Published on Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Home > Weltrevolution - 1990s > Weltrevolution - 1999

Weltrevolution - 1999

  • 2604 reads
   

Weltrevolution Nr. 92

  • 2243 reads

Veranstaltungsreihe Cajo Brendels in Deutschland

  • 2114 reads

Cajo Brendel, der letzte noch lebende Vertreter der deutsch-holländischen Linken - eine der historisch bedeutendsten linkskommunistischen Strömungen, hielt im November 1998 eine Veranstaltungsreihe von öffentlichen Diskussionen in Deutschland ab. Er führte in Berlin drei Diskussionsabende durch: über die Stellung der Rätekommunisten zur russischen Revolution und zum Bolschewismus; über die Kämpfe in Spanien der 30er Jahre sowie über die Perspektiven des kommenden Jahrhunderts. Aber auch in Dresden und Köln trat er auf. Jeweils 50 bis 100 Teilnehmer nahmen an den Meetings teil - eine beachtliche Zahl, wenn man bedenkt, welche Mühe sich die Herrschenden seit jeher gegeben haben, die bloße Existenz des Linkskommunismus zu verschweigen. Auch die IKS nahm an den ersten beiden Treffen in Berlin sowie an der Veranstaltung in Köln teil. Tatsächlich ermöglichte Cajo Brendels Auftreten, dass in Deutschland eine größere Anzahl politisierter Leute von den Positionen der Kommunistischen Linken erfuhr als jemals zuvor in den letzten Jahren. Dank dieser Veranstaltungsreihe hörten junge Menschen z.B. aus Berlin oder Dresden von einer Strömung der Arbeiterbewegung, die ursprünglich nicht zuletzt in diesen Städten entstanden war, welche bei der Gründung der KPD Ende 1918 die Mehrheitsposition der Partei mitten in der Revolution darstellte, heute aber fast unbekannt ist, weil die Konterrevolution sie unter einem Berg von Leichen und Lügen begrub.

 

Brendel verteidigt revolutionäre Positionen

 

Durch seine Referate und Diskussionsbeiträge bewies Cajo Brendel unserer Meinung nach, dass die "klassischen" politischen Stellungnahmen der deutsch-holländischen Linken nicht an Aktualität verloren haben, auch wenn, wie Cajo mit Marx sagte „unsere Theorie kein Dogma, sondern Leitfaden zum Handeln ist“. Wie die u.a. von Anton Pannekoek und Hermann Gorter ins Leben gerufene sog. "holländische Schule des Marxismus" es seit jeher getan hat, entlarvte Genosse Brendel den bürgerlichen Charakter des Parlamentarismus, der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, aber auch den staatskapitalistischen Charakter des untergegangenen Ostblocks. Und während staatskapitalistische Strömungen wie  Stalinismus oder Trotzkismus die neue Rot-Grüne Regierung in Deutschland als einen Fortschritt für die Arbeiterklasse begrüßt haben, zeigte Brendel das zutiefst arbeiterfeindliche Wesen dieser Regierung auf.

 

Von diesen marxistischen Positionen ausgehend, war Brendel vor allem in der Lage, zukunftsweisende Perspektiven zu entwerfen. Er zeigte auf, dass der Marxismus kein totes Dogma, sondern eine lebendige Methode ist, um die sich stets wandelnde Wirklichkeit zu erfassen. Er zeigte auf, dass die Arbeiterklasse weder geschlagen ist noch von der Bühne der Geschichte abgedankt hat, dass der Klassenkampf lebendig ist und sich trotz aller Schwierigkeiten fortentwickelt. Es gibt heute keine andere revolutionäre Kraft als das Proletariat – vor allem dies war das Bekenntnis dieses alten Kämpfers für die Sache des Kommunismus. Er vertrat diese Überzeugung, ohne die Arbeiter zu idealisieren: das Proletariat kämpft und wird kämpfen, sagte er, weil seine Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess ihm keine andere Alternative lässt.

 

Gegenüber dem heute wieder in Mode gekommenen "Voluntarismus", erklärte Brendel, dass der Wille zur Revolution nicht reicht, um die Revolution tatsächlich machen zu können. Die Revolution setzt die objektive wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise des Systems voraus. Es ist die Aufgabe der Revolutionäre, die Widersprüche des Systems zu studieren, das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zu analysieren, um die Dynamik des Klassenkampfes zu begreifen. Analyse statt Wunschdenken und Spekulation. Dies ist bezeichnend für Brendels Zugang zur Geschichte.

 

Vor allem zeigte er auf: 1989 war nicht der Zusammenbruch, sondern der Sieg des Marxismus. Für Cajo Brendel als Vertreter des Rätekommunismus ist der Marxismus die einzig mögliche Methode, zum richtigen Verständnis des Stalinismus, nämlich als logischer Phase einer bürgerlichen Revolution in Russland. (siehe dazu „N. Lenin als Stratege der bürgerlichen Revolution“ von Cajo Brendel, in Schwarze Protokolle Nr. 4, April 1973) 

 

Das Verständnis des 20. Jahrhunderts und die Frage des Determinismus

 

Die Aussagen Cajo Brendels lösten auch kontroverse Diskussionen aus. Dies war auch ganz in seinem Sinne. Die Frage der Einbettung der großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in ein globales Verständnis der geschichtlichen Periode sowie des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen wurde aufgeworfen, insbesondere - aber nicht nur - auf der Veranstaltung über die Klassenkämpfe in Spanien von 1931-1939.  Für Brendel war eine siegreiche proletarische Revolution damals in Spanien vor allem deshalb nicht möglich, weil ein moderner Kapitalismus in Spanien noch fehlte. Für eine detaillierte Darstellung Brendels Position zu Spanien siehe seine Schrift (die zusammen mit Henri Simon verfasst wurde) "De l’antifranquisme à l’après franquisme: Illusions politiques et lutte de classes“, Edition Spartacus.

 

Für Cajo Brendel gibt es gewisse Parallelen zwischen dem Spanien der 30er Jahre und dem Russland im Jahre 1917: es handelte sich also in beiden Fällen um bürgerliche Revolutionen.

 

Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass das Spanien der 30er Jahre durchaus noch überwiegend ein Agrarstaat war, dass aber dort die Landwirtschaft sowohl wie die Industrie auf kapitalistischer Grundlage betrieben wurden. Die Hauptkritik an Brendels Auffassung, derzufolge damals vor allem die bürgerliche Revolution noch auf der Tagesordnung stand, wurde aber von ehemaligen Genossen der Gruppe "Die soziale Revolution ist keine Parteisache" geübt (seinerzeit die erste, wenn auch kurzlebige Organisation der Kommunistischen Linken, welche nach 1968 in Deutschland gegründet wurde). Cajo Brendel betrachte die Ereignisse in Spanien zu sehr für sich isoliert vom internationalen und historischen Rahmen, sagten diese Genossen. Die Frage, warum die Arbeiterkämpfe in Spanien keine Arbeiterräte hervorbrachten und in einer Niederlage enden mussten, kann nur durch die internationale Situation erklärt werden. Die Arbeiterräte in Russland, Deutschland und Mitteleuropa am Ende des 1. Weltkrieges, argumentierten die Genossen, waren der Beweis dafür, dass die proletarische Revolution nun auf der Tagesordnung stand - nicht lokal sondern weltweit. Weil aber nicht das Proletariat, sondern die sozialdemokratische und stalinistische Konterrevolution siegte, fanden die Kämpfe im Spanien im Schatten der Niederlage des Weltproletariats statt. Während also die revolutionären Kämpfe von 1917-18 den 1. Weltkrieg beenden konnten, bildeten die Auseinandersetzungen in Spanien den unmittelbaren Auftakt zum 2.imperialistischen Weltkrieg.

 

Damit unterzogen die Genossen aus Berlin die Auffassung Brendels einer zweiten wichtigen Kritik: die Tatsache, dass die revolutionären Arbeiterkämpfe in einer Niederlage enden, ist an und für sich kein Beweis, dass die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand. Es kann keine proletarische Revolution geben, ohne dass die objektiven Bedingungen dafür reif sind. Aber die objektiven Bedingungen allein reichen nicht aus, damit die Revolution siegen kann. Indem Cajo Brendel aus der Sicht der IKS die Frage der revolutionären Bewusstseinsentwicklung innerhalb der Arbeiterklasse unterschätzt, - ein Bewußtsein, das 1917-18 eine aufsteigende Tendenz aufwies, um später deutlich abzuebben, (weshalb die spanischen Arbeiter relativ leicht für die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie mobilisiert werden konnten) - wird er unseres Erachtens Opfer einer deterministischen Auffassung.

 

Bei dieser Veranstaltung erklärte sich die IKS mit der Intervention des ehemaligen Genossen von „Soziale Revolution“ einverstanden.

 

Tatsächlich fällt der rätekommunistische Flügel der Kommunistischen Linken, wie er von Brendel vertreten wird, unserer Meinung nach bereits in der Frage der Russischen Revolution in die alte Auffassung Kautskys und der Menschewiki zurück, derzufolge wegen der Rückständigkeit Russlands 1917 lediglich eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stand. Aber damals wussten alle Revolutionäre, ob Lenin oder Luxemburg, Bordiga oder Pannekoek, dass 1917 nur noch eine Revolution möglich war, und zwar die proletarische Weltrevolution. Und es waren die Schriften Gorters und Pannekoeks aus den 20er Jahren, welche mit beispielloser Klarheit nachwiesen, dass die Weltrevolution vor allem deswegen scheiterte, weil der subjektive Faktor des Klassenbewußtseins unterentwickelt, die Illusionen über die bürgerliche Demokratie und über die Möglichkeit der Rückkehr zu den "friedlicheren" und wohlhabenderen" Vorkriegsbedingungen zu groß waren (1).

 

Auf der Veranstaltung "Rätekommunismus versus Bolschewismus" in Berlin wurde von einem anderen Teilnehmer auch die Auffassung der "Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus" zu recht kritisiert, welche in den zwanziger Jahren Teile der deutsch-holländischen Linken dazu verleitete, ein plötzliches, objektives Versagen oder Lähmung des kapitalistischen Wirtschaftslebens von einem solchen Ausmaß zu erwarten, dass die Arbeiter quasi gezwungen werden, die Revolution durchzuführen. Auch diese Auffassung unterschätzte den subjektiven Faktor des Klassenbewusstseins. Rosa Luxemburg hingegen sprach richtigerweise von der historischen Alternative Sozialismus oder Barbarei: die Niedergangskrise des Kapitalismus, welche mit dem 1. Weltkrieg beginnt, endet entweder mit dem Sieg des Sozialismus oder mit dem Untergang der Menschheit- wobei der Ausgang dieses Kampfes nicht vorher feststeht.

 

Die spanischen Ereignisse und die Dekadenz des Kapitalismus

 

Die Intervention der IKS bei der Veranstaltung zu Spanien konzentrierte sich aber darauf, die Haltung der italienischen und holländischen Linkskommunisten zu den damaligen Ereignissen zu verteidigen. Sowohl die italienische Auslandsfraktion mit der Zeitschrift Bilan, als auch die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) in den Niederlanden erklärten, dass die Franco-Faschisten und die linksbürgerliche Volksfront gleichermaßen Feinde des Proletariats waren, wobei der Beitrag der Stalinisten und CNT-Anarchisten zur Niederlage der Arbeiterklasse entscheidend war. Sowohl Bilan als auch die GIK waren sich einig, dass nicht mehr die bürgerliche Revolution, wohl aber die bürgerliche Konterrevolution auf der Tagesordnung stand. Aber auch die damalige Gruppe von Cajo Brendel, die Zeitschrift Proletarier in Den Haag - obwohl sie Spanien für eine bürgerliche Revolution hielt - weigerte sich strikt, die antifaschistische Volksfront zu unterstützen. Damit war die politische Grundlage gelegt für die Verteidigung des proletarischen Internationalismus - in der Nachfolge Lenins

 

Liebknechts und Luxemburgs - durch die Kommunistische Linke im 2. Weltkrieg.

 

Wir baten Cajo Brendel, zu unserer Darstellung der Haltung der Linkskommunisten Stellung zu beziehen. Er widersprach unserer Darstellung, ohne auf Einzelheiten einzugehen, indem er behauptete, der Ausgangspunkt dieser Strömungen sei nicht der Kampf gegen beide Fronten gewesen, sondern die Frage, wie man den Faschismus am effektivsten bekämpfen kann. In einem Brief Cajo Brendels, in dem er zum ersten Entwurf dieses Artikels über seinen Besuch in Deutschland Stellung bezieht, präzisiert er seine Haltung zur Rolle der Anarchisten in Spanien: „Nicht die CNT hat die Arbeiterklasse im Stich gelassen, sondern einige anarcho-syndikalistische Minister.“

 

Somit stellt die heutige Haltung Brendels in unseren Augen einen Rückschritt dar, nicht nur gegenüber der GIK, sondern auch gegenüber seiner eigenen damaligen Position. Für uns steht diese politische Schwäche im Zusammenhang mit seiner Ablehnung der Dekadenztheorie. Als 1919 die Kommunistische Internationale gegründet wurde, teilten alle Marxisten die Auffassung, dass der Kapitalismus 1914 in seine Niedergangsphase eingetreten war. Mit dem Sieg der Konterrevolution aber gaben vor allem nach dem 2. Weltkrieg Teile der Linkskommunisten - sowohl "Bordigisten" wie auch "Rätekommunisten" - die Dekadenztheorie auf. Dass damit die Idee Raum gewinnt, dass Fraktionen der Bourgeoisie noch eine fortschrittliche Rolle spielen können, womit die Ablehnung des Antifaschismus durch die Kommunistische Linke aufgeweicht werden kann - zeigen nach unserer Überzeugung die Thesen Brendels über Spanien.

 

Die Frage des Klassenbewußtseins

 

Lebhaften Widerspruch erntete Brendel (bei der Veranstaltung zum Rätismus und Bolschewismus in Berlin) mit seiner Behauptung, je bewusster die Arbeiter werden, desto mehr entfernen sie sich von ihren materiellen Interessen. Solche Bemerkungen bezeugen unserer Ansicht nach, wie weit sich der heutige Rätekommunismus von der Grundhaltung eines Pannekoeks entfernt hat, derzufoge Klassenbewusstsein und Selbstorganisation die einzigen Waffen des Proletariats sind. Und während die deutsch-holländische Linke der ersten Stunde die Notwendigkeit der zentralisierten, organisierten Intervention der Revolutionäre leidenschaftlich befürwortete, läuft die zeitgenössische Auffassung des Rätekommunismus unserer Meinung nach darauf hinaus, dass das Klassenbewusstsein nur lokal und unmittelbar in den Tageskämpfen erzeugt und entwickelt wird (2). Damit wird jeder Zusammenschluß der Revolutionäre in einer besonderen Organisation, wenn nicht ausgeschlossen, so doch geringgeschätzt. So hielt es Cajo Brendel während der von uns besuchten Veranstaltungen offenbar kaum für notwendig zu erwähnen, dass er selbst Mitglied einer seit vielen Jahren bestehenden politischen Gruppe ist (deren Zeitschrift "Daad en Gedachte" bedauerlicherweise zur Zeit nicht erscheint -siehe dazu Weltrevolution 91). (3) Aber die rätistische Auffassung des Klassenbewusstseins lässt nicht nur die Notwendigkeit der revolutionären Organisation, sondern damit zusammenhängend auch den Wert der historischen und theoretischen Erfahrungen des Klassenkampfes im Unklaren. Brendels erster Vortrag in Berlin über den Rätekommunismus ging nur sehr spärlich auf die Ursprünge und die Geschichte der deutsch-holländischen Linken ein. Einige junge Teilnehmer äußerten anschließend uns gegenüber ihre Enttäuschung darüber. Schließlich waren sie vor allem deshalb gekommen, um etwas über diese Tradition zu lernen und von dem enormen politischen Erfahrungsschatz Brendels zu profitieren. Vielleicht spürte Cajo Brendel etwas von dieser Erwartung; jedenfalls ging sein Vortrag zum selben Thema in Köln viel mehr auf diese geschichtlichen Hintergründe ein. Die Interventionen der IKS auf diesen Veranstaltungen verfolgten ganz bewusst das Ziel, das Erbe der kommunistischen Linken sowie ihre Bedeutung für heute deutlich zu machen. Mit Ausnahme der Frage des spanischen Bürgerkrieges bestätigte Cajo Brendel  die Richtigkeit unserer Darstellung. (4)   Als aber in Köln ein Vertreter der Gruppe Wildcat auf unseren Beitrag reagierte, indem er die Wichtigkeit, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen, bestritt, fand er die Unterstützung Brendels. (5) Diese Reaktion zeigt unseres Erachtens die Zweideutigkeit des Rätekommunismus gegenüber der geschichtlichen Dimension des Klassenbewusstsein. Wie die IKS in einem zweiten Diskussionsbeitrag in Köln argumentierte, ist gerade der Beitrag der Kommunistischen Linken von ungeheurer Bedeutung, wenn es um die Verteidigung einer revolutionären Perspektive geht. Wie keine andere historische Strömung ist die Kommunistische Linke als Todfeind des Stalinismus dazu berufen, die bürgerliche Gleichstellung des Kommunismus mit dem Stalinismus zu widerlegen. Und Cajo Brendel selbst weiß unserer Meinung nach sehr wohl von der Bedeutung dieses Erbe: seine jüngste Veranstaltungsreihe selbst ist der Beweis.

 

Eine positive Bilanz

 

Aus unserer Sicht ist die Bilanz der Brendelschen Veranstaltungsreihe positiv. Es gelang vor allem, einem größeren Publikum im Ansatz die Existenz und Positionen der Kommunistischen Linken zu vermitteln. Darüber hinaus waren die Marxisten in der Lage, ein Bild von der proletarischen Diskussionskultur zu vermitteln, welche das Gegenteil der stalinistischen und trotzkistischen Politik des Manövers und der Sabotage offener Debatten darstellt. Cajo Brendel, die IKS, ehemalige Mitglieder von "Soziale Revolution" sowie andere Sympathisanten des proletarischen Milieus waren imstande, Positionen der Kommunistischen Linken gemeinsam zu verteidigen. Die Diskussionshaltung Cajo Brendels selbst war offen, kontrovers, brüderlich, und somit der Klärung politischer Fragen förderlich.

 

Die Veranstaltungen waren aber Orte nicht nur der Klärung, sondern auch des politischen Kampfes. Die herrschende Klasse verfolgte Brendels Deutschland-Rundreise aufmerksam und war gewappnet, um daraus hervorgehenden Gefahren entgegenzutreten. Die Vertreter des linken Flügels des Kapitals (staatskapitalisische Linksparteien und Gewerkschaften) waren zahlreich erschienen, traten aber zumeist nicht mit offenem Visier auf.

 

Stattdessen taten sie alles, um Diskussionen über die historische Bedeutung und über die politischen Positionen der Kommunistischen Linken zu verhindern, indem sie die Aufmerksamkeit auf die für die Bourgeoisie ungefährlichen Irrungen des heutigen Rätekommunismus lenkten. Dies wiederum bestimmte das ganze Auftreten unserer Organisation. Zwar gibt es zwischen der IKS und der Gruppe ‚Daad en Gedachte‘ zahlreiche Meinungsverschiedenheiten, welche wir in der Vergangenheit offen ausgetragen haben und in der Zukunft noch tun werden. Doch hier ging es um etwas ganz anderes: um die gemeinsame Bekanntmachung und Verteidigung unseres gemeinsamen politischen Erbes. Für uns ist Cajo Brendel ein Teil des proletarischen Milieus und somit ein Genosse im Lager des Linkskommunismus. Für uns ging es darum, zusammen mit Cajo Brendel gegen das Totschweigen durch die Herrschenden, gegen alle Anfechtungen und Verleumdungen der Bourgeoisie anzukämpfen. Aber es ging uns auch darum zu verhindern, dass die Bourgeoisie sich dieser Tradition bemächtigt, um sie zu entstellen und entmannen. Gerade die deutsche Bourgeoisie ist daran interessiert, die deutsch-holländische Linke als ein radikales Kuriosum der Vergangenheit bzw. als etwas Akademisches und Museales darzustellen, welches durchaus seinen Platz im Rahmen der bürgerlichen Demokratie einnehmen sollte. So stellten die SPD/DGB-nahen "Vereinigten Linken" sowie die Grünen, sprich die jetzige deutsche Regierung - jeweils Sprecher ab, um im offiziösen sogenannten "Haus der Demokratie" in Ostberlin eine "Podiumsdiskussion" mit Cajo Brendel zu führen. Als wir in Köln mit ihm sprachen, versicherte uns Genosse Brendel, dass er erst vor Ort entsetzt feststellte, mit wem er da das Podium teilen sollte.

 

Für uns verrät aber diese Episode die Absichten der Bourgeoisie. Die Herrschenden haben unlängst die Kommunistische Linke als längerfristigen politischen Hauptfeind ausgemacht. Erst vor wenigen Jahren haben große europäischen Tageszeitungen wie Le Monde oder die FAZ in ganzseitigen Artikeln Amadeo Bordiga wegen seiner internationalistischen Haltung im 2. Weltkrieg verleumdet. Tatsächlich ist das überragende, gemeinsame Merkmal unserer Tradition - ob "holländische", "italienische" oder "französische" Linke - das Hochhalten des Internationalismus im Spanischen Bürgerkrieg und im 2. Weltkrieg, während Anarchismus wie Trotzkismus die Sache des Proletariats verrieten.

 

Und wirklich: wie die Ereignisse im Irak und auf dem Balkan bestätigen, durchleben wir Zeiten eines beschleunigten Versinkens des Systems in Militarismus und Krieg. Wie immer in solchen Zeiten zeichnen sich die "vaterlandslosen Gesellen", die konsequenten proletarischen Internationalisten als die gefährlichsten Feinde des Kapitalismus ab. Darauf sind wir stolz.         – Weltrevolution -

 

(1) Tatsächlich wandelte sich die Haltung führender Linkskommunisten wie Pannekoek sowohl zur Frage der Russischen Revolution wie auch zur Frage der Bewusstseinsentwicklung und der Rolle der Revolutionäre im Laufe der Zeit. Während aus der Sicht der IKS der Pannekoek der 20er Jahre viel klarer war als der zur Zeit nach dem 2. Weltkrieg, betrachtet der Rätekommunismus den späteren Pannekoek als den klareren. Dazu schreibt Brendel an die IKS: „Der Rätekommunismus hat sich, Anwendung einer genauen marxistischen Analyse zufolge, auch geändert. Zu Anfang waren sowohl Gorter wie Pannekoek – um nur die beiden hier zu erwähnen – anderer Meinung als die, welche Pannekoek Mitte der 30er Jahre vertrat. Gorter hat die Ereignisse in Russland ab 1917 als „Doppelrevolution“ verstanden: eine Arbeiterrevolution und eine Bauernrevolution, welche zur gleichen Zeit stattfanden. Dass Pannekoek in seiner Schrift „Lenin als Philosoph“ diesen mittlerweile schon einigermaßen revidierten Standpunkt weiter revidierte, ist unbestreitbar. Er setzte auseinander, dass und wieso der Leninismus mit Marxismus nichts zu tun hat. Die große Mehrheit der rätekommunistischen Strömung, jedenfalls die, welche ich vertrete, ist darin Pannekoek gefolgt.“

 

(2) Wir haben den Entwurf dieses Artikels dem Genossen Cajo Brendel geschickt, damit er die Richtigkeit der Wiedergabe SEINER Position überprüfen kann. Es ging uns dabei vor allem darum, Missverständnisse auszuräumen, damit die öffentliche Debatte nicht durch Missverständnisse abgelenkt wird. Was seine Stellung zur Frage des Klassenbewußtseins bei dieser Veranstaltungsreihe betrifft, schrieb uns Genosse Brendel, „dass ich ‚die Frage der revolutionären Bewußtseinsentwicklung innerhalb der Arbeiterklasse unterlassen hätte‘, ist wirklich lächerlich. Ich habe darüber an dem ersten Abend mit einer der anwesenden jungen Frauen diskutiert. An einem anderen Abend habe ich sie nochmals angestreift. Vielleicht waren die Leute von der IKS da eben nicht dabei. Aber ... wegen Abwesenheit (dann und wann!) soll man sich natürlich vor solchen Behauptungen hüten“.

 

(3) Dazu schreibt Brendel: „Und dass ich es nicht für notwendig hielt, meine Tätigkeit für ‚Daad en Gedachte‘ zu erwähnen, ist selbstverständlich. Ich bin kein Dicktuer!“

 

(4) Er bezeichnete in Berlin allerdings unsere Darstellung des illegalen Kampfes der holländischen Internationalisten während des 2. Weltkriegs in Bezug auf seine eigene Rolle als übertrieben. Später erklärte er uns im Gespräch, dass er persönlich nicht an dieser Arbeit hätte teilnehmen können, da er sich durch die militärische Aufteilung der Niederlande durch die deutsche Besatzungsmacht von seinen Genossen völlig abgeschnitten befand. Dies ändert aber weder etwas an der Beispielhaftigkeit dieses Kampfes der Linkskommunisten noch an der politischen Zugehörigkeit Brendels hierzu.

 

(5) Die IKS ist sich klar, dass Brendels Auffassung von der Geschichte nicht die gleiche ist wie die der Operaisten wie z.B. der Anhänger von Wildcat, für die die Geschichte der Arbeiterbewegung letztendlich irrelevant ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Rätekommunismus [1]

Weltrevolution Nr. 93

  • 2179 reads

Zur Geschichte des politischen Milieus seit 1968

  • 2675 reads
 Die Zwei-Jahreskonferenz der IKS in Deutschland, die Ende 1998 stattfand, zog eine Bilanz der Entwicklung des revolutionären Milieus in Deutschland und im deutschsprachigen Raum seit 1968. Diese Frage stand nicht zufällig auf der Tagesordnung dieser Konferenz. Wir leben in einer Zeit des langsam erwachenden Interesses einer neuer Generation von suchenden Leuten, die sich Klarheit verschaffen wollen über die Geschichte revolutionärer Theorien und Organisationen der Arbeiterklasse. Denn während das Klassenbewusstsein und das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse insgesamt durch das angebliche „Scheitern des Kommunismus“ ab 1989 stark angeschlagen waren und noch sind, reagieren politisierte Minderheiten der Klasse auf die verlogene, bürgerliche Gleichsetzung des Kommunismus mit dem Stalinismus mit der Suche nach den wahren, proletarischen Traditionen, welche von Anfang an die stalinistische Konterrevolution verstanden und sich im Kampf dagegen bewährt haben.

Die Wiederentdeckung der Kommunistischen Linken

Diese kämpferische Auseinandersetzung mit der Geschichte revolutionärer Minderheiten des Proletariats konzentriert sich notwendigerweise auf zwei unterschiedliche Geschichtsabschnitte. Der erste dieser Abschnitte ist der des Kampfes gegen die Degeneration der Kommunistischen Internationalen - schon Anfang der zwanziger Jahre - sowie gegen die stalinistische Konterrevolution selbst. Jahrzehntelang haben sowohl die stalinistischen wie die bürgerlich-demokratischen Verfälscher der Geschichte alles getan, um die historische Wahrheit über diesen heldenhaften Kampf der Links-Oppositionen gegen den Verrat am Marxismus und an der Weltrevolution unter Verschluss zu halten. Insbesondere die bürgerliche „Demokratie“ des „Westens“ – die gegenüber der Arbeiterklasse bedeutend geschickter ist als ihr stalinistischer Verbündeter - konzentrierte sich darauf, die gesamte proletarische Opposition auf Trotzki zu reduzieren. Trotzki selbst wiederum wurde vom bürgerlichen Trotzkismus der Nachkriegszeit unschädlich gemacht durch einen abstoßenden, an den Praktiken des Stalinismus erinnernden Personenkult Trotzkis, welcher sämtliche Fehler dieses Revolutionärs zu einem neuen, bürgerlichen, quasi-religiösen Dogma erhob. Dabei ging es aber vor allem darum, den großartigen Beitrag der Kommunistischen Linken zu begraben, welche viel früher, entschlossener, klarer und radikaler als Trotzki den Kampf gegen Opportunismus und Stalinismus innerhalb der Internationalen aufnahm, und welche im Gegensatz zum Trotzkismus den proletarischen Internationalismus im 2. Weltkrieg nicht verriet.

Neben Italien gehörte damals inmitten der Revolution am Ende des 1. Weltkrieges vor allem Deutschland zu den wichtigsten Geburtsstätten der Kommunistischen Linken. Die klassischen Positionen der deutsch-holländischen Linken - wie die Ablehnung der bürgerlichen Wahlbeteiligung und der Arbeit in den Gewerkschaften - waren die Mehrheitsposition in der jungen KPD1919-1920, bis diese Mehrheit unter Verletzung der Parteistatuten aus der Partei hinausgedrängt wurde und sich in der Kommunistischen Arbeiterpartei KAPD neu formieren musste. Ebenfalls stützten sich die Lehren, welche Theoretiker wie Pannekoek und Gorter in Holland zogen, hauptsächlich auf die Erfahrungen des revolutionären Massenkampfes in Deutschland. Nichts verdeutlicht klarer die relativen Erfolge der Bourgeoisie im Kampf gegen das Bekanntwerden der Kommunistischen Linken als die Tatsache, dass 30 Jahre nach dem historischen Wiederaufflammen proletarischer Kämpfe 1968 die revolutionären Erfahrungen des deutschen Proletariats am Anfang dieses Jahrhunderts selbst in politisierten Kreisen noch weitgehend unbekannt sind. Diese Erfahrungen sind weltweit noch unbekannt, aber nirgends so unbekannt wie in Deutschland selbst.

Deshalb ist es sehr bezeichnend, dass das noch winzige, aber keimende weltweite Interesse am Erbe des Linkskommunismus sich auch und gerade im deutschsprachigen Raum zeigt. So wurde die erste neue territoriale Sektion der IKS in den 90er Jahren in der Schweiz gegründet. Insgesamt stieß unsere Organisation im Laufe der 90er Jahre auf zunehmendes Interesse und zunehmende Diskussionsbereitschaft auch in Deutschland. In Österreich gelang es Mitgliedern der ehemaligen Gruppe Internationale Kommunisten (GIK), sich vom zerstörerischen Einfluss des politischen Parasitismus zu lösen und sich auf die Auseinandersetzung mit den existierenden Gruppen des proletarischen Milieus (vornehmlich der „Bordigisten“ sowie Battaglia Comunista) zu besinnen. Gerade die Tatsache, dass Cajo Brendels Veranstaltungsreihe in Deutschland Ende 1998 (siehe unseren Bericht in Weltrevolution 92) Hunderte von Interessierten anzog, bestätigte das wachsende Interesse am Linkskommunismus. In politischen Buchläden sowie im Internet tauchen Wiederveröffentlichungen von Texten Pannekoeks, Rühles oder Bordigas auf. Relativ obskure Zeitschriften wie „Rote Luzi“ in Berlin beziehen sich auf Schriften von Mattick oder Korsch in Artikeln über die Russische Revolution. Und eine Strömung wie Wildcat, welche sich als Vertreter des Operaismus in Deutschland bislang kaum um marxistische Theorie oder revolutionäre Organisationsgeschichte geschert hat, veröffentlichte jüngst eine Beilage zum Wildcat-Zirkular 46/47 (Feb. 99), bestehend aus Beiträgen über Bordiga aber auch über Pannekoek.

Die Wiederentdeckung der Geschichte des Milieus nach 1968

Es versteht sich von selbst, dass dieses erwachende Interesse an der revolutionären Geschichte unserer Klasse rasch verpuffen kann, falls sie nicht an eine lebendige, linkskommunistische Tradition der Gegenwart anknüpfen kann. Es droht sich zu wiederholen, was bereits nach 1968 einmal geschah. Damals verschwanden buchstäblich Dutzende von revolutionären Zirkeln und Gruppen, weil sie nicht imstande waren, sich als Teil einer organisierten, weltweiten Wiederaneignung des Erbes der Arbeiterklasse zu begreifen. Ohne die unerlässliche Stütze, welche die politischen und organisatorischen Erfahrungen der Marxisten darstellen, ist es auch kaum möglich, längerfristig eine proletarische politische Arbeit zu leisten. Dieses Unvermögen eines Großteils der 68er Revolutionäre kam nicht von ungefähr. Normalerweise gehen die militanten und organisatorischen Erfahrungen des Proletariats von einer Generation der Revolutionäre auf die Nächste über. Diese Kette der historischen Kontinuität wurde durch die stalinistische Konterrevolution unterbrochen. Zwar gab es 1968 noch Überreste der Kommunistischen Linken. Diese Überreste jedoch, durch Jahrzehnte der Isolation erstarrt, waren außerstande, ihre Erfahrungen an die neue revolutionäre Generation weiter zu vermitteln: die Gruppen der italienischen Linken (Bordigisten, Battaglia Comunista), weil sie die neuen Arbeiterkämpfe nicht verstanden und sich davon fernhielten; die der holländischen Linken (Spartakusbond, Daad en Gedachte), weil sie auf eine Organisation, die zu einer Intervention im Klassenkampf fähig gewesen wäre, überhaupt verzichtet hatten.

Heute ist das anders, weil die Gruppen der Italienischen Linken versuchen, auf die Entwicklung der Lage zu reagieren, und vor allem weil die Gruppen, welche es nach 1968 doch geschafft haben, an die Tradition der Kommunistischen Linken wiederanzuknüpfen (IKS, Communist Workers‘ Organisation - CWO), mittlerweile selbst über eine jahrzehntelange Erfahrung verfügen.

Somit beginnen Teile der politisch Suchenden heute zu spüren, dass es außer der Zeit der Konterrevolution einen anderen Abschnitt der Organisationsgeschichte unserer Klasse gibt, an den man anknüpfen muss. Und dies ist eben die Geschichte der letzten 30 Jahre. Denn die Geschichte des revolutionären Marxismus ist nichts Totes, Museales, welches sich ausschließlich in vergilbten Dokumenten der Vergangenheit ausgraben lässt. Die Geschichte der Bemühungen der Revolutionäre um Selbstorganisierung, theoretische Klarheit und Intervention in der Klasse ist eine ständige Anstrengung des Proletariats selbst, welche nach der Überwindung der Konterrevolution Ende der 60er Jahren in eine neue und entscheidende Phase eingetreten ist.

So tauchten bei den Brendel-Veranstaltungen in Berlin nicht nur ehemalige Genossen der Gruppe „Soziale Revolution“ wieder auf, sondern auch andere Veranstaltungsteilnehmer, welche die damaligen Publikationen dieser Gruppe wiederentdeckt und schätzengelernt hatten. In Nürnberg wiederum wurde im Dezember 98 auf einer von der Autonomie (Nürnberg) und dem Proletarischen Kommitee (Berlin) organisierten Arbeitskonferenz ein Referat über „parteiunabhängige klassenkämpferische Ansätze in der BRD“ seit Ende der 60er Jahre vorgetragen und diskutiert. Obwohl dort die Rolle linkskommunistischer Gruppen noch nicht zur Kenntnis genommen wurde, befasste man sich mit autonomistischen Gruppen wie „Proletarische Front“, welche damals zumindest versuchten, Anschluss an eine revolutionäre Klassenpolitik zu finden.

Als Teil dieses Bemühens um die Wiederaneignung revolutionärer Politik als Aufgabe der Gegenwart, die die jüngste Geschichte mit einschließt, wollen wir die wichtigsten Erfahrungen und Lehren aus den letzten 30 Jahren in Deutschland und dem deutschsprachigen Raum wiedergeben. Dies wiederum ist nur ein - wenn auch sehr wichtiges - Kapitel aus der internationalen Entwicklung dieser Zeit. (Zur internationalen Geschichte des Milieus seit 1968 siehe unseren zweiteiligen Artikel in der Internationalen Revue Nr. 10 und Nr. 11 und zur Geschichte der IKS in der Internationalen Revue Nr. 16).

Die Gruppe „Soziale Revolution“: Der erste Vertreter des Linkskommunismus in Deutschland seit der Konterrevolution

Im März 1971 erschien in Berlin die erste Ausgabe der Zeitschrift „Die soziale Revolution ist keine Parteisache“. Im November 71 erschien die zweite Nummer mit dem zusätzlichen Titel „Internationale Information & Korrespondenz“. Der Name der Gruppe ging auf einen Spruch Otto Rühles zurück und war Programm: die Genossen waren rätekommunistisch und leidenschaftlich „anti-leninistisch“. Die Zeitschrift war das Ergebnis einer längeren Diskussion zwischen zwei Gruppen, von denen eine aus der Praxis Westberliner Betriebsgruppen stammte, während die andere - rätekommunistisch - vor allem theoretisch gearbeitet hatte. Auch ein Vortrag Paul Matticks im Juni 1971 in Berlin half, die Diskussionen in der Gruppe voranzutreiben.

Wegen der leidenschaftlichen Gegnerschaft zu den damals entstehenden, bürgerlichen „K-Gruppen“ lieferte die Zeitschrift zugleich eine Art Kriegserklärung sowohl gegen das damals vorherrschende Sektierertum der unzähligen „Organisationsstifter“ als auch gegen die lokalistische Geschichtslosigkeit der aufkeimenden Betriebs- und Stadtteilarbeit. Die Zeitschrift veröffentlichte neben Streikberichten aus aller Welt historische Texte vornehmlich der deutsch-holländischen Linkskommunisten wie von Mattick oder Canne Meijer ebenso wie aktuelle Beiträge des internationalen proletarischen Milieus (Cajo Brendel) sowie damals in der Diskussion stehender Gruppen (Informations Correspondance Ouvrière – ICO in Frankreich, Root and Branch in den USA). Auch der erste Artikel unserer Strömung, welcher auf deutsch erschien, wurde hier veröffentlicht: ein Beitrag der Gruppe „Révolution Internationale“ aus Toulouse zu den Gewerkschaften.

Trotz ihrer rätistischen Schwächen stellte die Gruppe damals einen enormen Fortschritt dar. Die von der Gruppe selbst verfassten Artikel zeugen von einer in der damals sehr aktivistischen Zeit ungewöhnlichen theoretischen Tiefe. Vor allem gegenüber der Frage der Wirtschaftskrise, des Staatskapitalismus und der Gewerkschaften vertraten die Genossen ziemlich klare Positionen, allen Anfeindungen zum Trotz. Während damals alle Welt noch von der Überwindung der Wirtschaftskrisen durch den Kapitalismus und der wirtschaftlichen Integration des Proletariats der Industriestaaten in das System mittels der „Ausplünderung“ peripherer Länder faselte, zeigte „Soziale Revolution“ unbeirrt auf, dass die aufflammenden Arbeiterkämpfe in Europa und Amerika das Ergebnis der Wirtschaftskrise waren, und dass die Klassenauseinandersetzungen aufgrund der objektiven Widersprüche des Systems mit der Zeit an Schärfe gewinnen würden. „Das bedeutet, dass in diesem Zeitpunkt eine weitere Akkumulation mit der absoluten Verelendung des Proletariats erkauft werden muss.“ (SR 1, S. 20).

Es war diese Vorstellung einer historischen Systemkrise, welche es der Gruppe auch erlaubte, den Staatskapitalismus als eine Universaltendenz des Jahrhunderts zu erkennen, welche im Faschismus und im New Deal ihren Ausdruck ebenso findet wie im Stalinismus. Der Staatskapitalismus ist somit ein Mittel, nicht um die Produktivkräfte fortschrittlich voranzutreiben, sondern um den Kapitalismus am Leben zu erhalten, wobei „die staatlich induzierte Nachfrage hauptsächlich den Bereich der Vergeudungs- und Waffenproduktion betrifft. Hier ist aber zu bedenken, dass die Produkte dieser Industriezweige ihren Wert nicht auf einem Markt realisieren, sondern aus dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozess herausfallen, und demzufolge, da sie über Steuern finanziert worden sind, faktisch dem gesellschaftlichen Kapital durch den Staat enteignet wurden. (...) Das Ergebnis dieser Wirtschaftsweise ist deshalb zwar eine vergrößerte materielle Produktion, die sich auch in Geldbegriffen als solche darstellt, die aber im gesellschaftlichen Sinn eine verringerte Wertproduktion zum Ergebnis hat.“ Damit wird der linkskapitalistischen Anhimmelung des staatlichen Eingreifens in das Wirtschaftsleben eine Abfuhr erteilt. „Die durch die Nutzung der eigentlich schon unproduktiven Ressourcen entstandene Prosperität ist ...nur dadurch möglich, dass in der Staatsintervention der Versuch gemacht wurde und wird, durch die teilweise Suspendierung des Wertgesetzes die Wertproduktion aufrechtzuerhalten.“ (SZ 1, S. 18-19).

Auch die Gewerkschaftsfrage wird mit dieser Methode angegangen. „Diese Unfähigkeit der Gewerkschaften, in der Endphase der Akkumulation die Interessen der Arbeiter wirksam gegenüber dem Kapital zu verteidigen, resultiert nicht aus einem Verrat an der Arbeiterklasse, aus einem willentlichen Integrationswunsch der Bürokratie, sondern aus der Tatsache, dass in einer zerfallenden Marktwirtschaft auch deren Institutionen zerfallen bzw. ihrer Funktion verlustig gehen müssen. Damit verlieren die Gewerkschaften ihre eigentliche Funktion und werden zu Werkzeugen des Kapitals..“ (S.23).

Somit werden nicht nur die Gewerkschaften abgelehnt, sondern ebenso die damals in Mode kommende „Betriebsarbeit“, wodurch zunächst Studenten, später „Linke“ schlechthin sich „proletarisieren“ ließen, um die Fabriken zu „revolutionieren“. „In einer nicht-revolutionären Situation ist keine revolutionäre Politik möglich, und die Initiativen der Revolutionäre im Betrieb landen dann in der institutionalen Versteinerung von Vertrauensleuteposten oder Betriebsratsstellen, wenn sie die Mehrheit der anderen Arbeiter „links überholen“. Der Rückschlag ist unvermeidlich, und letztlich stellt sich heraus, dass die Intervention in dem „tagtäglich“ stattfindenden Klassenkampf die allerdings politisch begründete Anpassung an den Konservatismus der anderen Arbeiter verlangt.“ (SR 2, S. 102).

In der Zeit nach 1968 gab es zwei Phasen in der typischen Entwicklung rätistischer Gruppen. Während unmittelbar nach 68 die jungen Rätisten durch eine überschwengliche Überschätzung der spontanen Massenkämpfe oft an eine unmittelbar bevorstehende Revolution glaubten und sie voluntaristisch herbeiführen wollten, nahmen die rätekommunistischen Gruppen der späteren 70er Jahre - angesichts ihres zerrütteten Vertrauens in die Arbeiterklasse - Zuflucht in diversen „Zusammenbruchstheorien“, denen zufolge die Revolution in einer fernen Zukunft mehr oder weniger deterministisch stattfinden sollte. Die „Soziale Revolution“ hingegen war weniger aktivistisch in der Zeit nach 68, ohne aber die historische Wiedergeburt der selbstorganisierten Arbeiterkämpfe gering zu schätzen. Das Verschwinden der Gruppe nach nur kurzer Zeit war eine Tragödie für das Proletariat, weil „Soziale Revolution“ das Zeug besaß, um einen Orientierungspunkt für damals politisch Suchende inmitten von Konfusion und Unerfahrenheit zu werden. Die Gruppe verschwand letztendlich, weil ihre rätekommunistische Weltsicht, ihre Ablehnung des Beitrags der Bolschewiki usw. sie daran hinderte, ihre eigene Wichtigkeit zu erkennen. Zwar kannten die Genossen die Not der Desorientierten gegen Ende der Kampfeswelle Anfang der 70er. „Heute schon greifen kleine Gruppen aus Verzweiflung zu allen ihnen zur Verfügung stehenden Waffen, um das kapitalistische System anzugreifen. Diese Mittel reichen jedoch nicht aus, um eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse zu erzwingen, auch wenn es Maschinengewehre sind.“ (SR 2. S. 106). Und dennoch lautete das rätistische Credo: „Es ist jedoch möglich, dass diese Gruppen an inneren und äußeren Schwierigkeiten bald wieder zerbrechen oder in eine Phase der Inaktivität zurückfallen (...) Dies ist nicht eigentlich ein Unglück, da die Beziehungen jederzeit wieder aktivierbar sind.“ (S. 105) Denn schließlich glaubte man: „Die revolutionäre Organisation ist so nicht eine Bedingung der Revolution, sondern die Revolution bedeutet das objektive Ende jeder revolutionären Gruppe als Organisation.“ (S. 104)

Die Sackgasse der Autonomie

Während „Soziale Revolution“ rasch verschwand, wurde die an der Arbeiterklasse orientierte, sich von den K-Gruppen und Trotzkisten abgrenzende politische Szene Deutschlands Anfang der 70er Jahre von Gruppen wie „Revolutionärer Kampf“ (Frankfurt) oder „Proletarische Front“ (Hamburg) beherrscht. Diese und andere Strömungen aus dem Spektrum der Zeitschrift „Wir Wollen Alles“ nahmen sich die Bewegung der „Arbeiterautonomie“ zum Vorbild, welche in den riesenhaften Arbeiterkämpfen in Italien ab 1969 entstanden war. Während aber in Italien außerdem ein lebendiges Milieu von Gruppen des Italienischen Linkskommunismus weiterhin bestand, und in den meisten anderen westlichen Ländern zu dieser Zeit der Rätekommunismus sehr stark war, war Deutschland der einzig führende Industriestaat, wo die Gruppen der Autonomie damals solch eine vorherrschende Stellung errangen. Dieser Vorrang der Autonomie war ein Zeichen nicht der Vorzüge dieser Richtung, sondern der damaligen relativen politischen Unterentwicklung eines proletarischen politischen Lebens in Deutschland. Zwar gab es Parallelen zwischen autonomen Richtungen wie „Autonomia Operaia“ und der damals vorherrschenden Form des Rätekommunismus: beide hielten sich zunächst am selbständigen Klassenkampf des Proletariats und lehnten die „Führungsansprüche“ der Gewerkschaften und linksbürgerlicher „Kaderparteien“ ab; beide neigten zu blindem Aktivismus und einem naiven Glauben an die grenzenlose Fortsetzung der gerade stattfindenden Kampfeswelle. Doch stellte die Autonomie (wir meinen hier die politische Strömung) einen enormen Rückschritt selbst gegenüber dem Rätekommunismus dar. Am gravierendsten war ihr vollständiger Bruch mit dem Marxismus in der Frage der Wirtschaftskrise. Nachdem die Autonomie Ende der 60er Jahre zunächst die Existenz der Wirtschaftskrise geleugnet hatte und den Ausbruch von Arbeiterkämpfen statt dessen durch die Einführung der mit ungelernten „Massenarbeitern“ bestückten „Großraumfabriken“ zu erklären trachtete, erklärte sie später, die nicht mehr zu übersehende Krise sei vielmehr das Ergebnis der Arbeiterkämpfe, anstatt ihre materielle Grundlage. Als dann, ab Mitte der 70er Jahre die wirtschaftliche Weltlage sich weiter verschlimmerte, obwohl die Arbeiterkämpfe zurückgingen, sah sich der Operaismus genötigt, diesen Absurditäten noch die Krone aufzusetzen: die Massenarbeitslosigkeit sei eine Finte der Kapitalisten, um die Kampfbereitschaft der Arbeiter zu dämpfen (im Kauderwelsch der Autonomie ausgedrückt: um eine „technische Neuzusammensetzung des Proletariats“ zu erzwingen).

Auch die - zunächst proletarische - Reaktion der Autonomie gegen die gewerkschaftliche und linkskapitalistische Bekämpfung der Selbstorganisierung der Arbeiterkämpfe fand fernab vom Marxismus statt, indem sie den politischen „Führungsanspruch“ der „K-Gruppen“ zu kontern versuchte mit ihrem „echt proletarischen“ politischen Gegenentwurf der „Betriebsarbeit“. Während der Rätekommunismus trotz seines Verzichts auf eine wirkungsvolle Intervention im Klassenkampf immerhin noch die Selbstaktivität der Klasse fördern wollte, trat die Autonomie hingegen mit demselben Anspruch wie die gewerkschaftliche Linke an, die Arbeiterkämpfe zu inszenieren bzw. zu „organisieren“. Die Autonomie fand sich nur in einem Punkt einig mit den Rätekommunisten: im Verzicht auf den Aufbau politischer Organisationen des Proletariats auf der Grundlage klarer Klassenpositionen. Zwar betrachtete sich die Autonomie durchaus als Avantgarde. Aber eine Vorhut der Aktion sollte es sein, wobei nicht politische Prinzipien, sondern die Präsenz im Betrieb für ihren proletarischen Charakter garantieren sollte. Daraus folgte die Krise und Spaltung der „autonomen Zone“, sobald die 1968 begonnene Kampfwelle 1973 nach den Niederlagen von Fiat-Turin und Ford-Köln abflaute. Dieses Milieu war außerstande zu begreifen und zu akzeptieren, was Rosa Luxemburg bereits in ihrer Massenstreikbroschüre von 1906 nachgewiesen hatte: dass die Arbeiterkämpfe im 20. Jahrhundert nicht mehr permanent, sondern explosionsartig stattfinden und in Wellen verlaufen. Somit kehrte der Großteil der Militanten zu diesem Zeitpunkt der Arbeiterklasse den Rücken und wandte sich Häuserkämpfen, der Verteidigung der bürgerlich-demokratischen Rechte diverser Minderheiten oder dem Aufbau „alternativer Lebensstile“ zu: da war „mehr los“. Hinlänglich bekannt ist auch die Tatsache, dass beispielsweise aus dem Frankfurter Zweig dieses Milieus mehr als eine spektakuläre politische Karriere im deutschen imperialistischen Staat erwuchs.

Zwar gab es in der Geschichte des Operaismus immer wieder Versuche, sich auf die ursprüngliche Hinwendung zur Arbeiterklasse zu besinnen, oder sich sogar theoretisch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung auseinanderzusetzen. Unsere Strömung versuchte stets, solche Reaktionen zu fördern. Die Vorläufergruppe der IKS in Amerika, Internationalism, lud u.a. neben „Soziale Revolution“ auch die Gruppe „Revolutionäre Kampf“ dazu ein, sich an einem „international correspondence network“ revolutionärer Gruppen zu beteiligen (Internationalism Nr. 4, 1973). „Révolution Internationale“ in Frankreich war bemüht, mit dem Spektrum von „Wir Wollen Alles“ in Frankfurt zu diskutieren. Auch gab es Ansätze theoretischer Diskussionen in solchen Gruppen. Die Ausgabe Nr. 10 der „Proletarische Front“ beispielsweise befasst sich mit der Geschichte der Arbeiterklasse in Deutschland seit 1933 und ist nahe daran, den imperialistischen Charakter des 2. Weltkriegs anzuerkennen - ohne aber klar Stellung zu beziehen (siehe Kapitel IV. „Die Niederhaltung des Arbeiterkampfs - Garantie der Kontinuität des Ausbeutersystems 1945 bis 1950/51). Ein kleiner Teil dieser Gruppe entwickelte sich später in Richtung IKS. Auch Anfang der 80er Jahre, als operaistisch beeinflusste Leute von der Karlsruher Stadtzeitung (Vorläufer von Wildcat) oder der Jobber-Initiative in der Balduinstrasse, Hamburg, positiv in der damaligen Arbeitslosenbewegung wirkten, haben wir dies unterstützt. Dennoch haben wir immer darauf bestanden, dass eine solche Besinnung auf die Politik der Arbeiterklasse nur gelingen kann, wenn man die Grundsätze der Autonomie infragestellt und sich dem Marxismus annähert (siehe unseren Artikel „The rise and fall of Autonomia Operaia“: International Review 16, 1979, den wir demnächst auf deutsch veröffentlichen werden).

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [3]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [4]

Weltrevolution Nr. 94

  • 2182 reads

Weltrevolution Nr. 95

  • 2271 reads

Konferenz in Berlin: Programmatische Klärung – Unverzichtbarer Bestandteil des Klassenkampfes

  • 2084 reads

Am 12.-13. Juni fand eine Konferenz politischer Gruppen und Initiativen in Berlin statt. Organisiert wurde die Konferenz von den Gruppen Proletarisches Komitee (Berlin) und Copycat (Essen). Teil nahmen außerdem  Sprecher des Roten Aufbruchs (Hamburg), der Perspektive (Bremen) und der Revolutionären Antifaschistischen Initiative (Berlin). Letztere Gruppe arbeitet mit PK zusammen, u.a. bei der  Herausgabe der Zeitung ‚Aufbrechen‘. Am ersten Tag waren u.a. ein Vertreter von Wildcat und ein Mitglied des Internationalen Solidaritätskomitees Wolfsburg anwesend. Außerdem war die IKS von den Organisatoren der Konferenz PK und Copycat eingeladen worden. Unsere Organisation nahm als Beobachter teil. Es war die dritte Konferenz dieser Art, welche seit Dezember 1998 durchgeführt wurde, zunächst organisiert durch PK und die Organisierte Autonomie Nürnberg (OA). Unter anderem nahmen O.A., Gruppe 2 und “Zusammen kämpfen” aus München sowie die FelS  an der dritten und wohl letzten Konferenz nicht mehr teil.

 

Die Hauptthemen der Konferenz waren die Perspektiven des Klassenkampfes und die Aufgaben und die Intervention der Revolutionäre, sowie der Kosovokrieg, welche z.Zt. der Konferenz noch wütete. Es stellte sich aber schnell ein drittes Thema heraus, das vor allem am Anfang sehr kontrovers diskutiert wurde:  Die Bedeutung solcher Konferenzen sowie die damit verbundene Einladungspraxis und die Teilnahmekriterien.

 

Die Funktion von politischen Debatten

Die Konferenz öffnete mit einer Reihe von zum Teil heftig vorgetragenen Kritiken an der Entwicklung und jetzigen Ausrichtung der Konferenzen. Die Vertreter der Revolutionären Antifaschistischen Initiative (RAI) und der Bremer Perspektive bemängelten die Abwesenheit der Gruppen aus Nürnberg und München. Die bisherigen Konferenzen seien gescheitert. Es herrsche ein Mangel an praktischer Ausrichtung. Die Bremer warfen ein, ein Austausch unterschiedlicher politischer Positionen könne nicht Sinn und Zweck solcher Konferenzen sein. Wenn das so weiter gehe, bestünde ihrerseits kein Interesse mehr. Die RAI wiederum bestritt nicht die Notwendigkeit theoretischer Arbeit, fand aber, dass solche Konferenzen dazu unbrauchbar wären.

 

Am lautesten wurden diese Proteste von den kommunistisch-autonomen Gruppen (Berlin) vorgetragen, die ihren  Rückzug von den Konferenzen bekanntgaben. Neben dem “fehlenden Praxisbezug” (diese Gruppen finden, diskutieren könne man besser per E-Mail), wurde das Verlassen der Konferenz vor allem mit der Anwesenheit der IKS begründet. Man könne nicht in einem Raum diskutieren mit Linkskommunisten, welche die nationalen Befreiungskämpfe ablehnen, der PKK ihre Solidarität versagen,  und mit Begriffen wie “politischem Parasitismus” um sich werfen. Auch diese Kritik wurde von der Gruppe Perspektive sowie der RAI unterstützt. Zwar habe die Bremer Gruppe sehr kritische Fragen an die IKS zu richten, z.B. gegenüber der nationalen oder der Frauenfrage, dies würde aber den Rahmen und damit auch die Tagesordnung der Konferenz sprengen. RAI wiederum berichtete, die Einladung an die IKS habe selbst innerhalb des PK zu Kontroversen geführt. Dort habe man sich darauf geeinigt, der IKS einen Beobachterstatus einzuräumen. Die Gruppe RAI sei aber besorgt wegen der Willkür des PK bei der Einladungspraxis.

Auf diese Einwände wurde von verschiedenen Seiten geantwortet. Copycat kritisierte die Gegenüberstellung von Theorie und Praxis. Es gehe darum, die politischen Werkzeuge zu schmieden, um die Welt verändern zu können. Vielleicht werde sich im Laufe der Diskussion herausstellen, dass vorrangig die nationale Frage geklärt werden müsse. In diesem Punkt stehe die IKS keineswegs allein: auch Copycat und ein Teil des PK lehnen die sogenannte nationale Befreiung ab. OA Nürnberg habe längst klargestellt, nicht mehr an den Konferenzen teilnehmen zu wollen, weil sie keine Lust hätten, mit Copycat zu diskutieren. Die jetzige Konferenz entspreche durchaus den Vorgaben. PK (wie zuvor Copycat) wies darauf hin, dass es niemals klar definierte Teilnahmekriterien für diese Konferenzen gegeben habe. Das Ziel der Konferenzen sei es nicht, politische Kampagnen zu starten, sondern eine internationale inhaltliche Diskussion voranzutreiben. Dazu sei Offenheit notwendig. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kommunistischen Linken, beispielsweise auch mit dem Erbe der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) der 20er Jahre sollte als Bereicherung angesehen werden.

 

So durfte am Ende unsere Organisation doch dableiben.

 

Wir haben die Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Konferenz  und die Anwesenheit der IKS deshalb ausführlich wiedergegeben, weil wir meinen, dass es sich hier um eine grundsätzliche Frage von großer Tragweite handelt. Anfang der 20er Jahre hat die KP in Italien, damals unter der Führung der Linkskommunisten mit Amadeo Bordiga stehend, die Klassenpartei des Proletariats definiert als eine unzertrennliche Einheit zwischen politischem Programm und revolutionärem Willen. Die politische Organisation existiert, um im Klassenkampf einzugreifen. Ohne den Willen zur Tat degeneriert der Marxismus zum Akademismus, die revolutionäre Kampforganisation zum bloßen Debattierklub. Aber die revolutionäre Organisation benötigt nicht nur revolutionäre Leidenschaft, sondern auch ein Klassenprogramm, wenn sie die Interessen des Proletariats verteidigen soll. Weshalb sie ein Klassenprogramm benötigt, hat bereits Marx klargestellt, imdem er darauf hinwies, dass die herrschende Ideologie die Ideologie der herrschenden Klasse ist. Nicht nur die Klasse insgesamt, sondern auch die Revolutionäre als Teil der Klasse sehen sich dem ständigen Druck der herrschenden Ideologie ausgesetzt. Um nicht selbst von der bürgerlichen Denk- und Handlungsweise beherrscht zu werden, müssen sich die Revolutionäre mit den theoretischen und praktischen Lehren aus der gesamten Geschichte des Kampfes unserer Klasse befassen. Deshalb ist Theorie, ist Geschichte für den Marxismus kein akademisches Studium und auch kein Luxus, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil des Klassenkampfes.

 

Ohne revolutionäre Theorie kein revolutionäre Praxis: dieser Grundsatz der marxistischen Bewegung findet seine Bestätigung auch in der Geschichte dieser Konferenzen. Sie verstanden sich ursprünglich quasi als Teil der sog. Arbeitslosenbewegung, welche 1998 in Frankreich und Deutschland, bei völliger Abwesenheit echter Arbeitslosenkämpfe von der herrschenden Klasse künstlich inszeniert wurden, um politische und gewerkschaftliche Auffangbecken für zukünftige, echte Arbeitslosenkämpfe vorzubereiten. Die ersten Konferenzen setzten sich zum Ziel, die Frage der Existenzgeldforderung in den Mittelpunkt zu stellen und zu diskutieren. Es stellte sich aber bald heraus, dass ein Teil der Konferenz mit  dieser Forderung als Zauberformel der Arbeitslosen nicht einverstanden war, und dass im Falle von Copycat, zunehmend auch des PK, hinter der Infragestellung dieser Forderung etwas grundsätzlicheres lag: Die Ablehnung der gewerkschaftlichen Entmündigung und Entmachtung der Arbeiterklasse. Während der zweiten Konferenz vertrat außerdem Wildcat (Potsdam) völlig zu recht die Auffassung, dass es derzeit überhaupt keine echten Arbeitslosenkämpfe gibt. Damit verloren die Konferenzen aber tatsächlich ihre bisherige Existenzberechtigung. Deshalb bildeten sich schon bei der  zweiten Konferenz gegenüber der Frage, “wie weiter?”  zwei unterschiedliche Antworten heraus. Die eine Antwort strebte ein Aktionsbündnis an, das gegenüber den Arbeitslosen oder im Stadtteil aktiv sein sollte. Diese Antwort lief darauf hinaus, entweder  neue, basisgewerkschaftliche Strukturen zu bilden, welche aber dazu verdammt gewesen wären, allein den Interessen der Herrschenden zu dienen, oder aber im autonomen Sumpf der “Eroberung des Stadtteils” hängenzubleiben. Die “Nürnberger” von OA vertraten diese Richtung. Deshalb sind sie ausgeschieden. Die andere Antwort aber lief auf die Klärung politischer Grundsatzfragen als Bestandteil der Interventionsarbeit hinaus: vornehmlich der Gewerkschaftsfrage und der nationalen Frage. Auch die Logik dieser Antwort führte am Ende zur Einstellung der Konferenzen. Aber nicht weil die Konferenzen gescheitert sind, sondern weil sie ihre Funktion erfüllt haben und damit überflüssig geworden sind. Unserer Meinung nach bestand die wirkliche Rolle dieser Konferenzen darin, deutlich zu machen, dass es ohne politische Klärung, ohne programmatischen  Bruch mit der bürgerlichen Ideologie nicht möglich ist, ein proletarisches Eingreifen im Klassenkampf zu entwickeln. Und in der Tat beschloss die dritte Konferenz, ihre Arbeit nicht fortzusetzen, sondern statt dessen Treffen einzuberufen, um Grundsatzfragen zu debattieren. Das erste solcher Treffen wird voraussichtlich die nationale Frage behandeln. Es ist nur folgerichtig, dass die Konferenzen zu einer Trennung führten zwischen denjenigen, welche bereit sind, diese militante Klärungsarbeit auf sich zu nehmen, und den anderen, die dazu nicht bereit sind.

 

Die Frage des Krieges

Obwohl die Frage des Krieges erst am zweiten Konferenztag diskutiert wurde, wollen wir sie  an dieser Stelle behandeln, weil wir meinen, dass sie sehr eng mit der obigen Frage der Haltung in der politischen Debatte zusammenhängt. Es gab neben der IKS zwei Gruppen, welche auf der Konferenz eine eindeutig internationalistische Haltung gegenüber dem Kosovokrieg vertraten: Copycat und PK. Es sind dieselben Gruppen, welche auf der Notwendigkeit politischer Klärung bestehen, und einer Debatte mit der Kommunistsichen Linken offen gegenüberstehen. Die Gruppen, welche eher drauflos intervenieren wollen, ohne diese Klärungsarbeit zu leisten, und sich eher unglücklich zeigten gegenüber der Anwesenheit der IKS, hatten eine viel weniger klare Haltung.

 

Wir denken, dass dies kein Zufall ist. Die meisten Teilnehmer an diesen Konferenzen entstammen entweder operaistischen oder  autonom-antifaschistischen Kreisen. Vor allem im autonomen-antifa Milieu ist linkskapitalistisches Gedankengut weiter verbreitet, ja vorherrschend. Gruppen aus diesem Milieu werden der Sache des Proletariats dienen können, wenn sie es schaffen, die gewerkschaftliche, nationalistische und bürgerlich-demokratische Ideologie in Frage zu stellen. Dies wiederum setzt eine grundsätzliche Offenheit gegenüber den historischen Positionen der Arbeiterbewegung voraus, welche durch 50 Jahre stalinistischer Konterrevolution begraben wurden. So setzte ein Delegierter des PK auf der Konferenz auseinander, wie die Gruppe sehr früh dazu überging, verschiedene Positionen zu hinterfragen und zu verwerfen, z.B. - die Befürwortung nationaler Befreiungsbewegungen.

 

Zwar gab es auf der Konferenz  selbst niemanden, der eine der Kriegsparteien im Kosovokonflikt offen unterstützte. Aber der Vertreter der RAI berichtete, dass es innerhalb der drei miteinander kooperierenden Gruppen in Berlin - PK, RAI sowie Rote Novemberjugend – Befürworter sowohl Serbiens als auch der UCK bei diesem Krieg gab – wobei die internationalistische Stellungnahme in der gemeinsamen Zeitung ‚Aufbrechen‘ sich als die Mehrheitsposition durchgesetzt hatte.

 

Aber auch bei der Konferenz selbst gab es Argumentationslinien, welche zumindest die Tür zur Unterstützung einer, und zwar der serbischen Kriegsseite, offenließ. So meinte Perspektive (Bremen), man müsse zwar die Verbrechen Milosevics nennen, aber nicht auf die gleiche Stufe stellen wie die der NATO. Man müsse dafür kämpfen, das NATO-Kriegsbündnis zu zerschlagen. Roter Aufbruch (Hamburg) wiederum meinte, die serbische Seite in diesem Krieg sei nicht imperialistisch, erstens weil Serbien zu schwach sei, um imperialistisch zu sein, und zweitens weil Serbien die Kriegsseite sei, welche nun die Bomben auf den Kopf geschmissen bekomme.

 

Wie die IKS (aber auch das PK) auf der Konferenz erklärte, ist “imperialistisch” sein keine Frage von Stärke oder Schwäche. Der Imperialismus ist ein globales Verhältnis, welches alle Staaten – groß oder klein – dazu verdammt, Krieg gegeneinander zu führen. Wie die serbischen Sozialisten bereits im August 1914 bei der Ablehnung der Militäranleihen für den 1. Weltkrieg erklärten, hat das “kleine” Serbien bereits 1913 im 2.Balkankrieg seinen imperialistischen Charakter hinlänglich unter Beweis gestellt, indem es zusammen mit Griechenland und Rumänien seine Bündnispartner aus dem 1. Balkankrieg Bulgarien überfiel und ausplünderte. Auch die Frage, wer den Krieg angefangen hat, oder wer die Bomben auf den Kopf geschmissen bekommt, ist hier ohne Belang. Die Tatsache, dass im 2. Weltkrieg Japan als erstes die USA angriff, machte diesen Krieg auf amerikanischer Seite nicht weniger imperialistisch. Auch Hitler-Deutschland hörte nicht auf, imperialistisch zu sein, nur weil es gegen Kriegsende unaufhörlich bombardiert wurde.

 

Es ist nicht die Aufgabe der Revolutionäre, bestimmte Kriegsbündnisse wie die NATO sondern den imperialistischen Krieg als solchen zu bekämpfen. Die Forderung nach der Auflösung der NATO entspricht heute teilweise sogar den Interessen der europäischen Bourgeoisie, insoweit die NATO von den USA als Instrument zur Unterordnung der europäischen “Bündnispartner” instrumentalisiert wird. Vor allem aber ist es die Aufgabe der Revolutionäre, die Verbrechen aller Kriegsseiten als Produkt eines Systems – des Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase – anzuprangern. Die Geschichte zeigt: Die Unterscheidung zwischen den Verbrechen der verschiedenen Kriegsseiten eröffnet stets eine Logik, die zur Parteiergreifung zugunsten des einen imperialistischen Verbrechers gegen den anderen führt.

 

Deshalb unterstützten wir die Aussage von Copycat, dass die wichtigste Aufgabe der Konferenz nicht darin bestand, eine präzise Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den verschiedenen Großmächten zu liefern, sondern den Krieg eindeutig zu bekämpfen und von einem Klassenstandpunkt aus zu beurteilen. Zwar lieferte Copycat aus unserer Sicht die unklarste Analyse des Krieges – es vertritt die in operaistischen Kreisen weitverbreitete Vorstellung eines “Krieges gegen die Arbeiterklasse” (siehe dazu unseren Artikel über die Wildcat-Veranstaltung in Köln). Die Analyse des Krieges ist eine wichtige, aber zweitrangige Aufgabe im Vergleich zu der Notwendigkeit, gegenüber dem Krieg deutlich ein Klassenlager zu wählen: Entweder für den Krieg, und damit für das Kapital, oder gegen den Krieg und für den proletarischen Klassenkampf.

 

Die Intervention im Klassenkampf

Es gab zu diesem Thema zwei Einleitungsreferate. Das erste, von Copycat,  zog Lehren aus einer Intervention der Gruppe bei einem Bauarbeiterkampf in Ostdeutschland. Das zweite, das des PK, erläuterte die Entstehungsgeschichte, das Selbstverständnis und das Interventionskonzept der Gruppe. Beide Referate lehnten die Organisierung des Klassenkampfes durch die Gewerkschaften ab. Im Gegensatz etwa zum Konzept der Bremer Gruppe, das die Frage der Forderungen eher in den Mittelpunkt stellt – und somit, wie wir meinen eine eher gewerkschaftliche Herangehensweise pflegt – betonten die Referate die Selbstorganisierung der kämpfenden Arbeiter. PK ging sogar einen Schritt weiter, indem es permanente Organisationen der gesamten Klasse außerhalb des Kampfes als unbrauchbar ablehnte und die Arbeiterräte, nicht die Klassenpartei als das Instrument einer künftigen Diktatur des Proletariats bezeichnete.

 

In der Ablehnung jeglicher “Stellvertreterpolitik” im Klassenkampf stehen diese beiden Gruppen somit dem alten Konzept der KAPD und der deutsch-holländischen Linken nicht fern. Dennoch meinen wir, dass sowohl PK als auch und vor allem Copycat Gefahr laufen, die gewerkschaftliche “Stellvertreterpolitik” aus der Tür hinauszubefördern, um sie durchs Fenster wieder hereinzulassen. Dies hängt mit der operaistischen Interventionsvorstellung zusammen, welche die Politik vor allem von Copycat jetzt noch weitgehend prägt. Auf der Konferenz lehnte Copycat jegliche “ahistorische Organisationform des Klassenkampfes” ab, bezog diese Ablehnung aber nicht nur auf die Gewerkschaften, sondern auch auf die Prinzipien der Ausdehnung und Selbstorganisierung des Kampfes durch gewählte und jederzeit abwählbare Delegiertengremien, wie von der IKS vertreten. Dahinter erblickt Copycat eine abstrakte Vorstellung des reinen und perfekten Klassenkampfes durch die IKS, welcher in der Realität nicht zu finden sei. Dagegen fordert Copycat die konkrete “militante Untersuchung” jeden Kampfes, um den jeweiligen Schwachpunkt der Bourgeoisie zu finden. Bei einem Bauarbeiterstreik sei dies beispielsweise der Baukran, den man besetzen müsse, um die Baustelle lahmzulegen

 

Wir denken, die selbständige Organisierung und Ausdehnung des Arbeiterkampfes durch Vollversammlungen und Streikkomitees ist kein “ahistorisches” Schema, sondern eine wirkliche, dem modernen Klassenkampf seit der Jahrhundertwende innewohnende Tendenz und ein Bedürfnis, welche unabhängig von den Auffassungen der Revolutionäre und der Meinungen der einzelnen Arbeiter immer wieder zum Durchbruch drängen. Diese Kampfformen entsprechen dem Wesen der Arbeiterklasse und den Bedingungen des niedergehenden Kapitalismus. Sie wurden von den Revolutionären nicht erfunden, sondern lediglich nach der Revolution von 1905 entdeckt und beschrieben: durch Rosa Luxemburgs Schrift üben den Massenstreik und Leo Trotzkis Buch über die Arbeiterräte von 1905. Auch die Bourgeoisie weiß sehr wohl von der Existenz dieser spontanen Tendenz des Klassenkampfes. Das ist der Grund, weshalb die Gewerkschaften, nachdem sie dem Kampf der Arbeiterklasse nicht mehr dienlich waren, nicht einfach verschwanden. Sie wurden von der Bourgeoisie übernommen und am Leben erhalten, um genau diese spontane proletarische Selbstorganisierung zu bekämpfen. Und das ist auch der Grund, weshalb die spontane Selbstorganisierung sich nicht “rein” und auch nicht “spontan” durchsetzt, sondern als Ergebnis des Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Gewerkschaften und kämpfenden Arbeitern. Die Aufgabe der Revolutionäre besteht nicht darin, den Arbeiterkampf zu organisieren, sondern darin, an der Spitze des politischen Kampfes für die selbständige Entfaltung des Klassenkrieges gegen die gewerkschaftliche Sabotage zu stehen.

 

Das Konzept von Copycat hingegen verzichtet nicht wirklich darauf, die Arbeiterkämpfe organisieren zu wollen. Denn es betrachtet den Klassenkampf eher als eine technische Angelegenheit, welche von den Technokraten der “militanten Untersuchung” gelöst werden muß: Das Herausfinden der Schwachstellen, die Herstellung der Verbindung zwischen den Arbeitern durch eine geschickte “Umkehrung“ des Produktionsapparates gegen die Kapitalisten usw. Auch PK hat noch nicht wirklich auf die Organisierung der Arbeiterklasse verzichtete, da es sich als proletarische Basisinitiative sieht, d.h. die eigene Gruppe als etwas sieht, die “allen Lohnabhängigen” offensteht, also als etwas, was den kämpfenden Arbeitern als permanente Struktur bereitstehen und dienen soll. Aus unserer Sicht es also notwendig, deutlicher zu unterscheiden zwischen der revolutionären Organisation einerseits, deren Aufgabe in der Verteidigung eines historischen Programms besteht, und die deshalb einen permanenten Charakter hat, und den Kampforganisationen der gesamten Klasse, die nach dem offenen Kampf wieder verschwinden.

 

Aber diese Diskussion über den Klassenkampf und die Intervention der Revolutionäre, wie überhaupt die proletarische Debatte in diesem Milieu, ist nicht abgeschlossen, sondern hat gerade angefangen. Sich dieser Debatte zu stellen, die Bereitschaft zu entwickeln, “sektiererische Abkapselungen” zu durchbrechen, wie ein Genosse von PK es formulierte, darauf kommt es vor allem an.                          Vasso

 

 

Wildcat, K.R.Roth oder die Notwendigkeit geschichtlicher Kontinuität

  • 2516 reads
 Am Vorabend des Weltwirtschaftsgipfels der G-7 Staaten in Köln veranstalteten die Gruppe Wildcat sowie der bekannte Vordenker des politischen Operaismus Karl-Heinz Roth eine Diskussionsrunde in der Domstadt. Das Treffen befasste sich mit den Perspektiven des Klassenkampfes und den Aufgaben der Revolutionäre im Lichte des Kosovokrieges unter dem Motto: „gegen das soziale Europa“.

Es gab eingangs gleich drei Einleitungsreferenten. Ein bekannter Vertreter von Wildcat sprach in typisch operaistischer Manier von den jüngsten Entwicklungen im Produktionsprozess und im Klassenkampf unter dem in diesem Milieu bekannten Stichwort: „Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse“. Ein anderer, junger Sprecher der Gruppe referierte über den Kosovokrieg und trug die innerhalb des Operaismus selbst keineswegs mehr unumstrittene These von einem „Krieg gegen die Arbeiterklasse“ vor. Laut dieser Vorstellung handelt es sich bei diesem Krieg keineswegs um einen imperialistischen Konflikt der kapitalistischen Mächte untereinander, sondern um eine politische Maßnahme der Weltbourgeoisie, um den Klassenwiderstand der jugoslawischen Arbeiter zu brechen, die dortigen Großbetriebe endlich zu privatisieren, und die billigen Arbeitskräfte dort wie im Kosovo direkter dem Weltmarkt für Arbeitskräfte zuzuführen. Zwar blieb die Frage unbeantwortet, wie man Großbetriebe zu „privatisieren“ vermag, welche soeben durch den Krieg in Schutt und Asche gelegt worden sind. Dafür fehlte es nicht an indirekten Hinweisen auf eine mögliche geheime Absprachen zwischen Milosevic und der NATO, um einträchtig das große Werk der „Modernisierung“ des Balkans zu vollbringen. Während selbst die NATO zugibt, Jugoslawien wirtschaftlich um 30 bis 50 Jahre zurückgebombt zu haben, sieht die Theorie des „Krieges gegen die Arbeiterklasse“ die internationalen Investoren in den Startlöchern, um den Run auf den serbischen Wirtschaftsraum zu gewinnen.

Während diese beiden Einleitungen mehr oder weniger kritiklos die alten operaistischen Thesen wiederholten, waren die Ausführungen von Karl-Heinz Roth sowie die Wortmeldungen einiger Mitstreiter von Wildcat während der anschließenden Diskussion um so interessanter. 31 Jahre nach Mai 1968 war es das Anliegen Karl--Heinz Roths, das Gedankengut, ja die politische Generation der Achtundsechziger zu Grabe zu tragen. Anlaß und Auslöser dieser Grabesrede war der Jugoslawienkrieg sowie die Tatsache, dass dieser Krieg in fast allen NATO-Staaten von linken Politikern dieser Generation angeführt wurde, darunter ein deutscher Außenminister Fischer, der in seinen Frankfurter Tagen einst sogar ein Mitstreiters Roths war. Man man sah ihm die Enttäuschung und Wut im Gesicht geschrieben, als Roth die aus der Studentenrevolte hervorgegangenen Grünen, Jusos, Eurokommunisten und gewendeten Altstalinisten und Trotzkisten als die Speerspitze des kapitalistischen Krieges bezeichnete, mit denen man von nun an politisch nichts mehr zu tun haben dürfe. Dabei beschrieb Roth die Integration der Achtundsechziger in den bürgerlichen Staatsapparat in verschiedenen Stufen: die nationalistische Ausrichtung der K-Gruppen Anfang der 70er Jahre; die Errichtung von „alternativen“, geschäftstüchtigen Ghettos Ende der 70er und deren Abschottung vom Klassenkampf; die Parlamentarisierung dieser „Bewegung“ mit den Grünen in den 80ern; ihre Beteiligung an der Regierung in allen westlichen Ländern vor allem in den letzten Jahren.

In Anbetracht dieser Entwicklung rief Karl-Heinz Roth dazu auf, dieser „Bewegung“ und Tradition den Rücken zu kehren und revolutionäre Politik wieder neu zu definieren. Eine Art „Stunde Null“ der gegen den militaristischen Staat kämpfenden Revolutionäre.

Wir unsererseits unterstützten auf der Veranstaltung und begrüßen an dieser Stelle erneut die Ablehnung der kapitalistischen Linken, die hier sichtbar wird. Diese Entwicklung beschränkte sich nicht auf die Person Karl-Heinz Roths. Eine Wortmeldung in der Diskussion beispielsweise schilderte die jüngste sogenannte Arbeitslosenbewegung in Frankreich und Deutschland als eine reine Inszenierung dieser bürgerlichen Linken, die mit einem echten Kampf der Arbeitslosen nichts zu tun hat. Der Genosse schilderte wie ein führender Vertreter der französischen Arbeitslosengewerkschaft AC!, von ihm unter vier Augen darauf angesprochen, offen zugab, dass diese „Arbeitslosenbewegung“ nichts als ein Mythos war, um hinzuzufügen: „Aber mit diesem Mythos machen wir Politik“.


Die Infragestellung einiger Grundthesen des Operaismus

Das Wichtigste an dieser Veranstaltung war, dass sie die Entwicklung verdeutlichte, welche Teile der operaistischen Bewegung unter den Hammerschlägen der Weltwirtschaftskrise und des imperialistischen Krieges durchmachen. Beispielsweise die Wirtschaftskrise. Seit 30 Jahren gehört es zu den Grundsätzen des Operaismus, dass es keine objektive, in den Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise verwurzelte Wirtschaftskrise gebe. Aus dieser Sicht seien die Auswirkungen dieser Krise - etwa die Massenarbeitslosigkeit - entweder Erfindungen der Kapitalisten (um die Arbeiterklasse „neuzusammenzusetzen“), oder das Ergebnis des Klassenkampfes des Proletariats. Auf dieser Veranstaltung aber sprachen alle Vertreter dieser Denkrichtung von einer Wirtschaftskrise, sogar von einer verzweifelten Wirtschaftslage des Kapitalismus. Ein Anhänger dieser Strömung, der sich zuletzt eingehend mit der Lage in Südostasien befasst hat, setzte auseinander, dass das Wirtschaftswunder der „asiatischen Tiger“ nie etwas anderes war als ein bürgerlicher Bluff, um den desolaten Zustand der Weltwirtschaft zu verschleiern. Diese Aussage ist um so bemerkenswerter, da Wildcat zuletzt eine Schrift eines linken amerikanischen Akademikers Loren Goldner über den Linkskommunisten Amadeo Bordiga auf Deutsch herausgegeben hat, dessen Hauptanliegen nicht das der Bekanntmachung des großen Revolutionärs Bordiga ist, sondern in der Widerlegung der marxistischen Theorie von der Niederlage des Kapitalismus besteht, wobei Goldner die Bestätigung seiner These ausgerechnet bei den asiatischen Tigern sucht!


Beispielsweise die Frage des imperialistischen Krieges. Während eines der Eingangsreferate wie gesagt die traditionelle Verleugnung des imperialistischen Charakters der heutigen Kriege unter Hinweis auf die „Globalisierung“ weitertrieb, gab Roth zu, dass auch diese Grundthese des Operaismus mittlerweile hinterfragt wird, und dass manch einer in diesem Milieu unter der Parole „zurück zu Rosa Luxemburg“ die Existenz imperialistischer Rivalitäten nicht mehr bestreitet.

Es wurde darüber hinaus sichtbar, dass auch eine dritte Säule dieser Denkrichtung gerade durch den Kosovokrieg ins Wanken geraten ist: die Vorstellung von einem auf die Produktionsstätte fixierten, auf die unmittelbare Situation beschränkten Klassenkampf, welche globale politische und geschichtliche Fragen ausklammert. Jedenfalls kritisierte Wildcat eine von der Gruppe selbst aus dem Französischen übertragene Stellungnahme Henri Simons über den Kosovokrieg, worin dieser den Tageskampf der Arbeiter in den einzelnen Betrieben als einzig mögliche Antwort auf diesen Krieg bezeichnete und somit die politische Dimension des Kampfes gegen den Krieg ausklammert.


Die Intervention der IKS

Unsere Organisation verfolgte zwei Ziele bei dieser Veranstaltung. Es ging uns darum, die Erkenntnis des bürgerlichen Charakters der „Achtundsechziger Linken“ und andere Fortschritte des Operaismus wie die Anerkennung der Wirtschaftskrise zu unterstützen: Auch gegenüber den zahlreich anwesenden Vertretern dieser kapitalistischen Linken bei dieser Veranstaltung. Es ging uns aber auch darum, die Halbherzigkeiten dieser Fortschritte zu kritisieren, um die bisher nur indirekte Kritik der Grundsäulen des Operaismus explizit zu machen und weiterzutreiben.

Der Operaismus entstand ursprünglich als Reaktion gegen die Politik der K-Gruppen während der großen Arbeiterkämpfe vornehmlich in Italien ab 1969 (siehe den Artikel in dieser Zeitung zur Autonomia Operaia). Diese Kritik war aber niemals grundsätzlicher Art, sondern beschränkte sich weitgehend darauf, den K-Gruppen vorzuwerfen, „abgehoben“ draußen vor den Fabriktoren ihre Flugblätter zu verteilen, anstatt in den Fabriken verankert zu sein. Man lehnte also eher die Methoden als die Ziele z.B. der Maoisten ab. Auch heute ist der Bruch mit der bürgerlichen extremen Linken keineswegs vollzogen. Was Karl-Heinz Roth in seinem Referat lieferte, war eine mehr oder weniger genaue Beschreibung des Integrationsprozesses gewisser „Protestbewegungen“ in den bürgerlichen Staat - aber keine Erklärung dieser Entwicklung. Wovor Roth zurückschreckt, ist die Erkenntnis, dass die stalinistischen, maoistischen und trotzkistischen Ideologien, welche sich nach der Auflösung der Studentenbewegung durchsetzten, bereits bürgerliche, konterrevolutionäre Weltanschauungen waren mit einer entsprechenden Praxis.

Statt dessen bietet Roth in seinem Artikel über den Kosovokrieg in der Zeitschrift Wildcat-Zirkular die nationalistischen, arbeiterfeindlichen „Ideale“ der stalinistischen Partisanen Titos als Modell für die Arbeiterklasse an.

In Wirklichkeit ist der Aufruf zur Leichenbestattung der Altachtundsechziger und zum völligen Neuanfang in erster Linie ein Zeichen der Ratlosigkeit der operaistischen Bewegung selbst. Ihre besten Anhänger sind anständig genug, um den imperialistischen Gelüsten der räuberischen Bourgeoisie nicht folgen zu wollen. Zugleich spüren sie aber, dass das Scheitern der Altachtundsechziger auch ihr eigenes Scheitern ist. Jedenfalls ist der Aufruf zum völligen Neuanfang nichts als eine Flucht nach Vorne, die Fortsetzung der ureigenen Haltung des Operaismus, dem Marxismus und der Geschichte des wirklichen revolutionären Kampfes gegen die stalinistische Konterrevolution den Rücken zu kehren. Damals schlugen sie die marxistische Krisentheorie, die Theorie von der Verelendung des Proletariats, vom Klassenkampf als zugleich ökonomischen und politischen, zugleich unmittelbaren und historischen Kampf in den Wind, nach dem Motto: wer braucht den alten Kram? Es reiche doch, sich in den Betrieben und anderen Arbeitsplätzen bestens auszukennen. Wollen sie heute wirklich die Geschichte seit 1968 abschreiben und wieder von Vorne anfangen, wie ein Mensch ohne Vergangenheit, der nichts vergessen und nichts gelernt hat? Ist die Geschichte der letzten 30 Jahren wirklich nur die Geschichte der Entwicklung Josef Fischers und Daniel Cohn-Bendits vom Bürgerschreck zum imperialistischen Kriegstreiber? Zählen die großartigen Kämpfe des Proletariats von Frankreich 68 bis Polen 1980, zählen die Wiederentdeckung Bordigas, Pannekoeks, Rosa Luxemburgs und das Wiederaufleben der Kommunistischen Linken nach 1968 nichts mehr?

„Zurück zur wirklichen, revolutionären Geschichte der Arbeiterklasse, um den Klassenkampf von heute und von morgen verstehen und vorantreiben zu können“: dies war die Hauptaussage der IKS bei dieser Veranstaltung.

Einmal zurück zu Marx. Die Operaisten haben auf fatale Weise die Aussage des Kommunistischen Manifestes, dass die bisherige Geschichte eine Geschichte des Klassenkampfes ist, einseitig und falsch ausgelegt. Marx hat niemals die Geschichte des Kapitalismus ausschließlich auf den Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie reduziert, sondern beispielsweise den Kampf innerhalb der Bourgeoisie erfasst, sowohl wirtschaftlich (als ein Motor der wirtschaftlichen Entwicklung wie zunehmend der Krisenentwicklung) als auch politisch (Kampf der Fraktionen innerhalb jeder Nation, Kampf der imperialistischen Staaten gegeneinander). Die sogenannte Globalisierung, die Marx bereits im Manifest beschreibt, schafft den Widerspruch zwischen dem Kapitalismus als Weltwirtschaft einerseits und als Konkurrenzsystem der Nationen andererseits nicht ab, sondern treibt ihn auf die Spitze.

Zum anderen zurück zur Kommunistischen Linken, dem historischen Hauptfeind der stalinistischen Konterrevolution, die schon seit langem den bürgerlichen Charakter der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution erkannt und erklärt hat, welche heute Roth und andere Operaisten so sehr überrascht und entsetzt hat.

Wir glauben zu erkennen, dass innerhalb des Operaismus selbst die Erkenntnis wächst, dass man ohne eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus, der Kommunistischen Linken, der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung nicht weiterkommt. Wir hoffen, dass die jüngste Veröffentlichung von Texten über Bordiga, Pannekoek, die internationalistischen Positionen gegenüber dem Spanischen Bürgerkrieg und dem 2. Weltkrieg durch Wildcat der Anfang einer ernsten Auseinandersetzung in diesem Sinne sein wird.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Operaismus [5]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [6]

Weltrevolution Nr. 96

  • 2294 reads

Die Septemberstreiks 1969 in Deutschland: Ein Teil des internationalen Wiedererstarkens der Arbeiterklasse

  • 4414 reads

Als im Mai 1968 in Frankreich über 10 Millionen Arbeiter in den Streik traten und deren Bewegung nur durch die Sabotagetaktik der Gewerkschaften abgewürgt werden konnte, war klar geworden, dass diese Bewegung eine gewaltige internationale Ausstrahlung haben sollte. Denn im Anschluss an die Arbeiter in Frankreich fing ein Teil der Arbeiterklasse nach dem anderen an, sich zu erheben. Ob in Grossbritannien oder in den USA, ob in Argentinien oder in Italien im Sommer 69, wo eine Reihe von Streiks das ganze Land erschütterten - das Signal, das die Arbeiter in Frankreich gesetzt hatten, wurde weltweit aufgegriffen.

Die Arbeiterklasse war aus einer nahezu fünfzigjährigen Konterrevolution auferstanden, die die herrschende Klasse den Arbeitern zugefügt hatte, nachdem die revolutionären Kämpfe von 1917-23 mit einer Niederlage endeten. Nahezu 50 Jahre lang hatten Sozialdemokratie, Stalinismus und Faschismus die Arbeiterklasse am Boden halten können. Diese internationale Welle des Klassenkampfes hat das Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiterklasse geändert und damit die Phase der Konterrevolution beendet. Von nun an musste die herrschende Klasse wieder mit dem wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse rechnen.

Die Arbeiterkämpfe in Deutschland – ein Teil des internationalen Wiedererwachens der Arbeiterklasse

Auch wenn die Arbeiterklasse in Deutschland noch nicht sofort im gleichen Jahr dem Beispiel der Arbeiter in Frankreich folgte, trat die Arbeiterklasse in Deutschland ab dem Sommer 1969 massiv auf den Plan.

Deutschland war neben Russland das Zentrum der revolutionären Kämpfe von 1917-23 gewesen. Um so stärker hatte die Konterrevolution dort gewütet, und die Arbeiterklasse hatte eine um so größere Niederlage erlitten. Obwohl die Arbeiterkämpfe 1969 in Deutschland nicht so massiv und umfangreich waren wie z.B. in Frankreich, Italien oder Polen, war gerade die Beteiligung des Proletariat in Deutschland an der internationalen Kampfeswelle ein schlagender Beweis dafür, dass die Konterrevolution weltweit zu Ende ging. Tatsächlich lieferte Deutschland mit der Rezession von 1967 eine der ersten Verdeutlichungen der Tatsache, dass mit dem Ende der Nachkriegswiederaufbauphase die offene Weltwirtschaftskrise wieder ihren Einzug hielt. Auch wenn die Arbeiter dies noch nicht klar verstanden, waren die Kämpfe der Arbeiter Ende der 60er Jahre in Wahrheit eine Antwort auf das Wiederauftauchen der Krise, insbesondere gegenüber den damals hohen Preissteigerungen.

Die Septemberstreiks – Die Arbeiterklasse tritt eigenständig massiv in den Kampf

Schon ab dem Frühjahr riss die Reihe von kleineren und beschränkten spontanen Arbeitsniederlegungen, die sich alle um Lohnforderungen drehten, nicht mehr ab. Ab Anfang September löste sich eine Streiklawine los, die die Hauptindustriezentren in Westdeutschland in Windeseile erfasste. Im Mittelpunkt stand die Stahl- und Metallindustrie.

Nachdem am 2. September 27.000 Stahlkocher von Hoesch-Dortmund spontan für 2 Tage in den Streik traten, legte eine Belegschaft nach der anderen in den großen Werken die Arbeit nieder.

Um das ganze Ausmaß der Streikbewegung zu vermitteln, nennen wir einige der Zentren:

4. - 5. September Rheinstahl – Mülheim/Ruhr mit 2.900 Streikenden,

5. - 6. September 12.00 Streikende bei Mannesmann - Duisburg, 1.000 Streikende bei AEG Mülheim;

5. - 9. September: 3.300 Streikende bei Rheinstahl Gelsenkirchen

Vom 9.-11.September legten 10.000 Bergarbeiter der Ruhrkohle AG die Arbeit nieder.

Auch wenn der Schwerpunkt im Ruhrgebiet lag, wurden Arbeiter in anderen Städten mit in den Kampf gerissen. Am 8.-9. streikten bei Rheinstahl Brackwede (in der Nähe von Bielefeld) 1.800 Arbeiter, in Sulzbach –Rosenberg traten bei der Maximiliamshütte am 8. September spontan 3.000 Beschäftigte in den Streik, bei den Klöckner-Werken ruhte die Arbeit vom 5.-13. September, weil in Bremen und in der Georgsmarienhütte/ Osnabrück jeweils 3.000 – 6.000 Beschäftigte streikten.

Ein anderer Schwerpunkt war das Saarland: hier traten 6.000 Stahlkocher bei den Neunkircher Eisenwerken vom 4.-8. September, und 20.000 Bergarbeiter vom 6.-11. September in den Ausstand.

Vom 9. – 19. September folgten die Howaldt Werke in Kiel mit 7.000 Schiffsbauern.

Auch wenn die Lage in Süddeutschland ruhiger blieb, reagierten auch hier Tausende Arbeiter: Bei den Heidelberger Druckmaschinen in Geisslingen legten über 1.000 Beschäftigte am 5. September die Arbeit nieder, und bei Daimler Benz – Sindelfingen kam es zu mehreren Kurzstreiks.

Ob im Ruhrgebiet, wo auch der Funken auf kleinere Betriebe mit nur einigen Hundert Beschäftigten übergesprungen war, oder außerhalb der Großstädte (z.B. Hueck Lippstadt oder die Textilindustrie im Münsterland), oder im öffentlichen Dienst, wo ab Mitte September in einer Reihe von Städten – von Berlin über das Ruhrgebiet bis nach Süddeutschland jeweils einige Hundert Beschäftigte der Verkehrsbetriebe und der Stadtreinigung streikten – die massive Welle von Streiks brachte ans Tageslicht, dass die Arbeiterklasse in Deutschland wieder die Stirn bot.

Spontanes Wiederauftauchen der klassischen Kampfesmittel des 20. Jahrhunderts

Mehr als 140.000 Streikende in mehr als 70 Betrieben hatten bewiesen, dass auch die Arbeiterklasse in Deutschland den gleichen Weg eingeschlagen hatte wie ihre Klassenbrüder weltweit.

Überall erhoben die Arbeiter ähnliche Forderungen: Lohnerhöhungen, Bezahlung der Streiktage, keine Repression gegen Streikteilnehmer.

Überall ein ähnlicher Ablauf der Streiks: Arbeiter legen spontan die Arbeit nieder – gegen das Votum der Betriebsräte & Vertrauensleute und der Gewerkschaften.

Bei Hoesch in Dortmund versammelten sich die Arbeiter spontan um einen Werksfeuerwehrwagen mit Lautsprecher und fassten in einer nahezu ständig tagenden Vollversammlung gemeinsam Beschlüsse.

Bei Rheinstahl in Gelsenkirchen aber auch im Saarland zogen die Arbeiter mit Demonstrationszügen durch das Werk machten und forderten die anderen Beschäftigten zur Niederlegung der Arbeit auf, um dann anschließend in die Stadt zu ziehen. Bei der Ruhrkohle AG zog ein Protestzug spontan vor das Verwaltungsgebäude.

Die Arbeiter ergriffen jeweils selbst die Initiative, nahmen den Streik selbständig in die Hand und liessen sich nicht hinter den Werkstoren einsperren.

An die zuvor jahrelang durch die Konterrevolution begrabene Tradition anknüpfend, standen Ausdehnung und Selbstorganisierung der Streiks, Zusammenkommen zu Demonstrationen, gemeinsame Entscheidungen in Vollversammlungen, die Wahl von Streikkomitees mit abwählbaren Delegierten im Vordergrund.

Genauso wie in Frankreich und Italien griff die Arbeiterklasse in Deutschland – wenn auch noch unerfahren – zu den Waffen des Klassenkampfes im 20. Jahrhundert.

Überall die gleichen Gegner: In mehreren Städten (Saarbrücken, Osnabrück, Dortmund usw.) zogen die Arbeiter vor die Gewerkschaftshäuser und protestierten gegen deren Politik. So wollten in Dortmund Hunderte von wütenden Stahlkochern in das Gewerkschaftshaus eindringen und deren Dienste für das Kapital anprangern. Als auf Vollversammlungen wie bei Hoesch-Dortmund Arbeiter die Sabotagetaktik der Gewerkschaften entblößten, versuchte der Betriebsrat das Mikrofon abzustellen. "Danach sprach ein DKP-Mitglied und führte aus. Er sei der Meinung, dass jedermann seine Sorgen und Auffassungen am Lautsprecher vortragen könne, aber wir werden von nun an niemanden mehr sprechen lassen, der gegen den Betriebsrat und die Gewerkschaften auftritt." (zitiert aus "Die Septemberstreiks 1969" des DKP-nahen Pahl-Rugenstein Verlags, S. 61)

In mehreren Betrieben verhandelten die Streikleitungen neben dem Betriebsrat (BR) und den Gewerkschaften mit den Unternehmern, wobei ihnen jeweils der BR und die Gewerkschaften in den Rücken fielen.

 

Die historische Bedeutung des Wiedererstarkens der Arbeiterklasse in Deutschland

Die Arbeiterklasse, die zuvor jahrelang von der Studentenbewegung verspottet worden war, indem sie im Stile Marcuses die Arbeiter als "verkauft & verbürgerlicht" präsentierte, stand plötzlich wieder im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Der Klassenkampf war zurückgekehrt und hatte die Ideologie des sozialen Friedens und der Sozialpartnerschaft (‚wir sitzen alle in einem Boot‘) mit einem Paukenschlag zerfetzt.

Auch wenn diese Bewegung in Westdeutschland noch nicht so weit vorangeschritten war wie in Frankreich und Italien, und wenn die Arbeiter es in der BRD in dieser ersten Welle von Kämpfen noch nicht geschafft hatten, sich branchenübergreifend zusammenzuschließen, lieferten diese Kämpfe einen wichtigen Beitrag zur Fortsetzung und Stärkung dieser ersten internationalen Welle von Kämpfen. Denn nahezu wie bei einem Stafettenlauf hatte die Arbeiterklasse in Deutschland den Stab weitergereicht. Im Sommer 1970 prallten die Arbeiter in Polen mit der staatskapitalistischen Gomulka-Regierung zusammen, bis 1972 setzte sich dann diese erste Welle von Kämpfen vor allem in Europa fort.

Auch in Deutschland selber hatten diese Kämpfe eine große Ausstrahlung. Zigtausende - vor allem junge Leute – fühlten sich nunmehr durch die international wiedererstarkende Kampfkraft der Arbeiterklasse angezogen. Viele neu politisierte Elemente fingen an, sich wieder mit den Erfahrungen der Arbeiterklasse auseinanderzusetzen. Die Arbeiterräte, die im Mittelpunkt der revolutionären Welle von 1917-23 gestanden hatten, wurden plötzlich wieder zum Bezugspunkt für viele neu Politisierte (siehe dazu unsere Artikel in Weltrevolution Nr. 93 & 94). Ein Großteil der neu politisierten Elemente wurde allerdings in den Fangarmen der K-Gruppen (die Gruppen der bürgerlichen extremen Linken – Trotzkisten, Maoisten, Stalinisten usw.) erwürgt.

Die Kampfwelle, die 1968-69 weltweit eingesetzt hatte, dauerte bis 1972-73 an. Ihr Ausläufer in Deutschland war der große wilde Streik bei Ford-Köln 1973. Diese Welle der Arbeiterkämpfe flaute allerdings nicht spontan ab, sondern wurde politisch abgewürgt. An erster Stelle dadurch, dass ab 1969 unter Brandt/Scheel eine sozialdemokratisch angeführte Regierung gebildet wurde, die versprach, die Probleme, welche die Arbeiter veranlasst hatten in Streiks zu treten, mittels des bürgerlichen Staates abzustellen. Das Gegenteil geschah, so dass die Arbeiter Ende der 70er Jahre sich erneut gezwungen sahen, in einer zweiten internationalen Welle zu kämpfen, deren Höhepunkt im Sommer 1980 durch den Massenstreik in Polen erreicht wurde. Da die Arbeiter durch die Regierungsversprechungen der SPD nicht mehr aufzuhalten waren, wechselte die SPD wieder in die Opposition, um von dort die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse besser zu sabotieren.

Die heutige Generation der Arbeiterklasse, die sich mit den Angriffen der rot-grünen Regierung ausgesetzt sieht, muss wissen, dass unsere Klasse seit 30 Jahren über eine Erfahrung der Sabotage des Klassenkampfes durch die Linken verfügt, die wir in den kommenden Kämpfen dringend benötigen werden. Nicht zuletzt darin liegt die Aktualität der Kämpfe von 1969.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [6]

Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/773

Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/ratekommunismus [2] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/deutschland [3] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/kommunistische-linke [4] https://de.internationalism.org/en/tag/3/44/internationalismus [5] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/operaismus [6] https://de.internationalism.org/en/tag/2/29/proletarischer-kampf