provocateurs zur Verfügung stellen" (ebenda, S. 440).

''Die vom Haager Kongreß gegen die Allianz gefaßten Beschlüsse waren daher reine Handlungen der Pflicht, er konnte nicht die Internationale, diese große Schöpfung des Proletariats, in den Fallstricken des Auswurfs der Ausbeuterklassen sich verfangen lassen" (ebenda, S. 441).

Mit anderen Worten, die soziale Basis der Allianz bestand aus dem Gesindel der herrschenden Klassen, den Deklassierten, die das Gesindel der Arbeiterklasse, das Lumpenproletariat, für seine Intrigen gegen kommunistische Organisationen zu mobilisieren versuchte.

Bakunin war selbst die Verkörperung des deklassierten Aristokraten.

''.... nachdem er sich in seiner Jugend all die Unarten des kaiserlichen Offiziers der Vergangenheit (er war Offizier) angeeignet hat, wendete er all die schlechten Instinkte seiner tartarischen und adligen Herkunft auf die Revolution an. Diese Art eines tartarischen Adligen ist gut bekannt. Es war ein wahres Austoben übler Leidenschaften: ihre Diener schlagend, prügelnd und quälend, Frauen vergewaltigend, von einem Tag zum nächsten betrunken, mit barbarischer Raffinesse all die Formen der jämmerlichsten Erniedrigung der menschlichen Natur und Würde ausheckend - so war das aufregende und revolutionäre Leben jener Adligen. Nun, wendete der Tartar Horostratus nicht, aus Mangel an feudalen Sklaven, all seine niederen Instinkte, all die üblen Leidenschaften seiner Brüder auf die Revolution an''

Genau diese Anziehungskraft zwischen dem Abschaum der höheren und der niederen Klassen erklärt die Faszination des kriminellen Milieus und des Lumpenproletariats auf Bakunin, dem deklassierten Aristokraten.. Der ''Theoretiker'' Bakunin brauchte die kriminellen Energien der Unterwelt, des Lumpenproletariats, um sein Programm auszuführen. Diese Rolle wurde in Rußland von Netschajew übernommen, der in die Praxis umsetzte, was Bakunin predigte, indem er die Mitglieder seines Komitees erpreßte und jene, die letzteres zu verlassen versuchten, hinrichtete. Bakunin zögerte nicht, diese Allianz des deklassierten ''erhabenen Menschen'' und des Kriminellen zu theoretisieren.

''Das Räubertum ist eine der ehrenvollsten Formen des russischen Volkslebens. Der Räuber ist der Held, der Schirmer und Rächer des Volkes, der unversöhnliche Feind des Staates und jeder vom Staat gegründeten gesellschaftlichen und bürgerlichen Ordnung, der Kämpfer auf Tod und Leben gegen diese ganze Zivilisation der Beamten, Edelleute, Priester und der Krone.... Wer das Räubertum nicht versteht, hat nie von der russischen Volksgeschichte das Geringste verstanden. Wem das Räubertum nicht sympathisch ist, der kann auch nicht mit dem Volksleben sympathisieren und hat kein Herz für die hundertjährigen und unermeßlichen, langanhaltenden Leiden des Volkes; er gehört ins Lager der Feinde, der Parteigänger des Staats" (Ein Komplott gegen die IAA, MEW, Bd. 18, S. 401)

(Bericht von Utin an den Haager Kongreß, Minutes and Documents, S. 448)
Der Bericht ist unterzeichnet von den Mitgliedern der Kongreßkommission, die die Allianz untersuchte: Dupont, Engels, Fränkel, Le Moussu, Marx, Seraillier.
Und die Schlußfolgerung fügt hinzu:
(''Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiter-Assoziation, veröffentlicht im Auftrag des Haager Kongreß, Einleitung''; in MEW Bd. 18, S. 331)

Die Deklassierten in der Politik: Brutplatz für Provokationen

Das Hauptmotiv solch deklassierter Elemente, in die Politik einzusteigen, ist nicht ihre Identifizierung mit der Sache der Arbeiterklasse oder Begeisterung für ihr Ziel, den Kommunismus, sondern ein glühender Haß und Rachegelüste der Entwurzelten gegen die Gesellschaft. In seinem ''Revolutionären Katechismus'' erklärt Bakunin:

''Er ist kein Revolutionär, wenn er noch an irgend etwas in dieser Welt hängt. Er darf nicht zurückbeben, wo es sich darum handelt, irgend jener alten Welt angehöriges Band zu zerreißen, irgendeine Einrichtung oder irgendeinen Menschen zu vernichten. Er muß alles und alle gleichmäßig hassen"

''Indem wir keine andere Tätigkeit als die der Zerstörung zulassen, erkennen wir an, daß die Form, in der sich diese Tätigkeit äußern muß, eine höchst mannigfaltige sein kann: Gift, Dolch, Strick etc. Die Revolution heiligt alles ohne Unterschied.''

Überflüssig zu sagen, daß solch eine Mentalität, solch ein soziales Milieu eine wahre Brutstätte für politische Provokationen ist. Auch wenn die Provokateure, Polizeispitzel und politischen Abenteurer, diese gefährlichsten Feinde der proletarischen Organisationen, von den herrschenden Klassen beschäftigt werden, so sind sie dennoch spontan durch den Prozeß der Deklassierung produziert worden, der vor allem im Kapitalismus vonstatten geht. Ein paar kurze Auszüge aus Bakunins ''Revolutionärem Katechismus'' reichen aus, um diesen Punkt zu veranschaulichen.

§ 10 rät dem ''wahren Militanten'', seine Genossen auszubeuten.

''Jeder Revolutionsgenosse sollte mehrere Revolutionäre zweiter oder dritter Ordnung, d.h. solche, die noch nicht vollständig eingeweiht sind, in seiner Hand haben. Er muß dieselben als einen seiner Verfügung anvertrauten Teil des allgemeinen revolutionären Kapitals betrachten. Er muß ökonomisch mit seinem Kapitalanteil wirtschaften und möglichst großen Nutzen aus demselben herausschlagen" (ebenda, S. 428).

§ 18 stellt vor, wie man von den Reichen lebt.

''Man muß sie auf alle mögliche Art ausbeuten, man muß sie umgarnen und verwirren, und, indem man sich zum Herrn ihrer schmutzigen Geheimnisse macht, sie zu unseren Sklaven machen. Auf diese Weise werden ihre Macht, ihre Verbindungen, ihr Einfluß und ihr Reichtum zu einem unerschöpflichen Schatze und zu einer kostbaren Hülfe bei mannigfaltigen Unternehmungen." (ebenda, S. 430).

§ 19 schlägt die Infiltration der Liberalen und anderer Parteien vor.

''Mit diesen kann man nach ihrem eigenen Programm konspirieren, indem man tut, als ob man ihnen blindlings folge. Man muß sie in unsere Hand bringen, sich ihrer Geheimnisse bemächtigen, sie vollständig kompromittieren, so daß ihnen der Rückzug unmöglich wird, und sich ihrer zur Herbeiführung von Unruhen im Staate bedienen" (S. 430).

§ 20 spricht sicherlich für sich.

''Die fünfte Kategorie bilden die Doktrinäre, Verschwörer, Revolutionäre, all diejenigen, welche in Versammlungen oder auf dem Papier Geschwätz machen. Man muß sie unaufhörlich zu praktischen und gefahrvollen Kundgebungen treiben und fortreißen, deren Erfolg sein wird, daß der größte Teil von ihnen verschwindet, während einige darunter sich zu echten Revolutionären entwickeln."

§ 21: ''Die sechste Kategorie ist von großer Bedeutung - es sind die Frauen, die in drei Klassen einzuteilen sind: Zur ersten gehören die oberflächlichen Frauen, ohne Geist und Herz, deren man sich in derselben Weise bedienen muß, wie der Männer der dritten und vierten Kategorie. Zur zweiten Klasse gehören die leidenschaftlichen, hingebenden und befähigten Frauen, die jedoch nicht zu uns gehören, weil sie noch nicht zum praktischen und phrasenlosen revolutionären Verständnis emporgedrungen sind; man muß sie benutzen wie die Männer der fünften Kategorie. Endlich kommen die Frauen, die ganz und gar zu uns gehören, das heißt, die vollständig eingeweiht sind und unser gesamtes Programm angenommen haben. Sie müssen wir als den kostbarsten unserer Schätze betrachten, ohne dessen Beistand wir nichts auszurichten vermögen." (S. 430)

Was ins Auge sticht, ist die Ähnlichkeit zwischen den Methoden, die von Bakunin und jenen entwickelt wurden, die in den heutigen religiösen Sekten heimisch sind, welche, obgleich vom Staat dominiert, üblicherweise um deklassierte Abenteurer herum gegründet sind. Wie wir in den vorherigen Artikeln gesehen haben, entsprach das Bakuninsche Organisationsmodell dem der Freimaurerei, dem Vorläufer des modernen Phänomens religiöser Sekten.

(Bakunin: Die Prinzipien der Revolution, in Komplott, MEW, Bd. 18, S. 403)
(in Komplott, MEW Bd. 18, S. 429). Der deklassierte Pseudo-Revolutionär, der bar jeder Bande der Loyalität zu irgendeiner Gesellschaftsklasse ist und an keine gesellschaftliche Perspektive außer sein eigenes Fortkommen glaubt, wird nicht von dem Ziel einer künftigen, fortschrittlicheren Gesellschaftsform angetrieben, sondern von einem nihilistischen Zerstörungszwang.

Eine fürchterliche Waffe gegen die Arbeiterbewegung

Die Aktivitäten deklassierter politischer Abenteurer sind für die Arbeiterbewegung besonders gefährlich. Proletarische revolutionäre Organisationen können nur auf der Grundlage eines tiefen gegenseitigen Vertrauens unter den Militanten und den Gruppen des kommunistischen Milieus angemessen existieren und funktionieren. Der Erfolg des politischen Parasitismus im allgemeinen und des Abenteurertums im besonderen hängt genau im Gegensatz dazu von der Fähigkeit ab, das gegenseitige Vertrauen zu untergraben, indem die politischen Verhaltensregeln zerstört werden, worauf es basiert.

In einem Brief an Netschajew, datiert vom Juni 1870, enthüllt Bakunin offen seine Absichten gegenüber der Internationalen. ''Die Gesellschaften, deren Ziele den unsrigen nahestehen, müssen wohl oder übel dahin gebracht werden, sich mit ihr zu vereinigen, oder ihr zumindest untergeordnet sein, ohne daß sie es ahnen, und wobei man aus ihrer Mitte alle unzuverlässigen Elemente entfernt; die feindlichen und eigentlich unheilvollen Gesellschaften müssen zerstört werden; schließlich muß die Regierung endgültig beseitigt werden. Nur durch die Verbreitung der Wahrheit allein wird dies alles nicht erreicht werden; ohne die List, die Gerissenheit, die Lüge wird man nicht auskommen". (S. 84). Einer dieser klassischen ''Tricks'' besteht darin, die Arbeiterorganisationen zu beschuldigen, sich der gleichen Methoden wie die Abenteurer selbst zu bedienen. So behauptet Bakunin in seinem ''Brief an die Brüder in Spanien'', daß die Resolution der Londoner Konferenz von 1872 gegen Geheimgesellschaften, die insbesondere gegen die Allianz gerichtet war, von der Internationalen nur angenommen worden sei, ''um den Weg für ihre eigene Verschwörung freizumachen, für die Geheimgesellschaft, die seit 1848, gegründet von Marx, Engels und dem verstorbenen Wolff, unter der Führung von Marx existiert hat, und die nichts anderes ist als die fast ausschließlich deutsche Gesellschaft der autoritären Kommunisten (...) Man muß feststellen, daß der Kampf, der inmitten der Internationalen ausgebrochen ist, nichts anderes ist als ein Kampf zwischen zwei Geheimgesellschaften.'' In der deutschsprachigen Ausgabe gibt es eine Fußnote vom anarchistischen Historiker Max Nettlau, einem glühenden Verehrer Bakunins, in der dieser einräumt, daß diese Anschuldigungen gegen Marx völlig haltlos sind (Bakunin: Gott und der Staat...., S.216-218) Siehe auch Bakunins antisemitische Rapports personnels avec Marx, in denen der Marxismus als Teil einer jüdischen, eng mit der Rothschild-Familie verknüpften Verschwörung dargestellt wird, und auf die wir in unserem Artikel ''Marxismus gegen Freimaurerei'' (Internationale Revue Nr. 19) hingewiesen haben.

Das Ziel des Bakunismus heißt Bakunin

Die von Bakunin angewandten Methoden waren jene des deklassierten Pöbels. Aber welchem Ziel dienten sie?

Das einzige politische Interesse Bakunins galt - Bakunin. Er trat der Arbeiterbewegung bei, um sein eigenes persönliches Vorhaben zu verfolgen.

Die Internationale war sich darüber völlig im klaren. Der erste Haupttext des Generalrats über die Allianz, das interne Rundschreiben über die Angeblichen Spaltungen in der Internationalen erklärte bereits, daß es Bakunins Ziel sei, ''den Generalrat durch seine eigene persönliche Diktatur zu ersetzen''. Der Bericht des Kongresses über die Allianz entwickelt dieses Thema weiter.

''Die Internationale war schon fest gegründet, als Bakunin sich in den Kopf setzte, eine Rolle als Emanzipator des Proletariats zu spielen (...) Um sich als Haupt der Internationalen zur Geltung zu bringen, mußte er als Haupt einer anderen Armee dastehen, deren absolute Ergebenheit gegen seine Person ihm durch eine geheime Organisation gesichert war. Hatte er seine Gesellschaft einmal offen in die Internationale eingepflanzt, dann rechnete er darauf, jene in alle Sektionen zu verzweigen und sich hierdurch deren absolute Leitung zu verschaffen" (Ein Komplott, Bd. 18, S. 337).

''... ein schlimmes Ding ist, seine Tätigkeit in einem fremden Lande auszuüben. Ich habe dies nur zu sehr erprobt in den Revolutionsjahren; weder in Frankreich noch in Deutschland habe ich Wurzeln schlagen können. Und so widme ich auch ferner der fortschrittlichen Bewegung der gesamten Welt meine glühende Sympathie; um jedoch den Rest meines Lebens nicht zu vergeuden, muß ich von jetzt an meine direkte Tätigkeit auf Rußland, Polen und die Slawen beschränken.

(Bakunin: An die russischen, polnischen und alle slawischen Freunde, MEW, Bd. 18, S. 445)

Hier wird deutlich, daß Bakunins Motiv für seinen Richtungswechsel nicht das Gute der Sache war, sondern das Problem, ''einen sicheren Halt zu gewinnen'': das erste Kennzeichen eines politischen Abenteurers.

Dieses persönliche Vorhaben existierte, lange bevor Bakunin an einen Eintritt in die Internationale dachte. Als Bakunin aus Sibirien flüchtete und 1861 nach London kam, zog er eine negative Bilanz seines ersten Versuches, sich während der Revolutionen von 1848-49 in den westeuropäischen revolutionären Zirkeln zu etablieren.

Bakunins Versuch, die herrschenden Klassen für seine persönlichen Ambitionen zu gewinnen

Folgender Text ist auch bekannt als Bakunins Panslawisches Manifest.

''Man sagt, daß der Kaiser Nikolaus selbst kurz vor seinem Tode, als er sich anschickte, Österreich den Krieg zu erklären, alle österreichischen und türkischen Slawen, die Ungarn und die Italiener zum allgemeinen Aufstand aufrief. Er selbst hatte den orientalischen Krieg gegen sich heraufbeschworen und, um sich zu verteidigen, hätte er sich fast aus einem despotischen Kaiser in einen revolutionären verwandeln mögen''

In seinem Pamphlet 'Die Angelegenheit des Volkes' von 1862 erklärte Bakunin zur Rolle des zeitgenössischen Zaren Alexander II., daß ''er es ist, er allein, der in Rußland, ohne ein Tropfen Bluts zu vergießen, die bedeutendste und wohltätigste Revolution durchführen könnte. Er kann es noch jetzt (...) Die Bewegung des nach tausendjährigem Schlafe erwachten Volkes aufzuhalten, ist unmöglich. Aber stellte sich der Zar kühn und entschlossen an die Spitze der Bewegung, dann hätte seine Macht für das Wohl und den Ruhm Rußlands keine Grenzen" (ebenda, S. 449). In diesem Stil fortfahrend, ruft Bakunin den Zaren dazu auf, in Westeuropa einzufallen.

''Es ist Zeit, daß die Deutschen nach Deutschland abziehen. Wenn der Zar begriffen hätte, daß er von nun an sich nicht mehr das Haupt einer Zwangs-Zentralisation, sondern das einer freien Föderation freier Völker sein müßte, gestützt auf eine feste und neugekräftigte Macht, im Bündnis mit Polen und der Ukraine, daß er alle sosehr verabscheuten deutschen Bündnisse lösen und kühn das panslawistische Banner erheben müßte - er würde der Heiland der slawischen Welt."

''Der Pan-Slawismus ist eine Erfindung des Petersburger Kabinetts und hat keinen anderen Zweck als den, die europäischen Grenzen Rußlands nach Westen und Süden vorzuschieben. Da man aber nicht wagt, den österreichischen, preußischen und türkischen Slawen ihren Beruf anzukündigen, im großen russischen Reich aufzugehen, stellt man ihnen Rußland als die Macht dar, welche sie vom fremden Joch befreien und in einer großen freien Föderation vereinigen wird.''

Was jedoch, abgesehen von seinem wohlbekannten Haß gegen Deutsche, veranlaßte ihn, so offen die Hauptbastion der Konterrevolution in ganz Europa, die Moskowiter Autokratie, zu unterstützten? In Wahrheit versuchte Bakunin, die Unterstützung des Zaren für seine eigenen politischen Ambitionen in Westeuropa zu erlangen. Das radikale politische Milieu im Westen war durchsetzt mit zaristischen Agenten, Gruppen und Zeitungen, die den Pan-Slawismus und andere pseudorevolutionäre Themen in den Vordergrund rückten. Der russische Hof hatte seine Agenten und Sympathisanten in den einflußreichsten Positionen, wie das Beispiel von Lord Palmerston, Großbritanniens mächtigstem Politiker seinerzeit, veranschaulicht. Natürlich wäre Moskaus Protektion für die Verwirklichung von Bakunins persönlichen Ambitionen von unschätzbarem Wert gewesen.

Bakunin hoffte, den Zar dazu zu überreden, seiner Innenpolitik durch die Einberufung einer Nationalversammlung einen revolutionär-demokratischen Anstrich zu verleihen, was es Bakunin erlauben würde, die polnischen und anderen radikalen und Emigrantenbewegungen im Westen als Rußlands ultralinkes trojanisches Pferd in Westeuropa zu organisieren.

''Leider hielt es der Zar nicht für angemessen, die Nationalversammlung einzuberufen, für welche Bakunin in dieser Broschüre bereits seine Kandidatur aufstellte. Er hatte also dieses sein Wahlmanifest und seine Kniebeugungen vor Romanow weggeworfen. Schmählich in seinem unschuldsvollen Vertrauen getäuscht, blieb ihm nichts weiter übrig, als sich kopfüber in die pan-destruktive Anarchie zu stürzen.''

Vom Zarismus enttäuscht, aber unbeirrt auf der Jagd nach der persönlichen Führung über die revolutionäre Bewegung Europas, strebte Bakunin Mitte der 1860er Jahre in Italien zur Freimaurerei hin, indem er selbst etliche Geheimgesellschaften gründete (siehe Internationale Revue Nr. 18). Mittels dieser Methoden infiltrierte Bakunin zunächst die bürgerliche Liga für Frieden und Freiheit, die er ''auf einer Stufe'' mit der Internationalen zu vereinen suchte (siehe Internationale Revue Nr. 19). Als auch dies mißlang, infiltrierte er die Internationale und versuchte, sie über seine geheime Allianz zu übernehmen. Für dieses Vorhaben, die Zerstörung der weltweiten politischen Organisation der Arbeiterklasse, fand Bakunin schließlich die großherzige Unterstützung der herrschenden Klassen.

''Die ganze liberale und Polizeipresse hat offen ihre Partei ergriffen; sie sind in ihren persönlichen Schmähungen gegen den Generalrat und ihren matten Angriffen gegen die Internationale von den Weltverbessern aller Länder unterstützt worden.''

(ebenda, S. 360)
(ebenda, S. 454)
(ebenda, S. 446)
(ebenda, S. 452). Die Internationale kommentierte dies folgendermaßen.
(Komplott, Bd. 18, S. 446).

Untreue gegenüber allen Klassen, Haß gegen die Gesellschaft

Auch wenn er nach ihrer Unterstützung trachtete, war Bakunin nicht einfach nur ein Agent des Zarismus, der Freimaurerei, der Friedensliga oder der westlichen Polizeipresse. Als ein wahrhaft Deklassierter hatte Bakunin gegenüber den herrschenden Klassen nicht mehr Sinn für Loyalität als gegenüber den ausgebeuteten Klassen der Gesellschaft. Im Gegenteil, sein Ziel war es, die Arbeiter- und die herrschenden Klassen gleichermaßen zu täuschen und zu manipulieren, um seine persönlichen Ambitionen zu verwirklichen und an der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit Revanche zu nehmen. Daher benutzten die herrschenden Klassen, wohl wissend um diese Tatsache, Bakunin, wann immer es angebracht war, aber vertrauten ihm niemals und überließen ihn mit größtem Vergnügen seinem Schicksal, sobald sein Nutzen ausgedient hatte. Sobald Bakunin öffentlich von der Internationalen entlarvt worden war, war seine politische Karriere beendet.

Bakunin verspürte einen echten, glühenden Haß gegen die herrschenden feudalen und kapitalistischen Klassen. Da er jedoch die Arbeiterklasse noch mehr haßte und sie im allgemeinen verachtete, sah er die Revolution oder einen gesellschaftlichen Wechsel als Aufgabe einer kleinen, aber entschlossenen Elite von skrupellosen Deklassierten unter seiner persönlichen Führung an. Diese Vision einer gesellschaftlichen Umwandlung war notwendigerweise eine phantastische, mystische Absurdität, denn sie stammte nicht aus irgendeiner Klasse, die in der gesellschaftlichen Realität solide verankert ist, sondern aus der rachsüchtigen Phantasie eines Außenseiters.

Vor allen Dingen glaubte Bakunin wie alle politischen Abenteurer an einen Wandel der Gesellschaft nicht durch Klassenkampf, sondern mittels der manipulierbaren Fertigkeiten einer revolutionären Bruderschaft.

''Die wahre Revolution braucht keine Individuen, die sich an die Spitze der Masse stellen und sie kommandieren, sondern Männer, die, unsichtbar in ihrer Mitte verborgen, die unsichtbare Verbindung einer Masse mit der andern ausmachen und so der Bewegung unsichtbar eine und dieselbe Richtung, einen und denselben Geist und Charakter geben. Die vorbereitende geheime Organisation hat nur diesen Sinn, und einzig und allein hierzu ist sie notwendig"

Daher bestand das politische Vorhaben der Allianz darin, nicht nur die Internationale, sondern auch die Organisationen der herrschenden Klasse zu infiltrieren und zu übernehmen.

So teilt uns § 14 des revolutionären Katechismus Bakunins mit: ''Ein Revolutionär muß sich überall Eingang verschaffen, in der höheren Gesellschaft wie beim Mittelstand, im Kaufmannsladen, in der Kirche, im aristokratischen Palast, in der bürokratischen, militärischen und literarischen Welt, in der dritten Sektion (geheime Polizei) und selbst im kaiserlichen Palast.'' (ebenda, S. 429)

Die Geheimstatuten der Allianz erklären:

''Alle internationalen Brüder kennen einander. Kein politisches Geheimnis darf je unter ihnen existieren. Niemand kann irgendeiner geheimen Gesellschaft angehören ohne positive Zustimmung seines Komitees oder im Notfall, wenn dieses es verlangt, ohne die des Zentralkomitees; und er kann ihr nur unter der Bedingung angehören, daß er diesen Komitees alle Geheimnisse aufdeckt, welche sie direkt oder indirekt interessieren könnten."

Der Bericht der Kommission des Haager Kongresses kommentiert diese Passage wie folgt:

''Die Pietris und Stiebers verwenden nur untergeordnete und verlorene Leute als Spione, die Allianz aber, indem sie ihre falschen Brüder in die Geheimgesellschaften schickt, um deren Geheimnisse zu verraten, überträgt die Rolle des Spions denselben Männern, welche nach ihrem Plan die Leitung der 'allgemeinen Revolution' übernehmen sollen.''

(ebenda, S.338)
(MEW Bd. 18, Ein Komplott gegen die IAA, S.456)
(ebenda, S. 402). Solch eine Vision war nicht neu, sondern wurde bereits seit den Zeiten der Französischen Revolution innerhalb der ''Illuminaten'', einer Verzweigung der Freimaurerei, kultiviert, die sich später darauf spezialisierten, die Arbeiterbewegung zu infiltrieren. Bakunin teilte dieselbe abenteuerliche Idee einer politischen und vor allem total anarchischen persönlichen ''Befreiung'' durch eine machiavellistische Politik der Infiltration, in der die verschiedenen Gesellschaftsklassen gegeneinander ausgespielt werden.

Das Wesen des politischen Abenteurertums

In ihrer gesamten Geschichte ist die Arbeiterbewegung von kleinbürgerlichen Reformisten und Opportunisten und manchmal von schamlosen Karrieristen heimgesucht worden, die nicht an die Bedeutung und Zukunft der Arbeiterbewegung glaubten und sich nicht um sie scherten. Im Gegensatz dazu ist der politische Abenteurer überzeugt davon, daß die Arbeiterbewegung von historischer Bedeutung ist. In diesem Punkt stimmt der Abenteurer mit dem Marxisten überein. Genau aus diesem Grund treten die Abenteurer der Arbeiterbewegung bei. Ein Abenteurer wird weder von der grauen Langeweile des Reformismus noch von der Mittelmäßigkeit eines guten Jobs angezogen. Im Gegenteil, er ist entschlossen, eine historische Rolle zu spielen. Diese große Ambition unterscheidet den Abenteurer vom kleinbürgerlichen Karrieristen und Opportunisten.

Während Revolutionäre in die Arbeiterbewegung eintreten, um ihr zu helfen, ihre historische Mission zu erfüllen, tritt der Abenteurer ihr bei, um die Arbeiterbewegung dazu zu bringen, seiner eigenen ''historischen'' Mission zu dienen. Dies ist es, was den Abenteurer deutlich vom proletarischen Revolutionär unterscheidet. Der Abenteurer ist nicht revolutionärer als der Karrierist oder der kleinbürgerliche Reformer. Der Unterschied besteht nur darin, daß der Abenteurer einen Blick für die historische Bedeutung der Arbeiterbewegung hat. Er verhält sich jedoch ihr gegenüber auf eine völlig parasitäre Weise.

Der Abenteurer ist im allgemeinen ein Deklassierter. Es gibt viele solche Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, Menschen, die mit großen Zielen und einer immensen Portion Überschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten ausgestattet sind, aber völlig unfähig sind, ihre hochfliegenden Ambitionen innerhalb der herrschenden Klasse zu verwirklichen. Voller Bitterkeit und Zynismus gleiten solche Menschen häufig ins Lumpenproletariat ab, indem sie die Existenz von Bohemiens oder Kriminellen fristen. Andere geben für den Staat eine ideale Arbeitskraft als Informanten und Agents provocateurs ab. Aber in dieser Masse gibt es ein paar Ausnahmen, Individuen mit der politischen Gabe zu erkennen, daß die Arbeiterbewegung ihnen eine zweite Chance gibt. Sie können sie als Sprungbrett zu Ruhm und Ehren benutzen, um so an der herrschenden Klasse Rache zu nehmen, die in Wahrheit das Objekt ihrer Bemühungen und Ambitionen ist. Solche Menschen sind voller Groll wegen des Versagens der Gesellschaft insgesamt, ihr angebliches Genie zu erkennen. Gleichzeitig sind sie nicht vom Marxismus oder von der Arbeiterbewegung fasziniert, sondern von der Macht der herrschenden Klasse und ihren Manipulationsmethoden.

Das Verhalten des Abenteurers ist bestimmt durch die Tatsache, daß er nicht das Ziel der Bewegung, der er beigetreten ist, teilt. Sein wirkliches, persönliches Vorhaben muß er folglich vor der Bewegung verbergen. Nur seinen engsten Jüngern ist es vergönnt, eine Ahnung von seinem wirklichen Verhalten gegenüber der Bewegung zu haben.

Wie wir im Falle Bakunins gesehen haben, gibt es eine den politischen Abenteurern innewohnende Tendenz, insgeheim mit der herrschenden Klasse zu kollaborieren. Tatsächlich gehören solche Kollaborationen zum eigentlichen Wesen des Abenteurertums. Wie sonst sollte der Abenteurer seine ''historische Rolle'' erlangen können? Wie sonst könnte er sich selbst gegenüber der Klasse beweisen, von der er sich abgelehnt oder ignoriert fühlt? In der Tat kann nur die Bourgeoisie die Bewunderung und Aufmerksamkeit schenken, nach der der Abenteurer dürstet und die die Arbeiter ihm nicht zu geben gedenken.

Einige der bekanntesten Abenteurer in der Arbeiterbewegung, wie Malinowski, waren auch Polizeiagenten. Aber im allgemeinen arbeiteten Abenteurer nicht direkt für den Staat, sondern für sich selbst. Als die Bolschewiki die Akten der politischen Polizei Rußlands, der Okrana, öffneten, fanden sie Beweise dafür, daß Malinowski ein Polizeiagent war. Hinsichtlich Bakunin wurden jedoch keine solchen Beweise gefunden. Marx und Engels beschuldigten weder Bakunin noch Lassalle, bezahlte Agenten zu sein. Und bis heute gibt es keinen Beweis dafür, daß sie es waren.

Aber wie schon Marx und Engels aufzeigten: Die Gefahr, die vom politischen Abenteurer für proletarische Organisationen ausgeht, ist nicht geringer, sondern größer als die eines gemeinen Polizeispitzels. So wurden innerhalb der Internationalen entlarvte Agenten ohne irgendwelche Störungen für die Arbeit schnell ausgeschlossen und denunziert, während die Enthüllung der Aktivitäten Bakunins einige Jahre kostete und die eigentliche Existenz der Organisation bedrohte. Es ist für Kommunisten nicht schwer zu begreifen, daß ein Polizeiinformant ihr Feind ist. Der Abenteurer dagegen wird, falls er auf eigene Rechnung gearbeitet hat, stets vom kleinbürgerlichen Sentimentalismus verteidigt werden, wie im traurigen Fall Mehrings.

Die Geschichte zeigt, wie gefährlich solche Sentimentalitäten sind. Während solche Leute wie Bakunin, Lassalle, oder die ''Nationalbolschewisten'' um Laufenberg und Wolfheim Ende des I. Weltkrieges in Hamburg geheime Abmachungen mit der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterbewegung trafen, traten viele andere ''große'' Abenteurer wie Parvus, Mussolini, Pilsudski, Stalin und andere zur Bourgeoisie über.

Abenteurertum und marxistische Bewegung

Lange vor der Gründung der ersten Internationalen hatte die marxistische Bewegung eine umfangreiche Analyse des Abenteurertums als Phänomen der herrschenden Klasse entwickelt. Diese Analyse wurden vor allem in Bezug auf Louis Bonaparte, dem ''Kaiser'' Frankreichs in den 1850/60er Jahren, angefertigt. In der Auseinandersetzung mit Bakunin entwickelte der Marxismus alle wesentlichen Elemente solch eines Phänomens innerhalb der Arbeiterbewegung, ohne jedoch diese Terminologie zu verwenden. In der deutschen Arbeiterbewegung wurde das Konzept des Abenteurertums im Kampf gegen den lassalleanischen Führer Schweitzer entwickelt, der in Zusammenarbeit mit Bismarck daran arbeitete, die Spaltung innerhalb der Arbeiterpartei aufrechtzuerhalten. In den 1880er Jahren denunzierten Engels und andere Marxisten das politische Abenteurertum der Führung der sozialdemokratischen Föderation in Großbritannien und verglichen ihr Verhalten mit dem der Bakunisten. In jener Zeit eignete sich die Arbeiterbewegung insgesamt dieses Konzept an trotz der Existenz eines opportunistischen Widerstandes. In der trotzkistischen Bewegung vor dem II. Weltkrieg blieb es noch immer ein wichtiges Werkzeug zur Verteidigung der Organisation, indem es richtigerweise im Falle Moliniers und anderer angewandt wurde.

Heute, in der Phase des Zerfalls des Kapitalismus, unter der unaufhörlichen Beschleunigung des Prozesses der Deklassierung und Verlumpung sowie angesichts der Offensive der Bourgeoisie gegen das revolutionäre Milieu, besonders mittels des Parasitismus, ist es eine Frage von Tod oder Leben, die marxistische Auffassung vom Abenteurertum wiederherzustellen, zu vertreten und den Kampf gegen es zu erneuern. Kr.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Erste Internationale [1]

Deutsche Revolution, Teil IV

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4. Fraktion oder Partei?

Wir haben in den drei vorausgegangenen Artikeln aufgezeigt, dass die deutsche Arbeiterklasse das Kapital durch ihre Kämpfe zwang, den I. Weltkrieg zu beenden. Das Kapital unternahm alles, um eine weitere Ausdehnung der revolutionären Kämpfe zu verhindern, die deutsche Arbeiterklasse von der russischen zu isolieren und eine weitere Radikalisierung der Kämpfe zu sabotieren. Wir wollen in diesem Artikel rekapitulieren, wie sich die Revolutionäre in Deutschland in ihrer Reaktion auf den Verrat durch die Sozialdemokratie zur Frage des Aufbaus einer politischen Organisation verhielten.

Die Auslösung des I. Weltkrieges war nur möglich, weil sich ein Großteil der Parteien der II. Internationale den Interessen des nationalen Kapitals unterworfen hatte. Neben den Gewerkschaften, die, ohne zu zögern, einen Burgfrieden mit dem Kapital schlossen, war vor allem die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten die Voraussetzung dafür, dass die deutsche Bourgeoisie den Krieg anzetteln konnte. Die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Fraktion war keine Überraschung, sondern lediglich der krönende Abschluss eines Prozesses der opportunistischen Versumpfung der SPD. Schon in der Vorkriegszeit hatte der linke Flügel der SPD aufs Heftigste gegen diese Versumpfung angekämpft. Vom ersten Kriegstag an sammelten sich die Internationalisten unter dem Banner einer Gruppe, die sich kurze Zeit darauf „Spartakisten“ nannte. Sie bezeichneten es als ihre vorrangige Pflicht, den Internationalismus der Arbeiterklasse gegen den Verrat durch die SPD-Führung zu verteidigen. Und das hieß nicht nur, ihre Stellung gegen den Krieg zu propagieren, sondern auch und vor allem die Organisation der deutschen Arbeiterklasse, die SPD, gegen den Verrat ihrer Führung zu verteidigen. Nach dem Verrat der Parteiführung herrschte unter den Internationalisten Einstimmigkeit darüber, die Partei nicht kampflos den Verrätern zu überlassen. Alle arbeiteten darauf hin, die Partei zurückzuerobern. Niemand wollte freiwillig austreten, sondern konsequent die Fraktionsarbeit innerhalb der Partei fortsetzen, mit dem Ziel, die sozialpatriotische Parteiführung hinauszuwerfen.

Hochburg der Verräter waren die Gewerkschaften, die unwiderruflich in den Staat integriert worden waren. Hier gab es nichts wiederzuerobern. Die SPD dagegen war zwar ein Hort des Verrates, aber eben auch ein Ort des Widerstandes. Die Reichstagsfraktion selbst war von dieser Spaltung in Verräter und Internationalisten deutlich geprägt. Im Reichstag war bald deutlich eine Stimme gegen den Krieg zu hören, wenn auch nach einigem Zögern und unter großen Schwierigkeiten. Doch es war vor allem die Parteibasis, die den größten Widerstand gegen den Verrat entfaltete.

„Wir klagen die Reichstagsfraktion an, die bisherigen Parteigrundsätze und damit zugleich den Gedanken des Klassenkampfes verraten zu haben. Die Fraktion hat sich dadurch selbst außerhalb der Partei gestellt;; sie hat aufgehört, als die berechtigte Vertreterin der deutschen Sozialdemokratie betrachtet zu werden (...)!“ (Flugblatt der Opposition, ziziert nach R. Müller, „Vom Kaiserreich zur Republik“)

Konsens war, dass man den Verrätern nicht freiwillig die Organisation überlassen wollte. „Das bedeutet nicht, dass die sofortige Abspaltung von den Opportunisten in allen Ländern wünschenswert oder auch nur möglich wäre; das bedeutet, dass die Spaltung historisch herangereift, dass sie unvermeidlich geworden ist und einen Fortschritt darstellt, eine Notwendigkeit für den revolutionären Kampf des Proletariats, dass die geschichtliche Wendung vom ‚friedlichen‘ Kapitalismus zum Imperialismus zu einer solchen Spaltung treibt.“ (Lenin, „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale“)

Wir haben in einem früheren Artikel darauf hingewiesen, dass die Spartakisten und die Linksradikalen Bremens und anderer Städte beabsichtigten, ein Kräfteverhältnis zu entwickeln, das den sozialpatriotischen SPD-Vorstand in die Minderheit drängen würde. Doch wie sollte der organisatorische Bruch mit den Verrätern vollzogen werden? Es war klar, dass nicht beide, Internationalisten und Sozialpatrioten, auf Dauer in der gleichen Partei verbleiben konnten. Einer von beiden musste gehen. Tatsache war, dass der Vorstand durch den Widerstand der Spartakisten immer mehr in Bedrängnis geriet und die Partei immer unwilliger den Verrätern folgte. Dadurch waren die Sozialpatrioten im Vorstand gezwungen, die Flucht nach vorn anzutreten und gegen die Internationalisten in der Partei offensiv vorzugehen. Wie sollte man auf diese Offensive reagieren? Beim ersten Gegenangriff des Vorstandes die Tür zuschlagen, das Weite suchen und eine neue Organisation außerhalb der SPD aufbauen?

Nachdem die Sozialpatrioten begonnen hatten, die revolutionären Linken aus der SPD hinauszudrängen, zunächst aus der Parlamentsfraktion, dann aus der Partei selbst (so wurde Liebknecht bereits im Januar 1916 ausgeschlossen und im Frühjahr 1916 auch die Abgeordneten, die gegen die Kriegskredite gestimmt hatten, aus der Fraktion geworfen), stand die Frage im Raum: Bis zu welchem Punkt sollte um die alte Organisation gekämpft werden?

Hier schieden sich die Geister innerhalb der Linken. Die Haltung Rosa Luxemburgs war eindeutig:

„Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man ‚austreten‘, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen. Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen ‚Austritt‘ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen. Das Hinwerfen des Mitgliedsbuchs als Befreiungsillusion ist nur die auf den Kopf gestellte Verhimmelung des Parteibuchs als Machtillusion, beides nur die verschiedenen Pole des Organisationskretinismus (...) Der Zerfall der deutschen Sozialdemokratie ist ein geschichtlicher Prozess größter Dimensionen, eine Generalauseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, und von diesem Schlachtfeld drückt man sich nicht vor Ekel auf die Seite (...) Diesen Riesenkampf gilt es auszufechten bis zum Äußersten. An der tödlichen Schlinge der offiziellen deutschen Sozialdemokratie und der offiziellen freien Gewerkschaften, die die herrschende Klasse um den Hals der verirrten und verratenen Massen gelegt hat, gilt es zu zerren mit vereinten Kräften, bis sie zerreißt (...) Die Liquidierung des ‚Haufens organisierter Verwesung‘, der sich heute deutsche Sozialdemokratie nennt, ist nicht als Privatangelegenheit in den Entschluss einzelner oder vereinzelter Gruppen gegeben (...) sie muss als große öffentliche Machtfrage unter Aufbietung aller Kräfte ausgefochten werden“ (Der Kampf, Duisburg, 6. Januar 1917).

„Nicht Spaltung oder Einheit, nicht neue Partei oder alte Partei heißt die Parole, sondern Zurückeroberung der Parteien von unten durch Rebellion der Massen, die die Organisationen und ihre Mittel in eigene Hände nehmen müssen, nicht durch Worte, sondern durch Taten der Rebellion (...) Der Entscheidungskampf um die Partei hat begonnen.“ (Spartakusbriefe, 30. Juni 1914)

Die Fraktionsarbeit

Während Rosa Luxemburg auf einem möglichst langen Verbleiben in der SPD beharrte und am stärksten von der Notwendigkeit einer Fraktionsarbeit innerhalb der SPD überzeugt war, bestanden die Bremer Linken schon früh auf die Notwendigkeit einer eigenständigen Organisation. Allerdings war dieser Streitpunkt noch Anfang 1917 überhaupt nicht aktuell. Selbst Karl Radek, ein prominenter Vertreter der Bremer Linken, sagte:

„Die Propaganda der Spaltung bedeutet keinesfalls, dass wir jetzt aus der Partei austreten sollen. Umgekehrt: unsere Bemühungen müssen darauf gerichtet sein, alle möglichen Organisationen und Organe der Partei in die Hände zu bekommen. Sie wurden in einem halben Jahrhundert des Kampfes für den Kampf geschaffen und gehören uns auf Grund des historischen Rechts. Wir haben alles zu tun, um die Sozialimperialisten zu nötigen, für ihre neuen bürgerlichen Zwecke sich neue Organisationen zu schaffen. Unseres Pflicht ist es, solange wie möglich auf den Posten auszuharren, denn je länger das geschieht, desto größer wird der Teil der Arbeiter sein, der mit uns geht, falls die Sozialimperialisten, die natürlich unsere Taktik ausgezeichnet verstehen, auch wenn wir sie hier verschweigen würden, uns ausschlössen (...) Ein Gebot der Stunde ist es, dass sich auf dem Boden der Opposition stehende lokale Parteiorganisationen zusammenschließen und eine provisorische Leitung der entschiedenen Opposition einsetzen.“ (Karl Radek, Ende 1916)

Es ist daher falsch zu behaupten, die Bremer Linken hätten im August 1914 sofort die organisatorische Trennung angestrebt. Erst Ende 1916, als das Kräfteverhältnis in der SPD zu kippen begann, traten sie dafür ein. Auch die Dresdner und Hamburger Linken plädierten ab 1916 für Eigenständigkeit, obwohl sie selbst keine festen Organisationsvorstellungen hatten.

Die Bilanz der ersten beiden Kriegsjahre zeigte, dass die Revolutionäre sich keinen Maulkorb haben anlegen lassen und keine der oppositionellen Gruppen ihre Selbständigkeit aufgegeben hat. Hätten sie bereits im August 1914 die SPD den Verrätern überlassen, so hätte dies bedeutet, die eigenen Prinzipien über Bord zu werfen. Noch wirkte der Schock in den Reihen der SPD über den Verrat der Parteiführung im August 1914, noch steckte der Stachel des Nationalismus zu tief in der Arbeiterklasse, als dass es realistisch gewesen wäre, eine neue Partei zu gründen. Und auch 1915, als der Druck der Arbeiter langsam zunahm und sich immer mehr Widerstand regte, bestand kein Anlass für den Aufbau einer neuen eigenständigen Organisation außerhalb der SPD. Solange noch kein günstiges Kräfteverhältnis herrschte, solange noch nicht genügend Kampfbereitschaft in den Reihen der Arbeiter bestand und sich die Revolutionäre in solch einer kleinen Minderheit befanden – kurz: solange die Bedingungen für die Gründung einer eigenen Partei noch nicht vorhanden waren, war die Arbeit als Fraktion innerhalb der SPD notwendig.

Im September 1916 berief der Parteivorstand eine Reichskonferenz der SPD ein. Obwohl er den Delegiertenschlüssel manipuliert hatte, bekam der Vorstand die Opposition nicht in den Griff. Diese beschloss, ihre Mitgliedsbeiträge an den Vorstand zu sperren. Darauf reagierte der Vorstand mit dem Parteiausschluss der Zahlungsverweigerer, wobei die Bremer Linken zu den Ersten gehörten.

Angesichts einer sich rasant zuspitzenden Situation, in der die Ablehnung gegen den Parteivorstand immer größer wurde und die Arbeiter immer häufiger Widerstand gegen den Krieg leisteten, teilten die Spartakisten nicht die Politik des „scheibchenweisen“ Austretens aus der SPD, wie sie von einem Teil der Bremer Genossen mit ihrer Taktik der Beitragssperre praktiziert wurde. „Eine solche Spaltung aber würde unter den gegebenen Umständen nicht etwa den Hinauswurf der Mehrheitspolitiker und der Scheidemänner aus der Partei bedeuten, was wir anstreben, sondern muss notwendig zur Absplitterung von kleinen Kränzchen der besten Genossen der Partei führen und die Genossen zur vollständigen Ohnmacht verurteilen. Diese Taktik halten wir für schädlich, ja für verhängnisvoll.“ (Leo Jogiches, 30. September 1916) Die Spartakisten traten für ein einheitliches, nicht getrenntes Vorgehen gegen die Sozialpatrioten ein. Gleichzeitig betonten sie die Bedingungen für das weitere Verbleiben in der SPD:

„Die Zugehörigkeit zur gegenwärtigen SPD darf von der Opposition nur solange aufrechterhalten werden, als diese ihre selbständige politische Aktion nicht hemmt noch beeinträchtigt. Die Opposition verbleibt in der Partei, nur um die Politik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu bekämpfen und zu durchkreuzen, die Massen von der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen antiimperialistischen Klassenkampf zu benutzen.“

E. Meyer erklärte: „Wir bleiben in der Partei nur so lange, als wir den Klassenkampf gegen den Parteivorstand führen können. In dem Augenblick, wo wir darin gehemmt werden, wollen wir in der Partei nicht bleiben. Umgekehrt treten wir auch nicht für eine Spaltung ein.“ (Wohlgemut, S. 167)

Der Spartakusgruppe wollte innerhalb der SPD ein Sammelbecken der gesamten Opposition bilden. Dies war die von der Zimmerwalder Konferenz vorgegebene Marschrichtung gewesen. Wie Lenin richtig einschätze, „fehlt der deutschen Opposition noch sehr an festem Boden. Sie ist noch zersplittert, zerfällt in selbständige Strömungen, denen vorerst ein gemeinsamer Boden fehlt, der notwendig ist zur Aktionsfähigkeit (...) Wir betrachten es nun als unsere Aufgabe, solange es geht, die zersplitterten Kräfte zu einem aktionsfähigen Organismus zusammenzuschweißen.“ (Wohlgemut, S. 118)

Solange die Spartakisten den Status einer unabhängigen Gruppe in der SPD einnahmen, verliehen sie sich keine getrennte Organisationsform. Den Organisationsprinzipien der Arbeiterbewegung zufolge war die spartakistische Fraktion eine politische Strömung innerhalb der SPD, die gegen den Niedergang, gegen den Verrat der Partei ankämpfte. Solange sie nicht aus der Partei ausgeschlossen wurde, nahm die Fraktion keine separate Existenz an.

Die anderen Gruppierungen der Linken, allen voran der Flügel um Borchardt (Lichtstrahlen) und die Hamburger Linken, sprachen sich zu dieser Zeit bereits eindeutig für den Aufbau einer eigenständigen Organisation außerhalb der SPD aus.

Ein Teil dieser Gruppierungen, in erster Linie die Hamburger und Dresdner, ging sogar so weit, den Verrat der sozialpatriotischen Führung als Vorwand zu benutzen, um die Notwendigkeit der Partei an sich in Frage zu stellen. Aus Furcht vor einer weiteren Bürokratisierung fingen sie an, an der Notwendigkeit politischer Organisationen zu zweifeln. Anfangs drückte sich dies durch ein generelles Misstrauen gegenüber der Zentralisierung dieser Organisationen und durch das Beharren auf den Föderalismus aus. In dieser Phase äußerte sich dies aber durch die offene Flucht vor dem Kampf mit den Sozialpatrioten um die Partei. Es war die Geburtsstunde des späteren Rätekommunismus, der in den folgenden Jahren noch größeren Auftrieb erfahren sollte.

Das Prinzip der konsequenten Fraktionsarbeit, der Fortsetzung des Widerstands innerhalb der SPD, so wie es vor allem von den Spartakisten in Deutschland praktiziert wurde, sollte als Beispiel für die Genossen der Italienischen Linken dienen, die keine zehn Jahre später gegen die Degeneration der Komintern kämpften. Dagegen sollte dieses Prinzip, das von Rosa Luxemburg und den meisten Spartakisten verfochten wurde, später von jenen Genossen in der KPD vergessen werden, die, sobald die ersten Divergenzen auftauchten (und dabei handelte es nicht einmal um einen Verrat, wie ihn die Sozialpatrioten der SPD begangen hatten), die KPD Hals über Kopf verließen.

Die Strömungen in der Arbeiterbewegung

Die internationale Arbeiterbewegung teilte sich in den ersten beiden Kriegsjahren in drei Hauptströmungen auf. Lenin unterteilte in „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, April 1917, diese drei Strömungen in:

· die Sozialchauvinisten, d.h. Sozialisten in Worten, Chauvinisten in der Tat; die für die „Verteidigung des Vaterlandes“ eintraten und ins Lager der Bourgeoisie übergelaufen waren;

· die Internationalisten (denen die „Zimmerwalder Linke“ am nächsten kommt), die für den rückhaltlosen Kampf gegen die imperialistische Regierung und für den völligen Bruch mit dem Sozialchauvinismus eintraten;

· eine dritte Strömung, die Lenin als sog. „Zentrum“ bezeichnete und die zwischen den Sozialchauvinisten und den Internationalisten hin und her lavierte.

Die Zentristen waren für den Frieden mit den Sozialpatrioten, für die „Einheit der Arbeiterklasse“ und gegen die Spaltung. Die Zentristen waren von der Revolution gegen die eigene Regierung nicht überzeugt, taten nichts für ihre propagandistische Verbreitung, scheuten den konsequenten revolutionären Kampf und erfanden die plattesten, aber „erzmarxistisch“ klingenden Ausflüchte. Die zentristische Strömung besaß keine programmatische Klarheit, sondern war inkonsequent und inkohärent, zu allen möglichen Konzessionen bereit. Sie mied jede programmatische Festlegung, suchte sich jeder neuen Lage anzupassen. Der Zentrismus war der Ort, an dem kleinbürgerliche und revolutionäre Einflüsse zusammenprallten. Diese Strömung befand sich auf der Zimmerwalder Konferenz im September 1915 in der Mehrheit.

Die zentristische Strömung selbst war aus einem rechten und einem linken Flügel zusammengesetzt. Der rechte Flügel lehnte sich stärker an die Sozialpatrioten an, während der linke Flügel sich gegenüber den Interventionen der Revolutionäre offener zeigte.

In Deutschland stand Kautsky an der Spitze dieser zentristischen Strömung, die sich im März 1916 unter dem Namen „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG) zusammengeschlossen hatte und vor allem in der Reichstagsfraktion einen starken Einfluss ausübte. So waren Haase und Ledebour führende zentristische Reichstagsabgeordnete. Es gab also nicht nur Verräter auf der einen und Revolutionäre auf der anderen Seite, sondern eine zwischen beiden befindliche zentristische Strömung, die lange Zeit die Mehrheit der Arbeiter hinter sich wusste.

„Wer den realen Boden der Anerkennung der Existenz dieser drei Strömungen, ihrer Analyse und des konsequenten Kampfes für die wirkliche internationalistische Strömung verlässt, der verurteilt sich selbst zur Ohnmacht, zur Hilflosigkeit und zu Fehlern.“ (Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, Ges. Werke Bd. 24, S. 60)

Während die Sozialpatrioten die Arbeiterklasse mit dem Nationalismus zu vergiften trachteten und die Spartakisten erbittert dagegenhielten, schwankten die Zentristen zwischen beiden Polen hin und her. Wie sollten sich die Spartakisten ihnen gegenüber verhalten?

Die Frage der Intervention gegenüber dem Zentrismus – Programmatische Klarheit vor Einheit

Der Flügel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht betonte, dass „man politisch auf die Zentristen einknüppeln muss“, dass sie das Objekt der revolutionären Intervention sein müssen. Als im Winter 1916 eine Konferenz der Kriegsgegner einberufen werden sollte, schrieb Rosa Luxemburg:

„Unsere Taktik auf dieser Konferenz müsste dahin gehen, nicht etwa die ganze Opposition unter einen Hut zu bringen, sondern umgekehrt aus diesem Brei den kleinen, festen und aktionsfähigen Kern herauszuschälen, den wir um unsere Plattform gruppieren können. Mit organisatorischer Zusammenfasung hingegen ist große Vorsicht geboten. Denn alle Zusammenschlüsse der ‚Linken‘ führen nach meiner bitteren langjährigen Parteierfahrung nur dazu, den paar aktionsfähigen Leuten die Hände zu binden.“

Ein organisatorischer Zusammenschluss mit den Zentristen innerhalb der SPD war für Rosa Luxemburg ausgeschlossen. „Genossen, Genossinnen! Lasst euch nicht durch die alte Phrase von der Einigkeit, die die Kraft bilde, einfangen. Jawohl, Einigkeit macht stark, aber Einigkeit der festen, inneren Überzeugung, nicht äußere mechanische Zusammenkoppelung von Elementen, die innerlich auseinanderstreben. Nicht in der Zahl liegt ihre Kraft, sondern in dem Geiste, in der Klarheit, in der Tatkraft, die uns beseelt.“ (R. Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 4, S. 179, Frühjahr 1916)

Auch Karl Liebknecht hatte im Februar 1916 festgestellt: „Nicht Einheit, sondern Klarheit über alles. Durch unerbittliche Aufdeckung und Austragung der Differenzen zur prinzipiellen und taktischen Einmütigkeit und damit zur Aktionsfähigkeit und damit zur Einheit, so geht der Weg. Nicht den Beginn des Gärungsprozesses (...), erst seinen Abschluss darf die ‚Einheit‘ bilden.“ (Spartakusbriefe, S. 112)

Eckpfeiler in der Vorgehensweise Rosa Luxemburgs und der anderen Spartakisten war das Festhalten an der Notwendigkeit programmatischer Klarheit. Ihr Bestehen auf ein programmatisch solides und politisch klares Vorgehen auch um den Preis, dabei eine kleine Minderheit zu bleiben, war kein Sektierertum, sondern die Fortsetzung der alten marxistischen Methode. Mit dieser programmatischen Stringenz und Strenge stand Rosa Luxemburg gewiss nicht allein auf weiter Flur; die gleiche Methode wandten später auch Genossen der Italienischen Linken an, als sie bei der Analyse der Bilanz der Russischen Revolution und auch in den 30er Jahren vor der Neigung warnten, programmatische und politische Zugeständnisse zu machen, um an numerischer Stärke dazuzugewinnen. Möglicherweise ahnte Rosa Luxemburg bereits in den Kriegsjahren die Folgen der neuen Periode, der kapitalistischen Dekadenz. Denn in der Niedergangsphase des Kapitalismus ist die Voraussetzung für die Existenz proletarischer Massenparteien verschwunden. An ihre Stelle treten zahlenmäßig kleine, dafür programmatisch solide Parteien. Diese programmatische Fixierung war daher ein zuverlässiger Kompass für die Haltung der Revolutionäre gegenüber dem Zentrismus, der per Definition unschlüssig hin und her schwankt und dabei jede politische und programmatische Klärung scheut.

Als sich im März 1916 die Zentristen nach ihrem Rauswurf aus der SPD anschickten, eine eigene Organisation zu gründen, erkannten die Spartakisten es als notwendig an, sich einzumischen. Sie übernahmen ihre Verantwortung als Revolutionäre gegenüber der Klasse.

Vor dem Hintergrund der sich anbahnenden revolutionären Entwicklung in Russland und der wachsenden Radikalisierung auch der deutschen Arbeiter ging es darum, die besten Elemente, die noch unter zentristischem Einfluss standen, vorwärts zu einer weiteren Klärung zu treiben. Denn die zentristischen Strömungen wie die SAG und eine Vielzahl jener Parteien, die im März 1919 die Kommunistische Internationale gründeten, waren alles andere als homogen; sie waren bar jeder Kohärenz und Stabilität. Da die zentristische Bewegung ein Ausdruck der Unreife des Klassenkampfes war, neigte sie bei zunehmendem Klassenkampf zu einer Klärung offener Fragen und machte sich damit selbst den Garaus, indem sie auseinanderbrach und verschwand. Dazu war neben der Dynamik des Klassenkampfes auch ein programmatisch-organisatorischer Bezugspunkt erforderlich, der in der Lage war, einen Pol der Klarheit gegenüber den Zentristen darzustellen. Ohne die Existenz und Intervention einer revolutionären Organisation, die jene offenen, aufnahmefähigen Elemente, die sich im Dickicht des Zentrismus verfangen haben, hinaushilft, ist eine Fortentwicklung dieser Elemente und ihre Loslösung vom Zentrismus nicht möglich.

Lenin fasste diese Aufgabe folgendermaßen zusammen: „Der größte Mangel des gesamten revolutionären Marxismus in Deutschland ist das Fehlen einer festgefügten illegalen Organisation, die systematisch ihre Linie verfolgt und die Massen im Geiste der neuen Aufgaben erzieht: eine solche Organisation müsste sowohl dem Opportunismus als auch dem Kautskyanertum gegenüber eine eindeutige Stellung einnehmen.“ (Ges. Werke Bd. 22, S. 312, Juli 1916)

Wie sollte nun die Arbeit als revolutionärer Bezugspunkt ausgeübt werden? Im Februar schlugen die Zentristen die Gründung einer gemeinsamen Organisation der Opposition am 6. bis 8. April 1917 mit dem Namen USPD vor. Unter den revolutionären Internationalisten kam es darüber zu tiefen Zerwürfnissen.

Die Bremer Linken lehnten eine Beteiligung der revolutionären Linken an dieser Organisation ab. Radek meinte: „Nur ein organisierter klarer Kern kann auf die radikalen Zentrumsarbeiter Einfluss ausüben. Bis jetzt, solange wir auf dem Boden der alten Partei wirkten, konnte man mit der losen Verbindung einzelner Linksradikaler auskommen. Jetzt (...) kann nur eine linksradikale Partei mit klarem Programm und eigenen Organen die zerstreuten Kräfte sammeln, zusammenhalten und vergrößern. (Wir können unsere Aufgabe nur erfüllen) durch die Organisation der Linksradikalen in einer eigenen Partei.“ (Unter eigenem Banner, S. 414)

Die Spartakisten waren nicht einmal untereinander einer Meinung. Auf einer Vorkonferenz der Spartakusgruppe sprach sich eine Vielzahl von Delegierten gegen die Beteiligung an der USPD aus. Aber offenbar konnte sich dieser Standpunkt nicht durchsetzen, denn am Ende beteiligten sich die Spartakisten an eben jener USPD.

„Wir wollen die besten Elemente herausholen und sie zu unserer Seite rüberziehen (...) Die A.G. beherbergt in sich nämlich (...) eine ganze Menge Arbeiterelemente, die geistig und politisch zu uns gehören und nur durch Mangel an Berührung mit uns oder aus Unkenntnis der tatsächlichen Beziehungen innerhalb der Opposition und anderen zufälligen Ursachen der A.G. folgen (...)“ (Leo Jogiches, 25. Dezember 1916)

„Es gilt ebenso, die neue Partei, die größere Massen in sich vereinigen wird, als Rekrutierungsfeld für unsere Ansichten, für die entschiedene Richtung in der Opposition auszunutzen; es gilt ferner, der A.G. den geistigen und politischen Einfluss auf die Massen innerhalb der Partei selbst streitig zu machen; es gilt schließlich, die Partei als ganzes durch rücksichtslose Kritik, durch unsere Tätigkeit in den Organisationen selbst wie auch durch unsere selbständigen Aktionen vorwärtszutreiben, eventuell auch ihrer schädlichen Einwirkung auf die Klasse entgegenzuwirken." (Spartakus im Kriege, S. 184)

Es gab viele Argumente für und gegen eine Beteiligung. Die Frage lautete: Ist es besser, außerhalb oder innerhalb der USPD zu wirken? Sicherlich gab es keine Frage darüber, dass die Spartakisten gegenüber der USPD intervenieren mussten, um ihre besten Elemente für sich zu gewinnen, doch konnte dies nicht die Frage beantworten, ob dies „von außen“ oder „von innen“ zu geschehen hat.

Diese Frage war nur deshalb so schwierig, weil die Spartakisten die USPD zu Recht als eine zentristische Bewegung ansahen, die der Arbeiterklasse angehörte und nicht eine Partei der Bourgeoisie war.

Selbst Radek und die Bremer Linksradikalen erkannten die Notwendigkeit einer Intervention gegenüber dieser Strömung: „Um die Unentschiedenen ringen, indem wir – ohne nach rechts und links zu schauen – unseren Weg gehen. Wir wollen versuchen, sie zu uns zu ziehen. Sollten sie aber (...) uns jetzt schon nicht folgen können, sollte ihre Orientierung später eintreten, als die Notwendigkeiten der Politik uns organisatorische Selbständigkeit zum Gebot machen werden, nun, dann ist dagegen nichts zu machen. Dann werden wir unseren Weg gehen müssen (...) (Die USPD war eine) Partei, die über kurz oder lang zwischen den Mühlsteinen der entschiedenen Rechten und Linken zerrieben werden würde.“ (Einheit oder Spaltung)

Welche Bedeutung die zentristische USPD besaß und wie groß ihr Einfluss in den Arbeitermassen war, können wir nur verstehen, wenn wir uns die damals wachsende Gärung in der Arbeiterklasse gewärtigen. Nach der Februarrevolution in Russland setzte im Frühjahr 1917 auch in Deutschland eine Streikwelle ein, zunächst in Norddeutschland und im März im Ruhrgebiet, im April dann in Berlin, wo Massenstreiks mit mehr als 300.000 Teilnehmern stattfanden. Im Sommer gab es eine Protest- und Streikbewegung in Halle, Braunschweig, Magdeburg, Kiel, Wuppertal, Hamburg, Nürnberg; im Juni fanden erste Meutereien in der Flotte statt, und schließlich im Januar 1918 eine weitere Streikwelle an. Nur brutale Repression vermochte diese Streiks zu beenden.

Die Frage des Verhältnisses zur USPD bewirkte schließlich eine vorübergehende Spaltung der Linken: auf der einen Seite die Bremer Linksradikalen und andere Teile der revolutionären Linken, die auf eine schnelle Parteigründung drängten, auf der anderen Seite die Spartakisten, die mehrheitlich als Fraktion der USPD beitraten.

Dv.

 

Theorie und Praxis: 

  • Deutsche Revolution [2]

Die Juli-Tage: Die Partei ist eine lebenswichtige Notwendigkeit

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Die Juli-Tage von 1917 sind einer der wichtigsten Momente nicht nur in der Russischen Revolution, sondern in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung. Im Verlauf von drei Tagen, vom 3. Juli bis zum 5. Juli, öffnete eine der mächtigsten Konfrontationen, die jemals zwischen Bourgeoisie und Proletariat stattgefunden hatten, den Weg zur Machtergreifung vier Monate später im Oktober 1917, auch wenn sie mit einer Niederlage für die Arbeiterklasse endete. Am 3. Juli erhoben sich die Arbeiter und Soldaten Petrograds massiv und spontan und riefen nach einer Übertragung aller Macht an die Arbeiterräte. Am 4. Juli belagerte eine bewaffnete Demonstration von einer halben Million Teilnehmern die Führung des Sowjets, um ihn dazu zu drängen, die Macht zu übernehmen, löste sich aber nach einem Appell der Bolschewiki am Abend wieder friedlich auf. Am 5.Juli nahmen konterrevolutionäre Truppen die russische Hauptstadt ein und begannen, die Bolschewiki zu verfolgen und die fortschrittlichsten Arbeiter zu unterdrücken. Aber durch die Vermeidung eines verfrühten Machtkampfes hielt das Proletariat seine revolutionären Kräfte intakt. Infolgedessen war die Arbeiterklasse imstande, alle Lehren aus diesen Ereignissen zu ziehen und vor allem den konterrevolutionären Charakter der bürgerlichen Demokratie und des neuen linken Flügels des Kapitals zu begreifen: der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, die die Sache der Arbeiter und armen Bauern verrieten und zur Konterrevolution übergegangen waren. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der Russischen Revolution war die Gefahr einer entscheidenden Niederlage des Proletariats so akut wie während jener dramatischen 72 Stunden. Zu keinem anderen Zeitpunkt erwies sich das tiefe Vertrauen der führenden Teile des Proletariats in seine Klassenpartei, seine kommunistische Avantgarde, als wichtiger.

80 Jahre später ist, angesichts der bürgerlichen Lügen über den „Tod des Kommunismus" und insbesondere ihrer Verunglimpfung der Russischen Revolution und der Bolschewiki, die Verteidigung der wahren Lehren der Juli-Tage und der gesamten proletarischen Revolution eine der Hauptpflichten der Revolutionäre. Folgt man den Lügen der Bourgeoisie, so war die Russische Revolution ein „Volks"kampf für die bürgerliche parlamentarische Republik gewesen, dem „freiesten Land in der Welt", bevor die Bolschewiki, indem sie das „demagogische" Schlagwort „Alle Macht den Räten" „erfanden", der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung durch einen „Putsch" ihre „barbarische Diktatur" aufzwangen. Doch wird selbst ein noch so kurzer objektiver Blick auf die Ereignisse vom Juli 1917 sonnenklar zeigen, daß die Bolschewiki sich auf der Seite der Arbeiterklasse befanden, daß es die bürgerliche Demokratie war, die sich auf der Seite der Barbarei, des Putschismus und der Diktatur einer dünnen Minderheit über die arbeitenden Menschen befand.

Eine zynische Provokation der Bourgeoisie und eine Falle für die Bolschewiki

Die Juli-Tage von 1917 waren von Anbeginn eine Provokation der Bourgeoisie mit dem Ziel der Enthauptung des Proletariats durch die Niederschlagung der Revolution in Petrograd und die Eliminierung der bolschewistischen Partei, ehe der revolutionäre Prozeß in Rußland in seiner Gesamtheit reif für die Machtergreifung durch die Arbeiter war.

Die revolutionäre Erhebung vom Februar 1917, die zur Ersetzung des Zaren durch eine „bürgerlich-demokratische" Provisorische Regierung und zur Etablierung der Arbeiterräte (Sowjets) als rivalisierendes, proletarisches Machtzentrum führte, war zuallererst das Produkt des Kampfes der Arbeiter gegen den 1914 begonnenen imperialistischen Weltkrieg. Doch die Provisorische Regierung schwor sich genauso wie die Mehrheitsparteien in den Sowjets, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, gegen den Willen des Proletariats auf die Fortsetzung des Krieges und auf das imperialistische Raubprogramm des russischen Kapitalismus ein. Auf diese Weise wurde nicht nur in Rußland, sondern auch in allen anderen Ländern, aus denen sich die Entente - die Koalition gegen Deutschland - zusammensetzte, dem Krieg, dem größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, eine neue pseudorevolutionäre Legitimität verliehen. Zwischen Februar und Juli 1917 wurden etliche Millionen Soldaten, unter ihnen die Blüte der internationalen Arbeiterklasse, getötet oder verwundet, um eine Frage zu klären: Welcher der kapitalistischen und imperialistischen Hauptgangster soll die Welt beherrschen? Nachdem viele russische Arbeiter anfangs auf die Lügen der neuen Führer, aus dem Munde angeblicher „Demokraten" und „Sozialisten", hereinfielen, wonach es notwendig sei, den Krieg fortzusetzen, „um einen gerechten Frieden ohne Annexionen ein für allemal zu erreichen", nahm das Proletariat ab Juni 1917 den revolutionären Kampf gegen das imperialistische Gemetzel mit verdoppelten Kräften wieder auf. Während der gigantischen Demonstration am 18. Juni in Petrograd errangen die internationalistischen Parolen der Bolschewiki zum ersten Mal die Oberhand. Zu Beginn des Juli endete die größte und blutigste Militäroffensive Rußlands seit dem „Triumph der Demokratie" in einem Fiasko; die deutsche Armee durchbrach die Front an mehreren Stellen. Dies war der kritischste Moment für den russischen Militarismus seit Beginn des „Großen Krieges". Aber auch wenn die Neuigkeiten vom Scheitern der Offensive die Hauptstadt bereits erreicht und die revolutionäre Flamme angefacht hatten, so war der Rest des gigantischen Landes noch nicht von ihnen erfaßt. Aus dieser verzweifelten Situation heraus wurde die Idee geboren, eine vorzeitige Revolte in Petrograd zu provozieren, um die dortigen Arbeiter und Bolschewiki zu vernichten und dann den Zusammenbruch der militärischen Offensive einer „Dolchstoßlegende" zuzuschreiben, wonach die Hauptstadt der Front in den Rücken gefallen sein soll.

Die objektive Situation war für solch einen Plan nicht ungünstig. Obgleich die Hauptbereiche der Arbeiter in Petrograd bereits zu den Bolschewiki übergegangen waren, befanden sich die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre in den Sowjets der Provinzen immer noch in der Mehrheit. Es herrschten in der Arbeiterklasse insgesamt, selbst in Petrograd, immer noch große Illusionen über die Fähigkeit der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, auf irgendeine Weise der Sache der Revolution zu dienen. Trotz der Radikalisierung der Soldaten, zumeist Bauern in Uniform, verhielt sich eine beträchtliche Anzahl von wichtigen Regimentern immer noch loyal zur Provisorischen Regierung. Die Kräfte der Konterrevolution waren, nach einer Phase der Desorientierung nach der „Februarrevolution", nun voll wiederhergestellt.. Und die Bourgeoisie hatte noch einen Trumpf in ihrem Ärmel: gefälschte Dokumente und Zeugenaussagen, die vorgaben, beweisen zu können, daß Lenin und die Bolschewiki bezahlte Agenten des deutschen Kaisers seien.

Dieser Plan stellte vor allem für die bolschewistische Partei eine Falle, ein Dilemma dar. Wenn sich die Partei an die Spitze eines zu frühen Aufstandes in der Hauptstadt stellte, würde sie sich selbst in den Augen des russischen Proletariats unglaubwürdig machen, indem sie als Repräsentantin einer unverantwortlichen, abenteuerlichen Politik und den rückständigen Bereichen sogar als Helfer des deutschen Imperialismus erschiene. Wenn sie jedoch die Massenbewegung verleugnete, würde sie sich auf gefährliche Weise von der Klasse isolieren, indem sie die Arbeiter ihrem Schicksal überließe. Die Bourgeoisie hoffte darauf, daß, wie auch die Partei entschied, es ihr zum Verhängnis werden würde.

 

Die konterrevolutionären Schwarzhundertschaften: antisemitischer, von den „westlichen Demokratien" gedeckter Mob

Waren die antibolschewistischen Kräfte jene mutigen Demokraten und Verteidiger der „Völkerfreiheit", als die sie von der bürgerlichen Propaganda dargestellt wurden? Angeführt wurden sie von den Kadetten, der Partei der Großindustrie und der großen Gutsherren; vom Offizierskomitee, das 100’000 Kommandierende repräsentierte und einen Militärputsch vorbereitete; vom Sowjet der konterrevolutionären Truppen Kossacks; von der Geheimpolizei und vom Mob der antisemitischen „Schwarzhundertschaften". 'Diese Kreise zetteln Pogrome an, schießen auf Demonstranten usw.' wie Lenin schrieb.

Die Juli-Provokation war jedoch ein Schlag gegen die heranreifende Weltrevolution, der nicht nur von der russischen, sondern auch von der Weltbourgeoisie in Gestalt der Regierungen der russischen Kriegsverbündeten ausgeführt worden war. Wir erkennen in diesem heimtückischen Versuch, eine unreife Revolution früh im Blut zu ertränken, die Handschrift der alten demokratischen Bourgeoisie: die französische Bourgeoisie mit ihrer langen und blutigen Tradition solcher Provokationen (1791, 1848, 1870) und die britische Bourgeoisie mit ihrer unvergleichlichen politischen Erfahrung und Intelligenz. In der Tat waren die westlichen Verbündeten Rußlands angesichts der wachsenden Schwierigkeiten der russischen Bourgeoisie, die Revolution wirksam zu bekämpfen und die Kriegsanstrengungen aufrechtzuerhalten, bereits zur Hauptkraft nicht nur bei der Finanzierung der russischen Front, sondern auch bei der Beratung und Unterstützung der Konterrevolution geworden. Das provisorische Komitee der Staatsduma (des Parlamentes) „bot legale Deckung für konterrevolutionäre Arbeit, die von Banken und Gesandtschaften der Entente weitestgehend finanziert wurde", wie Trotzki erinnerte. „Petrograd wimmelte von geheimen und halbgeheimen Offiziersorganisationen, die hohe Gönnerschaft und freigiebige Unterstützung genossen. In einer Geheiminformation, die der Menschewik Liber fast einen Monat vor den Julitagen erteilte, war erwähnt, daß Verschwörer-Offiziere einen besonderen Eingang zu Buchanan hatten. Konnten denn die Ententediplomaten etwa nicht besorgt sein um die schnellste Schaffung einer starken Macht?". Es waren nicht die Bolschewiki, sondern die Bourgeoisie, die sich mit fremden Regierungen gegen das russische Proletariat verbündete.

 

Die politischen Provokationen einer blutrünstigen Bourgeoisie

Zu Beginn des Juli reichten drei von der Bourgeoisie arrangierte Zwischenfälle aus, um eine Revolte in der Hauptstadt auszulösen.

1. Die Partei der Kadetten zog ihre vier Minister aus der Provisorischen Regierung zurück. Da die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre bis dahin ihre Weigerung gegenüber „Alle Macht den Räten" mit der Notwendigkeit gerechtfertigt hatten, außerhalb der Arbeiterräte mit den Kadetten als Repräsentanten der „demokratischen Bourgeoisie" zusammenzuarbeiten, zog diese Brüskierung der Koalition nach sich, daß unter Arbeitern und Soldaten erneut die Forderung nach sofortiger Sowjetmacht laut wurde. „Anzunehmen, die Kadetten hätten jene Wirkung, die ihr Akt offener Sabotage gegen die Sowjets hervorrufen würde, nicht vorauszusehen vermocht, hieße Miljukow entschieden unterschätzen. Der Führer des Liberalismus war sichtlich bestrebt, die Versöhnler in eine zugespitzte Situation hineinzutreiben, aus der nur das Bajonett einen Ausweg schaffen könnte: in jenen Tagen glaubte er fest, ein kühner Aderlaß würde die Lage retten".

2. Die Demütigung der Provisorischen Regierung durch die Entente, die darauf abzielte, sie dazu zu zwingen, die Revolution mit Waffen zu konfrontieren oder von ihnen fallen gelassen zu werden.

„Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den Händen der Gesandtschaften und Regierungen der Entente. Zu der in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde 'vergessen', den russischen Gesandten einzuladen. (...) Die Verhöhnung des Gesandten der Provisorischen Regierung und der demonstrative Austritt der Kadetten aus dem Ministerium - beide Ereignisse geschahen am 2. Juli - verfolgten das gleiche Ziel: die Versöhnler niederzuducken."

Immer noch im Beitrittsprozeß zur Bourgeoisie begriffen, unerfahren in ihrer Rolle, voller Zweifel und kleinbürgerlicher Unschlüssigkeiten und immer noch mit einer kleinen proletarisch-internationalistischen Opposition in ihren Reihen, wurden die Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre nicht in das konterrevolutionäre Komplott eingeweiht, sondern in die Rolle manövriert, die ihnen die bürgerlichen Führer zugedacht hatten.

3. Die Drohung, kampfstarke revolutionäre Regimenter sofort von der Hauptstadt an die Front zu schicken. Tatsächlich wurde die Explosion des Klassenkampfes infolge dieser Provokationen nicht von den Arbeitern, sondern von den Soldaten initiiert, und politisch nicht von den Bolschewiki, sondern von den Anarchisten angestiftet.

„Die Soldaten waren überhaupt ungeduldiger als die Arbeiter: sowohl, weil ihnen unmittelbare Entsendung an die Front drohte, als auch, weil sie Erwägungen politischer Strategie viel schwerer zugänglich waren. Außerdem hatte jeder in der Hand seine Flinte, und nach dem Februar neigte der Soldat dazu, deren selbständige Macht zu überschätzen."

Die Soldaten versuchten sofort, die Arbeiter für ihre Aktion zu gewinnen. In den Putilow-Werken, der größten Arbeiterkonzentration Rußlands, gelang ihnen der entscheidender Durchbruch. „Etwa zehntausend Arbeiter versammelten sich vor dem Kontor. Unter Beifallsrufen berichteten die Maschinengewehrschützen, sie hätten den Befehl erhalten, am 4. Juli zur Front zu gehen, seien aber entschlossen, 'nicht an die deutsche Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, sondern gegen die eigenen Ministerkapitalisten'. Die Stimmung stieg. 'Gehen wir, gehen wir!' schrien die Arbeiter."

Innerhalb von Stunden erhob sich das Proletariat der ganzen Stadt, bewaffnete sich selbst und sammelte sich um den Schlachtruf „Alle Macht den Räten", den Schlachtruf der Massen.

 

Die Bolschewiki vermeiden die Falle

Am Nachmittag des 3. Juli kamen Delegierte der Maschinengewehrregimenter an, um die Unterstützung der Stadtkonferenz der Bolschewiki zu erhalten, und mußten schockiert zur Kenntnis nehmen, daß die Partei sich gegen die Aktion aussprach. Die von der Partei geäußerten Argumente - daß die Bourgeoisie Petrograd provozieren wolle, um sie so für das Fiasko an der Front verantwortlich zu machen, daß der Zeitpunkt für einen bewaffneten Aufstand nicht reif sei und daß der beste Zeitpunkt für eine direkte Hauptaktion der sei, wenn der Zusammenbruch an der Front allen bekannt sei - zeigen, daß die Bolschewiki sofort die Bedeutung und Gefahr der Ereignisse begriffen haben. Tatsächlich hatten die Bolschewiki bereits seit der Demonstration vom 18. Juni öffentlich vor einer verfrühten Aktion gewarnt.

Bürgerliche Historiker haben die bemerkenswerte politische Intelligenz der Partei zu diesem Zeitpunkt anerkannt. In der Tat war die bolschewistische Partei von der Überzeugung durchdrungen, daß es unumgänglich ist, die Natur, Strategie und die Taktiken des Klassenfeindes zu studieren, um in der Lage zu sein, jederzeit richtig zu antworten und zu intervenieren. Sie war durchtränkt vom marxistischen Verständnis, daß die revolutionäre Machtergreifung eine Form der Kunst oder der Wissenschaft ist, wo eine Erhebung zum ungeeigneten Zeitpunkt oder das Versagen, die Macht im richtigen Moment zu ergreifen, gleichermaßen fatal sind.

Aber so korrekt die Analyse der Partei auch war, es dabei zu belassen hätte bedeutet, in die Falle der Bourgeoisie zu tappen. Der erste entscheidende Wendepunkt in den Juli-Tagen kam in derselben Nacht, als das Zentralkomitee und das Petrograder Parteikomitee entschieden, die Bewegung zu legitimieren und sich selbst an ihre Spitze zu stellen, um wenigstens ihren „friedlichen und organisierten Charakter" zu wahren. Im Gegensatz zu den spontanen und chaotischen Ereignissen in den Tagen zuvor, verrieten die gigantischen Demonstrationen am 4. Juli die „ordnende Hand der Partei". Die Bolschewiki wußten, daß das Ziel, das die Massen sich selbst gestellt hatten, nämlich die Führung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre dazu zu zwingen, im Namen der Arbeiterräte die Macht zu übernehmen, unmöglich war. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die heute von der Bourgeoisie als die wirklichen Verteidiger der Sowjetdemokratie dargestellt werden, waren bereits dabei, sich in die Konterrevolution einzugliedern und warteten auf eine Gelegenheit, sich die Arbeiterräte vorzuknöpfen. Das Dilemma der Situation, das noch immer nicht ausreichende Bewußtsein der Massen des Proletariats, wurde in der berühmten Geschichte jenes aufgebrachten Arbeiters deutlich, der mit seiner Faust einem der „revolutionären" Minister einen Schlag ans Kinn versetzte und dabei brüllte: „Übernimm die Macht, Hurensohn, wenn wir sie dir geben." In Wahrheit spielten die Minister auf Zeit, bis loyal zur Regierung stehende Regimenter eintrafen.

Mittlerweile hatten die Arbeiter selbst die Schwierigkeiten realisiert, alle Macht den Sowjets zu übergeben, solange die Verräter und Kompromißler einen bestimmenden Einfluß in ihnen hatten. Weil die Klasse noch nicht die Methode gefunden hatte, um die Sowjets von innen umzuwandeln, versuchte sie vergeblich, ihnen ihren bewaffneten Willen von außen aufzuzwingen. Der zweite entscheidende Wendepunkt kam, am Ende eines Tages voller Massendemonstrationen, mit der Ansprache der bolschewistischen Sprecher an Zehntausende von Arbeitern der Putilow- und anderer Werke, die von Sinowjew mit einem Scherz zur Auflockerung der Spannung begann und die mit dem Appell, friedlich nach Hause zurückzukehren, endete - ein Appell, dem die Arbeiter folgten. Die Zeit der Revolution war noch nicht gekommen, aber sie würde kommen. Nie wurde die Wahrheit von Lenins altem Spruch dramatischer bewiesen: Geduld und Humor sind zwei unersetzliche Eigenschaften der Revolutionäre.

Die Fähigkeit der Bolschewiki, das Proletariat um die Falle der Bourgeoisie zu führen, wurde nicht nur durch ihre politische Intelligenz ermöglicht. Entscheidend war das tiefe Vertrauen der Partei in das Proletariat und in den Marxismus, was ihr erlaubte, sich vollkommen auf den Boden der Kraft und der Methode zu stellen, welche die Zukunft der Menschheit darstellen, und auf diese Weise die Ungeduld des Kleinbürgertums zu vermeiden. Ebenfalls entscheidend war das tiefe Vertrauen, das das russische Proletariat seiner Klassenpartei entgegenbrachte, was der Partei erlaubte, mit der Klasse zu bleiben und sie sogar zu führen, auch wenn beide Seiten wußten, daß sie weder ihre unmittelbaren Ziele noch ihre Illusionen teilte. Die Bourgeoisie scheiterte in ihrem Vorhaben, einen Keil zwischen Partei und Klasse zu treiben, einen Keil, der die sichere Niederlage der Russischen Revolution bedeutet hätte.

„Es war unbedingte Pflicht der proletarischen Partei, bei den Massen zu bleiben und sich zu bemühen, den berechtigten Aktionen dieser Massen einen möglichst friedlichen und organisierten Charakter zu verleihen, nicht abseits zu stehen, nicht wie Pilatus die Hände in Unschuld zu waschen aus dem pedantischen Grunde, daß die Masse nicht bis zum letzten Mann organisiert sei und daß in ihrer Bewegung Exzesse vorkämen!"

 

Die Pogrome und Verleumdungen der Konterrevolution

Früh am Morgen des 5. Juli erreichten Regierungstruppen die Hauptstadt. Das Werk der Treibjagd auf die Bolschewiki, des Entzuges ihrer geringen Publikationsquellen, der Entwaffnung und Terrorisierung der Arbeiter, der Anzettelung von Judenpogromen begann. Die Retter der Zivilisation vor der „bolschewistischen Barbarei" nahmen dabei hauptsächlich zu zwei Provokationen Zuflucht, um Truppen gegen die Arbeiter zu mobilisieren.

1. Die Lügenkampagane, wonach die Bolschewiki deutsche Agenten gewesen seien. „Die Soldaten saßen düster in den Kasernen, warteten. Erst in der zweiten Hälfte des 4. Juli entdeckten die Vorgesetzten ein stark wirkendes Mittel: man zeigte den Preobraschenskern Dokumente, die klar wie zwei mal zwei nachwiesen, daß Lenin - ein deutscher Spion sei. Das wirkte. Die Kunde lieft durch die Regimenter (...) In der Stimmung der neutralen Bataillone vollzog sich ein Umschwung." Insbesondere ein politischer Parasit namens Alexinski, ein abtrünniger Bolschewik, der einst mitgeholfen hatte, eine „ultralinke" Opposition gegen Lenin zu bilden, aber, nachdem er mit seinen Ambitionen gescheitert war, zu einem erklärten Feind der Arbeiterparteien geworden war, war ein Instrument in dieser Kampagne. Infolgedessen waren Lenin und andere bolschewistische Führer gezwungen, sich zu verstecken, während Trotzki und andere inhaftiert wurden. „Die Internationalisten hinter Schloß und Riegel halten - das ist es, was die Herren Kerenski und Co. brauchen", wie Lenin erklärte.

Die Bourgeoisie hat sich nicht verändert. 80 Jahre danach führt sie eine ähnliche Kampagne mit derselben „Logik" gegen die Linkskommunisten. Damals: da die Bolschewiki sich weigerten, die Entente zu unterstützen, mußten sie für die deutsche Seite sein! Heute: da sich die Linkskommunisten weigerten, das „antifaschistische" imperialistische Lager im II. Weltkrieg zu unterstützen, müssen sie und ihre heutigen Nachfolger für die Nazis sein! „Demokratische" staatliche Kampagnen bereiten die künftigen Pogrome vor.

Revolutionäre von heute, die oft die Bedeutung solcher Kampagnen gegen sie unterschätzen, haben noch viel aus dem Beispiel der Bolschewiki nach den Juli-Tagen zu lernen, die Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatten, um ihren Ruf innerhalb der Arbeiterklasse zu verteidigen. Später nannte Trotzki den Juli 1917 „den Monat der größten Verleumdungen in der Geschichte der Menschheit", aber selbst dies verblaßt gegenüber der gegenwärtigen Verleumdung, wonach Kommunismus gleich Stalinismus sei.

Die staatliche Ermutigung nicht-proletarischer und anti-proletarischer Elemente, die sich gern als Revolutionäre darstellen, ist ein anderer Weg, den Ruf der Revolutionäre anzugreifen, so alt wie die Methode der öffentlichen Verunglimpfung und normalerweise in Kombination mit ihr benutzt.

„Provokation hat zweifellos eine gewisse Rolle gespielt bei den Ereignissen an der Front, wie auch in den Straßen Petrograds. Nach der Februarumwälzung hatte die Regierung in die aktive Armee eine große Anzahl ehemaliger Gendarmen und Schutzleute geworfen. Keiner von ihnen wollte natürlich Krieg führen. Sie fürchteten die russischen Soldaten mehr als die Deutschen. Um ihre Vergangenheit vergessen zu machen, imitierten sie die radikalsten Stimmungen der Armee, hetzten Soldaten gegen Offiziere auf, schrien am lautesten gegen Disziplin und Offensive und gaben sich nicht selten direkt für Bolschewiki aus. Indem sie die natürlichen Verbindungen von Komplizen zueinander unterhielten, bildeten sie einen eigenartigen Orden der Feigheit und Niedertracht. Durch sie drangen in die Truppen und verbreiteten sich schnell die phantastischsten Gerüchte, in denen Ultrarevolutionarismus sich mit Schwarzhunderttum vermengte. In kritischen Stunden gaben diese Subjekte als erste Paniksignale. Auf die zersetzende Arbeit der Polizisten und Gendarmen verwies die Presse mehr als einmal. Nicht weniger häufig sind solcher Art Hinweise in den Geheimdokumenten der Armee selbst. Doch das höhere Kommando verharrte in Schweigen und zog es vor, die Schwarzhundert-Provokateure mit den Bolschewiki zu identifizieren."

2. Erst feuerten Heckenschützen auf die in der Hauptstadt ankommenden Truppen, dann wurde verbreitet, die Bolschewiki steckten hinter diesen Schießereien.

„Der berechnete Wahnwitz dieser Schießerei erregte die Arbeiter tief. Es war klar, daß erfahrene Provokateure die Soldaten mit Blei empfingen, zwecks antibolschewistischer Impfung. Die Arbeiter boten alles auf, dies den ankommenden Soldaten zu erklären, doch man ließ sie an diese nicht heran: zum erstenmal seit den Februartagen stellte sich zwischen Arbeiter und Soldat der Junker oder Offizier."

Dazu gezwungen, nach den Juli-Tagen in der Halb-Illegalität zu arbeiten, mußten die Bolschewiki auch gegen demokratische Illusionen jener in ihren Reihen kämpfen, die wünschten, daß ihre Führer sich dem Prozeß vor einem konterrevolutionären Gericht stellen, um auf die Beschuldigung zu antworten, sie seien deutsche Agenten. Als er diese andere Falle, die gegen die Partei aufgestellt war, erkannte, schrieb Lenin:

„ Tätig ist eine Militärdiktatur. Da ist es lächerlich, von einem 'Gericht' auch nur zu sprechen. Es handelt sich gar nicht um ein 'Gericht', sondern um eine Episode des Bürerkriegs."

Daß die Partei die Periode der Repression überlebte, die den Juli-Tagen folgte, lag nicht zuletzt an ihrer Tradition einer ständigen Wachsamkeit bei der Verteidigung der Organisation gegen alle Versuche des Staates, sie zu zerstören. Es sollte zum Beispiel erwähnt werden, daß der Polizeispitzel Malinowski, dem es vor dem Krieg gelang, Mitglied des Zentralkomitees der Partei zu werden, direkt verantwortlich für die Sicherheit der Organisation, verantwortlicher Mann für das Untertauchen Lenins, Sinowjews etc. geworden wäre, wäre er nicht schon vorher durch die Wachsamkeit der Organisation enttarnt worden (trotz der Blindheit Lenins selbst!). Ohne solche Wachsamkeit wäre das Resultat höchstwahrscheinlich die Liquidierung der erfahrensten Parteiführer gewesen. Im Januar/Februar 1919, als Luxemburg, Liebknecht, Jogiches und andere erfahrene Führer der jungen KPD ermordet wurden, schien es, daß die Behörden einen Fingerzeig von einem „hochrangigen" Polizeispitzel innerhalb der Partei erhalten hatten.

 

Bilanz der Juli-Tage

Die Juli-Tage enthüllten einmal mehr die gigantische revolutionäre Energie des Proletariats, seinen Kampf gegen den Schwindel der bürgerlichen Demokratie und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse allein ein Faktor gegen den imperialistischen Krieg im Angesicht der kapitalistischen Dekadenz ist. Nicht „Demokratie oder Diktatur", sondern die Diktatur des Proletariats oder die Diktatur der Bourgeoisie, Sozialismus oder Barbarei, das ist die Frage, der die Menschheit gegenübersteht, und die die Juli-Tage aufstellte, ohne selbst schon imstande zu sein, darauf zu antworten. Aber was die Juli-Tage vor allem veranschaulichten, das ist die nicht ersetzbare Rolle der proletarischen Klassenpartei. Kein Wunder, daß die Bourgeoisie heute den 80. Jahrestag der Russischen Revolution mit neuen Manövern und Verleumdungen gegen das zeitgenössische revolutionäre Milieu „feiert".

Der Juli 1917 zeigte auch, daß die Überwindung der Illusionen über die abtrünnigen Arbeiterparteien, der Linken des Kapitals, lebenswichtig ist, wenn das Proletariat die Macht übernehmen soll. Dies war die hauptsächliche Illusion der Klasse während der Juli-Tage. Aber diese Erfahrung selbst war entscheidend. Die Juli-Tage klärten endgültig nicht nur für die Arbeiterklasse und die Bolschewiki, sondern selbst für die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, daß die Organisationen der letztgenannten unwiderruflich zur Konterrevolution übergetreten waren. Wie Lenin Anfang September schrieb:

„In Petrograd war man damals nicht einmal physisch in der Lage, die Macht zu ergreifen, und hätte man sie physisch ergriffen, so hätte man sie politisch nicht halten können, da Zereteli und Co. damals noch nicht bis zur Unterstützung des Henkertums hinabgesunken waren. Darum wäre damals, am 3. bis 5. Juli 1917 in Petrograd, die Losung der Machtergreifung falsch gewesen. Damals fehlte sogar bei den Bolschewiki noch die bewußte Entschlossenheit - das konnte auch nicht anders sein -, Zereteli und Co. als Konterrevolutionäre zu behandeln. Damals konnten weder die Soldaten noch die Arbeiter die Erfahrung besitzen, die ihnen der Monat Juli gebracht hat." 15

Bereits Mitte Juli hatte Lenin diese Lehre klar gezogen:

„Nach dem 4. Juli hat sich die konterrevolutionäre Bourgeoisie, Hand in Hand mit den Monarchisten und Schwarzhunderten, die kleinbürgerlichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki einverleibt, nachdem sie diese zum Teil eingeschüchtert hatte, und sie hat die wirkliche Staatsmacht in die Hände der Cavaignac gelegt, in die Hände einer Militärclique, die die Gehorsamsverweigerer an der Front erschießt und die Bolschewiki in Petrograd niederschlägt."16

Die Schlüssellehre des Juli war jedoch die politische Führung der Partei. Die Bourgeoisie hat häufig die Taktik verwendet, vorzeitige Konfrontationen zu provozieren. Ob 1848 und 1870 in Frankreich oder 1919 und 1921 in Deutschland, in jedem Fall war das Ergebnis die blutige Repression gegen das Proletariats gewesen. Wenn die Russische Revolution das einzige größere Beispiel ist, wo die Arbeiterklasse in der Lage war, solch eine Falle und eine blutige Niederlage zu vermeiden, dann vor allen Dingen deshalb, weil die bolschewistische Klassenpartei imstande war, ihre entscheidende Rolle als Avantgarde zu erfüllen. Indem sie die Klasse von solch einer Niederlage fernhielten, bewahrten die Bolschewiki die tiefen revolutionären Lehren aus Engels' berühmter Einführung zu Marxens „Der Klassenkampf in Frankreich" von 1895 vor ihrer Pervertierung durch den Opportunismus, besonders seine Warnung:

„Und da ist nur ein Mittel, wodurch das stetige Anschwellen der sozialistischen Streitkräfte in Deutschland momentan aufgehalten und selbst für einige Zeit zurückgeworfen werden könnte: ein Zusammenstoß auf großem Maßstab mit dem Militär, ein Aderlaß wie 1871 in Paris." 17

Trotzki faßt die Bilanz der Handlungsweise der Partei wie folgt zusammen:

„ Hätte die bolschewistische Partei sich auf der Einschätzung der Julibewegung als einer 'verfrühten' versteift, den Massen den Rücken gekehrt, der h albe Aufstand wäre unvermeidlich unter die zersplitterte und uneinige Leitung von Anarchisten, Abenteurern, zufälligen Exponenten der Massenempörung geraten und in fruchtlosen Konvulsionen verblutet. Aber auch umgekehrt: Hätte die Partei, sich an die Spitze der Maschinengewehrschützen und der Putilower stellend, auf ihre Gesamteinschätzung der Lage verzichtet und den Weg entscheidender Kämpfe beschritten, der Aufstand hätte zweifellos kühnen Schwung genommen, und die Arbeiter und Soldaten würden unter der Leitung der Bolschewiki die Macht erobert haben, aber nur, um den Zusammenbruch der Revolution vorzubereiten. Die Frage der Macht im nationalen Maßstab wäre, im Gegensatz zum Februar, durch einen Sieg in Petrograd nicht entschieden worden. Die Provinz hätte mit der Hauptstadt nicht Schritt gehalten. Die Front die Umwälzung nicht begriffen und nicht akzeptiert. Eisenbahn und Telegraph hätten den Versöhnlern gegen die Bolschewiki gedient. Kerenski und das Hauptquartier eine Regierung der Front und Provinz gebildet. Petrograd wäre blockiert worden. In seinen Mauern hätte Zersetzung Platz gegriffen. Der Regierung wäre es unmöglich gewesen, größere Soldatenmassen gegen Petrograd zu werfen. Der Aufständ hätte unter solchen Bedingungen mit einer Tragödie der Petrograder Kommune geendet.

An der Juli-Kreuzung der historischen Wege hat nur die Einmischung der Partei der Bolschewiki beide Varianten der schicksalvollen Gefahr verhindert: sowohl die im Geiste der Junitage von 1848 wie die im Geiste der Pariser Kommune von 1871. Dank der Tatsache, daß die Partei sich kühn an die Spitze der Bewegung stellte, erhielt sie die Möglichkeit, die Massen in dem Moment anzuhalten, wo die Demonstration sich in ein bewaffnetes Kräftemessen zu verwandeln begann. Der Schlag, der im Juli den Massen und der Partei zugefügt wurde, war sehr empfindlich. Aber es war kein entscheidender Schlag (...). Die Arbeiterklasse ging aus der Prüfung weder enthauptet noch verblutet hervor. Sie hatte ihre Kampfkader unversehrt erhalten, und diese Kader hatten vieles gelernt." 18

Die Geschichte gab Lenin recht, als er schrieb:

„Eine neue Phase beginnt. Der Sieg der Konterrevolution löst bei den Massen Enttäuschung über die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki aus und macht den Weg frei für den Übergang der Massen zur Politik der Unterstützung des revolutionären Proletariats." 19

Kr.

 

Oktober 1917 - ein Sieg der Arbeitermassen

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1917: Die Russische Revolution     Der Oktoberaufstand - ein Sieg der Arbeitermassen

 

 

 

Das laufende Jahr erinnert uns daran, daß die Geschichte nicht eine Angelegenheit der Universitätsprofessoren ist, sondern eine Frage der gesellschaftlichen Klassen, eine politische Frage, die für das Proletariat lebenswichtig ist. Das Hauptziel, das sich die Bourgeoisie 1997 gesetzt hat, ist, der Arbeiterklasse die verfälschte bürgerliche Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts aufzuzwingen. Zu diesem Zweck richtet die Bourgeoisie ihre Scheinwerfer auf den Holocaust des 2. Weltkrieges und auf die Oktoberrevolution, um zu versuchen, die beiden Ereignisse miteinander zu verbinden. Diese beiden Momente, die für die beiden antagonistischen Kräfte stehen, deren Konflikt zu einem Großteil die Entwicklung dieses Jahrhunderts bestimmt hat, die Barbarei des dekadenten Kapitalismus und der fortschrittliche revolutionäre Kampf des Proletariates, werden in der bürgerlichen Propaganda dargestellt als die gemeinsame Frucht “totalitärer Ideologien” und werden “gemeinsam verantwortlich” gemacht für den Krieg, den Militarismus und den Terror der vergangenen 80 Jahre. In diesem Sommer war es die Nazigoldaffäre, die einerseits auf die gegenwärtigen Rivalen der USA und auf diejenigen abzielt, die ihre Autorität in Frage stellen (wie die Schweiz), und andererseits auf ideologischer Ebene dem Weltproletariat gilt (militaristische Propaganda, bürgerlich-demokratischer Antifaschismus), im Herbst nun schlachtet die Bourgeoisie den 80. Jahrestag der Russischen Revolution aus, um die folgende Botschaft zu vermitteln: So wie der Nationalsozialismus nach Auschwitz geführt hat, führt der Sozialismus von Marx, der die Arbeiterrevolution von 1917 inspiriert hat, ebenso unvermeidlich zum Gulag, zum gewaltigen Terror unter Stalin und zum Kalten Krieg nach 1945.

 

 

 

 

 

Mit diesem Angriff gegen die Oktoberrevolution zielen unsere Ausbeuter darauf ab, den gegenwärtigen Rückfluß des proletarischen Bewußtseins zu verstärken, den sie nach 1989 durch den intensiven Gebrauch der gewaltigen Lüge ausgelöst haben, wonach der Sturz der stalinistischen konterrevolutionären Regime gleichzusetzen sei mit dem “Ende des Marxismus” und dem “Bankrott des Kommunismus”. Aber heute will die Bourgeoisie noch einen Schritt weiter gehen bei der Verunglimpfung der proletarischen Revolution und der marxistischen Avantgarde, indem sie nicht nur mit dem Stalinismus, sondern auch mit dem Faschismus gleichgesetzt werden. So hat Anfang 1997 in einem so zentralen Land wie Frankreich zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert eine Medienkampagne begonnen, direkt die internationalistische kommunistische Linke anzugreifen. Sie hat versucht, dieser zu unterstellen, daß sie mit dem Faschismus kollaboriert habe; zu diesem Zweck entstellte sie die internationalistische Position, die während dem 2. Weltkrieg gegen jedes imperialistische Lager Stellung bezogen hatte. Da die Bourgeoisie heute mit dem Bankrott des Kapitalismus des verfaulenden Systems konfrontiert ist, will sie das Programm selber, das geschichtliche Gedächtnis und das Bewußtsein des Proletariats auslöschen. Und vor allem will sie die Erinnerung an den proletarischen Oktober, die erste Machtergreifung durch eine ausgebeutete Klasse in der Geschichte der Menschheit, zerstören.

 

 

 

 

 

Eine falsche Achtung vor der Februarrevolution, einen wahrhaften Haß auf den Oktober

 

 

 

Wie schon nach dem Fall der Berliner Mauer ist auch die gegenwärtige Kampagne der Bourgeoisie nicht einfach eine pauschale Verurteilung von allem, was die Russische Revolution darstellte. Im Gegenteil, gewisse Historiker im Solde des Kapitals sind voll der heuchlerischen Lobreden über “die Initiativen” und sogar “den revolutionären Elan” der Arbeiter und ihrer Massenkampforgane, der Arbeiterräte. Sie geben sich voll Verständnis für die Verzweiflung der Arbeiter, der Soldaten und der Bauern, die mit den Prüfungen des “Großen Krieges” konfrontiert waren. Vor allem aber stellen sie sich dar als die Verteidiger der “wirklichen Russischen Revolution” gegen die angebliche Zerstörung durch die Bolschewiki. Mit anderen Worten: Die Angriffe der Bourgeoisie gegen die Russische Revolution wird vor allem über den angeblichen Gegensatz zwischen Februar und Oktober 1917 geführt, über den angeblichen Gegensatz zwischen dem Anfang des Kampfes und dem Ende und Ziel der Machtergreifung, das das Wesen jeder großen Revolution ist.

 

 

 

 

 

Auf der einen Seite erinnert die Bourgeoisie an den explosiven und spontanen Massencharakter der Kämpfe, die im Februar 1917 ausgebrochen sind, d.h. an die Massenstreiks, die Millionen von Leuten, die die Straße besetzten, die Explosionen von öffentlicher Euphorie bis hin zur Tatsache, daß Lenin selber das Rußland dieser Zeit zum freisten Land auf der Welt erklärte; dem stellt die Bourgeoisie andererseits die Oktoberereignisse entgegen, in denen es wenig Spontaneität gab, die zum voraus geplant gewesen waren, ohne einen Streik, ohne Strassendemonstrationen oder Massenversammlung während des Aufstandes, wo die Macht ergriffen wurde dank der Aktion von einigen Tausend bewaffneten Männern in der Hauptstadt unter dem Kommando eines revolutionären Komitees, das direkt von der bolschewistischen Partei inspiriert war. So erklärt die Bourgeoisie: Ist das nicht genug Beweis dafür, daß der Oktober nichts anderes als ein bolschewistischer Putsch war? Ein Putsch gegen die Mehrheit der Bevölkerung, gegen die Arbeiterklasse, gegen die Geschichte, gegen die menschliche Natur selbst? Und all dies, so erklärt man uns, sei die Folge einer “verrückten marxistischen Utopie”, die nur durch den Terror überleben konnte und direkt zum Stalinismus führen mußte. Nach den Aussagen der herrschenden Klasse wollte das Proletariat 1917 nicht anderes als das, was das Februarregime ihm versprach: eine “parlamentarische Demokratie” mit der Verpflichtung, die “Menschenrechte zu achten”, und eine Regierung, die - auch wenn sie den Krieg fortsetzte - erklärt hatte, “für” einen sofortigen Frieden “ohne Annexionen” zu sein. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie erzählt uns, daß das russische Proletariat sich für die gleich elenden Bedingungen geschlagen hat, die das moderne Proletariat heute erleidet! Wenn das Februarregime nicht im Oktober gestürzt worden wäre, so versichert sie uns, wäre Rußland heute ein ebenso mächtiges und “wohlhabendes” Land wie die Vereinigten Staaten, und die Entwicklung des “Kapitalismus des 20. Jahrhunderts wäre friedlich gewesen”.

 

 

 

 

 

Diese heuchlerische Verteidigung des “spontanen” Charakters der Februarereignisse drückt in Tat und Wahrheit den Haß und die Angst aus, die die Oktoberrevolution bei den Ausbeutern aller Länder hervorrufen. Die Spontaneität des Massenstreiks, der Zusammenschluß des gesamten Proletariats auf den Straßen und in den Vollversammlungen, die Bildung der Arbeiterräte im Feuer des Kampfes sind wesentliche Momente des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse. “Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Spontaneität einer Bewegung ein Zeichen dafür ist, daß sie tiefe und feste Wurzeln in der Masse hat und nicht auszumerzen ist”, stellte Lenin fest1 [3]. Aber solange die Bourgeoisie die herrschende Klasse bleibt, solange die politischen und repressiven Waffen des kapitalistischen Staates unversehrt bleiben, ist es ihr immer möglich, diejenigen ihres Klassenfeindes zu blockieren, zu neutralisieren und aufzulösen. Die Arbeiterräte, diese mächtigen Werkzeuge des Arbeiterkampfes, die mehr oder weniger spontan auftauchen, sind trotz allem nicht der einzige und auch nicht unbedingt der höchste Ausdruck der proletarischen Revolution. Sie beherrschen die ersten Etappen des revolutionären Prozesses. Die konterrevolutionäre Bourgeoisie preist die Arbeiterräte gerade mit der Absicht, den Beginn der Revolution als ihren Kulminationspunkt, als ihr Ziel darzustellen, weil sie weiß, daß es einfacher ist, eine Revolution zu zerschlagen, die auf halbem Weg stehenbleibt.

 

 

 

 

 

Aber die Russische Revolution ist nicht auf halbem Weg stehengeblieben. Da sie bis zum Ziel fortschritt, da sie vollendete, was sie im Februar 1917 begonnen hatte, stellte sie die Bestätigung für die Fähigkeit der Arbeiterklasse dar, geduldig, bewußt, kollektiv, also nicht nur “spontan”, sondern reiflich überlegt, geplant, strategisch die Waffen zu schmieden, die sie braucht zur Eroberung der Macht: ihre marxistische Klassenpartei, ihre Arbeiterräte, zusammengeschweißt durch ein Klassenprogramm und einen wirklichen Willen, die Gesellschaft anzuführen, ebenso wie die spezifischen Werkzeuge und die Strategie des proletarischen Aufstands. Es ist die Einheit von politischem Massenkampf und militärischer Machtergreifung, von Spontaneität und Planung, von Arbeiterräten und Klassenpartei, von der Aktion von Millionen von Arbeitern und derjenigen kühner Minderheiten der Vorhut der Klasse, die das Wesen der proletarischen Revolution ausmachen. Es ist diese Einheit, die die Bourgeoisie heute mit ihren Verleumdungen gegen den Bolschewismus und den Oktoberaufstand zerstören will.

 

 

 

 

 

Die Zerstörung des bürgerlichen Staates, der Sturz der Herrschaft der bürgerlichen Klasse, der Anfang der Weltrevolution - dies war die gigantische Verwirklichung des Oktobers 1917, d.h. das wichtigste, das bewußteste und das kühnste Kapitel der Geschichte der Menschheit bis zum heutigen Tag. Der Oktober zerschmetterte Jahrhunderte der durch die Klassengesellschaft produzierten Knechtschaft und bewies, daß mit dem Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte ein Klasse existiert, die sowohl ausgebeutet als auch revolutionär ist. Eine Klasse, die fähig ist, die Gesellschaft zu führen, die Klassenherrschaft abzuschaffen, die Menschheit von ihrer “vorgeschichtlichen” Fesselung an blinde gesellschaftliche Kräfte zu befreien. Das ist der eigentliche Grund, weshalb die herrschende Klasse zur Zeit - und heute mehr als je zuvor - kübelweise Lügen und Verunglimpfungen über den Roten Oktober kippt, über das “am meisten gehaßte” Ereignis der modernen Geschichte, das aber gleichzeitig den Stolz der bewußten proletarischen Klasse darstellt. Wir wollen beweisen, daß der Oktoberaufstand, den die Schreiberlinge, die Prostituierten des Kapitals, einen “Putsch” nennen, der Kulminationspunkt nicht nur der Russischen Revolution, sondern des gesamten Kampfes unserer Klasse bis heute gewesen ist. Wie Lenin 1917 schrieb: “Daß die Bourgeoisie uns mit einem solch abgrundtiefen Haß angreift, ist eine der deutlichsten Illustrationen der Wahrheit, das wir den Menschen die richtigen Wege und Mittel zeigen, um die bürgerliche Herrschaft zu stürzen.”2 [3]

 

 

 

 

 

“Die Krise ist herangereift”

 

 

 

 

Am 10. Oktober 1917 schlug Lenin, der am meisten verfolgte Mann im Land, der durch die Polizei in allen Ecken Rußlands gesucht wurde und auf der in Petrograd abgehaltenen Versammlung des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei verkleidet mit einer Perücke und einer Brille teilnahm, folgende Resolution vor, die er auf eine Seite eines Schulheftes geschrieben hatte: “Das Zentralkomitee stellt fest, daß sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarische Partei - daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) - daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.

 

 

Das Zentralkomitee stellt somit fest, daß der bewaffnete Aufstand unumgänglich und völlig herangereift ist, und fordert alle Parteiorganisationen auf, sich hiervon leiten zu lassen und von diesem Gesichtspunkt aus alle praktischen Fragen zu behandeln und zu entscheiden (Sowjetkongress des Nordgebiets, Abtransport von Truppen aus Petrograd, die Aktionen der Moskauer und der Minsker usw.).”3 [3]

 

 

 

 

 

Genau vier Monate zuvor hatte die bolschewistische Partei den kämpferischen Elan der Arbeiter Petrograds bewußt und wohlüberlegt gebremst. Diese waren durch die herrschende Klasse provoziert worden mit der Absicht, eine verfrühte und isolierte Konfrontation mit dem Staat herbeizuführen. Eine solche Situation hätte mit Sicherheit zur Enthauptung des russischen Proletariats in der Hauptstadt und zur Dezimierung seiner Klassenpartei geführt (vgl. “Die Julitage” in der vorliegenden Ausgabe der Internationalen Revue). Die Partei, die inzwischen die internen Hemmungen überwunden hatte, engagierte sich entschlossen, wie Lenin es in seinem berühmten Artikel “Die Krise ist herangereift” geschrieben hatte, dafür, “alle Kräfte zu mobilisieren, um die Arbeiter von der Unvermeidlichkeit des Entscheidungskampfes und der Notwendigkeit zu überzeugen, die Regierung Kerenski zu stürzen”. Am 29. September erklärte er: “Die Krise ist herangereift. (...) Es geht um die Ehre der bolschewistischen Partei. Die ganze Zukunft der internationalen Arbeiterbewegung für den Sozialismus steht auf dem Spiel.”

 

 

 

 

 

Die Erklärung für diese neue, im Vergleich zum Juli ganz andere Haltung der Partei ist in der weiter oben zitierten Resolution enthalten, es ist nämlich die Kühnheit und leuchtende Klarheit des Marxismus. Der Ausgangspunkt war wie immer für den Marxismus die Analyse der internationalen Lage, die Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und der Bedürfnisse des Weltproletariats. Die Resolution unterstrich, daß das russischen Proletariat im Unterschied zum Juli 1917 nicht mehr allein war, daß vielmehr die Weltrevolution in den zentralen Ländern des Kapitalismus begonnen hatte. “Das Heranreifen der Weltrevolution ist unbestreitbar. Der Ausbruch der Empörung der tschechischen Arbeiter wurde mit unglaublicher Brutalität niedergeschlagen, was davon zeugt, daß die Regierung äußerst erschreckt ist. Auch in Italien ist es zu einer Massenerhebung in Turin gekommen. Am wichtigsten aber ist der Aufstand in der deutschen Flotte”4 [3] Es ist das Verdienst der russischen Arbeiterklasse, nicht nur die Gelegenheit ergriffen zu haben, die internationale Isolation zu durchbrechen, die bis zu diesem Zeitpunkt durch den Weltkrieg aufgezwungen worden war, sondern darüber hinaus die Flammen des Aufstandes zurück nach Westeuropa getragen zu haben, indem es die Weltrevolution begann.

 

 

 

 

 

Gegen die Minderheit in der eigenen Partei, die noch der pseudomarxistischen, konterrevolutionären Argumentation der Menschewiki nachbetete, nach der die Revolution in einem fortgeschritteneren Land beginnen müsse, zeigte Lenin auf, daß die Bedingungen in Deutschland in Tat und Wahrheit viel schwieriger als in Rußland waren und daß die wirkliche Bedeutung des Aufstandes in Rußland darin lag, daß er der revolutionären Erhebung in Deutschland Hilfe leisten würde: ”Die Deutschen haben unter verteufelt schwierigen Verhältnissen, mit nur einem Liebknecht (der dazu noch im Zuchthaus sitzt), ohne Zeitungen, ohne Versammlungsfreiheit, ohne Sowjets, angesichts einer ungeheuren Feindseligkeit aller Bevölkerungsklassen bis zum letzten begüterten Bauern gegen die Idee des Internationalismus, angesichts der ausgezeichneten Organisation der imperialistischen Groß-, Mittel- und Kleinbourgeoisie, die Deutschen, d.h. die deutschen revolutionären Internationalisten, die Arbeiter im Matrosenkittel, haben einen Aufstand in der Flotte begonnen - bei einer Chance von vielleicht eins zu hundert. Wir aber, die wir Dutzende von Zeitungen, die wir Versammlungsfreiheit haben, über die Mehrheit in den Sowjets verfügen, wir, die wir im Vergleich zu den proletarischen Internationalisten in der ganzen Welt die besten Bedingungen haben, wir werden darauf verzichten, die deutschen Revolutionäre zu unterstützen. Wir werden argumentieren wie die Scheidemänner und die Renaudel: Das Vernünftigste ist, keinen Aufstand zu machen, denn wenn man uns niederknallt, so verliert die Welt in uns so prächtige, so vernünftige, so ideale Internationalisten!! Beweisen wir, daß wir vernünftig sind. Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen Aufständischen an und lehnen wir den Aufstand in Rußland ab. Das wird dann ein echter, vernünftiger Internationalismus sein.”5 [3]

 

 

 

 

 

Der Standpunkt Lenins und die internationalistische Methode, die das genaue Gegenteil der bürgerlich-nationalistischen Sichtweise des Stalinismus war, die sich im Gefolge der anschließenden Konterrevolution entwickelte, war nicht nur bei den Bolschewiki dieser Phase vorhanden, sondern bei allen fortgeschrittenen Arbeitern Rußlands dank der marxistischen politischen Erziehung. So strahlten die Matrosen der baltischen Flotte zu Beginn des Oktobers über die Radiostationen ihrer Schiffe folgenden Appell in alle Ecken der Welt aus: “In den Stunden, da die Wogen der Baltischen See rot gefärbt sind vom Blut unserer Brüder, erheben wir unsere Stimme. Unterdrückte aller Welt hebt das Banner der Revolte!” Doch die Einschätzung des weltweiten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen durch die Bolschewiki beschränkte sich nicht darauf, den Zustand des internationalen Proletariats zu untersuchen, sondern drückte auch eine klare Sichtweise der gesamten Lage der feindlichen Klasse aus. Die Bolschewiki, die ein tiefes Wissen über die Geschichte der Arbeiterbewegung hatten und das Beispiel der Pariser Kommune von 1871 kannten, wußten genau, daß die imperialistische Bourgeoisie sogar mitten im Weltkrieg ihre Kräfte gemeinsam gegen die Revolution einsetzen würde.

 

 

 

 

 

“Beweist nicht die völlige Untätigkeit der englischen Flotte im Allgemeinen  und auch der englischen Unterseeboote bei der Besetzung Oesels durch die Deutschen, im Zusammenhang mit der Absicht der Regierung, ihren Sitz von Petrograd nach Moskau zu verlegen, daß zwischen den russischen und englischen Imperialisten, zwischen Kerenski und den englisch-französischen Kapitalisten eine Verschwörung zustande gekommen ist mit dem Ziel, Petrograd an die Deutschen auszuliefern und die russische Revolution auf diesem Wege zu erdrosseln?” fragt Lenin und fügt hinzu: ”Die Resolution der Soldatensektion des Petrograder Sowjets gegen die Übersiedlung der Regierung aus Petrograd hat gezeigt, daß auch unter den Soldaten die Überzeugung von der Verschwörung Kerenskis heranreift.”6 [3] Im August war des revolutionäre Riga durch Kerenski und Kornilow bereits den Klauen des Kaisers Wilhelm II. ausgeliefert worden. Die ersten Gerüchte eines möglichen Separatfriedens zwischen Großbritannien und Deutschland gegen die Russische Revolution beunruhigten Lenin. Das Ziel der Bolschewiki war nicht der “Frieden”, sondern die Revolution, denn sie wußten als wirkliche Marxisten, daß ein kapitalistischer Waffenstillstand nur eine Feuerpause zwischen zwei Weltkriegen sein konnte. Es war diese durchdringende, kommunistische Sicht des unausweichlichen Untergangs in der Barbarei, den der dekadente, historisch bankrotte Kapitalismus der Menschheit vorbehielt, diese Sicht, die den Bolschewismus zu einem Wettlauf gegen die Zeit drängte, um mit den proletarischen, revolutionären Mitteln den Krieg zu beenden. Gleichzeitig begannen die Kapitalisten überall, systematisch die Produktion zu sabotieren, um die Revolution in Mißkredit zu bringen. Allerdings trugen diese Ereignisse schließlich auch dazu bei, den patriotischen Mythos der “nationalen Verteidigung”, wonach die Bourgeoisie und das Proletariat einer Nation ein gemeinsames Interesse daran hätten, den fremden “Aggressor” zurückzudrängen, in den Augen der Arbeiter zu zerstören. Dies erklärt auch, weshalb im Oktober die Sorge der Arbeiter nicht mehr darin bestand, Massenstreiks auszulösen, sondern die Produktion angesichts der Demontage ihrer “eigenen” Fabriken durch die Bourgeoisie in Gang zu halten. Unter den Faktoren, die für das Voranschreiten der Arbeiterklasse zum Aufstand entscheidend waren, gab es einerseits die Bedrohung der Revolution durch die neuen konterrevolutionären Angriffe, andererseits aber auch die entschlossene Unterstützung der Arbeiter v.a. in den wichtigsten Sowjets für die Bolschewiki. Diese beiden Faktoren waren das direkte Ergebnis der größten Massenkonfrontation zwischen Bourgeoisie und Proletariat von Juli bis Oktober 1917: des Kornilow-Putsches im August. Unter der Führung der Bolschewiki stoppte das Proletariat den Vormarsch von Kornilow auf die Hauptstadt, indem hauptsächlich die Truppen zersetzt, das Transportsystem und die Logistik dank den Arbeitern bei der Eisenbahn, der Post und anderen Sektoren lahmgelegt wurden. Im Laufe dieser Aktion, während der die Sowjets als revolutionäre Organisationen der gesamten Klasse zu neuem Leben erwacht waren, entdeckten die Arbeiter, daß die Provisorische Regierung von Petrograd unter der Führung des Sozialrevolutionärs Kerenski und der Menschewiki selbst im konterrevolutionären Komplott verhängt war. Von diesem Moment an verstanden die Arbeiter, daß diese Parteien zu einem eigentlichen “linken Flügel des Kapitals” geworden waren, und sie begannen, sich hinter den Bolschewiki zu vereinigen. “Die ganze taktische Kunst besteht darin, den Moment zu erfassen, wo die Gesamtheit der Bedingungen für uns am günstigsten ist. Der Kornilowsche Aufstand schuf diese Bedingungen. Die Massen, die das Vertrauen zu den Parteien verloren hatten, sahen die konkrete Gefahr der Gegenrevolution. Sie glaubten, daß jetzt die Bolschewiki berufen seien, diese Gefahr zu bannen.”7 [3] Der größte einzelne Test über die Qualität einer Arbeiterpartei ist, ob sie fähig ist, die Machtfrage richtig und zeitig zu stellen. “Die gewaltigste Umstellung ist aber die, wenn die proletarische Partei von der Vorbereitung, der Propaganda, der Organisation, der Agitation übergeht zum unmittelbaren Kampf um die Macht, zum bewaffneten Aufstand gegen die Bourgeoisie. Alles, was in der Partei vorhanden ist an unentschlossenen, skeptischen, opportunistischen, menschewistischen Elementen, erhebt sich gegen den Aufstand.”8 [3] Die bolschewistische Partei überwand diese Krise und zeigte sich entschlossen, den bewaffneten Kampf vorwärtszutreiben, und bewies damit ihre beispiellose Qualität.

 

 

 

 

 

Das Proletariat beschreitet den Weg des Aufstandes

 

Im Februar 1917 hatte sich eine Situation der “Doppelmacht” entwickelt. Nebst dem bürgerlichen Staat und gegen ihn erschienen die Arbeiterräte als eine Alternative, als eine potentielle Regierung der Arbeiterklasse. Da zwei entgegengesetzte Kräfte, zwei verfeindete Klassen, nicht nebeneinander bestehen können und weil die eine zwangsläufig die andere zerstören muß, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen, ist eine derartige Periode der “Doppelmacht” notwendigerweise sehr kurz und instabil. Eine solche Phase ist sicherlich nicht durch “friedliche Koexistenz” und gegenseitige Toleranz gekennzeichnet. Sie kann zuerst den Anschein einer sozialen Ausgeglichenheit haben, doch in Wirklichkeit ist es eine entscheidende Stufe im Bürgerkrieg zwischen Kapital und Arbeit.

 

 

 

 

 

Die bürgerlichen Geschichtsfälschungen sind dazu gezwungen, den Todeskampf der Klassen, der sich zwischen Februar und Oktober 1917 abspielte, zu verschleiern und die Oktoberrevolution als einen “bolschewistischen Putsch” darzustellen. Die “ungewöhnliche” Verlängerung dieser Periode der “Doppelmacht” hätte notwendigerweise das Ende der Revolution und ihrer Organe bedeutet. Der Sowjet ist “nur als Organ des Aufstandes, nur als Organ der revolutionären Macht real (...). Außerhalb dieser Aufgabe sind die Sowjets ein bloßes Spielzeug, das unvermeidlich zur Apathie, Gleichgültigkeit und Enttäuschung der Massen führt, denen die endlose Wiederholung von Resolutionen und Protesten mit vollem Recht zuwider geworden ist.”9 [3] Wenn der proletarische Aufstand nicht spontaner war als ein konterrevolutionärer militärischer Staatsstreich - während der Monate vor dem Oktober hatten die zwei Klassen in wiederholter Weise ihre spontane Tendenz zum Kampf um die Macht zum Ausdruck gebracht. Die Julitage und der Kornilov-Putsch waren dabei die klarsten Ausdrücke. Der Oktoberaufstand begann in Wirklichkeit nicht auf ein Signal der bolschewistischen Partei hin, sondern auf den Versuch der bürgerlichen Regierung die revolutionärsten Truppen (2/3 der Petrograder Garnison) an die Front zu schicken und sie in der Hauptstadt durch konterrevolutionäre Bataillone zu ersetzen. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie machte, und dies lediglich einige Wochen nach Kornilow, einen erneuten Versuch, die Revolution zu zermalmen. Ein Versuch, der das Proletariat dazu trieb, zum Aufstand zu schreiten, um sie zu retten.

 

 

 

 

 

“Und doch war der Ausgang des Aufstandes vom 25. Oktober zu drei Viertel, wenn nicht mehr, in dem Moment entschieden, als wir uns der Absendung der Truppen entgegenstemmten, das kriegsrevolutionäre Komitee bildeten (16. Oktober), in allen Truppenteilen und Organisationen unsere Kommissare ernannten und dadurch nicht nur den Stab des Petrograder Militärbezirks, sondern auch die Regierung gänzlich isolierten. (...) Mit dem Moment, da die Bataillone auf den Befehl des kriegsrevolutionären Komitees sich weigerten, die Stadt zu verlassen und sie auch nicht verließen, hatten wir in der Hauptstadt einen siegreichen Aufstand (...).1 [3]0                           

 

 

 

 

 

Noch mehr, dieses Militärrevolutionäre Komitee, welches die entscheidenden militärischen Aktionen des 25. Oktobers leiten sollte - alles andere als ein Organ der Bolschewiki - war ursprünglich von den konterrevolutionären Parteien der “Linken” als ein Mittel zum Abzug der revolutionären Truppen der Hauptstadt unter Umgehung der Sowjets eingeführt worden. Doch es wurde sofort durch den Sowjet zu seinem Instrument umgewandelt, nicht nur um sich dieser Maßnahme zu widersetzen, sondern um den Kampf um die Macht zu organisieren.

 

 

 

 

 

“Nein, die Macht der Sowjets war keine Schimäre, keine von Parteitheoretikern erklügelte, willkürliche Konstruktion. Sie wuchs unaufhaltsam von unten auf, aus dem Wirtschaftszerfall, Ohnmacht der Besitzenden, aus den Nöten der Massen; die Sowjets wurden in der Tat zur Macht - für Arbeiter, Soldaten, Bauern blieb kein anderer Weg übrig. Es war nicht mehr an der Zeit über die Sowjetmacht zu klügeln und zu streiten: es hieß sie verwirklichen.”1 [3]1 Die Legende eines bolschewistischen Putsches ist eine der größten Lügen der Geschichte. In Wirklichkeit wurde der Aufstand im vornherein von den gewählten revolutionären Delegierten öffentlich angekündigt. Die Rede Trotzkis an der Konferenz der Garnison von Petrograd am 18. Oktober illustriert es: “Es ist der Bourgeoisie bekannt, daß der Petrograder Sowjet dem Sowjetkongress vorschlagen wird, die Macht in seine Hände zu nehmen...Und nun versuchen die bürgerlichen Klassen, in Voraussicht des unvermeidlichen Kampfes, Petrograd zu entwaffnen (...) Beim ersten Versuch der Konterrevolution, den Kongreß zu sprengen, werden wir mit einer Gegenoffensive antworten, die unbarmherzig sein wird und die wir restlos durchführen weden.”1 [3]2 Punkt 3 der durch die Konferenz der Garnison angenommenen Resolution lautet: “Der Gesamtrussische Sowjetkongress muß die Macht in die Hände nehmen und dem Volk Frieden, Land und Brot verschaffen.” Um sicher zu gehen, daß das gesamte Proletariat den Kampf um die Macht unterstützt, beschloß diese Garnisonskonferenz, sich auf friedliche Weise noch vor dem Kongreß der Sowjets in Petrograd und gestützt auf Massenversammlungen und Debatten einen Überblick über die eigenen Kräfte zu verschaffen. “Zehntausende umspülten das gigantische Gebäude des Volkshauses (...) An ehernen Säulen und Fenstern hingen Girlanden und Trauben menschlicher Köpfe, Beine, Arme. Die Luft war von jener elektrischen Spannung erfüllt, die eine nahe Entladung anzeigt. Nieder mit Kerenski! Nieder mit dem Krieg! Alle Macht den Sowjets! Nicht einer der Versöhnler wagte nunmehr vor dieser bis zum Rotglühen erhitzten Menge mit Entgegnungen oder Warnungen aufzutreten. Das Wort gehörte den Bolschewiki.” Trotzki führt weiter an: “Die Erfahrung der Revolution, des Krieges, des schweren Kampfes, des ganzen bitteren Lebens ersteht aus der Tiefe der Erinnerung eines jeden von Not bedrückten Menschen und geht in diese einfachen und gebieterischen Parolen ein. So kann es nicht weitergehen. Es muß ein Ausgang in die Zukunft durchbrochen werden.”1 [3]3

 

 

 

 

 

Die Partei hatte den “Willen zur Machtergreifung” der Massen nicht erfunden. Sie hatte ihn jedoch inspiriert, und ihm Vertrauen in seine Fähigkeit gegeben, die Klasse zu führen. Wie Lenin nach dem Putsch von Kornilow schrieb: “Mögen alle Kleinmütigen aus diesem historischen Beispiel lernen. Mögen sich diejenigen schämen, die sagen: “Wir haben keinen Apparat, der den alten, unweigerlich zur Verteidigung der Bourgeoisie neigenden ersetzen könnte.” Denn dieser Apparat ist vorhanden. Das sind gerade die Sowjets. Fürchtet nicht die Initiative und Selbständigkeit der Massen, vertraut den revolutionären Organisationen der Massen, und ihr werdet auf allen Gebieten des staatlichen Lebens dieselbe Kraft, dieselbe Unbesiegbarkeit der Arbeiter und Bauern sehen, die sie in ihrem gemeinsamen Handeln, in ihrem Elan gegen den Kornilowputsch offenbart haben.”1 [3]4

 

 

 

 

 

Die Aufgabe der Stunde: die Zerstörung des bürgerlichen Staates

 

 

 

Der Aufstand ist eines der entscheidendsten, komplexesten und anspruchsvollsten Probleme, welches das Proletariat zu lösen hat, um seine historische Aufgabe zu erfüllen. In der bürgerlichen Revolution war diese Frage viel weniger entscheidend, da sich die Bourgeoisie in ihrem Kampf um die Macht auf das stützen konnte, was sie sich auf ökonomischer und politischer Ebene innerhalb der feudalen Gesellschaft bereits erobert hatte. Während ihrer Revolution ließ die Bourgeoisie das Kleinbürgertum und die junge Arbeiterklasse für sich kämpfen. Sobald der Rauch der Schlacht abgezogen war, bevorzugte sie meist ihre frisch eroberte Macht in die Hände einer feudalen und nun verbürgerlichten, heimischen Klasse zurückzugeben, da diese die Autorität der Tradition auf ihrer Seite hatte. Im Gegensatz dazu besitzt das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft keinerlei Eigentum oder ökonomische Macht. Es kann deshalb weder den Kampf um die Macht noch die Verteidigung seiner einmal erworbenen Klassenherrschaft einer anderen Klasse oder einem anderen Sektor der Gesellschaft überlassen. Das Proletariat muß die Macht selbst ergreifen, indem es die anderen Schichten unter seine Führung stellt, indem es die gesamte Verantwortung trägt, und die Konsequenzen und Gefahren seines Kampfes auf sich nimmt. Während des Aufstandes erwacht das Proletariat und entdeckt sich, viel klarer als in irgendeinem vorangegangenen Moment, selbst, entdeckt das “Geheimnis” seiner eigenen Existenz als erste und letzte sowohl ausgebeutete als auch revolutionäre Klasse in der Geschichte. Aus diesem Grunde darf man keineswegs erstaunt sein, daß die Bourgeoisie dermaßen bestrebt ist, die Erinnerung an den Oktober auszulöschen!

 

 

 

 

 

Von größter Bedeutung in der Revolution war seit dem Februar 1917 die Aufgabe des Proletariates, die Herzen und Gedanken derjenigen Sektoren zu erobern, welche für die Seite des Proletariates gewonnen werden konnten, aber  zugleich auch gegen die Revolution hätten mißbraucht werden können: die Soldaten, die Bauern, die Beamten, die Angestellten des Transportwesens, bis zu denjenigen, welche im Hausdienst der Bourgeoisie standen. Am Vorabend des Aufstandes mußte diese Aufgabe erfüllt werden.

 

 

 

 

 

Die Aufgabe des Aufstandes selbst war etwas ganz anderes: Er beinhaltete das Zerbrechen des Widerstandes derjenigen Teile des Staates und Teile der Armee, welche nicht gewonnen werden konnten, deren Weiterbestehen aber den Keim der barbarischen Konterrevolution beinhalteten. Um diesen Widerstand zu brechen, um den bürgerlichen Staat zu zerstören, mußte das Proletariat eine bewaffnete Kraft bilden, welche der eisernen Disziplin der Klasse unterstand. Deshalb waren die bewaffneten Kräfte des 25. Oktobers ausschließlich aus Soldaten gebildet, welche der Leitung des Proletariates voll und ganz Folge leisteten. “Die Oktoberrevolution war der Kampf des Proletariates gegen die Bourgeoisie um die Macht. Aber den Ausgang des Kampfes entschied letzten Endes der Muschik. (...) Was hier der Umwälzung den Charakter eines kurzen Schlages mit minimalster Zahl an Opfern verlieh, war die Verbindung der revolutionären Verschwörung, des proletarischen Aufstandes mit dem Kampf der Bauerngarnison um die Selbsterhaltung. Geleitet wurde die Umwälzung von der Partei; die wichtigste treibende Kraft war das Proletariat; die bewaffneten Arbeiterabteilungen bildeten die Faust des Aufstandes; doch den Ausgang des Kampfes entschied die schwerwiegende Bauerngarnison.”1 [3]5 So war es in Tat und Wahrheit dem Proletariat gelungen, die Macht zu ergreifen, weil es fähig war, die anderen nichtausbeutenden Schichten hinter sein eigenes Klassenziel zu mobilisieren. Also haargenau das Gegenteil eines “Putsches”!

 

 

 

 

 

“Demonstrationen, Strassenkämpfe, Barrikaden, alles, was in den gewohnten Begriff des Aufstandes fällt, gab es fast nicht: die Revolution hatte nicht nötig, die bereits gelöste Aufgabe zu lösen. Die Eroberung des Regierungsapparates ließ sich planmäßig durchführen, mit Hilfe verhältnismäßig weniger, von einem Zentrum aus geleiteter bewaffneter Abteilungen. (...) Die Ruhe in den Oktoberstrassen, das Fehlen von Massen und Kämpfen gaben den Gegnern Anlaß, von Verschwörung einer verschwindenden Minderheit, von Abenteuer eines Häufleins Bolschewiki zu sprechen. (...) In Wirklichkeit konnten die Bolschewiki im letzten Moment den Kampf um die Macht auf eine “Verschwörung” beschränken, nicht weil sie eine kleine Minderheit waren, sondern im Gegenteil, weil sie in den Arbeitervierteln und Kasernen eine erdrückende, geschlossene, organisierte und disziplinierte Mehrheit hinter sich hatten.”1 [3]6

 

 

 

 

 

Die Wahl des richtigen Zeitpunktes: Schlüssel zu Machtübernahme

 

 

 

Von einem technischen Standpunkt aus betrachtet ist der kommunistische Aufstand nichts anderes als eine Frage der Organisation und Strategie. Politisch jedoch ist es wohl die anspruchsvollste Aufgabe, die man sich vorstellen kann. Die schwierigste aller Aufgaben, welche auch am meisten Probleme mit sich bringt, ist die Wahl des richtigen Zeitpunktes zur Eröffnung des Kampfes um die Macht: nicht zu früh, nicht zu spät. Im Juli 1917, sowie auch schon im August beim Kornilow-Putsch, als die Bolschewiki die Klasse zurückhielten, welche bereit für den Kampf um die Macht war, bestand die größte Gefahr in einem verfrühten Aufstand. Schon im September rief Lenin ohne Unterbruch zur Vorbereitung eines bewaffneten Kampfes auf, indem er erklärte: “Jetzt oder nie!”

 

 

“Eine revolutionäre Situation läßt sich nicht willkürlich konservieren. Hätten die Bolschewiki im Oktober-November die Macht nicht genommen, sie hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht genommen. Statt fester Führung hätten die Massen bei den Bolschewiki das gleiche, ihnen schon verhaßt gewordene Auseinandergehen von Wort und Tat gefunden und sich von der Partei, die ihre Hoffnung betrogen, im Laufe von zwei - drei Monaten abgewandt, wie sie sich vorher von den Sozialrevolutionären und Menschewiki abgewandt hatten”1 [3]7 Dies war der Grund, weshalb Lenin in seinem Einsatz gegen die Gefahr des Zurückstellens des Kampfes um die Macht nicht nur die konterrevolutionären Vorbereitungen der Weltbourgeoisie unterstrich, sondern er zog auch die verheerenden Auswirkungen von Zweifeln unter den Arbeitern selbst in Betracht, welche “fast ohne Hoffnung sind”. Die Hungernden könnten beginnen, “alles kurz und klein zu schlagen”, “ja sogar rein anarchistisch, wenn die Bolschewiki es nicht verstehen, sie im letzten Gefecht zu führen.” “Man kann nicht weiter warten, ohne Gefahr zu laufen, das Komplott Rodsjankos mit Wilhelm zu fördern und den völligen Zerfall bei einer Massenflucht der Soldaten zu erleben, wenn sie (die schon nahezu verzweifelt sind) völlig verzweifeln und alles seinem Schicksal überlassen.”1 [3]8 

 

 

 

 

 

Den richtigen Zeitpunkt wählen erfordert nicht nur eine exakte Einschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, sondern es bedarf auch einer sorgfältigen Einschätzung der Dynamik der Zwischenschichten. “Eine revolutionäre Situation ist nicht von ewiger Dauer. Die schwankendste Voraussetzung der Umwälzung ist die Stimmung der Kleinbourgeoisie. Während nationaler Krisen geht sie hinter jener Klasse, die ihr nicht durch Worte, sondern auch durch Taten Vertrauen einflößt. Fähig zum impulsiven Aufstieg, sogar zur revolutionären Raserei, fehlt der Kleinbourgeoisie Ausdauer, sie verliert bei Mißerfolg leicht den Mut und fällt aus flammender Hoffnung in Enttäuschung. Die scharfen und jähen Wechsel ihrer Stimmungen verleihen eben jeder revolutionären Situation eine solche Unbeständigkeit. Ist die proletarische Partei nicht genügend entschlossen, um die Erwartungen und Hoffnungen der Volksmassen rechtzeitig in revolutionäre Handlungen umzusetzen, wird die Flut schnell von der Ebbe abgelöst: die Zwischenschichten wenden ihre Blicke von der Revolution ab und suchen die Retter im feindlichen Lager.”1 [3]9

 

 

 

 

 

Die Kunst des Aufstandes

 

 

 

In seinem Kampf zur Überzeugung der eigenen Partei von der dringenden Notwendigkeit eines unmittelbaren Aufstandes, griff Lenin auf Marxens hervorragende Argumentation in dessen Werk “Revolution und Konterrevolution in Deutschland” zurück. Über den Aufstand, der “eine Kunst ist, genauso wie der Krieg und andere Formen der Kunst. Er ist bestimmten Regeln unterworfen, deren Unterlassung zur Niederlage und die versäumende   Partei zur Mitschuld führt.” Die wichtigsten dieser Regeln sind laut Marx, einen begonnenen Aufstand niemals auf halbem Wege abzubrechen und immer in der Offensive zu bleiben, da “die Defensive der Tod der bewaffneten Erhebung ist”; den Feind zu überraschen und durch alltägliche Erfolge zu demoralisieren, “selbst mit kleinen”, welche ihn zum Rückzug zwingen; “(...) mit den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik, so zusammengefaßt: ‘Kühnheit, Kühnheit, abermals Kühnheit!’” Und wie Lenin es sagte: “Am entscheidenden Ort und im entscheidenden Augenblick muß ein großes Übergewicht an Kräften konzentriert werden, denn sonst wird der Feind, der besser ausgebildet und organisiert ist, den Aufstand vernichten.” Lenin fügte an: “Wir wollen hoffen, daß wenn die Aktion beschlossen wird, die Führer mit Erfolg das große Vermächtnis von Danton und Marx befolgen werden. Der Erfolg der russischen sowohl wie der Weltrevolution hängt von zwei, drei Tagen des Kampfes ab.”2 [3]0            

 

 

              

 

 

In dieser Perspektive hatte das Proletariat die Organe seines Kampfes um die Macht zu formieren: ein Militärrevolutionäres Komitee und bewaffnete Truppen. “Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen, so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen: es braucht eine für diese Aufgabe geeignete Organisation. In der Verknüpfung von Massenaufstand und Verschwörung, der Unterordnung der Verschwörung unter den Aufstand, der Organisierung des Aufstandes durch die Verschwörung, besteht jedes komplizierte und verantwortliche Gebiet der revolutionären Politik, das Marx und Engels “die Kunst des Aufstandes” nannten.”2 [3]1

 

 

 

 

 

Es ist diese zentralisierte, koordinierte und wohlüberlegte Art und Weise, die es dem Proletariat ermöglichte, den letzten bewaffneten Widerstand der herrschenden Klasse zu brechen. Die Bourgeoisie hat diesen Schlag, den ihr das Proletariat versetzt hatte, bis heute nie vergessen. “Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche Massenbewegung, die - geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime - weder klare Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewußt zum Sieg führende Leitung besitzt. Der elementare Aufstand genießt die wohlwollende Anerkennung der offiziellen Historiker, wenigstens der demokratischen, als unabwendbares Übel, für das die Verantwortung auf das alte Regime fällt. (...) Was sie als “Blanquismus” oder noch schlimmer als Bolschewismus verneint, ist die bewußte Vorbereitung der Umwälzung, der Plan, die Verschwörung.”2 [3]2 

 

 

 

 

 

Das ist es, was die Bourgeoisie so wütend macht: die Kühnheit, mit der ihr die Arbeiterklasse die Macht aus den Händen riß. Die Bourgeoisie auf der ganzen Welt wußte, daß ein Aufstand bevorsteht. Aber sie wußte nicht, wann und wo der Feind zuschlagen würde. Bei seinem entscheidenden Schlag profitierte das Proletariat voll und ganz vom Überraschungseffekt, daß es den Zeitpunkt und das Kampfterrain selbst wählte. Die Bourgeoisie hoffte, ihr Feind sei so naiv und “demokratiegläubig”, öffentlich, auf den Allrussischen Sowjetkongress in Petrograd in Gegenwart der herrschenden Klasse, anzukündigen, wann und wo er losschlägt. Dort gedachte sie, die Entscheidung und Durchführung des Aufstandes sabotieren und beeinflussen zu können. Aber als die Kongressdelegierten in der Hauptstadt ankamen, war der Aufstand schon voll im Gange, die Herrschaft der Ausbeuter wankte schon. Das Petrograder Proletariat übergab mittels seines Militärischen Revolutionskomitees dem Sowjetkongress die Macht, und die Bourgeoisie war dagegen machtlos. Putsch! Verschwörung! schrie die Bourgeoisie und schreit es noch heute. Lenins Antwort war: Putsch, Nein! Verschwörung, Ja! Aber eine Verschwörung, die dem Willen der Massen und den Notwendigkeiten des Aufstandes untergeordnet ist. Und Trotzki fügte hinzu: “Je höher die revolutionäre Bewegung ihrem politischen Niveau nach ist, je ernster ihre Führung, einen um so größeren Raum nimmt die Verschwörung im Volksaufstande ein.”

 

 

 

 

 

Ist der Bolschewismus eine Form des Blanquismus? Diese Anklage wird auch heute wieder von den Herrschenden erhoben. “Die Bolschewiki mußten mehr als einmal, schon lange vor der Oktoberumwälzung, die von den Gegnern gegen sie gerichtete Beschuldigung des Verschwörertums und Blanquismus widerlegen. Indes hat niemand einen so unversöhnlichen Kampf gegen das System der reinen Verschwörung geführt wie Lenin. Die Opportunisten der internationalen Sozialdemokratie haben mehr als einmal die alte sozialrevolutionäre Taktik des individuellen Terrors gegen die Agenten des Zarismus in Schutz genommen vor der erbarmungslosen Kritik der Bolschewiki, die dem individualistischen Abenteurertum der Intelligenz den Kurs auf den Massenaufstand entgegenstellten. Während er jedoch alle Abarten des Blanquismus und Anarchismus verwarf, hat Lenin sich keine Minute vor der ‘Heiligkeit’ des Massenaufstandes gebeugt.” Dazu fügte Trotzki weiter an: “Die Verschwörung ersetzt den Aufstand nicht. Die aktive Minderheit des Proletariates, so gut sie auch organisiert sein mag, ist nicht fähig, unabhängig vom Gesamtzustand des Landes die Macht zu ergreifen: in diesem Sinne hat die Geschichte über den Blanquismus ihr Urteil gesprochen. Aber nur in diesem Sinne. Das direkte Theorem behält seine volle Geltung. Zur Machteroberung genügt dem Proletariat nicht der elementare Aufstand. Nötig ist die entsprechende Organisation, nötig der Plan, nötig die Verschwörung. So ist die Leninsche Fragestellung.”2 [3]3                 

 

 

 

 

 

Die Partei und der Aufstand

 

 

 

Es ist wohlbekannt, daß Lenin der erste war, der die volle Klarheit über die Notwendigkeit des Kampfes um die Macht im Oktober aufwies. Er arbeitete an mehreren Aufstandsplänen: Der eine konzentrierte sich auf Finnland und die baltische Flotte, ein anderer auf Moskau. Er trat dafür ein, daß die bolschewistische Partei, und nicht ein Organ der Sowjets den Aufstand organisieren sollte. Die Ereignisse haben allerdings bewiesen, daß die Organisation und die Führung des Aufstands durch ein Organ der Sowjets, konkret durch das militärische Revolutionskomitee, in dem die Partei offensichtlich den dominierenden Einfluss ausübte, den besten Erfolg für das Gelingen des Unternehmens garantierte, da sich die Klasse als ganzes, und nicht lediglich Sympathisanten der Partei durch die revolutionären Einheitsorgane vertreten sah.

 

 

 

 

 

Gemäß den bürgerlichen Historikern offenbarte allerdings der Vorschlag Lenins, daß für ihn die Revolution nicht die Angelegenheit der Massen, sondern eine Privatsache der Partei gewesen sei. Weshalb, so fragen sie, habe er sich so sehr gegen ein Abwarten des Sowjetkongresses zur Entscheidung des Aufstandes zur Wehr gesetzt. Lenins Haltung war in völliger Übereinstimmung mit der von Marx und fußte auf einem historisch begründeten tiefen Vertrauen in die proletarischen Massen. “Es wäre verderblich oder ein rein formales Herangehen, wollten wir die unsichere Abstimmung am 25. Oktober abwarten, das Volk hat das Recht und die Pflicht, solche Fragen nicht durch Abstimmungen, sondern durch Gewalt zu entscheiden; das Volk hat das Recht und die Pflicht, in kritischen Augenblicken der Revolution seinen Vertretern, selbst seinen besten Vertreter, die Richtung zu weisen und nicht auf sie zu warten. Das hat die Geschichte aller Revolutionen bewiesen, und maßlos wäre das Verbrechen der Revolutionäre, wenn sie den Augenblick vorübergehen ließen, obwohl sie wissen, daß die Rettung der Revolution, das Friedensangebot, die Rettung Petrograds, die Rettung vor dem Hunger, die Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern von ihnen abhängen. Die Regierung wankt. Man muß ihr den Rest geben, koste es, was es wolle!”2 [3]4

 

 

 

 

 

In Tat und Wahrheit stimmten alle Führer der Bolschewiki darin überein, die kaum eroberte Macht unmittelbar an den Sowjetkongress ganz Rußlands zu übergeben, wer auch immer der Dirigent des Aufstandes sei. Die Partei war sich sehr wohl bewußt, daß die Revolution weder das Werk der Partei allein noch einzelner Arbeiter von Petrograd, sondern der gesamten Arbeiterklasse ist. Was jedoch die Frage der Inszenierung des Aufstandes selbst betrifft, so hat Lenin richtigerweise hervorgehoben, daß hier die geeignetsten Klassenorgane eine zentrale Rolle spielen sollten, nämlich diejenigen, die befähigt waren, die Aufgabe politisch und militärisch zu planen und die politische Führung der Kämpfe zu übernehmen. Die Ereignisse haben bewiesen, daß Trotzki richtig lag, als er für diese Aufgabe die Bildung eines speziellen Organs der Sowjets vorschlug, in dem die Partei direkten Einfluß ausüben konnte. Es handelte sich hier nicht nur um eine prinzipielle Auseinandersetzung, sondern um die vitale Frage der politischen Effizienz. Lenin wollte nicht den Sowjetapparat als ganzes mit dem Aufstand betrauen, weil dies den Aufstand fatal verzögert und dem Feind die Pläne enthüllt hätte. Diese tiefe Sorge Lenins war vollkommen richtig. Die schmerzhafte Erfahrung der Russischen Revolution war notwendig, damit die Kommunistische Linke einige Jahre später klar festhalten konnte, daß zwar die Partei die politische Führung sowohl im Kampf um die Macht als auch in der Diktatur des Proletariats ausüben müsse, nicht aber die Macht übernehmen dürfe. In dieser Frage wiesen 1917 weder Lenin und die anderen Bolschewiki noch die Spartakisten in Deutschland Klarheit auf, und sie waren dazu auch noch nicht in der Lage. Was jedoch die ”Kunst des Aufstands” selbst betrifft, so gibt es heute keinen Revolutionär, von dem man mehr lernen könnte als von Lenin, insbesondere was die revolutionäre Geduld, die Vorsicht bei der Vermeidung verfrühter Auseinandersetzungen sowie die revolutionäre Kühnheit bei der Machtergreifung anbelangt. Lenin lag richtig, als er die Rolle der Partei im eigentlichen Aufstand thematisierte: Die Massen übernehmen die Macht, die Sowjets garantieren die Organisation, die Partei jedoch ist die unentbehrlichste Waffe im Kampf um die Macht. Im Juli 1917 ersparte die Partei der Klasse eine entscheidende Niederlage. Im Oktober 1917 führte die Partei die Klasse auf dem Weg zur Machtergreifung. Ohne diese unentbehrliche Führung hätte es keine Machtergreifung gegeben.

 

 

 

 

 

Lenin gegen Stalin

 

 

 

Die Bourgeoisie streicht schließlich ihr Hauptargument hervor: Die Oktoberrevolution habe ja zum Stalinismus geführt. Es waren jedoch die bürgerliche Konterrevolution, die Niederlage der Weltrevolution in Westeuropa, die Invasion und internationale Isolierung der Sowjetunion, die Unterstützung der nationalistischen Bürokratie in Rußland gegen die Arbeiterklasse und die Bolschewiki durch die Weltbourgeoisie, die zum Stalinismus führten. Man muß sich unbedingt vergegenwärtigen, daß sich sowohl in den entscheidenden Wochen des Oktobers 1917 als auch bereits in den Monaten zuvor innerhalb der bolschewistischen Partei eine Strömung manifestierte, die das Gewicht der bürgerlichen Ideologie widerspiegelte und sich gegen den Aufstand stellte. Stalin war zu jener Zeit bereits ein gefährlicher Exponent dieser Strömung. Im März 1917 war Stalin das Sprachrohr derjenigen Strömung innerhalb der Partei, die die internationalistische Position verlassen, die provisorische Regierung mit ihrer kriegtreiberischen Politik unterstützen und schließlich die Fusion mit den Menschewiki herbeiführen wollte. Als sich Lenin in den Wochen vor dem Aufstand öffentlich dafür aussprach, ließ Stalin in seiner Funktion als Herausgeber der Parteipresse die Artikel von Lenin absichtlich verspätet erscheinen, während er die Beiträge von Sinowjew und Kamenew, die gegen den Aufstand gerichtet waren, vorzog und so den Eindruck erweckte, als würden sie die Position des Bolschewismus repräsentieren. Lenin drohte daraufhin sogar mit seinem Rücktritt aus dem Zentralkomitee. Stalin fuhr jedoch mit seinem Manöver fort und behauptete, daß Lenin, Sinowjew und Kamenew dieselbe Position vertreten würden, während ersterer die Gesamtheit der Partei in der Frage des unmittelbaren Aufstandes hinter sich hatte, sabotierten letztere offen die Entscheide der Partei. Während des Aufstandes selbst verschwand Stalin von der Bildfläche, um abzuwarten, auf welche Seite der Wind drehen würde, ohne sich vorher zu stark zu exponieren. Der Kampf Lenins und der Partei gegen den ”Stalinismus”, gegen die Manipulationen, gegen die hinterhältige Sabotage des Aufstandes (im Unterschied zu Sinowjew und Kamenew, die wenigstens offen agierten) wurde innerhalb der Partei in Lenins letzten Lebensjahren wieder aufgenommen, allerdings unter historisch unendlich schlechteren Bedingungen.

 

 

 

 

 

Der Kulminationspunkt der Menschheitsgeschichte

 

 

 

Weit davon entfernt ein simpler Staatsstreich zu sein, wie dies die herrschende Klasse lügnerisch behauptet, war die Oktoberrevolution der Kulminationspunkt der bisherigen Menschheitsgeschichte. Erstmals in der Geschichte zeigte eine ausgebeutete Klasse den Mut und die Fähigkeit, den Ausbeutern die Macht zu entreißen und die proletarische Weltrevolution einzuleiten. Obgleich zwar die Revolution bald Niederlagen erlitt, zuerst in Berlin, dann in Budapest und Turin, und obgleich die Arbeiterklasse einen schrecklichen Preis für diese Niederlagen bezahlen mußte (Horror der Konterrevolution, weiterer Weltkrieg, allgemeine Barbarei), gelang es der Bourgeoisie dennoch nicht, dieses außergewöhnliche Ereignis und seine Lehren aus dem Gedächtnis der Arbeiterklasse zu löschen. In der heutigen Zeit existieren in der herrschenden Klasse nur noch die schlimmsten Ideologien und Zerfallsgedanken wie der zügellose Individualismus, der Nihilismus, Obskurantismus. Es blühen reaktionäre Visionen wie der Rassismus und Nationalismus, der Mystizismus und der Oekologismus. In einer Zeit, in der die letzten Spuren eines Glaubens an den Fortschritt der Menschheit verschwunden sind, zeigt uns der Scheinwerfer des Roten Oktobers nach wie vor den Weg. Die Erinnerung an den Oktober ist da, um der Arbeiterklasse zu vergegenwärtigen, daß die Zukunft der Menschheit in ihren Händen ruht und daß sie die große Aufgabe lösen kann. Den Klassenkampf des Proletariats, die Wiederaneignung der eigenen Geschichte, die Verteidigung und die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode des Marxismus beinhaltet das Programm des Oktobers. Dies ist das Programm für die Zukunft der Menschheit. Wie Trotzki im Schlußwort seiner großen Geschichte der Russischen Revolution schreibt: “Den historischen Aufstieg der Menschheit kann man, im ganzen genommen, resümieren als eine Kette von Siegen des Bewußtseins über die blinden Kräfte - in Natur, Gesellschaft und im Menschen selbst. Der kritische und schöpferische Gedanke konnte sich bis auf den heutigen Tag der größten Erfolge rühmen im Kampfe mit der Natur. Die physikalisch-chemischen Wissenschaften sind bereits an dem Punkt angelangt, wo der Mensch sich offensichtlich anschickt, Herr der Materie zu werden. Die gesellschaftlichen Beziehungen jedoch gestalten sich noch immer in der Art von Koralleninseln. Der Parlamentarismus hat ein Licht nur auf die Oberfläche der Gesellschaft geworfen, und auch da nur ein recht künstliches Licht. Im Vergleich zur Monarchie und anderen Erbschaften von Menschenfresserei und wildem Höhlenzustand stellt die Demokratie gewiß eine große Errungenschaft dar. Doch läßt sie das blinde Spiel der Kräfte in den sozialen Wechselbeziehungen der Menschen unberührt. Gerade gegen dieses tiefste Gebiet des Unbewußten erhob zum erstenmal die Hand die Oktoberumwälzung. Das Sowjetsystem will Ziel und Plan hineintragen in das Fundament der Gesellschaft, wo bis jetzt nur angehäufte Folgen herrschten.”

 

 

Kr.

 

 

 

 

 

(aus Internationale Revue Nr. 20, Herbst 1997)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1 [3] Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, S. 14

2 [3] Lenin, a.a.O.

 

 

3 [3] Lenin, a.a.O. S. 178

 

 

4 [3] Lenin, a.a.O. S. 169

 

 

5 [3] Lenin, a.a.O. S. 191 f.

 

 

6 [3] Lenin, a.a.O. S. 130 f., “Brief an die Petrograder Stadtkonferenz”

7 [3] Trotzki, “Die Lehren des Oktobers”, 1924, Kap. “Vom Oktoberumsturz”

8 [3] Trotzki, a.a.O., Kap. “Es ist notwendig, den Oktoberumsturz zu studieren”

9 [3] Lenin, “Thesen zum Referat in der Konferenz der Petersburger Organisation am 8. Oktober”, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 128

10 [3] Trotzki, “Die Lehren des Oktobers”, Kapitel: “Die Oktoberrevolution und die “Legalität” der Sowjets”

11 [3] Trotzki, “Geschichte der Russischen Revolution”, Fischer Taschenbuchausgabe 1973, Seite 758

12 [3] Trotzki, ebenda, Seite 780

13 [3] Trotzki, ebenda, Seite 788 f.

14 [3] Lenin, “Eine der Kernfragen der Revolution”, Ges. Werke, Bd. 25, Seite 382

15 [3] Trotzki, ebenda, Seite 933 f.

16 [3] Trotzki, ebenda, Seite 935 ff.

17 [3] Trotzki, ebenda, Seite 821

18 [3] Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 198 und 195

19 [3] Trotzki, ebenda, Seite 839

20 [3] Lenin, “Ratschläge eines Außenstehenden”, Ges. Werke, Bd. 26, Seite 167-168

21 [3] Trotzki, ebenda, Seite. 833

22 [3] Trotzki, ebenda, Seite 833

23 [3] Trotzki, ebenda, Seiten 832 ff.

24 [3] Lenin, Ges. Werke, Bd. 26, S. 224

Polemik: Haben wir uns in den 80er Jahren getäuscht? Die CWO und der historische Kurs: ein Berg von Widersprüchen

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In der Nr. 5 von Revolutionary Perspectives (RP), dem Organ der Communist Workers Organisation (CWO) findet man einen Artikel mit dem Titel „Sekten, Lügen und die verlorene Perspektive der IKS“. Dieser Artikel versteht sich als eine Antwort auf unseren Text „Eine kopflose Umgruppierungspolitik“ in der Internationalen Revue Nr. 87 (franz,. engl,. span.). Unser Artikel selbst, auf den sich die CWO bezieht, ist eine Antwort auf einen Brief der CWO, der in derselben Internationalen Revue Nr. 87 abgedruckt ist. Der Artikel der CWO in RP 5 schneidet viele Fragen an, im besonderen die Frage der Methode zur Formierung der kommunistischen Organisationen, auf die wir in anderen Artikeln eingehen werden. Im folgenden jedoch wollen wir uns auf einen Aspekt der Polemik der CWO konzentrieren: die Idee, nach der die IKS aufgrund von Irrtümern in ihrer Analyse über die historische Perspektive in einer Krise stecke. In mehreren Artikeln der Internationalen Revue, sowie auch in unserer territorialen Presse[i] [4], haben wir über die Krise, mit der, wie es die CWO in ihrem Artikel feststellt, unsere Organisation in der vergangenen Zeit konfrontiert war und die sich in einem Verlust von einigen Genossen unserer französischen Sektion niedergeschlagen hat, Bilanz gezogen. Die IKS hatte die Gründe ihrer organisatorischen Schwierigkeiten erkannt: das Weiterbestehen von Überbleibseln des Zirkelgeistes innerhalb der Organisation. Ein Resultat der historischen Bedingungen, unter denen unsere Organisation nach der längsten und tiefsten konterrevolutionären Phase, die die Geschichte der Arbeiterbewegung je gekannt hat, gegründet worden war. Das Aufrechterhalten dieses Zirkelgeistes hatte im besonderen zur Bildung von Clans innerhalb der Organisation geführt, die das Organisationsgewebe schwerwiegend untergraben hatten. Seit dem Herbst 1993 führte die gesamte IKS einen Kampf gegen ihre Schwächen, und unser 11. Kongreß vom Frühling 1995 konnte feststellen, daß diese im wesentlichen überwunden sind.[ii] [5]

Die CWO hingegen hat für die organisatorischen Schwierigkeiten der IKS eine andere Erklärung bereit: „(...) die gegenwärtige Krise der IKS ist (...) das Resultat (...) einer politischen Demoralisierung. Der wahre Grund dafür ist der, daß die Perspektiven, auf denen die IKS gegründet wurde, nun schlußendlich, angesichts der Realität, welche die IKS jahrelang immer zu ignorieren versucht hat, zusammengebrochen sind. Tatsächlich paßt das, was wir schon zur früheren Abspaltung von 1981 gesagt hatten auch zur heutigen Krise: „Die Gründe der gegenwärtigen Krise sind über einige Jahre hinweg entstanden und sind in den Grundsatzpositionen der Gruppe zu suchen. Die IKS behauptet, daß die ökonomische Krise mit all ihren Widersprüchen „hier ist“, und dies bereits seit mehr als 12 Jahren. Sie sehen revolutionäres Bewußtsein direkt und spontan aus den Kämpfen der Arbeiter gegen die Auswirkungen der Krise entspringen. Es überrascht uns deshalb nicht, daß wenn die Krise nicht das von der IKS prophezeite Niveau von Klassenkämpfen hervorruft, es zu Spaltungen in der Organisation kommt.“ (Workers Voice Nr. 5)

Seit damals hat sich die Lage der Arbeiterklasse verschlechtert, und sie wurde in die Defensive gedrängt. Statt dies zuzugeben, behauptete die IKS während der 80er Jahre, wir würden durch die „Jahre der Wahrheit“ schreiten, welche uns hin zu immer größeren Klassenkonfrontationen führen (...). Der offensichtliche Widerspruch zwischen der IKS-Perspektive und der kapitalistischen Realität hätte die momentane Krise schon früher ausgelöst, wäre nicht der Zusammenbruch des Stalinismus dazwischen gekommen. Dieses einmalige historische Ereignis ließ die Diskussion über den historischen Kurs in dem Masse vollständig untergehen, wie eine Erschütterung von solchem Umfang für eine bestimmte Zeit den Kurs der Bourgeoisie in Richtung Krieg zurückgestoßen hat und gleichzeitig der Arbeiterklasse erlaubte, mehr Zeit zu haben, um sich wieder zu formieren, bevor die neuen Angriffe des Kapitals wieder breite soziale Konflikte auf internationaler Ebene notwendig machten. Es gab der IKS ebenso eine Chance, sich vor den Konsequenzen der „Jahre-der-Wahrheit“-Perspektiven zu drücken. Wie auch immer, die Probleme sind in ihrem Ursprung nicht gelöst. Für die IKS endete 1968 die Konterrevolution und eröffnete die Phase, in der das Proletariat seine historische Rolle übernehmen könne. Wohin hat diese Konfrontation fast 30 Jahre später (d.h. mehr als eine Generation!) geführt? Dies war die Frage, die wir der IKS 1981 gestellt hatten und die ihr noch heute wie ein Gespenst im Nacken sitzt.

Die IKS weiß dies, und in der Absicht, weitere Demoralisierungen zu vermeiden, ist sie auf der Suche nach einem altbewährten Sündenbock. Die IKS ist nicht bereit, ihre aktuelle Krise als ein Ergebnis ihrer eigenen politischen Irrtümer zu betrachten. Deshalb hat sie, und dies nicht zum ersten Mal, versucht, die Realität auf den Kopf zu stellen und beharrt darauf, daß die Probleme mit denen sie konfrontiert ist, von „parsitären“ Elementen außerhalb der Organisation kommen, die sie organisatorisch unterwandern würden.“

Die Leser unserer Presse konnten jedoch immer feststellen, daß wir in Wirklichkeit unsere internen organisatorischen Schwierigkeiten niemals den Aktivitäten von parasitären Elementen zugeschoben haben. Entweder lügt die CWO absichtlich (und in diesem Fall würden wir sie fragen weshalb?) oder sie hat das, was wir geschrieben haben sehr oberflächlich gelesen (und in diesem Falle würden wir ihren Genossen raten, sich neue Brillen zu kaufen). Auf jeden Fall ist eine solche Behauptung erdrückender Beweis für das Fehlen einer Genauigkeit, die in der politischen Debatte absolut erforderlich ist. Dies wollen wir jedoch beiseite lassen und zum Kern der Differenzen zwischen der IKS und der CWO (und dem Internationalen Büro für die Revolutionäre Partei, IBRP) kommen. Vor allem aber wollen wir in diesem Artikel die Frage aufgreifen, ob die Perspektiven der IKS für den Klassenkampf gescheitert sind.[iii] [6]

Sind die Perspektiven der IKS bankrott?

Um über die Gültigkeit der Perspektive, die wir für die 80er Jahre aufgezeichnet haben, zu entscheiden, ist es notwendig, zu betrachten was wir zu Beginn des Jahrzehnts geschrieben hatten:

„(...) solange die Lösung der Krise möglich schien, hat sie (die Bourgeoisie) die Ausgebeuteten mit illusorischen Versprechungen eingeschläfert: „akzeptiert heute die Austeritätsmassnahmen und morgen wird`s besser gehen“ (...)

Da heute die Versprechungen einer „goldenen Zukunft“ niemanden mehr täuschen, hat die herrschende Klasse andere Register gezogen. Jetzt fängt sie an, das Gegenteil zu versprechen, indem sie laut behauptet, das Schlimmste stände noch vor uns. Man könne aber daran nichts ausrichten, es sei „die Schuld der anderen“, daß es keinen anderen Ausweg gebe (...). So ist die Bourgeoisie - während sie ihre eigenen Illusionen verliert - gleichzeitig immer mehr dazu gezwungen, der Arbeiterklasse gegenüber klar von der Zukunft zu reden, die sie ihr anzubieten hat.

(...) Wenn die Bourgeoisie einerseits der Menschheit keine andere Zukunft als den totalen Krieg anbieten kann, so zeigen andererseits die sich heute entwickelnden Kämpfe, daß das Proletariat nicht willens ist, der Bourgeoisie freien Spielraum zu lassen und daß es eine andere Zukunft anzubieten hat. Eine Zukunft, in der es weder Krieg noch Ausbeutung geben wird: den Kommunismus.

In dem jetzt angebrochenen Jahrzehnt wird sich somit diese Alternative entscheiden: entweder setzt das Proletariat seine Offensive fort, lähmt weiterhin die Mörderhand des zugrundegehenden Kapitalismus und sammelt seine Kräfte für dessen Umsturz, oder es läßt sich in der Falle fangen, erschöpfen, und durch die Reden und die Unterdrückung seitens der Bourgeoise demoralisieren. Somit wäre der Weg frei zu einem neuen Holocaust, der die ganze menschliche Gesellschaft auszulöschen droht. Wenn die 70er Jahre sowohl für die Bourgeoise wie auch für das Proletariat die Jahre der Illusionen waren, so werden die 80er Jahre die Jahre der Wahrheit sein, weil sich die Wirklichkeit dieser Welt vollständig entblößen, und weil sich in diesen Jahren zum Großteil die Zukunft der Menschheit entscheiden wird.“ [iv] [7]             

Wie die CWO schreibt, haben wir diese Analyse durch die ganzen 80er Jahre hindurch aufrechterhalten. Dabei war jeder internationale Kongreß, den wir in dieser Periode abgehalten haben, eine Gelegenheit für die IKS, die Gültigkeit dieser Analyse zu bestätigen.

„Zu Anfang der 80er Jahre bezeichneten wir das neue Jahrzehnt als die „Jahre der Wahrheit“ (...) Nach den ersten drei Jahren dieses Jahrzehnts kann man feststellen, daß sich diese Aussage voll bestätigt hat: noch nie war die Sackgasse, in der sich die kapitalistische Wirtschaft befindet, seit den 30er Jahren so deutlich vor Augen getreten; noch nie hat die Bourgeoisie seit dem letzten Weltkrieg solche Waffenarsenale entwickelt, soviel für die Produktion von Zerstörungsmitteln mobilisiert, und seit den 20er Jahren hat das Proletariat noch nie solche Kämpfe mit der Schlagkraft entfaltet wie 1980-81(...).“[v] [8]

Während dieses Kongresses unterstrichen wir aber auch gleichzeitig die Tatsache, daß das Weltproletariat durch den staatlichen Ausnahmezustand in Polen soeben eine große Niederlage erlitten hatte:

„Während die Jahre 1978 bis 80 durch ein weltweites Auftreten von Arbeiterstreiks gekennzeichnet waren (Streiks der Rotterdamer Hafenarbeiter, Stahlarbeiter in Großbritannien, Metallarbeiter in der BRD und Brasilien, die Zusammenstöße in Denain-Longwy in Frankreich, die Massenstreiks in Polen), gab es 1981 und 82 einen deutlichen Rückfluß im Klassenkampf. Dieses Phänomen hat sich besonders in den „klassischen“ kapitalistischen Ländern wie zum Beispiel in Großbritannien gezeigt, wo es 1981 die geringste Zahl von Streiktagen seit 1945 gab, wogegen sie 1979 mit 29 Millionen Streiktagen einen Höchststand seit dem Jahr des Generalstreiks von 1926 erreicht hatten. So kamen die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen sowie die gewaltige Repression nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der tiefste Punkt der Niederlage der Arbeiter nach dem Sommer 1980, die Kriegserklärung im Dezember 1981, war Teil einer Niederlage des gesamten Proletariats. (...)

Egal wie schwerwiegend die Niederlage der Arbeiterklasse während der letzten Jahre war, sie stellt den historischen Kurs nicht in Frage, da:

- die entscheidenden Bataillone des Weltproletariats nicht an vorderster Front standen:

- die Krise, die nun voll in den Metropolen des Kapitalismus zuschlägt, das Proletariat dieser Metropolen zwingen wird, ihre Kampfreserven, die nämlich bislang noch nicht entscheidend gefordert wurden, voll zur Geltung zu bringen.“

Schon drei Monate später sollte diese Prognose bestätigt werden. Im September 1983 in Belgien und kurz darauf in Holland traten die Arbeiter der öffentlichen Dienste massiv in den Kampf[vi] [9]. Diese Kämpfe blieben nicht isoliert. Nur einige Monate später ergriffen soziale Bewegungen die Mehrheit der fortgeschrittenen Länder: Deutschland, Großbritannien, Frankreich, USA, Schweden, Spanien, Italien und Japan[vii] [10]. Selten konnte man eine derartige internationale Gleichzeitigkeit in den Klassenauseinandersetzungen beobachten, und die Bourgeoisie organisierte in all diesen Ländern ein fast totales Blackout über diese Bewegungen. Ganz offensichtlich hielt sich die herrschende Klasse nicht mit verschränkten Armen zurück, sondern organisierte eine ganze Reihe von Kampagnen und Manövern. Dies vor allem mittels der Gewerkschaften, indem sie die Arbeiter entmutigten, ihre Kämpfe zerstückelten und sie in koorporatistische und sektorielle Sackgassen lenkten. Dies führte während des Jahres 1985 zu einem Rückgang der Arbeiterkämpfe in den wichtigsten europäischen Ländern, vor allem dort, wo die Kämpfe in den vorangegangenen Jahren am heftigsten gewesen waren. Gleichzeitig verstärkten aber all diese Manöver das steigende Mißtrauen gegenüber den Gewerkschaften im Proletariat der meisten fortgeschrittenen Ländern noch. Dies stellte schon immer ein bedeutender Faktor im Bewusstseinsprozess der Arbeiterklasse dar, seit die Gewerkschaften ihr schlimmster Feind sind, der die Aufgabe hat, die Kämpfe des Proletariats von innen zu sabotieren.           

„Aus all diesen Gründen, ist das sich entwickelnde Mißtrauen gegenüber den Gewerkschaften ein wichtiges Element im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, und damit der gesamten historischen Situation. Dieses Mißtrauen selbst ist ein entscheidender Grund für den Rückgang der Kämpfe in verschiedenen Ländern. Vor allem dort, wo die Gewerkschaften am meisten diskreditiert sind (wie in Frankreich, infolge der ungewollten Regierungsübernahme durch die Linke 1981). Wenn die Arbeiter während Jahrzehnten die Illusion hatten, es seien nur Kämpfe im Rahmen der Gewerkschaften und mit deren Unterstützung möglich, so ist der Verlust von Vertrauen in diese Organe für den Moment mit einem Verlust auch in die eigene Stärke verbunden und bringt sie dazu, all den sogenannten „Aufrufen zum Kampf“ mit Passivität zu begegnen[viii] [11]. Die wichtigen Kämpfe, die sich wenig später in zwei Ländern entwickelten, die noch 1985 durch eine geringe Kampfbereitschaft aufgefallen waren, Frankreich (vor allem die Eisenbahnerstreiks im Dezember 1986) und Italien 1987 (dort vor allem im Ausbildungsbereich, aber auch bei den Transportarbeitern) waren der Beweis dafür, daß die Kampfwelle, die im September 1983 in Belgien begonnen hatte, sich fortsetzte. Dies wurde sechs Monate später genau in Belgien durch eine sechs Wochen andauernde Bewegung von Kämpfen bestätigt (April - Mai 86). Die wohl bedeutendste Welle seit Ende des Zweiten Weltkrieges, da sie den öffentlichen Sektor, den privaten Sektor und auch die Arbeitslosen umfaßte, das ökonomische Leben fast vollständig blockierte und damit die Regierung zwang, eine Reihe von Angriffen, die sie vorbereitet hatte, zurückzustellen. Während derselben Periode (1986-87) entfalteten sich auch in den skandinavischen Ländern bedeutende Kämpfe (in Finnland und Norwegen zu Beginn des Jahres 1986, und in Schweden im Herbst 1986), in den USA (im Sommer 1986), in Brasilien (eineinhalb Millionen Streikende im Oktober 1986 und massive Kämpfe vom April bis Mai 1987), in Griechenland (2 Millionen Streikende im Januar 1987), in Jugoslawien (Frühling 1987), in Mexiko, in Südafrika, usw. Auch den spontanen Streik von 140`000 Beschäftigten bei British Telecom Ende Januar 1987, der außerhalb der Gewerkschaften stattfand, gilt es hervorzuheben.

Die Bourgeoisie reagierte auf diese Kampfbereitschaft erneut mit ausgedehnten Manövern. Das Ziel dabei war die Spaltung mittels aufgeblähter ideologischer Kampagnen über den „islamischen Terrorismus“, den „Frieden“ zwischen den Großmächten (Unterzeichnung der SALT Verträge zur Reduzierung der Atomwaffen), das Trachten des Volkes nach „Freiheit und Demokratie“ (die internationale „Glasnost“ Kampagne Gorbatschows), die Ökologie und über die „humanitären“ militärischen Interventionen in der Dritten Welt[ix] [12]. Daneben wurden aber auch Kampagnen gestartet, um den Mißkredit gegenüber klassischen Gewerkschaften mittels neuer gewerkschaftlicher Formen („Kampf-“ und „Basisgewerkschaften“, ect.) wieder gut zu machen. Der bedeutendste Ausdruck dieses bürgerlichen Manövers (meist von linken Organisationen, oft aber auch von Gewerkschaftern und traditionellen linken Parteien, wie den Stalinisten oder der Sozialdemokratie, inszeniert) war die Bildung der „Koordinationen“ in den zwei Ländern, in denen die klassischen Gewerkschaften am stärksten angeschlagen waren: in Italien (dort vor allem in Transportsektor) und in Frankreich (an erster Stelle während des wichtigen Streiks in den Krankenhäusern, im Herbst 1988)[x] [13]. Eine der Funktionen dieser Organisationen, die sich als „Ausdruck der Basis“ und als „Gegen-Gewerkschaften“ ausgaben, war das einschleichen des korporatistsichen Giftes in die Reihen der Arbeiterklasse, mit dem Argument, die Gewerkschaften würden die Interessen der Arbeiter deshalb nicht vertreten, weil sie nach Branchen und nicht nach Berufen organisiert seien.

Diese Manöver hatten eine Wirkung, die wir damals beschrieben: „Dank dieser Manövrierfähigkeit der Bourgeoisie hat sie es bislang geschafft, den Prozeß der Ausdehnung und Vereinigung, der im Mittelpunkt dieser Kampfwelle steht, einzudämmen.“[xi] [14] Bezüglich der Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiterklasse zu kämpfen hatte, erinnerten wir an „das Gewicht des ideologischen Zerfalls der Gesellschaft, auf das sich die Manöver der Bourgeoisie stützen und noch mehr stützen werden, um die Atomisierung, das „Jeder für sich“ noch mehr zu verstärken und das wachsende Selbstvertrauen der Arbeiter in ihre eigene Kraft und die Zukunft ihres Kampfes zu schwächen.“ (dito)

Wir hoben ebenfalls hervor, daß, auch wenn „das Phänomen des Zerfalls ein schwerwiegendes Gewicht in der heutigen Periode darstellt, dies auch in Zukunft bleiben wird,“ und „dies eine große Gefahr für die Arbeiterklasse ist, (...) diese Feststellung jedoch keinesfalls eine Quelle der Entmutigung und Skepsis sein darf.“ Denn „während der 80er Jahre war das Proletariat fähig, auch trotz dieses negativen Gewichts des Zerfalls, das systematisch von der herrschenden Klasse ausgenützt wurde, seine Kämpfe als eine Antwort auf die Folgen der Vertiefung der Krise zu entwickeln...“ [xii] [15]

Diese Analyse vom Stand des Klassenkampfes machten wir nur einige Monate vor einem der wohl bedeutendsten Ereignisse der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Europa und der UdSSR.

Die IKS hat dieses Ereignis nicht vorausgesehen (so wie auch die anderen Organisationen des revolutionären Milieus oder die „Experten“ der Bourgeoise nicht). Trotzdem waren wir im September 1989, zwei Monate vor den Fall der Berliner Mauer, eine der ersten, die diese Ereignisse einordnen konnten[xiii] [16]. Wir beschrieben den Zusammenbruch des Ostblocks als den bisher klarsten Ausdruck des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft. In diesem Sinne gingen wir sofort davon aus, daß dieses Ereignis „die Arbeiterklasse vor eine schwierige Lage“[xiv] [17] stellen würde. In Übereinstimmung mit unseren bisherigen Analysen schrieben wir: „Die systematische Gleichstellung des Kommunismus mit Stalinismus, die tausendmal wiederholte und auch heute noch verbreitete Lüge, derzufolge die proletarische Revolution nur scheitern kann, wird mit dem Zusammenbruch des Stalinismus noch eine Zeitlang eine Wirkung in den Reihen der Arbeiterklasse haben. Deshalb kann man mit einem vorübergehendes Rückgang des Bewußtseins der Arbeiter rechnen (...) Insbesondere die reformistische Ideologie wird noch sehr stark auf den Kämpfen der nächsten Zeit lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden. Aufgrund der geschichtlichen Bedeutung der genannten Faktoren wird der gegenwärtige Rückfluß des Klassenkampfes - ungeachtet der Tatsache, daß er den historischen Kurs, die allgemeine Perspektive breiter Zusammenstöße zwischen den Klassen, nicht in Frage stellt - weitreichender sein als der Rückfluß, der die Niederlage in Polen 1981 begleitet hatte.“[xv] [18].

Es ist in der Tat ein wenig leichtfertig, wenn die CWO behauptet, daß der Zusammenbruch des Stalinismus „der IKS erlaubt hat, sich mit Verrenkungen aus den Konsequenzen der Perspektive der „Jahre der Wahrheit“ herauszuwinden.“  In keiner Weise, etwa um ein Scheitern unserer Analyse über die Kämpfe der 80er Jahren zu übertünchen, haben wir erklärt, daß die Ereignisse von 1989 einen Rückschlag für die Arbeiterklasse mit sich bringen werden. Wie schon aufgezeigt, haben wir uns diese These nicht einfach aufgesetzt wie einem Hasen einen Hut, sondern sie steht in absoluter Übereinstimmung mit dem generellen Rahmen unserer Analyse. Wenn die 80er Jahre mit einer Reihe von Niederlagen für die Arbeiterklasse zu Ende gingen, so beweist dies keineswegs etwa die Falschheit unserer Analyse über die historische Periode, wie die CWO behauptet.

Erstens kann man sich bei einer solchen Behauptung nicht auf das Auftauchen eines Ereignisses stützen, das niemand voraussehen konnte (auch wenn der Marxismus es erlaubt, im nachhinein eine Erklärung zu liefern). Haben die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts eines der wohl bedeutendsten Ereignisse ihres Jahrhunderts vorhersehen können: die Pariser Kommune von 1870? Hat Lenin vorhersehen können, was einige Wochen später, die Februarrevolution 1917 in Rußland, Vorläufer des Roten Oktobers, geschah, als er zu jungen Arbeitern in der Schweiz sagte: „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben“ („Ein Vortrag über die Revolution von 1905“, 9. Januar 1917, MEW Bd. 23, S. 261) In jedem Falle jedoch ist es die Aufgabe der Marxisten, rasch auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren und unverzüglich Lehren und Konsequenzen daraus zu ziehen. Dies tat auch Marx, noch bevor die Kommune niedergeschlagen war („Der Bürgerkrieg in Frankreich“). Und auch Lenin, sobald er Neuigkeiten über die Februarrevolution erhalten hatte, schrieb seine „Briefe aus der Ferne“ und die „Aprilthesen“. Wir selbst haben seit Ende Sommer 1989 hervorgehoben, welche Auswirkungen die Ereignisse im Osten sowohl auf die imperialistischen Widersprüche als auch auf die Entwicklung des Klassenkampfes haben werden.

Dies bedeutet, daß die wenn auch unvorhergesehenen Erschütterungen von 1989 unsere Analyse von Ende 1979 nicht in Frage stellen: „so werden die 80er Jahre die Jahre der Wahrheit sein, (...) weil sich in diesen Jahren zum Großteil die Zukunft der Menschheit entscheiden wird“.

Tatsächlich stand in dieser Periode ein Teil der historischen Perspektive auf dem Spiel. Zu Beginn der 80er Jahre führte die Bourgeoise - vor allem im Westen - gleichzeitig von einer massiven Aufrüstung begleitet, enorme Kampagnen durch, um die Arbeiterklasse mit dem Ziel eines neuen Weltkrieges hinter sich zu scharen. Dabei versuchte die herrschende Klasse, von der Niederlage der polnischen Arbeiter 1981 zu profitieren, die erstens eine große Verwirrung unter den Arbeitern im Westen auslöste und es ihr möglich machte, das „Reich des Teufels“ anzuklagen (wie Reagan es ausdrückte). Die Kampfwelle von 1983 hat dies zunichte gemacht. Noch weniger als in den 70er Jahren, war die Arbeiterklasse der zentralen Länder bereit, sich für einen generalisierten Krieg mobilisieren zu lassen.

Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, ihre eigene Antwort auf die Krise ihres Systems zu geben - der imperialistische Krieg - und die Tatsache, daß die Arbeiterklasse gleichzeitig auch nicht in der Lage war, ihre eigene revolutionäre Perspektive zu entfalten, hat die kapitalistische Gesellschaft in die Phase des Zerfalls geführt[xvi] [19]. Einer der deutlichsten Ausdrücke davon war eben gerade der Kollaps des stalinistischen Regime, der auch die Möglichkeit eines neuen Weltkrieges deutlich verringert hat.

Die 80er Jahre endeten unerwarteterweise mit den Zusammenbruch des Ostblocks und all seinen Auswirkungen, mit einer unvorhergesehnen Bestätigung der Realität des dekadenten Kapitalismus: ein unbeschreibliches Chaos und eine Barbarei, die sich tagtäglich verschärft.

Die Blindheit der CWO und des IBRP  

Wie man sehen kann, steht die These der CWO über den „Bankrott der Perspektiven der IKS“ nicht auf dem Boden der Tatsachen und auch nicht auf unserer eigenen Analyse. Wenn es eine Organisation gibt, die gegenüber den Ereignissen der 80er Jahre blind war, so ist dies nicht die IKS, sondern die CWO (und das IBRP) selbst. Eine Organisation, welche die Ereignisse der damaligen Periode mit folgenden Worten beschreibt:

„(...) 1976 gelang es der herrschenden Klasse mittels den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, den sozialen Frieden wieder herzustellen. Dies war ein sozialer Frieden, der durch große Kämpfe der Arbeiterklasse unterbrochen wurde (Polen 1980-81, die belgischen Hafenarbeiter 1983 und der Streik der britischen Bergarbeiter 1984-85). Wie auch immer, es gab keine internationale Welle von Streiks wie 1968-74, und all diese Bewegungen endeten in einem noch größeren Rückzug der Arbeiterklasse gegenüber den kapitalistischen Angriffen.“ [xvii] [20]

Eine solche Behauptung macht geradezu sprachlos. Nur um einige Beispiele zu geben: Die CWO erinnert lediglich an den Streik der Hafenarbeiter 1983 in Belgien und vergißt dabei, daß der gesamte öffentliche Sektor miteinbezogen war. Für sie existieren offenbar die Kämpfe im Frühling 1986 nicht, die im selben Land ausbrachen und eine viel größere Bedeutung hatten (1 Million Arbeiter beteiligten sich daran, in einem Land, das weniger als 10 Millionen Einwohner zählt). Desgleichen die Streiks im öffentlichen Sektor in Holland im Herbst 1983, die wichtigsten seit 1903, sie wurden von der CWO offensichtlich gar nicht bemerkt. Man könnte meinen, daß die Blindheit der CWO daher rührt, daß sie selbst, wie auch die andere Organisation des IBRP, Battaglia Comunista, in diesen Ländern nicht präsent ist, und dass sie, wie die große Mehrheit des Weltproletariates, Opfer der international durch die Medien der Bourgeoise organisierten Nachrichtensperre waren, indem diese die sich entfaltenden sozialen Bewegungen verschwiegen. Selbst wenn dies der Fall wäre, eine Entschuldigung ist es keineswegs: Eine revolutionäre Organisation darf sich, um die Situation des Klassenkampfes zu analysieren, nicht nur damit zufriedengeben, die Zeitungen in den Ländern zu lesen, in denen sie präsent ist. Sie soll sich auch auf die Informationen aus der Presse anderer revolutionärer Organisationen stützen, beispielsweise der unseren, welche über solche Ereignisse berichtet. Und genau dort liegt auch das Problem: es ist nicht die IKS, die mit „den objektiven Widersprüchen zwischen (ihren) Perspektiven und der kapitalistischen Realität“ konfrontiert ist. Es ist auch nicht die IKS, die „während Jahren versucht hat die Realität zu ignorieren“ um die Irrtümer ihrer Perspektive zu vertuschen, wie es die CWO behauptet - es ist die CWO selbst. Der beste Beweis dafür: Wenn die CWO über die „großen Kämpfe der Arbeiterklasse“ redet, welche in Großbritannien den „sozialen Frieden unterbrochen haben“, dann beziehen sie sich lediglich auf den Bergarbeiterstreik von 1984-85 und ignorieren vollständig die herausragenden Mobilisierungen von 1979, die größten seit einem halben Jahrhundert. Auch beziehen sie sich auch nicht auf die wichtige Bewegung in den Schulen Italiens 1987, selbst wenn die Schwesterorganisation der CWO, Battaglia Comunista, sich dabei an vorderster Front befand.

Wie läßt sich die Blindheit oder mehr noch der Unwille der CWO, die Realität zu sehen, erklären? Es ist die CWO, die uns eine Antwort darauf gibt (indem sie dies der IKS unterstellt), weil diese Realität ihre eigenen Perspektiven widerlegt hat. Vor allem aber hat die CWO, sowie auch das IBRP, die Frage des historischen Kurses nie wirklich begriffen.

Das IBRP und der historische Kurs

Der Polemik mit dem IBRP über den historischen Kurs hat die IKS, vor allem in der Internationalen Revue, schon zahlreiche Artikel gewidmet[xviii] [21]. Wir wollen hier nicht auf alles bei diesen Gelegenheiten Geschriebene zurückkommen, bei dem es vor allem um das Fehlen einer Methode beim IBRP geht, die historische Periode einzuschätzen, in der die heutigen Arbeiterkämpfe stattfinden. Eines soll jedoch kurz gesagt sein: Das IBRP verwirft sogar den Begriff des historischen Kurses, so wie er während der 30er Jahre von der Linken Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens entwickelt worden war. Nur so konnte die Fraktion damals verstehen, daß der Kurs Richtung Krieg und der Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen nicht parallel laufen können, sondern sich gegenseitig ausschließen. Und somit konnte die Fraktion in einer Phase der tiefen Konterrevolution, sobald der Kapitalismus 1929 in eine neue offene ökonomische Krise fiel, auch die Unabwendbarkeit eines zweiten Weltkrieges voraussehen.

Für das IBRP „geht der Akkumulationszyklus, der nach den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, seinem Ende zu. Der Aufschwung nach dem Krieg hat seit langem der globalen Krise Platz gemacht. Erneut steht die Frage des imperialistischen Krieges oder der proletarischen Revolution auf der Tagesordnung der Geschichte.“ (Plattform des IBRP von 1994, übersetzt durch uns) Aber gleichzeitig anerkennt das IBRP heute (was damals nicht der Fall war), daß „auf internationaler Ebene eine massive Antwort der Arbeiter auf die Angriffe der kapitalistischen Krise Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre“ stattfand. („Perspectives of the CWO“, Revolutionary Perspectives Nr. 5 ) Dennoch hat sich das IBRP immer geweigert zu anerkennen, daß der Kapitalismus Ende der 60er Jahre deshalb nicht in einen neuen imperialistischen Weltkrieg gefallen ist, weil die Antwort der Arbeiterklasse auf die ersten Attacken der Krise ein Beweis dafür ist, daß diese nicht bereit ist, sich wie in den 30er Jahren in einen neuen Holocaust mobilisieren zu lassen. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage „weshalb der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen ist“, auch wenn „auf objektiver Ebene alle Gründe für das Auslösen eines generalisierten Krieges vorhanden sind“, beginnt die theoretische Zeitschrift von Battaglia Comunista Prometeo (Nr. 11, Dezember 1987) mit der Behauptung: „Es ist klar, daß nie ein Krieg geführt werden konnte ohne die Bereitschaft des Proletariats und der anderen arbeitenden Klassen, sowohl zum Kampf als auch zur Kriegsproduktion. Es ist offensichtlich: Ohne williges und kontrolliertes Proletariat wird kein Krieg möglich sein. Und es ist ebenfalls offensichtlich, daß ein Proletariat, das voll im Begriff ist, den Kampf wieder aufzunehmen, Zeichen des Aufstiegs einer Gegentendenz ist: Zeichen der Antithese des Krieges, des Marsches hin zur sozialistischen Revolution.“ Dies ist haargenau die Art und Weise, wie auch wir, die IKS, uns die Frage stellen. Doch ist es ebenfalls genau dieselbe Methode, welche in einem in Battaglia Comunista Nr. 83 (März 1987) veröffentlichten und in Englisch im Organ des IBRP Communist Review Nr. 5 unter dem Titel „Die IKS und der „historische Kurs“: eine falsche Methode“ wiederaufgenommenen Artikel kritisiert wird. In diesem Artikel kann man unter anderem folgendes lesen: „Die Form des Krieges, seine technischen Mittel, sein Tempo, seine Charakteristiken im Vergleich zur Bevölkerung als Ganzes, haben sich stark geändert seit 1939. Genauer, der Krieg braucht heute weniger den Konsens oder die Passivität der Arbeiterklasse als die Kriege von gestern (...) Kriegsaktionen sind möglich ohne die Zustimmung des Proletariates.“ Verstehe dies wer wolle! Vor allem ist nun offensichtlich, daß das IBRP nicht genau weiß, wovon es spricht. Zusammenhänge sind auf jeden Fall nicht gerade das Steckenpferd des IBRP.

Auch die Art und Weise, wie das IBRP auf die Krise die zum Golfkrieg 1991 führte, reagiert hat, ist ein weiterer Beweis dieses Mangels an Kohärenz. In der Englischen Ausführung eines Aufrufs des IBRP zu diesen Ereignissen (die Italienische Version ist nicht identisch!) kann man folgendes lesen: „Wir müssen die Kriegspläne und Vorbereitungen (unseres „eigenen“ Staates) bekämpfen (...) Allen Versuchen, neue Streitkräfte zu schicken, muss zum Beispiel mit Streiks in den Häfen und Flughäfen begegnet werden (...) wir rufen die britischen Ölarbeiter in der Nordsee dazu auf, ihren Kampf zu verstärken und die Bosse an einer Erweiterung der Produktion zu hindern. Dieser Streik muss auf alle Ölarbeiter ausgeweitet werden und auch auf alle anderen Arbeiter.“ (Workers Voice, Nr. 53) Wenn jedoch „Kriegsaktionen möglich sind, ohne die Zustimmung des Proletariates“, welchen Sinn macht dann ein solcher Aufruf? Kann uns die CWO dies erklären?

Kommen wir zurück auf den Artikel in Prometeo Nr. 11, in dem zu Beginn noch mit denselben Worten wie bei der IKS an diese Frage herangegangen wird. Dort steht folgendes: „Die Tendenz Richtung Krieg schreitet rasch voran, das Niveau der Klassenauseinandersetzung jedoch ist absolut unter dem Stand, den es zum Zurückschlagen der schweren Angriffe gegen das internationale Proletariat erfordert.“ Für das IBRP ist es demnach nicht der Klassenkampf, der eine Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage „weshalb ist der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen?“ eine Antwort gibt. Die zwei Antworten, die das IBRP, gibt sind folgende:

- die militärischen Bündnisse sind noch nicht genug entwickelt und instabil;

- die Atomwaffen sind für die herrschende Klasse ein abschreckender Faktor, da sie für das Überleben der Menschheit eine Bedrohung darstellen[xix] [22].

In der Internationalen Revue Nr. 54 (engl,. franz,. span.) haben wir auf diese „Argumente“ eine ausführliche Antwort gegeben. Wir beschränken uns hier darauf, zu erinnern, daß das zweite Argument eine für Marxisten absolut unzulängliche Konzession an die bürgerlichen Kampagnen ist, die Atomwaffen immer als einen Garanten für den Weltfrieden darstellen. Ihr erstes Argument wurde durch das IBRP selbst verworfen, indem sie bei Ausbruch des Golfkrieges schrieben: „Der Dritte Weltkrieg hat am 17. Januar begonnen“ (Battaglia Comunista, vom Januar 1991), obwohl die Bündnisse, welche die Erde mehr als ein halbes Jahrhundert dominiert hatten, zu diesem Zeitpunkt gerade am Auseinanderfallen waren. Das IBRP kam später erneut auf diese Analyse des bevorstehenden Krieges zurück. In den Perspektiven der CWO zum Beispiel steht heute: „Ein generalisierter Krieg zwischen den führenden imperialistischen Mächten ist hinausgeschoben worden.“ Das Problem liegt bei der unglücklichen Gewohnheit des IBRP, widersprüchliche Analysen zu machen. Offensichtlich schützt sie dies vor solchen Fehlern, wie die an der IKS kritisierte Aufrechterhaltung derselben Analyse während der gesamten 80er Jahre. Nun, ein Zeichen von Überlegenheit gegenüber der Methode der IKS ist das aber wohl kaum.

Die CWO wird uns vermutlich erneut der Lügen beschuldigen, so wie sie das schon des öfteren in ihren Polemiken getan hat. Sie wird vielleicht den großen Regenschirm der „Dialektik“ öffnen, um zu beweisen, daß alles was sie (oder das IBRP) sagt, mitnichten widersprüchlich sei. Beim IBRP hat die „Dialektik“ ein dickes Fell. Doch in der marxistischen Methode hat Dialektik nie bedeutet, eine Sache zu behaupten und gleichzeitig genau dessen Gegenteil.

„Verfälschung“ wird die CWO rufen. Doch laßt uns noch ein Beispiel nicht bezüglich einer zweitrangigen oder zufälligen Frage geben (wo Widersprüche leichter verzeihbar sind), sondern anhand einer ganz grundsätzlichen Frage: Ist die Konterrevolution zu Ende, welche nach der Niederlage der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg auf die Arbeiter niederprasselte?

Gehen wir davon aus, daß eine Antwort auf die soeben von uns gestellte Frage vorhanden ist, dies auch wenn das IBRP nicht fähig ist, eine klare und kohärente Antwort auf die Frage des historischen Kurses zu geben[xx] [23].

Eine solche Antwort findet man jedoch weder in der Plattform des IBRP von 1994, noch in den „Perspektiven“ der CWO vom Dezember 1996. Beides Orte, an denen dafür Platz hätte eingeräumt werden müssen. In anderen Texten aber sind wir der Antworten fündig geworden:

- Im Artikel von Revolutionary Perspectives Nr. 5, aus dem wir schon zitiert haben, scheint die CWO zu behaupten, daß die Konterrevolution noch nicht beendet ist, weil sie die Idee der IKS verwirft, nach der „der Mai 1968 der Konterrevolution ein Ende gesetzt hat“;

- diese Behauptung scheint mit den Thesen übereinzustimmen, welche vom 5. Kongreß von Battaglia Comunista, auch wenn nicht klar ausgedrückt, 1982 angenommen wurden (siehe Prometeo Nr. 7): „wenn das Proletariat heute, mit der Tiefe der Krise konfrontiert und den wiederholten Angriffen der Bourgeoisie ausgesetzt, sich noch nicht als fähig gezeigt hat zu antworten, dann heißt dies ganz einfach, daß die langandauernde Arbeit der weltweiten Konterrevolution noch im Bewußtsein der Arbeiter aktiv ist.“

Hält man sich an diese zwei Texte, so könnte man sagen, es herrsche eine gewisse Gradlinigkeit in der Vision des IBRP: das Proletariat hat die Konterrevolution noch nicht überwunden. Nun besteht aber das Problem darin, daß man 1987 in „Die IKS und der historische Kurs: eine verwirrte Methode“ (Communist Review, Nr. 5) folgendes lesen kann: „Die Periode der Konterevolution, welche auf die Niederlage der Oktoberrevolution folgte, ist zu Ende“, und „es gibt keine fehlenden Zeichen einer Wiederaufnahme des Kampfes, und wir müssen diese auch nicht hervorheben.“

So gibt es offenbar auch auf eine so einfache Frage nicht eine Position des IBRP, sondern mehrere Positionen. Versuchen wir die verschiedenen veröffentlichten Texte der Organisationen, die das IBRP bilden, zusammenzufassen, so läßt sich ihre Analyse folgendermaßen umschreiben:

- „Die Bewegungen, die sich 1968 in Frankreich, 1969 in Italien, sowie in anderen Ländern entfaltet haben, sind in ihrem Wesen Revolten des Kleinbürgertums“ (Position von Battaglia Comunista zu jener Zeit), aber sie sind dennoch „eine massive internationale Antwort der Arbeiter auf die Angriffe der kapitalistischen Krise“ (CWO, Dezember 1996);

- „die lange Arbeit der Konterrevolution ist im Bewußtsein der Arbeiter noch aktiv“ (Battaglia Comunista, 1982), doch ist „die Periode der Konterevolution, welche auf die Niederlage der Oktoberrevolution folgte zu Ende“ (Battaglia Comunista 1987), was mitnichten in Frage stellt, daß die gegenwärtige Periode „eine Fortsetzung der kapitalistischen Herrschaft ist, welche, nur sporadisch angegriffen, seit Ende der revolutionären Welle, die dem Ersten Weltkrieg folgte, regiert.“ (CWO 1988, in einem an die CBG geschickten und in deren Bulletin Nr. 13 veröffentlichten Brief);

- „seit 1976 (und bis heute) war die herrschende Klasse (...) fähig, erneut den sozialen Frieden einzuführen“ (CWO, Dezember 1996), wohingegen „diese Kämpfe (die Bewegung der COBAS 1987 in den Schulen in Italien und die Streiks im selben Jahr in Großbritannien) Bestätigungen  für den Beginn einer Periode sind, die durch ein Hervortreten der Klassenkonflikte gezeichnet ist“. (Battaglia Comunista, Nr. 3, März 1988)

Auf den ersten Blick könnte man nun davon ausgehen, daß diese verschiedenen widersprüchlichen Positionen auf bestehende Divergenzen zwischen der CWO und Battaglia Comunista zurückzuführen sind. Seit solche Feststellungen jedoch offenbar „Verleumdungen“ der IKS sind, die dazu einladen „ihr den Mund zu stopfen“, wenn sie solche Ideen verbreitet („Sekten, Lügen und die verlorene Perspektive der IKS“, RP Nr. 5), dürfen wir solche Sachen natürlich nicht mehr sagen! Seit es offenbar keine Differenzen mehr gibt zwischen den zwei Organisationen, müssen wir nun eben davon ausgehen, daß im Kopf jedes Militanten des IBRP solche widersprüchlichen Positionen vorhanden sind. Wir selbst zweifeln daran, doch ist es die Aufgabe der CWO, uns dies zu beweisen.

Sollten all diese Widersprüche für die Militanten des IBRP nicht ein Anstoß zum Nachdenken sein? Diese Genossen sind fähig zu klaren und kohärenten Gedanken. Doch weshalb enden sie beim Versuch, die gegenwärtige Periode zu analysieren, in einem solchen Durcheinander? Ist es nicht gerade aufgrund ihres unzweckmäßigen Rahmens, und weil sie im Namen der „Dialektik“ die marxistische Genauigkeit hinter sich lassen, um dafür im Immediatismus und Empirismus zu versinken, wie wir das schon in anderen Polemiken aufgezeigt haben.

Es steckt aber auch noch etwas anderes hinter den Schwierigkeiten des IBRP, den gegenwärtigen Stand des Klassenkampfes kohärent und klar anzupacken: eine konfuse Analyse der Gewerkschaftsfrage, die sie unfähig macht, zum Beispiel gerade die Wichtigkeit des Phänomens des Imageverlustes der Gewerkschaften während der 80er Jahre zu begreifen. Wir werden auch auf diese Frage in einem späteren Artikel zurückkommen.

Im Moment können wir der CWO jedoch schon folgende Antwort geben: Die IKS machte nicht aufgrund ihrer Analyse der gegenwärtigen historischen Periode oder des Standes des Klassenkampfes die Krise durch, von der wir in unserer Presse berichtet haben. Für eine revolutionäre Organisation gibt es - im Gegensatz zu dem was die CWO, welche seit 1981 immerfort dieselbe Diagnose stellt, denkt - auch andere Faktoren der Krise. Dabei im speziellen organisatorische Fragen. Dies hat uns, nebst vielen anderen Beispielen, die Krise der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands) nach ihrem 2. Kongreß 1903 gezeigt. Wie auch immer, wir erlauben uns, die CWO (und auch das IBRP) brüderlich zu warnen: Wenn für sie eine fehlerhafte Analyse der historischen Situation der alleinige oder wichtigste Grund für die Krise einer Organisation darstellt (möglicherweise aufgrund ihrer eigenen Erfahrung), dann sollten sie sehr vorsichtig sein. Durch die Anhäufung von Ungenauigkeiten in ihrer eigenen Analyse befinden sie sich demnach in größter Gefahr.

Dies ist gewiß nicht unser Wunsch. Wir hoffen, daß die CWO und das IBRP ein für alle Mal mit ihrem Immediatismus und Empirismus brechen und die besten Traditionen der Kommunistischen Linken und des Marxismus wieder aufnehmen.            

                                                                                                                     Fabienne

 

      

          



[i] [24] Siehe unseren Artikel über den 11. Kongreß der IKS in der Internationalen Revue Nr. 16.

[ii] [25] a. a. O.

[iii] [26] Wir wollen die CWO darauf hinweisen, daß wenn sie die Probleme, mit denen die IKS konfrontiert war, aufgreifen will, es für sie ratsam wäre, die Analyse, welche wir davon gemacht haben, zuerst seriös zu studieren und nicht ihre eigenen Vermutungen als Ausgangspunkt zu verwenden. Die Analyse der organisatorischen Krise der IKS wurde in unserer Presse veröffentlicht. Falls die CWO glaubt, mehr darüber zu wissen als wir selbst, sollten sie zumindest (falls sie dazu fähig sind) aufzeigen, wo diese Analyse fehlerhaft ist.

[iv] [27] Internationale Revue Nr. 5: „Die 80er Jahre: Jahre der Wahrheit“

[v] [28] „Resolution zur internationalen Lage“,  5. Kongreß der IKS, Juli 1983, Weltrevolution Nr. 12

[vi] [29] Siehe den Artikel: „Belgien -  Holland, Krise und Klassenkampf“ , Internationale Revue Nr. 38 (engl., franz., span.)

[vii] [30] Zu den Charakteristiken und der Ausdehnung dieser Kämpfe, siehe unseren Artikel „Gleichzeitigkeit der Arbeiterkämpfe: welche Perspektive?“ Internationale Revue Nr. 38 (engl., franz., span.)

[viii] [31] „Resolution zur internationalen Lage“, angenommen am 6. Kongreß der IKS, Internationale Revue Nr. 44 (engl., franz., span.)

[ix] [32] Siehe dazu unseren Artikel „Die Manöver der Bourgeoisie gegen die Vereinigung der Arbeiterkämpfe“, Internationale Revue Nr. 58 (engl., franz., span.)

[x] [33] Siehe unseren Artikel „Frankreich, die „Koordinationen“ als Speerspitze der Sabotage der Kämpfe“, Internationale Revue Nr. 58 (engl., franz., span.) 

[xi] [34] „Resolution zur internationalen Situation“ vom 8. Kongreß der IKS, Internationale Revue Nr. 11

[xii] [35] „Präsentation der Resolution zur internationalen Lage“, Internationale Revue Nr. 59 (engl., franz., span.)

[xiii] [36] Siehe: „Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der SU und den osteuropäischen Ländern“, Internationale Revue Nr. 12

[xiv] [37] Titel eines Artikels vom November 1989 in der Internationalen Revue Nr. 12

[xv] [38] Aus den „Thesen“, Punkt 22. Auch wenn wir im Herbst 1989 den Rückfluß des Klassenbewußtsein vorausgesagt hatten, was sich seither bestätigte und auch in unserer Presse unterstrichen wurde, erlaubt sich die CWO in der Antwort an einen Leser folgendes  zu schreiben: „Sie (die IKS), glaubt immer noch, entgegen allen Offensichtlichkeiten, daß wir uns in einer Phase des hohen Klassenbewußtseins befinden. Alles was die Revolutionäre zu tun hätten, sei die Arbeiter über den Mythos der Gewerkschaften aufzuklären, und der Weg zur Revolution sei offen.“  Offenbar ist es einfacher die Argumente des Gegenübers zu entstellen und verfälschen, um sie widerlegen zu können. Nur ist dies für die Debatte nicht sehr hilfreich!

[xvi] [39] Siehe dazu unsere Analyse des Zerfalls des Kapitalismus: „Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft“, Internationale Revue Nr. 13

[xvii] [40] „Perspektiven der CWO“, angenommen durch die Generalversammlung der CWO im Dezember 1996, Revolutionary Perspectives Nr. 5

[xviii] [41] Internationale Revue Nr. 36, 41, 50, 54, 55, 59, 72. (engl., franz., span.)

[xix] [42] Um es auf den Punkt zu bringen geht Battaglia sogar soweit, zu schreiben: daß „ „ Am Tag nach der Unterzeichnung des Vertrags über den Verzicht auf Atomwaffen wird der Krieg erklärt werden“ - dies ist ein noch gerade klassischer Witz unter uns, der den Geschmack der Wahrheit in sich hat“. (BC,.4, April 1986) Als wäre die Bourgeoisie eine Klasse der „Fairness“, welche ihre Versprechen und Unterschriften auf dem Papier einhalten würde!   

[xx] [43] Das IBRP schreibt in ihrem Artikel „Die IKS und der „historische Kurs“: eine verwirrte Methode“, mit dem es zugleich jegliche Verteidigung eines historischen Kurses verwirft: „Im Gegensatz zu dem von der IKS gestellten Problem, genaue Propheten der Zukunft zu werden, besteht die Schwierigkeit darin, daß die Subjektivität nicht mechanisch den objektiven Bewegungen folgt (...) Niemand kann glauben, daß die Reifung des Bewußtseins (...) exakt auf ein absehbares Datum vorbestimmt ist.“  Wir erwarten keinesfalls von Revolutionären „genaue Propheten der Zukunft zu werden“  oder daß sie „das Bewußtsein auf ein exaktes Datum vorbestimmen“, sondern lediglich, daß sie auf folgende Frage ein Antwort geben können: „Sind die Kämpfe welche sich seit 1968 entwickelt haben nun ein Zeichen dafür, daß die Arbeiterklasse nicht bereit ist, sich in einen Dritten Weltkrieg mobilisieren zu lassen, oder sind sie es nicht? Diese Fragestellung auf den Kopf stellend, beweist das IBRP, entweder nichts verstanden zu haben oder keine Antwort darauf geben zu können.   

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Communist Workers Organisation [44]

Schwarzafrika, Algerien, Naher Osten: Die Großmächte sind die Hauptverantwortlichen für die Massaker

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“Mehr noch als in der Wirtschaft hat das dem Zerfall eigene Chaos Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen den Staaten. Zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Ostblocks, der zur Auflösung der Allianzen führte, die aus dem 2. Weltkrieg hervorgegangen waren, schrieb die IKS:

- daß diese Lage die Bildung neuer Blöcke auf die Tagesordnung setzte, auch wenn dies noch nicht sofort möglich würde, wobei einer der Blöcke von den USA, der andere von Deutschland angeführt würde;

- daß die neue Lage sofort zu einer Reihe von Zusammenstößen führen würde, die zuvor durch das Abkommen von Jalta in einem für die beiden Gendarmen der Welt in einem “annehmbaren” Rahmen gehalten werden konnten. (...)

“Seitdem ist diese Tendenz des “Jeder gegen Jeden”, des Chaos in den Beziehungen zwischen den Staaten mit seiner Reihe von zeitlich begrenzten und kurzweiligen Bündnissen nicht in Frage gestellt worden, sondern genau das Gegenteil ist eingetreten” (...)

“...dann hat die Tendenz des “Jeder für sich” ziemlich schnell Überhand gewonnen im Verhältnis der Tendenz zur Bildung von festen Blöcken, die als Grundlage zukünftiger imperialistischer Blöcke dienen könnten, wodurch wiederum die militärischen Zusammenstöße zugenommen haben.” (“Resolution über die internationale Lage”, Internationale Revue Nr. 19) 

Dies sind die Worte, mit welchen die IKS an ihrem 12. Kongreß die internationale imperialistische Situation beschrieben hat, eine Auffassung, die in den letzten Monaten durch zahlreiche Ereignisse veranschaulicht und bestätigt worden ist. Die wachsende Instabilität der kapitalistischen Welt drückt sich vor allem in einer Vervielfachung von mörderischen Konflikten an allen Ecken der Welt aus. Diese Verschärfung der kapitalistischen Barbarei ist vor allem das Werk der Großmächte, welche nicht aufhören, uns einerseits “eine Welt des Friedens und Wachstums” zu versprechen, deren immer heftigere und offenere Rivalitäten der Menschheit jedoch immer mehr Tote und eine Verallgemeinerung des Terrors und der Misere bescheren.

“Seitdem die Teilung der Welt in zwei Blöcke aufgehoben ist, wird die Autorität der ersten Großmacht der Welt ständig durch ihre ehemaligen Verbündeten herausgefordert.” Deshalb war diese gezwungen, gegenüber ihren Rivalen und deren imperialistische Interessen in der vergangenen Periode eine “massive Gegenoffensive” zu starten, vor allem im ehemaligen Jugoslawien und in Afrika. Nichtsdestotrotz fahren die ehemaligen Verbündeten der USA fort, diese gerade in deren Jagdgründen wie Lateinamerika und dem Nahen Osten herauszufordern.

Wir können hier nicht alle Zonen der Welt anschneiden, welche unter den Auswirkungen der Tendenz des “Jeder gegen Jeden” und der Zuspitzung der imperialistischen Rivalitäten unter den Großmächten zu leiden haben. Doch wollen wir hier einige Beispiele aufzeigen, welche diese Analyse klar verdeutlichen und die in der letzter Zeit erneut drastisch aufgelodert sind.

Schwarzafrika: um die Interessen Frankreichs steht es schlecht

In der oben zitierten Resolution stellten wir fest, daß die führende Weltmacht “dem Land, das sie am offensten herausgefordert hat, Frankreich, einen Schlag in dem Gebiet versetzen können, das Frankreich bislang als seinen “Hinterhof” bezeichnen konnte - Afrika.” Diese Tatsachen erlaubten uns zu sagen: “Nach dem Zurückdrängen des französischen Einflusses in Ruanda entgleitet jetzt vor allem der Hauptstützpfeiler Frankreichs auf dem Kontinent, Zaire, seiner Kontrolle. Das Regime Mobutus zerfällt immer mehr unter den Auswirkungen der “Rebellion” Kabilas, der massiv von Ruanda und Uganda, d.h. von den USA, unterstützt wird.”

Seither haben Kabilas Horden Mobutu verjagt und in Kinshasa die Macht ergriffen. Durch diesen Sieg und die enormen Massaker an der Zivilbevölkerung, die er mit sich gebracht hatte, ist die direkte und offensive Rolle der USA, vor allem durch die zahlreichen “Berater”, die sie Kabila zur Verfügung gestellt hatten, mittlerweile ein offenes Geheimnis geworden. Gestern war es noch der französische Imperialismus, der die Banden der Hutus bewaffnet und beraten hatte, verantwortlich für die Massaker in Ruanda und zur Destabilisierung des pro-amerikanischen Regimes von Kigali; heute tut Washington dasselbe mit den Tutsi-”Rebellen” Kabilas gegen die Interessen Frankreichs. Zaire ist somit ebenfalls in die Hand der USA gefallen. Frankreich hat dadurch eine entscheidende Bastion verloren, was seine gänzliche Verdrängung aus der “Region der Großen Seen” bedeutet.

Noch mehr, diese Situation hat sofort eine Kettenreaktion von Destabilisierungen in den Nachbarländern hervorgerufen, welche ebenfalls unter der Kontrolle Frankreichs sind. Die Autorität und Glaubwürdigkeit des “französischen Paten” hat in der Region einen schweren Schlag erlitten, was die USA möglichst auszunützen versuchen. Seit einigen Wochen ist auch Kongo-Brazzaville durch einen Krieg zerrissen, den sich die zwei ehemaligen Präsidenten, alle beide  “Geschöpfe” Frankreichs, liefern. Der Druck und die zahlreichen Verhandlungsbemühungen aus Paris brachten bisher keinerlei Erfolg. In Zentralafrika, einem Lande das zurzeit einem blutigen Chaos unterworfen ist, zeigt sich dieselbe Machtlosigkeit. Trotz zweier entschlossener militärischer Interventionen und der Bildung einer “Afrikanischen Eingreiftruppe” zu seiner Stärkung, gelingt es dem französischen Imperialismus nicht, seine Stellungen zu halten. Hinzu kommt noch, daß der zentralafrikanische Präsident Ange Patassé, ein weiteres “Geschöpf” Frankreichs, jetzt mit einer Inanspruchnahme der amerikanischen Hilfe droht, was das Mißtrauen gegenüber dem bisherigen Beschützer zum Ausdruck bringt. Dieser Vertrauensverlust dehnt sich heute über ganz Schwarzafrika aus und droht schließlich auch die treusten Bastionen Frankreichs einzuholen. Der Einfluß Frankreichs schwindet auf dem gesamten Kontinent, wie es zum Beispiel der letzte Jahresbericht der UNO, wo die wichtigen “französischen Vorschläge” zurückgewiesen wurden, deutlich gezeigt hat:

- Einer der Vorschläge betraf die Anerkennung der neuen Macht in Kinshasa, die Paris zurückstellen und an Bedingungen knüpfen wollte: Durch den Druck der USA und deren afrikanische Verbündete erhielt Kabila nicht nur eine sofortige Anerkennung, sondern ebenfalls wirtschaftliche Unterstützung “für den Wiederaufbau seines Landes.”

- Der andere betraf die Ernennung einer neuen Leitung des afrikanischen UNO-Apparates: Der “Kandidat” Frankreichs mußte sich, von seinen “Freunden” im Stich gelassen, noch vor der Wahl zurückziehen.

Der französische Imperialismus verzeichnet gegenwärtig unter den Schlägen und zum Vorteil des amerikanischen Imperialismus auf dem ganzen Kontinent eine Serie von schweren Rückschlägen, und es scheint für Frankreich eine historische Niederlage zu bedeuten, in einem Gebiet, das bis vor kurzem sein Hinterhof war.

“Damit erhält Frankreich von den USA eine besonders harte Bestrafung. Die USA wollen somit exemplarisch gegenüber allen anderen Ländern handeln, die genauso wie Frankreich ständig die USA herausfordern möchten.” (ebenda)

Doch trotz seines Niedergangs hat der französische Imperialismus seine Kräfte zur Verteidigung seiner Interessen nicht gänzlich verloren und verfügt noch über Trümpfe, die er gegen die im Moment erfolgreiche amerikanische Offensive einsetzen kann. Dies vor allem durch das strategische Neuformieren seiner militärischen Kräfte in Afrika. Auch wenn Paris (wie andere) auf diesem Terrain weit davon entfernt ist, mit Washington die Kräfte messen zu können, bedeutet es, daß Frankreich keinesfalls die Hände in den Schoß gelegt hat. Zumindest wird es wie bisher all seine Kraft in Störaktionen zur Behinderung der amerikanischen Politik und deren Interessen einzusetzen wissen. Die Bevölkerung Afrikas hat ihr Leiden unter dem Ringen der großen imperialistischen Gangster noch nicht beendet.

Hinter den Massakern in Algerien: dieselben schäbigen Interessen der “Großen”

Algerien ist ein weiteres Schlachtfeld, das unter der Peitsche des Zerfalls des Kapitalismus zu leiden hat und auf dem die unerbittlichen Interessengegensätze zwischen den Großmächten ausgetragen werden. So versinkt dieses Land seit nahezu fünf Jahren in ein immer blutigeres und barbarischeres Chaos. Die serienmäßigen Abrechnungen, die unaufhörlichen Massaker an der Zivilbevölkerung, die zahlreichen mörderischen Attentate selbst in der Hauptstadt stürzen dieses Land in den Horror und einen alltäglich stattfindenden Terror. Seit 1992, dem Beginn dessen, was die bürgerlichen Medien scheinheilig die “Algerienkrise” nennen, hat die Zahl der Toten zweifellos 100’000 überschritten. Wenn es eine Bevölkerung (und somit ein Proletariat) gibt, die im Krieg zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse regelrecht als Geisel genommen wird, so ist es wahrlich in Algerien. Diejenigen, welche heute täglich morden, welche direkt verantwortlich sind für den Tod von Tausenden von Männern, Frauen, Kindern und alten Leuten, sind ohne Zweifel die bewaffneten Banden im Dienste der verschiedenen heute bestehenden bürgerlichen Lager:

- Die Islamisten, deren unnachgiebigste und fanatischste Fraktion, der GIA, saugt vor allem eine zersetzte, ermüdete und perspektivlose Jugend auf, welche in die Kriminalität zu versinken droht. Perspektivlos aufgrund der heutigen dramatischen Wirtschaftslage Algeriens, die eine Mehrheit der Bevölkerung zu Arbeitslosigkeit, Misere und Hunger verurteilt. Al Wasat, die in London herausgegebene Presse der saudiarabischen Bourgeoisie räumt ein: “Diese Jugend hat zuerst einen Motor dargestellt, dessen sich der FIS bediente um alle einzuschüchtern, welche sich ihm auf  seinem Weg zur Übernahme der Macht entgegenstellten”, aber mehr und mehr sei sie ihm entwichen.

- Der algerische Staat, der, wie jedermann klar erkennen kann, selbst direkt in zahlreiche Massaker verwickelt ist, welche er den “islamischen Terroristen” in die Schuhe schiebt. Die gesammelten Zeugenaussagen über die Schlächterei von Rais, einem Vorort von Algier, mit 200-300 Toten Ende August, beweisen, daß das Regime von Zéroual alles andere als unschuldig ist: “Es dauerte von 22.30 Uhr bis 2.30 Uhr. Sie (die Mörder) konnten sich Zeit lassen. (...) Keine Hilfe ist aufgetaucht. Dies obwohl die Sicherheitskräfte sehr nahe sind. Die ersten, die dann an diesem Morgen erschienen, waren die Feuerwehrleute.” (Zeugenaussagen zitiert aus der Zeitung Le Monde) Es ist heute offensichtlich, daß ein Großteil der sich wiederholenden Schlächterein in Algerien entweder das Werk der staatlichen Sicherheitsdienste oder der “Selbstverteidigungsmilizen” sind, welche von demselben Staat bewaffnet und kontrolliert werden. Diese Milizen sind nicht dazu beauftragt, “über die Sicherheit der Dörfer zu wachen”, wie das Regime glauben machen will, sondern sie stellen für den Staat ein Mittel zur Abriegelung der Bevölkerung dar, eine fürchterliche Waffe zur Eliminierung der Opposition und Durchsetzung seiner Macht mittels Terror.

Gegenüber dieser entsetzlichen Situation hat die “Weltöffentlichkeit”, das heißt vor allem die westlichen Großmächte, begonnen, ihre “Gefühle” zu zeigen. Als der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, versucht, “an die Toleranz und den Dialog” zu appellieren und zu einer “dringenden Lösung” aufruft, bekundet Washington, das sich “entsetzt” zeigt, sofort seine Unterstützung. Der französische Staat auf der anderen Seite, gibt sich mitleidig, verbietet sich jedoch eine “Einmischung in die Angelegenheiten Algeriens”. Die Scheinheiligkeit dieser “großen Demokratien” ist absolut widerlich, da sie immer schlechter ihre Verantwortung am Massaker, welches dieses Land heimsucht, verdecken können. Mit den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse Algeriens als Mittelsmänner liefern sich vor allem die USA und Frankreich seit dem Verschwinden der großen imperialistischen Blöcke einen gnadenlosen Krieg. Ziel dieser schmutzigen Rivalität ist für Frankreich der Verbleib Algeriens in seinem Schosse und für Washington dessen Eroberung zu seinen eigenen Gunsten, oder zumindest das Zurückdrängen des Einflusses seines Rivalen.

Der erste Schachzug in diesem Kampf wurde vom amerikanischen Imperialismus geführt durch seine versteckte Unterstützung der fundamentalistischen Fraktion des FIS (welche ihr mittels der Unterstützung Saudi-Arabiens hörig wurde) bis zu dem Punkt, als diese 1992 die Macht zu ergreifen drohte. Und es war ein regelrechter Staatsstreich des bestehenden Regimes in Algier mit der Unterstützung Frankreichs, der es ermöglichte, die Gefahr, welche für die die Regierung ausübenden Fraktionen und die Interessen Frankreichs bestand, zu beseitigen. Seither hat die Politik des algerischen Staates, vor allem durch das Verbot des FIS und die Jagd und Einkerkerung einer Vielzahl seiner Führer und Militanten, dessen Einfluß in Algerien verringert. Aber auch wenn diese Politik insgesamt erfolgreich war, so ist sie doch eben gerade für das momentane Chaos verantwortlich. Genau dies hat die verschiedenen Fraktionen des FIS in die Illegalität, den Untergrundkampf und ihre terroristischen Aktionen geführt. Heute sind die Islamisten wegen ihrer zahlreichen und abscheulichen Greueltaten in Verruf geraten. Somit kann man feststellen, daß das Regime von Zéroual durch die Unterstützung aus Paris im Moment seine Ziele erreicht hat. Auch der französische Imperialismus machte einen ersten erfolgreichen Schritt der Offensive, der führenden Weltmacht zu widerstehen und seine Interessen in Algerien zu verteidigen. Der Preis dieses “Erfolges” ist die Bevölkerung, welche heute und auch noch morgen dafür den Kopf hinhalten muss. Wenn die USA kürzlich davon gesprochen haben, ihre ganze Unterstützung dem “persönlichen Einsatz” Kofi Annans entgegenzubringen, so bedeutet dies nur, Algerien nicht ohne weiteres aufgeben zu wollen, worauf Chirac auch sofort damit antwortete, jegliche Politik “der Einmischung in die algerischen Angelegenheiten”  schon im voraus zu verurteilen, um so die Bereitschaft zur Verteidigung seines Einflußgebietes klarzustellen.

Naher Osten: anwachsende Probleme für die amerikanische Politik

Auch wenn die zweitrangigen imperialistischen Mächte wie Frankreich Probleme haben, ihre Autorität in ihren traditionellen Einflußgebieten aufrecht zu erhalten und dort unter den Schlägen der USA Rückschritte erleiden, so bleibt auch Amerika nicht vor Schwierigkeiten, gerade in seinen Jagdgründen wie dem Nahen Osten, verschont. Diese Region, über die es seit dem Golfkrieg eine fast ausnahmslose Alleinherrschaft ausübt, ist einer wachsenden Instabilität unterworfen, welche die “pax americana” und die Autorität der USA in Frage stellt. In unserer in diesem Text zitierten Resolution, haben wir eine Reihe von Beispielen angeführt, welche die Anfechtung der amerikanischen Führungsrolle in einigen ihrer Vasallenstaaten dieser Region verdeutlichen. So kam es vor allem im Herbst 1996 zu einer “nahezu einhelligen Verwerfung der Bombardierung des Iraks durch 44 Marschflugkörper”, einer Ablehnung sogar durch sonstige “Getreue” wie Ägypten und Saudi-Arabien. Ein anderes bemerkenswertes Beispiel: “die Regierungsübernahme der Rechten in Israel, die gegen den Willen der USA geschah; seitdem hat die rechte Regierung alles unternommen um den Friedensprozess mit den Palästinensern zu sabotieren, der einer der größten Erfolge der US-Diplomatie war.” Die seither entstandene Lage hat diese Analyse genauestens bestätigt.

Seit letztem März erlitt der “Friedensprozess” mit dem Abbruch der israelisch-palästinensischen Verhandlungen und der durch die Regierung Netanyahou eingeführten zynischen Politik der Kolonisierung der besetzten Gebiete einen entscheidenden Rückschlag. Seither sind die Spannungen in dieser Region angewachsen. Sie zeichneten sich in diesem Sommer vor allem durch eine Reihe von Selbstmordattentaten der Hamas in ganz Jerusalem aus, was dem israelischen Staat Gelegenheit gab, seine Repression gegen die palästinensische Bevölkerung zu verstärken und eine “Blockade der befreiten Gebiete” aufzubauen. Zusätzlich wurde auch eine Serie von zerstörerischen und mörderischen Angriffen der Armee gegen die Hisbollah im Südlibanon durchgeführt. Aufgrund der zunehmenden Entgleisung der Situation bemühte sich das Weiße Haus mit dem Einsatz seiner zwei Hauptdiplomaten Denis Ross und Madeleine Albright, jedoch ohne großen Erfolg. Letztere hat sogar zugegeben, “keine Methode gefunden zu haben, um den Friedensprozess wieder auf die Beine zu bringen”. Tatsächlich bleibt Netanyahou trotz starkem Druck Washingtons taub und führt seine aggressive Politik gegenüber den Palästinensern fort, mit der er die Autorität Arafats ins Wanken bringt und damit dessen Möglichkeiten, Kontrolle über die Palästinenser auszuüben. Von den arabischen Staaten bringen immer mehr ihren Unwillen gegenüber der amerikanischen Politik zum Ausdruck, welche sie beschuldigen, die arabischen Interessen zugunsten Israels zu opfern. Unter den sich der Autorität der USA entgegenstellenden Ländern befindet sich Syrien, welches zur Zeit daran ist, seine wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu Teheran auszubauen, und gleichzeitig seine Grenzen zum Irak öffnen will. Und selbst was bis vor kurzen noch unvorstellbar schien, ist mittlerweile im Gange: Saudi-Arabien, “der treuste Verbündete” Amerikas, aber auch  bisher der größte Widersacher des “Regimes der Mullahs”, erneuert seine Beziehungen mit dem Iran. Diese neue Haltung gegenüber dem Iran und dem Irak, zwei Hauptzielscheiben der US-Politik in den letzten Jahren, bedeutet für die USA nicht anderes als eine Herausforderung und schwere Kränkung.

Im Rahmen dieser anwachsenden Schwierigkeiten, mit denen ihr Rivale auf der anderen Seite des Atlantiks konfrontiert ist, zögern die europäischen Bourgeoisien nicht, Öl ins Feuer zu gießen. Schon unsere Resolution hat diesen Aspekt hervorgehoben, und unterstrichen, daß die Anfechtung der amerikanischen Führungsrolle bestätigt wird, “auf der allgemeinen Ebene durch den Verlust der alleinigen Kontrolle in dieser entscheidenden Region, dem Nahen Osten. Die Aufwertung Frankreichs verdeutlicht dies, denn Frankreich hat sich als zweite Kraft bei der Lösung des Konfliktes zwischen Israel und dem Libanon Ende 1995 aufgedrängt”. So konnte man auch während des Sommers beobachten, wie die EU Denis Ross übers Ohr haute und durch seinen “Sondergesandten”, der die Bildung eines “permanenten Sicherheitskomitees” vorschlug, um Israel und der PLO “eine permanente und nicht nur unregelmäßige Zusammenarbeit zu ermöglichen”, einen Keil in die Risse der amerikanischen Diplomatie schlug. Kürzlich heizte auch der französische Außenminister Védrine wieder ein, indem er die Politik Netanyahous als “katastrophal” bezeichnete und damit gleichzeitig die amerikanische Politik angriff. Zusätzlich stellte er deutlich fest, daß der “Friedensprozess gescheitert” sei und “keine Perspektive mehr existiert”. Dies scheint zumindest eine Aufforderung an die Adresse der Palästinenser und alle arabischen Staaten zu sein, sich von den USA und ihrer “pax americana” abzuwenden.

“Deshalb kann man die Erfolge der gegenwärtigen Konteroffensive der USA keinesfalls als endgültig ansehen oder als Überwindung ihrer Führungskrise. Und auch wenn “die rohe Gewalt, die Manöver zur Destabilisierung ihrer Konkurrenten (wie heute in Zaire) mit all den tragischen Folgen deshalb weiter von den USA zum Einsatz kommen”, haben diese Konkurrenten selbst mitnichten aufgehört, all ihre Möglichkeiten zur Sabotage der Politik der Weltmacht in Richtung Alleinherrschaft auszuspielen.

Heutzutage ist kein Imperialismus, selbst der stärkste, vor Sabotageakten seiner Konkurrenten gefeit. Die sicheren Einflusszonen und Jagdgründe drohen zu verschwinden. Es gibt auf diesem Planeten keine “sicheren” Zonen mehr. Mehr als bisher ist die Welt dem zügellosen Gesetz des “Jeder gegen Jeden” ausgeliefert. All dies trägt zu Ausbreitung und Verstärkung des blutigen Chaos bei, in dem der Kapitalismus zu versinken droht.

Elfe, 20. September 1997

Geographisch: 

  • Naher Osten [45]

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