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Internationale Revue - 1982

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Internationale Revue 8

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Kriegszustand in Polen: Die Weltbourgeoisie gegen die Arbeiterklasse

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Im August 1980 haben uns die Arbeiter in Polen ein Beispiel für den Massenstreik, für die Selbstorganisation der Klasse und die wahre Solidarität der Arbeiter gegeben. Seit dem 13. Dezember 1981 sind sie für uns auch ein Beispiel für den Mut und den Kampfgeist, was beweist, daß die Reaktion der Arbeiter heute nicht mit den 30er Jahren zu vergleichen ist. Weil die Arbeiterklasse heute nicht vor der geballten bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates einknickt, weil selbst ein ganzes Jahr der Gewerkschaftssabotage und all der Illusionen, die von den verschiedenen Agenturen der Bourgeoisie gefördert wurden, nicht ausreichte, um diese außergewöhnliche Kraft des Kampfgeistes auszutrocknen, wissen wir, daß die Revolution möglich ist.

Auch wenn sie sich dessen nicht direkt bewußt sind, kämpften die Arbeiter in Polen nicht als "Polen". Ihr Mut, ihre Entschlossenheit in diesem ungleichen und verzweifelten Kampf sind keine besonderen Merkmale des "polnischen Volkes". Es sind typische Züge der Weltarbeiterklasse. Es gibt zahlreiche Beispiele in der Geschichte für den heldenhaften Mut, zu dem das Proletariat in allen Ländern fähig ist: die Kämpfer der Kommune 1871, die russischen und polnischen Arbeiter 1905-1906, die Arbeiter in Rußland, Deutschland, Österreich, Italien, China und vielen anderen Ländern zwischen 1917 und 1927.

Welche Art von Niederlage?

Heute wird in Polen ein Battaillon des Weltproletariats mit all der Gewalt attackiert, zu der der Kapitalismus fähig ist: Panzer, Maschinengewehre, Massenverhaftungen, Konzentrationslager, Bergwerke, die mit Gas oder Wasser geflutet werden (eine alte kapitalistische "Technik", die vor allem von der englischen Bourgeoisie in den 30er Jahren in Indien angewandt wurde). Ein Battaillon der Weltarbeiterklasse, das großartig, mit äußerstem Mut kämpfte. Daß dieser Kampf verloren ist, ist offensichtlich: Heute verkünden die staatlichen Behörden mit Genugtuung, daß es keine Widerstandsnester mehr gibt. Auch der passive Widerstand wird langfristig überwunden werden, weil er nicht mehr das Produkt einer Massenbewegung, der kollektiven und organisierten Aktion der Arbeiterklasse ist, sondern das Produkt einer Summe von Arbeitern,die durch die Repression und den Terror atomisiert sind.

Und selbst wenn diese Form des Widerstands noch längere Zeit anhielte, so hätte die Bourgeoisie dennoch einen Sieg errungen, weil es ihr gelungen ist, all die direkten Formen des Lebens  in der Klasse zum Schweigen zu bringen: Massenstreiks, Vollversammlungen, Austausch von Erfahrungen und offene Diskussionen unter Arbeitern.

Wir müssen uns der Realität stellen. Das Proletariat in Polen hat eine Niederlage erlitten. Aber diese Niederlage ist weder endgültig noch unumkehrbar. Die Arbeiter sind mitnichten vernichtend geschlagen worden.

Wie die Revolutionäre, namentlich Marx und Rosa Luxemburg, bereits seit langem beobachtet haben, muß das Proletariat bis zu seinem endgültigen Sieg über den Kapitalismus viele Niederlagen hinnehmen. Indem es so klar wie möglich die Lehren aus den Niederlagen zieht, wird das Proletariat die Kraft finden, um die Siege von morgen vorzubereiten.

Als solche ist eine Teilniederlage für die Arbeiterklasse nicht katastrophal. Sie ist ein Teil ihres langen und beschwerlichen Weges zur Revolution. Sie ist eine Schule, in der das Proletariat lernt, seinen Feind und sich selbst besser zu verstehen, die Kräfte, die es für die künftigen Schlachten entwickeln muß, und die Schwächen einzuschätzen, die es überwinden muß. Sie ist ein unvermeidbarer Bestandteil im Reifungsprozeß des Klassenbewußtseins, das eine der wichtigsten Waffen in den kommenden, entscheidenden Zusammenstößen sein wird.

Jedoch haben nicht alle Niederlagen des Proletariats die gleiche Bedeutung. Manche Niederlagen führen zu einer langfristigen Demoralisierung und Orientierungslosigkeit innerhalb der Klasse. Dies sind Niederlagen, die im Kontext des allgemeinen Rückzugs des Klassenkampfes, des Triumphes der Konterrevolution stattfinden. Solcherart war die Niederlage der Arbeiterklasse in Spanien zwischen 1936 und 1939. In diesem Fall verlor das Proletariat nicht nur eine Million Klassenbrüder und -schwestern, sondern ebnete mit diesem Opfer lediglich den Weg für die 50 Millionen Toten im II. Weltkrieg. Im allgemeinen zeichnet sich diese Art von Niederlage dadurch aus, daß das Proletariat nicht direkt auf seinem Klassenterrain kämpft, sondern sich auf ein bürgerliches Terrain wie den "Antifaschismus" 1936 drängen läßt.

Auf der anderen Seite finden Niederlagen im Zusammenhang mit einem Kurs in Richtung eines zunehmenden Klassenkampfes statt, der auf einem proletarischen Terrain ausgefochten wird. Die Arbeiterklasse ist besiegt, aber sie ließ sich nicht für die Ziele der Bourgeoisie mobilisieren. Die Revolution von 1905 war eine Generalprobe für den Sieg 1917, weil das Proletariat in Rußland 1905 auf seinem eigenen Terrain gekämpft hatte, auch wenn es nicht auf Anhieb siegte: nämlich auf dem Terrain des Massenstreiks, des Kampfes für die Verteidigung seiner ökonomischen und politischen Interessen, der Selbstorganisierung in den Sowjets.

Trotz all des negativen Gewichtes und der Manöver Solidarnoscs, trotz all der polnischen Fahnen und der Bilder der Jungfrau, die die Bewegung des Proletariats in Polen behinderten, war das Proletariat in Polen fähig, in seinem Kampf gegen die wachsende Ausbeutung und die kapitalistische Repression auf seinem eigenen Terrain zu bleiben. Jene, die sich darauf versteifen, daß die Arbeiterklasse noch nicht taub gegenüber dem bürgerlichen Gewäsch ist, können dies nicht begreifen und begegnen dem Kampf der Arbeiter in Polen mit Skepsis. Sie gehören zur gleichen Kategorie wie jene, die 1936 sich einbildeten, daß eine rote Fahne dem Antifaschismus einen proletarischen Charakter verleiht.

Im Verlauf von anderthalb Jahren der Kämpfe in Polen hat es an Subjekten der bürgerlichen Mystifikation nie gefehlt. Doch waren es nicht die Themen, die die Arbeiterklasse mobilisierten. Im Gegenteil, es waren Themen zur De-Mobilisierung der Arbeiterkämpfe, die im allgemeinen mit Klassenforderungen (gegen Preiserhöhungen, gegen Lebensmittelrationierungen, Repression, gegen die Willkür der Bosse, für die Verkürzung der Arbeitszeit usw.) aus dem Boden schossen.

Dies erlaubt uns zu sagen, daß das Proletariat von heute ganz anders gegen die Krise kämpft als in den 30er Jahren. Es zeigt uns, daß der großartige Widerstand der Arbeiter in Polen nicht einfach ein Schuss ins Blaue war, sondern der Weg, auf dem die Arbeiter in Polen ihren Klassenbrüdern in anderen Ländern die Fackel des Kampfes überreichen.

Die heutige Niederlage gehört also in die Kategorie jener Kämpfe, die direkt zur Vorbereitung des endgültigen Triumphes des Proletariats beitragen. Dies kann jedoch nur dann so sein, wenn die Klasse so viele Lehren wie möglich zieht und sich selbst die Mittel gibt, um solche Niederlagen in Zukunft zu vermeiden. Im Grunde besteht die Taktik, die die Bourgeoisie heute, wie in der Vergangenheit (besonders in Deutschland Anfang der 30er Jahre), zu verwenden versucht, darin, das Proletariat Gruppe für Gruppe, Fabrik für Fabrik, Land für Land zu schlagen. Eine Reihe solcher Teilniederlagen wie die heutige könnte zu einer unwiderruflichen Schwächung der Arbeiterklasse, zu einer Umkehrung des historischen Kurses führen. Dann gäbe es nicht mehr die Perspektive der proletarischen Reaktion gegen die Krise - die Revolution -, sondern nur die bürgerliche Antwort - der Weltkrieg.

Welche Lehren?

Die Hauptfragen, die heute beantwortet werden müssen, sind daher:

Wie konnte dies geschehen?

Was versetzte die Bourgeoisie in die Lage, dem Proletariat solch einen blutigen Rückschlag zuzufügen?

Wie können wir in Zukunft solche Niederlagen, solche Repression verhindern?

Der erste grundlegende Punkt, der für das Proletariat klar sein muß, ist,daß die Bourgeoisie nicht sporadisch und zerstreut auf den Klassenkampf reagiert, sondern auf konzertierte Weise. Natürlich ist die Bourgeoisie gespickt mit einer Vielzahl von Interessenskonflikten, die die Krise nur noch mehr verschärfen und in der Spaltung der Welt in Militärblöcke ihren Höhepunkt finden. Aber die Geschichte lehrte uns, und die heutige Realität bestätigt dies erneut, daß die Bourgeoisie fähig ist, ihre Widersprüche zu überwinden, wenn ihre eigene Existenz als Klasse auf dem Spiel steht. Wir haben bei vielen Gelegenheiten in den Spalten dieser Zeitschrift und in unserer territorialen Presse auf die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Teilen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterkämpfe in Polen hingewiesen: zwischen der Regierung und Solidarnosc, zwischen Ost und West, zwischen Rechts und Links. Wir kommen hier darauf zurück, um die ungeheure Doppelzüngigkeit des US-Blocks zu denunzieren, der sich zunehmend empört gibt über die Repression der polnischen Arbeiter und über Rußlands Kollaboration in dieser Repression.

Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß von dieser "Empörung", für die Reagan nun das Hauptsprachrohr ist und die zu einem wichtigen Bestandteil in den ideologischen Kriegsvorbereitungen des westlichen Blocks geworden ist,  überhaupt nichts zu hören war, als der Belagerungszustand ausgerufen wurde.

Mehrere Tage lang hat die Bourgeoisie im Westen, Washington eingeschlossen, den Mythos der "rein polnischen Angelegenheiten" lanciert. Erst nachdem klar wurde, daß die Arbeiter im Westen nicht in der Lage waren, eine wirkliche Solidarität gegenüber ihren Klassenbrüdern in Polen zum Ausdruck zu bringen, daß die Solidaritätsgefühle der Arbeiter da, wo sie auftauchten, von den Linken und den Gewerkschaften angemessen kanalisiert wurden, erst dann konnte sich die westliche Bourgeoisie, sich in Sicherheit vor der Front des Klassenkampfes wähnend, den Luxus leisten, die Repression, die sie selbst mit vorbereitet hatte, für ihre Propaganda gegen den russischen Block zu nutzen.

Wenn es noch eines Beweises für die Komplizenschsaft zwischen den Großmächten bei der Repression der Arbeiter in Polen bedarf, so nehme man nur die Erklärung von M. Doumeng, Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und Bonze in einem großen französischen Unternehmen, in der Wochenzeitschrift PARIS-MATCH (1. Januar 1982) zur Kenntnis. Auf die Frage: "Was den Militärputsch in Polen angeht, glauben Sie, daß die Sowjetunion und die USA sich vorher abgesprochen haben?"; antwortete Doumeng offen: "Was mir auffällt, ist, daß alle beide daran interessiert sind, die Ordnung in Polen wiederherzustellen. Vor drei Wochen war ich in Polen. Dort habe ich einen sehr mächtigen amerikanischen Geschäftsmann getroffen. Er war dort, um der polnischen Regierung zu erklären, daß er bereit wäre,  ihr eine Milliarde Dollar zu leihen - unter einer Bedingung: Die Ordnung muß in Polen wiederhergestellt werden". Dieses Individuum sagt nicht solche Dinge, nur weil es Mitglied der KPF ist; die gleichen Töne konnte man am Tag nach der Verhängung des Kriegsrechts im WALL STREET JOURNAL vernehmen.

Doch was beide nicht einräumen, ist, daß die Solidarität zwischen Ost und West sich nicht auf den finanziellen Bereich beschränkt. In letzter Instanz ist die Bourgeoisie bereit, den wirtschaftlichen Zusammenbruch Polens abzuschreiben. Worauf es ihr vor allem ankam, war, ein Proletariat, das ein zu "schlechtes Beispiel" für die Proletarier in den anderen Länder war, zum Schweigen zu bringen - und dies zu tun, ehe andere Arbeiter dieses Beispiel unter dem Druck des wachsenden Elends aufgreifen.

Dies ist der zweite Kernpunkt, der für die Arbeiterklasse klar sein muß: Die bürgerliche Repression in Polen war nur möglich, weil das Proletariat in diesem Land isoliert geblieben ist (siehe Artikel dazu in der INTERNATIONALEN REVUE und WELTREVOLUTION).

Insbesondere diese Isolierung ermöglichte es Solidarnosc, die Arbeiterklasse in Polen zu schwächen und den Einfluß ihrer demokratischen, gewerkschaftlichen, nationalistischen und Selbstverwaltungs-Mystifikationen zu erleichtern.

Heute wird in Polen auf tragische Weise die Notwendigkeit deutlich, daß das Proletariat seine Kämpfe weltweit ausdehnen muß. Wenn es diese Lehre nicht versteht, wenn es sich durch die falschen "Solidaritäts"-Kampagnen, die von den linken Fraktionen der Bourgeoisie orchestriert werden, umdrehen läßt, wenn es nicht versteht, daß die einzig wahre Solidarität im gemeinsamen Kampf gegen Ausbeutung und Misere besteht, dann wird es noch weitere, schlimmere Repressionen und am Ende einen imperialistischen Holocaust geben.

FM

(4. Januar 1982)

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [1]

Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus

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"Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm..." (K. Marx, Der 18te Brumaire des Louis Napoleon, MEW Bd. 8, S. 115).
Heute, in einer Zeit des historischen Wiedererstarkens des Klassenkampfes, ist die Arbeiterklasse nicht nur durch das Gewicht jener Ideologie belastet, welche die bürgerliche Klasse direkt und absichtsvoll erzeugt, sondern auch durch den Ballast der eigenen Traditionen. Um sich zu emanzipieren, muss die Arbeiterklasse ihre Erfahrungen unbedingt verarbeiten; nur so kann sie die Waffen für die entscheidende Schlacht schmieden, die dem Kapitalismus ein Ende bereiten wird. Doch es besteht auch die Gefahr, dass sie die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit toten Traditionen verwechselt, dass es ihr nicht gelingt, zwischen den Methoden vergangener Kämpfe, die stets gültig und lebendig bleiben, und jenen Aspekten zu unterscheiden, die endgültig der Vergangenheit angehören, weil sie von den damaligen Verhältnissen abhängig waren.
Wie Marx oft betonte, blieb der Arbeiterklasse auch zu seinen Lebzeiten im 19. Jahrhundert diese Gefahr nicht erspart. Trotz einer sich rasant entwickelnden Gesellschaft schleppte das Proletariat noch den ganzen Ballast seiner Traditionen aus der Zeit seines Ursprungs mit sich: Überreste aus den alten Gesellenverbänden, aus der Zeit Babeufs, aus ihren gemeinsamen Kämpfen mit der Bourgeoisie gegen den Feudaladel. So waren in der 1864 gegründeten Ersten Internationalen die sektiererischen, verschwörerischen und republikanischen Traditionen aus der Zeit vor 1848 weiterhin als belastendes Gewicht zu spüren. Die gesamte Periode jener gewaltigen Veränderungen war Teil der Epoche des aufstrebenden Kapitalismus und beinhaltete spezifische Bedingungen für die Kämpfe der Arbeiterklasse. Angesichts des blühenden Kapitalismus bestand die Möglichkeit, wirkliche und dauerhafte Verbesserungen in den Lebensbedingungen der Arbeiter zu erringen. Eine Zerstörung des Kapitalismus in seiner Blütezeit stand nicht zur Debatte.
Dieser Rahmen verlieh den verschiedenen Etappen in der Entwicklung der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts einen permanenten Charakter. Nach und nach wurden Methoden und Mittel des Klassenkampfes, die gewerkschaftliche Organisierung, herausgearbeitet und stetig verbessert. Trotz aller Unterschiede überwogen die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Etappen. Unter diesen Umständen stellte das Gewicht der Traditionen keine große Last für die damaligen Arbeitergenerationen dar. Im Gegenteil, die Vergangenheit wies weitgehend den Weg.
Mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts änderte sich diese Situation radikal. Die meisten Instrumente, welche die Klasse über Jahrzehnte hinweg entwickelt hatte, verloren nun ihren Nutzen. Schlimmer noch: sie wendeten sich gegen das Proletariat und wurden zu tödlichen Waffen des Kapitals. Dies trifft auf die Gewerkschaften, auf die Teilnahme an den Wahlen und am Parlamentarismus zu. Dies geschah, weil der Kapitalismus in eine völlig neue Phase seiner Entwicklung getreten war: in die Periode seiner Dekadenz. Dadurch wurde der Rahmen des proletarischen Kampfes in seinen Grundfesten erschüttert. Von nun an verlor der Kampf um ständige und dauerhafte Verbesserungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft seine überragende Bedeutung.
Der Kapitalismus konnte nicht nur keine Zugeständnisse mehr leisten, seine Krise stellte zudem zahlreiche proletarische Errungenschaften aus der Vergangenheit in Frage. Angesichts eines todkranken Systems kann der einzig wirkliche Fortschritt für das Proletariat nur in der Zerstörung des Kapitalismus bestehen. Der Erste Weltkrieg verkörperte den Bruch zwischen den beiden Lebensphasen des Kapitalismus. Die Revolutionäre begriffen, dass das System in seine Niedergangsphase eingetreten war. 1919 proklamierte die Kommunistische Internationale in ihrer Plattform: "Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung ist da. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats ist angebrochen." Jedoch blieben die Revolutionäre mehrheitlich von den Traditionen der Vergangenheit beeinflusst. Trotz ihrer großartigen Arbeit war die III. Internationale nicht imstande, die Schlussfolgerungen ihrer Analyse konsequent auszuformulieren. Trotz des Verrats durch die Gewerkschaften schlug sie nicht vor, sie zu zerstören, sondern neu aufzubauen. Sie stellte fest, dass "die parlamentarischen Reformen für die werktätigen Massen jede praktische Bedeutung verlieren (...) Der Schwerpunkt des politischen Lebens hat sich vollkommen aus dem Parlament verschoben, und zwar endgültig" (Leitsätze über den Parlamentarismus angenommen auf dem 2. Kongress der Komintern, 1920), um nichtsdestotrotz unbeirrt für die Teilnahme an diesen Institutionen zu plädieren
Die Feststellung von Marx im Jahr 1852 wurde so am Ende nachdrücklich bestätigt. Die tragische Konsequenz daraus war, dass das Gewicht der Traditionen das Proletariat mit dem Ausbruch des imperialistischen Krieges 1914 nicht nur in große Verwirrung stürzte, sondern auch für das Scheitern der 1917 begonnenen revolutionären Welle und für die furchtbare Konterrevolution verantwortlich war, die nach der Zerschlagung der revolutionären Welle ein halbes Jahrhundert lang herrschte. Waren sie schon ein Hindernis für die vergangenen Kämpfe, so sind die überlieferten, toten Traditionen ein noch viel schlimmerer Feind der gegenwärtigen Kämpfe. Um erfolgreich zu sein, muss das Proletariat die alten Kleider von sich streifen, um sich für die Notwendigkeiten, welche die neue Epoche des Kapitalismus seinem Kampf aufzwingt, zu wappnen. Es muss die Unterschiede begreifen, die sich sowohl im Leben des Kapitalismus als auch in den Methoden und Zielen seines Kampfes zwischen der aufsteigenden und der dekadenter Phase der kapitalistischen Gesellschaft auftun. Der folgende Text möchte einen Beitrag zu diesem Verständnis leisten (...)

DIE NATION

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Eines der typischen Merkmale des 19. Jahrhunderts war die Bildung neuer Nationen (Deutschland, Italien usw.) bzw. ein zäher Kampf um die Bildung derselben (Polen, Ungarn, etc.). Dies ist absolut kein Zufall, sondern entsprach den Notwendigkeiten des entstehenden Kapitalismus, der in der Nation den geeigneten Rahmen für seine Wirtschaft fand. Damals erfüllte die nationale Unabhängigkeit noch einen Sinn: Sie entsprach der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte und der Zerstörung der feudalen Imperien (Russland, Österreich-Ungarn), den Bastionen der Reaktion.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Im 20. Jahrhundert ist der nationale Rahmen zu eng für die Produktivkräfte geworden. So wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst ist auch die Nation zu einem Hindernis für die Produktivkräfte geworden. Außerdem wird die nationale Unabhängigkeit zu einer Schimäre, sobald sich das nationale Kapital in seinem eigenen, wohlverstanden Interesse in einen der beiden großen imperialistischen Blöcke integriert und damit auf seine Unabhängigkeit verzichtet. Die angeblichen "nationalen Unabhängigkeitsbewegungen" des 20. Jahrhunderts laufen alle darauf hinaus, dass die betroffenen Länder von einer Einflusszone in die andere überwechseln.

DIE ENTWICKLUNG NEUER KAPITALISTISCHER EINHEITEN

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Ein anderes typisches Merkmal der aufsteigenden Phase war die ungleiche Entwicklung des Kapitals in den verschiedenen Ländern. Die höchst entwickelten Länder wiesen den anderen Ländern den Weg. Die Rückständigkeit Letzterer war durchaus nicht hoffnungslos. Es bestand für sie sogar die Möglichkeit, die Ersteren einzuholen und gar zu überholen. Dies war fast allgemeingültige Regel: "Im Rahmen des gigantischen Aufstieges war der Umfang der Steigerung in den einzelnen Ländern außerordentlich verschieden. Diejenigen europäischen Industriestaaten, die 1860 am stärksten entwickelt waren, zeigten in dieser Epoche eine geringere Aufwärtsentwicklung. Die englische Produktion verdreifachte sich ,nur', die französische vervierfachte sich ,nur', während die deutsche sich mehr als versiebenfachte, die amerikanische sich mehr als verzwölffachte.
Das verschiedene Tempo der Steigerung hatte zur Folge, dass die Rangordnung der entscheidenden Industrieländer von 1860 bis 1913 sich grundlegend wandelte.
Um 1880 verlor England den führenden Platz in der Weltproduktion an die Vereinigten Staaten. Gleichzeitig wurde Frankreich von Deutschland überholt. Um 1900 wurde England von Deutschland überholt und kam an die dritte Stelle." (E. Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, 1951)
Zur gleichen Zeit erklomm ein anderes Land die Stufe zur modernen Industrienation: Japan. Auch Russland durchlief einen sehr schnellen Prozess der Industrialisierung, der aber durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase abgewürgt wurde. Die Möglichkeit für die weniger entwickelten Länder, ihre Rückständigkeit zu überwinden, erklärt sich aus folgenden Gründen:
1. Ihre Binnenmärkte boten Absatzmöglichkeiten und spornten so die Entwicklung des industriellen Kapitals an. Die Existenz breiter und relativ wohlhabender Bereiche vor-industrieller Produktion (handwerklicher und vor allem landwirtschaftlicher Art) bildete den notwendigen Nährboden für die kapitalistische Akkumulation.
2.  Die Politik des Protektionismus erlaubte es ihnen eine Zeit lang, ihren Markt vor den billigeren Waren der entwickelteren Länder abzuschirmen und eine eigene nationale Produktion zu entwickeln.
3. Angesichts der frisch eroberten kolonialen Territorien existierte weltweit ein riesiger außerkapitalistischer Markt. Dieser Markt nahm die überschüssige Produktion der Industrieländer auf.
4. Das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage wirkte sich günstig auf die Möglichkeit einer Entwicklung der weniger entwickelten Länder aus. Da die Nachfrage, global gesehen, das Angebot überstieg, wurde der Preis der Waren von den höheren Produktionskosten in den weniger entwickelten Länder bestimmt. Diese erlaubte dem Kapital dieser Länder, eine Profitrate zu erzielen, die eine wirkliche Akkumulation ermöglichte, während die entwickelteren Länder Extraprofite kassierten.
5. Die Rüstungsausgaben waren relativ niedrig und konnten von den Industrieländern leicht kompensiert, ja, sogar in Form von kolonialen Eroberungen rentabilisiert werden.
6. Im 19. Jahrhundert erforderte das technologische Niveau noch nicht die erheblichen Kapitalmassen wie im 20. Jahrhundert, auch wenn es gegenüber der vorausgegangenen Epoche einen riesigen Fortschritt darstellte.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Die Periode der kapitalistischen Dekadenz zeichnet sich dadurch aus, dass die Entstehung neuer Industrienationen unmöglich geworden ist. Jene Länder, die ihren industriellen Rückstand vor dem Ersten Weltkrieg nicht wettmachen konnten, waren dazu verdammt, in totaler Unterentwicklung zu stagnieren oder in eine chronische Abhängigkeit gegenüber den hochindustrialisierten Ländern zu geraten. So verhält es sich mit Nationen wie China oder Indien, denen es trotz angeblicher "nationaler Unabhängigkeit" oder gar "Revolution" (d.h. die Einführung eines drakonischen Staatskapitalismus) nicht gelang, Unterentwicklung und Armut abzustreifen. Auch die UdSSR kann sich dieser Realität nicht entziehen. Die fürchterlichen Opfer, die der Bauernschaft und vor allem der Arbeiterklasse dieses Landes abverlangt worden waren, die immense Ausbeutung in den Arbeitslagern, die Planwirtschaft und das staatliche Monopol im Außenhandel (von den Trotzkisten als "große Errungenschaften" der Arbeiter gepriesen), die systematische Ausplünderung der osteuropäischen Länder - all dies reichte nicht, um der UdSSR zum Anschluss an die Hochindustrieländer zu verhelfen, um die hartnäckigen Spuren der Unterentwicklung und Rückständigkeit auszumerzen (s. dazu diverse Artikel in der Internationalen Revue).
Dass es unmöglich geworden ist, neue, große kapitalistische Einheiten zur Entstehung zur verhelfen, drückt sich unter anderem in der Tatsache aus, dass die sechs größten Industrieländer (USA, Japan, Russland, BRD, Frankreich, England) bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges die führenden Wirtschaftsmächte, wenn auch in einer anderen Reihenfolge, gestellt hatten.
Die Unfähigkeit der unterentwickelten Länder, das Niveau der hochentwickelten Mächte zu erreichen, lässt sich durch folgende Tatsachen erklären:
1. Die Märkte, die einst die außerkapitalistischen Sektoren für die Industrieländer verkörperten, sind durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft und den fast vollständigen Niedergang des Handwerks gänzlich ausgeschöpft.
2. Die protektionistische Politik hat im 20. Jahrhundert völlig ausgedient. Sie bietet der Wirtschaft in den unterentwickelten Ländern keine Gelegenheit zum Luftholen mehr, sondern führt im Gegenteil zu ihrer Strangulierung.
3. Die außerkapitalistischen Territorien dieser Welt sind nahezu voll-ständig vom kapitalistischen Weltmarkt einverleibt worden. Trotz der ungeheuren Armut und der immensen Nachholbedürfnisse, trotz der völligen Unterentwicklung ihrer Wirtschaft stellen die Drittweltländer keinen zahlungsfähigen Markt dar, weil sie schlicht und einfach pleite sind.
4. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage behindert jegliche Entstehung neuer kapitalistischer Nationen. In einer Welt der gesättigten Märkte übertrifft das Angebot die Nachfrage bei weitem; die Preise werden durch die niedrigsten Produktionskosten bestimmt. Dadurch sind jene Länder mit den höchsten Produktionskosten gezwungen, ihre Waren für wenig Profit, wenn nicht gar mit Verlust zu veräußern. Dies drückt ihre Akkumulationsrate auf ein niedriges Niveau. Selbst mit ihren billigen Arbeitskräften gelingt es ihnen nicht, die notwendigen Investitionen zur Anschaffung moderner Technologien zu tätigen. Das Ergebnis ist die ständige Vergrößerung des Abstandes zwischen ihnen und den Industrieländern.
5. Die Militärausgaben in einer Welt des permanenten Krieges stellen auch für die entwickelten Länder eine große Belastung dar. Für die unterentwickelten Länder führen sie hingegen in den vollständigen Bankrott.
6. Die moderne Produktion von heute erfordert eine im Vergleich zum 19. Jahrhundert weitaus höher entwickelte Technologie und somit enorme Investitionen, die lediglich die Industriemächte zur Verfügung haben. So wirken sich auch rein technische Faktoren negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus.

DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN STAAT UND GESELLSCHAFT

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
In diesem Lebensabschnitt des Kapitalismus gab es eine sehr deutliche Trennung zwischen der Politik, dem Bereich der staatlichen Verwaltungsspezialisten und der Wirtschaft, dem Bereich der Privatkapitalisten.
In jener Zeit war der Staat, der auch damals durchaus nach der Herrschaft über die Gesellschaft trachtete, stark von Interessengruppen und Fraktionen des Kapitals beherrscht, was sich zum großen Teil in der Legislative bemerkbar machte. Noch dominierte die Legislative die Exekutive; das parlamentarische System und die repräsentative Demokratie waren Realität, waren das Terrain, auf dem die Konfrontationen zwischen den verschiedenen Interessengruppen stattfanden. Aufgabe des Staates war, die soziale Ordnung zu Gunsten des kapitalistischen Systems in seiner Gesamtheit zu bewahren. Aus diesem Interesse heraus gewährte der Staat den Arbeitern diverse Reformen gegen die barbarischen Exzesse der Ausbeutung, deren Ursache im unmittelbaren und unersättlichen Hunger der Privatkapitalisten nach Profit lag (z.B. die 10-Stunden-Bill in Großbritannien, die Gesetze zur Einschränkung der Kinderarbeit usw.)

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Dieser Lebensabschnitt des Kapitalismus zeichnet sich durch die Absorbierung der Gesellschaft durch den Staat aus. So hat die Legislative, die ursprünglich die gesellschaftlichen Interessen vertreten hatte, jegliches Gewicht zu Gunsten der Exekutive verloren, die nunmehr die Spitze der staatlichen Hierarchie verkörpert. In dieser Periode verschmilzt die Politik mit der Ökonomie zu einem Ganzen, da der Staat die Hauptrolle in der nationalen Wirtschaft und ihre tatsächliche Führung übernommen hat.
Ob dies durch die schrittweise Integration, wie in der "Marktwirtschaft" westlicher Ausrichtung, oder durch eine plötzliche Umwälzung, wie in der verstaatlichten Wirtschaft, geschieht, der Staat ist in keinem Fall mehr das bloße ausführende Organ der Privatkapitalisten und Interessengruppen, sondern der kollektive Kapitalist, dem sich alle besonderen Interessen zu beugen haben.
In seiner Eigenschaft als reelle Einheit des nationalen Kapitals verteidigt der Staat dessen Interessen sowohl nach innen als auch nach außen. Ebenso übernimmt er die Aufgabe, die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse sicherzustellen.

DER KRIEG

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Im 19. Jahrhundert hatte der Krieg im Allgemeinen die Funktion, jeder kapitalistischen Nation die zu ihrer Entwicklung notwendige territoriale Einheit und Ausdehnung zu sichern. In diesem Sinne und trotz des damit verbundenen Elends war der Krieg ein Aspekt des fortschrittlichen Wesens des Kapitals.
So waren die Kriege damals üblicherweise auf zwei oder drei meist benachbarte Länder begrenzt und zeichneten sich durch folgende Merkmale aus:
- Sie waren von kurzer Dauer.
- Sie verursachten wenig Zerstörung.
- Sie ermöglichten sowohl den Siegern als auch den Besiegten einen neuen Aufschwung (so z.B. der deutsch-französische, der österreichisch-italienische, der österreichisch-preußische und der Krimkrieg).
Der Deutsch-französische Krieg von 1870/71 war ein typisches Beispiel für diese Art von Krieg
- Er stellte eine entscheidende Etappe bei der Bildung des deutschen Nationalstaates dar, d.h. bei der Schaffung einer Grundlage für die gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte und bei der Bildung des wichtigsten Teils des industriellen Proletariats Europas, ja, der Welt, wenn man seine politische Rolle berücksichtigt.
- Gleichzeitig dauerte dieser Krieg nicht einmal ein ganzes Jahr. Auch fielen ihm nicht allzu viele Menschen zum Opfer. Selbst für das besiegte Frankreich stellte er keinen wirklichen Rückschlag dar: Nach 1871 setzte Frankreich seine industrielle Entwicklung fort, die im "Zweiten Reich" begonnen hatte, und erbeutete zudem den Löwenanteil seines Kolonialreiches.
Was die Kolonialkriege angeht, so verfolgten sie das Ziel, neue Märkte und Rohstoffressourcen zu erobern. Sie waren das Ergebnis eines Wettrennens der kapitalistischen Länder, die in ihrem Drang, ihre Bedürfnisse nach Ausdehnung zu befriedigen, die Welt unter sich aufteilten. Die Kolonialkriege standen also in direktem Zusammenhang mit der Ausdehnung des Kapitalismus und der Entwicklung der globalen Produktivkräfte.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
In einer Periode, in der die Bildung lebensfähiger nationaler Einheiten nicht mehr möglich und die formale Unabhängigkeit neuer Länder im Wesentlichen das Resultat der Rivalitäten zwischen den großen imperialistischen Mächten ist, werden die Kriege nicht mehr durch wirtschaftliche Notwendigkeit, die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, bestimmt, sondern sind auf politische Ursachen zurückzuführen. Sie werden bestimmt vom Kräfteverhältnis zwischen den Blöcken und haben aufgehört, ein Moment der Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise zu sein. Die Kriege von heute sind im Gegenteil Ausdruck der Unmöglichkeit einer solchen Ausdehnung. Sie führen nicht zur Aufteilung der Welt, sondern zu ihrer Neuaufteilung. Da eine Weiterentwicklung definitiv nicht mehr möglich ist, kann der eine Block von Ländern seine Kapitalverwertung nur auf Kosten des feindlichen Blocks aufrechterhalten. Im Endeffekt läuft dieser Zustand auf Schwächung des Weltkapitals in seiner Gesamtheit hinaus.
Heute verbreiten sich die Kriege in alle Himmelsrichtungen und verursachen ungeheure Zerstörungen in der Weltwirtschaft; sie führen letztendlich zur allgemeinen Barbarei.
Wie im deutsch-französischen Krieg 1870/71 standen sich auch 1914 und 1939 Deutschland und Frankreich feindlich gegenüber. Doch die Unterschiede zwischen dem erstgenannten Krieg und den beiden Weltkriegen sind frappierend. Im 20. Jahrhundert:
- zog der Krieg ganz Europa in Mitleidenschaft und dehnte sich zudem auf die gesamte Welt aus;
- war der Krieg ein totaler Krieg, der jahrelang die gesamte Bevölkerung und sämtliche wirtschaftlichen Ressourcen mobilisierte, der binnen kurzer Zeit Jahrzehnte menschlicher Arbeit zunichte machte, Millionen von Proletariern massakrierte und Hunderte von Millionen von Menschen in die Hungersnot trieb.
Die Kriege des 20. Jahrhunderts sind keineswegs "Erneuerungskuren" (wie manche behaupten), sondern nichts anderes als ein Ausdruck des dahinsiechenden Kapitalismus.

DIE KRISEN

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
In einer auf ungleiche Entwicklungen, auf ungleiche Binnenmärkte basierenden Welt waren auch die Krisen durch die ungleiche Entfaltung der Produktivkräfte in den verschiedenen Ländern und Branchen gekennzeichnet. Sie zeigten an, dass der Binnenmarkt gesättigt und eine weitere Ausdehnung erforderlich war. Sie traten periodisch im Abstand von sieben bis zehn Jahren auf, also entsprechend der Tilgungsfrist des fixen Kapitals, und lösten sich infolge der Eröffnung neuer Märkte schnell auf. Sie trugen daher folgende Merkmale:
1. Sie brachen plötzlich aus, meistens nach einem Börsenkrach.
2. Sie waren von kurzer Dauer; die längsten Krisen dauerten ein bis drei Jahre.
3. Sie betrafen nicht alle Industrieländer. So:
- traf die Krise von 1825 vor allem Großbritannien, Frankreich und  Deutschland blieben von ihr verschont;
- traf die Krise von 1830 vor allem Nordamerika, während Frankreich  und Deutschland ihr erneut entgingen;
- verschonte die Krise von 1847 die USA und hatte schwache Auswirkungen in Deutschland;
- zeigte die Krise von 1866 wenig Wirkung in Deutschland und
- verschonte die Krise von 1973 Frankreich.
Nach und nach neigte der beschriebene Zyklus zwischen Börsenkrach und Boom dazu, sich auf alle entwickelten Länder gleichzeitig auszuwirken. Doch noch 1900 und 1903 waren die USA von der damaligen Rezession unbetroffen, und auch Frankreich blieb von der Rezession von 1907 verschont. Erst die Krise von 1913, die in den Ersten Weltkrieg mündete, erschütterte praktisch alle Länder gleichzeitig.
4. Sie wirkten sich nicht auf alle Industriebranchen aus. So:
- litt hauptsächlich die Baumwollindustrie unter den Krisen von 1825 und 1836;
- wurde in der Krise von 1873 die Metallindustrie in Mitleidenschaft gezogen. So kam es nicht selten vor, dass bestimmte Branchen sich noch im Aufschwung befanden, während andere von der Rezession erfasst waren.
5. Sie mündeten in einen neuen industriellen Aufschwung (die o.g. Wachstumszahlen von Sternberg sind in dieser Hinsicht aufschlussreich).
6. Sie schufen nicht die Bedingungen für eine politische Krise des Systems und noch weniger für den Ausbruch einer proletarischen Revolution. Hier muss man die Fehleinschätzung von Marx erwähnen, der kurz nach den Ereignissen von 1847/48 geschrieben hatte, dass eine neue Revolution nur im Anschluss an eine neuen Krise möglich sei, aber ebenso sicher sei wie Letztere. Sein Irrtum bestand nicht in der Erkenntnis darüber, dass zur Ermöglichung der Revolution die Krise des Kapitalismus notwendig ist. Ebenso wenig täuschte er sich, als er eine neue Krise angekündigt hatte (die Krise von 1857 sollte sich als noch stärker erweisen als die von 1847). Er ging vielmehr fehl in der Annahme, dass die Krisen zu seiner Zeit bereits die Todeskrisen des Kapitalismus darstellten. Diesen Irrtum hat Marx später natürlich korrigiert. Gerade weil er sich über die objektiven Bedingungen der Revolution im Klaren war, stieß er später in der IAA mit den Anarchisten zusammen, welche die noch bevorstehenden Etappen auf dem Weg zur proletarischen Revolution einfach überspringen wollten. So warnte er am 9. September die Pariser Arbeiter: "Jeder Versuch, die neue Regierung zu stürzen, (...) wäre eine verzweifelte Torheit." (Marx, Zweite Adresse über den deutsch-französischen Krieg, MEW Bd. 17, S. 277) Heute muss man schon Anarchist oder Bordigist sein, um sich einzubilden, dass die Revolution jederzeit möglich sei bzw. dass ihre materiellen Bedingungen bereits 1848 oder 1871 existiert hätten.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Bildung des kapitalistischen Weltmarktes abgeschlossen. Die Binnenmärkte haben an Bedeutung verloren (u.a. wegen des Verschwindens außerkapitalistischer Bereiche). Unter diesen Umständen sind die Krisen kein Ausdruck lediglich zeitweise verstopfter Märkte, sondern Zeugnis von der Unmöglichkeit einer weiteren Ausdehnung der Märkte. Aus diesem Grund handelt es sich bei den heutigen Rezessionen um allgemeine und permanente Krisen.
Die Konjunkturen werden nicht mehr vom Verhältnis zwischen der Produktionsauslastung und der Größe des jeweils bestehenden Marktes bestimmt. Sie sind vielmehr im Wesentlichen das Ergebnis politischer Faktoren, die vom Zyklus "Krise-Krieg-Wiederaufbau" beeinflusst sind. So bestimmen nicht mehr die Probleme der Kapitaltilgung die Dauer der konjunkturellen Phasen, sondern vielmehr der Umfang der Zerstörungen des vorausgegangenen Krieges. Nur so kann man verstehen, warum die Dauer der Wiederaufbau- und Expansionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg mehr doppelt so lang war (17 Jahre) wie nach dem Ersten Weltkrieg (sieben Jahre).
Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, das von der Politik des "Laisser-faire" charakterisiert war, wird im 20. Jahrhundert das Ausmaß der Krisen mit Hilfe staatlicher Eingriffe eingeschränkt. So verhält es sich mit den lokalen Kriegen, mit der Entwicklung der Rüstungsindustrie, der Kriegswirtschaft, mit dem systematischen Einsatz der Inflation (das Drucken von Banknoten), mit dem Verkauf auf Kredit, der allgemeinen Verschuldung und mit vielen anderen politischen Maßnahmen, die vielfach mit den ökonomischen Gesetzen des Kapitalismus brechen.
So gesehen, haben die Krisen des 20. Jahrhunderts folgende Merkmale:
1. Sie brechen nicht plötzlich aus, sondern entwickeln sich schrittweise und über einen längeren Zeitraum. Zwar wies die Krise von 1929 mit ihrem plötzlichen Ausbruch durchaus noch ein Merkmal der Krisen des 19. Jahrhunderts auf. Doch lässt sich dies nicht dadurch erklären, dass sie unter ähnlichen wirtschaftlichen Bedingungen stattfand, sondern allein durch die Tatsache, dass die politischen Institutionen des Kapitals gegenüber den veränderten Bedingungen völlig unvorbereitet waren. Später ermöglichten es die massiven staatlichen Eingriffe (New Deal in den USA, Rüstungsproduktion in Deutschland), die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise über ein Jahrzehnt lang hinauszuzögern.
2. Einmal ausgebrochen, dauern Krisen im 20. Jahrhundert stets sehr lange. Während das Verhältnis zwischen Rezession und Aufschwung im 19. Jahrhundert 1 : 4 betrug, änderte es sich im 20. Jahr-hundert auf 2 : 1. Denn zwischen 1914 und 1980 zählte man genau zehn Jahre Weltkrieg (ohne die permanenten lokalen Kriege mit zu berücksichtigen), 32 Jahre der Krisen und Rezessionen (1918-22, 1929-39, 1945-50, 1967-...), insgesamt also 42 Jahre Kriege und Krisen, dagegen nur 24 Jahre Wiederaufbau (1922-29 und 1950-67). Und die derzeitige Krise ist noch lange nicht an ihrem Ende angelangt.
3. Während sich die Wirtschaft im 19. Jahrhundert am Ende einer jeden Krise aus eigener Kraft wieder angekurbelt hatte, kennen die Krisen des 20. Jahrhunderts, vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen, keine andere Lösung als einen neuen Weltkrieg. Krisen sind in diesem todkranken System unvermeidbar. Für das Proletariat hingegen bringen sie die Notwendigkeit und Möglichkeit der kommunistischen Revolution zum Vorschein. Das 20. Jahrhundert ist in der Tat die Ära von Krieg und Revolution, wie es die Komintern auf ihrem Gründungskongress ausgedrückt hatte.

DER KLASSENKAMPF

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Die Formen des Klassenkampfes im 19. Jahrhundert waren gleichermaßen durch die Besonderheiten des Kapitals wie durch die Arbeiterklasse selbst bestimmt:
1. Das Gesamtkapital im 19. Jahrhundert war noch in zahllose, kleine Einzelkapitale zersplittert. Selten hatten die Fabriken mehr als 100 Arbeiter beschäftigt, oftmals waren die Unternehmen noch halbe Handwerksbetriebe. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich mit dem Bau der Eisenbahnen, der massenhaften Maschinisierung, der Vervielfachung der Bergwerke die Vorherrschaft der Großindustrie, so wie man sie heute kennt.
2. Die Zahl der konkurrierenden Kapitalisten war somit sehr hoch.
3. Zudem war die angewandte Technologie noch ziemlich unterentwickelt. Die erste Generation von Fabrikarbeitern kam vom Land und war mehrheitlich unqualifiziert. Qualifizierte Arbeiter kamen vorwiegend aus dem Handwerk.
4. Die Ausbeutung basierte auf dem Auspressen des absoluten Mehrwerts: langer Arbeitstag, sehr niedriger Arbeitslohn.
5. Jeder Fabrikherr stieß direkt und auf sich allein gestellt mit den Arbeitern zusammen, die von ihm ausgebeutet wurden. Es gab noch keine organisierte Einheit der Unternehmer: Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten sich die ersten Unternehmerverbände. In diesen isolierten Konflikten kam es nicht selten vor, dass die Konkurrenz sich die Hände rieb und mit einem Auge auf die Abnehmer der betroffenen Fabrik schielte.
6. Der Staat hielt sich in der Regel aus solchen Konflikten heraus. Er intervenierte erst dann, wenn der Konflikt die "öffentliche Ordnung" zu stören drohte.
Auf Seiten der Arbeiterklasse sind folgende Charakteristiken festzuhalten:
1. So wie das Kapital war auch die Arbeiterklasse sehr zersplittert. Sie war eine in der Entstehung befindliche Klasse. Ihre kämpferischsten Angehörigen waren noch sehr stark mit dem Handwerk verbunden und daher stark vom Korporatismus geprägt.
2. Auf dem Arbeitsmarkt herrschte noch uneingeschränkt und direkt das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Nur in Zeiten der Hochkonjunktur, der schnellen Ausweitung der Produktion, in der Mangel an Arbeitskräften vorherrschte, waren die Arbeiter in der Lage, wirksamen Widerstand gegen die Angriffe des Kapitals zu leisten und sogar wichtige Verbesserungen in den Löhnen und Arbeitsbedingungen zu erzielen. In Zeiten der Wirtschaftskrise verloren sie dagegen ihre Stärke und ließen sich wehrlos einen Teil der eben errungenen Verbesserungen wieder abjagen. Als Ausdruck dieses Phänomens fand die Gründung der Ersten sowie der Zweiten Internationalen jeweils in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs statt (1864, also drei Jahre vor dem Ausbruch der Krise von 1867, wurde die Internationale Arbeiterassoziation, kurz: IAA, gegründet, die II. Internationale 1889, am Vorabend der Krise von 1890-93) und spiegelte die verstärkte Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse wider.
3. Im 19. Jahrhundert bedeutete die Emigration eine Lösung für die Arbeitslosigkeit und die furchtbare Not, die in regelmäßigen Abständen die Arbeiterklasse während der zyklischen Krisen heimsuchten. Als die Lebensbedingungen in den kapitalistischen Metropolen unerträglich wurden, war die Möglichkeit für große Teile des Proletariats, in die "Neue Welt" zu emigrieren, ein Element zur Vermeidung explosiver Situationen wie jener des Jahres 1848. So war die Ausdehnungsfähigkeit des Kapitalismus und die Möglichkeit der Emigration eine Garantie für die Stabilität des Systems im 19. Jahrhundert.
4. Die besonderen Bedingungen des aufstrebenden Kapitalismus zwangen die Arbeiter dazu, Organisationen zur Vertretung ihrer ökonomischen Interessen zu schaffen: die Gewerkschaften, lokale, berufsgebundene Interessenorganisationen, die auf eine Minderheit von Arbeitern beschränkt blieben. Der Streik, die Hauptform des damaligen Kampfes, wurde gründlich vorbereitet, die bestreikten Fabriken stets vorher ausgewählt. Im Allgemeinen brachen die Kämpfe verstärkt in Phasen der Hochkonjunktur aus und richteten sich gegen eine bestimmte Industriebranche oder einzelne Fabriken. Trotz all dieser Beschränkungen waren die Gewerkschaften reelle Organe der Arbeiterklasse, die nicht nur im ökonomischen Kampf gegen die Kapitalisten, sondern auch als Lebenszentrum der Klasse, als Schule der Solidarität, unabdingbar waren. In diesen Schulen konnten die Arbeiter lernen, dass sie eine gemeinsame Sache, ein gemeinsames Ziel verfolgen, denn es handelte sich hierbei um "Schulen des Kommunismus", wie Marx sie bezeichnete, die für die revolutionäre Propaganda offen waren.
5. Im 19. Jahrhundert waren die Streiks im Allgemeinen von relativ langer Dauer. Darin bestand eine der Bedingungen für ihre Wirksamkeit: Sie zwang die Arbeiter, das eigene Verhungern zu riskieren und sich daher mit der Notwendigkeit zu befassen, Unterstützungsfonds, "Widerstandskassen", zu organisieren und die materielle Solidarität der anderen Arbeiter in Anspruch zu nehmen. Daher bildete die Tatsache, dass Letztere weiter arbeiteten und sich nicht dem Streik anschlossen, durchaus ein positives Element für die Wirksamkeit des Kampfes. Denn wenn in den Konkurrenzfabriken weitergearbeitet wurde, konnte dies einen zusätzlichen Druck auf den bestreikten Fabrikherrn ausüben.
6. Unter diesen Umständen erhielt die Frage der materiellen, finanziellen Vorbereitung und Organisierung des Proletariats eine zentrale Bedeutung bei der Durchführung der Kämpfe. Oft hatte sie Vorrang vor dem Inhalt, vor den tatsächlichen Errungenschaften der Kämpfe. Sie wurde zum Ziel an sich, wie Marx feststellte, als er auf die Aussagen der Bourgeoisie einging, die nicht verstand, warum die Arbeiter mehr Geld für ihre Gewerkschaften ausgaben, als diese dem Kapital für sie entreißen konnten.

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
Der Klassenkampf im dekadenten Kapitalismus wird aus der Sicht des Kapitals durch folgende Merkmale bestimmt:
1. Das Kapital hat ein hohes Niveau der Konzentration und Zentralisierung erreicht.
2. Quantitativ, also von der bloßen Anzahl der konkurrierenden Unternehmer ausgehend, ist die Konkurrenz schwächer geworden, qualitativ hat sie sich dagegen enorm zugespitzt.
3. Die Technologie ist hoch entwickelt. Die Arbeitskräfte sind immer qualifizierter, da die einfachen Arbeiten zunehmend von Maschinen ausgeführt werden. Ein Großteil der heutigen Lohnabhängigen steht schon in der vierten oder fünften Arbeitergeneration. Nur eine ganz geringe Anzahl von Arbeitern wird aus der Landwirtschaft rekrutiert.
4. Die dominierende Grundlage der Ausbeutung ist das Auspressen des relativen Mehrwerts (Beschleunigung des Arbeitsrhythmus und Zunahme der Produktivität).
5. Im Vergleich zu früher herrscht heute eine viel größere Einheit und Solidarität unter den Kapitalisten gegenüber der Arbeiterklasse. Erstere haben spezielle Organe gegründet, um der Arbeiterklasse nicht mehr einzeln gegenüberzutreten.
6. Der Staat greift direkt in die sozialen Konflikte ein, entweder in seiner Eigenschaft als Kapitalist bzw. als "Vermittler", d.h. als Kontrollorgan auf der politischen und ökonomischen Ebene der Konfrontation, um diese auf Sparflamme zu halten, oder aber einfach als Organisator und Ausführender der Repression.
Auf der Seite der Arbeiterklasse sind folgende Merkmale zu nennen:
1. Die Arbeiterklasse ist auf globaler Ebene vereinigt und auf intellektueller Ebene hoch qualifiziert. Sie hat nur noch sehr entfernte Verbindungen zum Handwerk. Zentrale Stätten ihrer Kampfbereitschaft sind die großen, modernen Betriebe. Die Kämpfe verlassen immer mehr den Boden des Korporatismus.
2. Im Gegensatz zur aufsteigenden Periode kommt es heute zum Ausbruch von Kämpfen, wenn die Gesellschaft in eine Krise gerät: Die Revolutionen von 1905 und 1917 in Russland entstanden infolge der akuten Krise (denn Kriege sind nichts anderes als Krisen). Die große internationale Welle von revolutionären Kämpfen zwischen 1917 und 1923 fand während einer Zeit der Kriege und der sich anschließenden wirtschaftlichen Erschütterungen statt und endete mit dem Aufschwung, den der Wiederaufbau mit sich brachte. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern wurde die Dritte Internationale 1919, auf einem Tiefpunkt der gesellschaftlichen Krise und auf dem gleichzeitigen Höhepunkt der proletarischen Kampfbereitschaft, gegründet.
3. Das Phänomen der wirtschaftlich bedingten Emigration im 20. Jahrhundert, besonders nach dem II. Weltkrieg, ist sowohl von seinem Ursprung her als auch hinsichtlich seiner Konsequenzen keineswegs vergleichbar mit den großen Auswanderungsströmungen des 19. Jahrhunderts. Es drückt nicht die historische Expansion des Kapitals nach neuen Territorien aus, sondern im Gegenteil die Unmöglichkeit der ökonomischen Entfaltung der ehemaligen Kolonien. Die Arbeiter und Bauern flüchten aus den verelendeten ländlichen Regionen in die Metropolen, welche die emigrierenden Arbeiter des 19. Jahrhunderts ihrerseits verlassen hatten. Die Auswanderung wirkt also nicht mehr als Sicherheitsventil in der akuten Krise des Systems. Nach dem Ende der Wiederaufbauperiode hörte die Emigration auf, ein Mittel zu sein, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, die sich in den Industrieländern ausbreitet, nachdem sie bereits vorher die unterentwickelten Länder heimgesucht hat. Die Krise treibt die Arbeiterklasse in die Enge, ohne ihr den geringsten Ausweg innerhalb dieses Systems zu lassen.
4. Die Unmöglichkeit von dauerhaften Verbesserungen für die Arbeiterklasse bedeutet auch die Unmöglichkeit der Bildung spezifischer, permanenter, ihre ökonomischen Interessen vertretener Organisationen. Die Gewerkschaften verlieren ihre ursprüngliche Funktion: Da sie keine Klassenorgane, geschweige denn "Schulen des Kommunismus" sind, werden sie vom Kapital vereinnahmt und in den Staat integriert, ein Prozess, der durch die Tendenz des Staates, sich die gesamte Gesellschaft einzuverleiben, noch verstärkt wird.
5. Der proletarische Kampf sprengt zunehmend den ökonomischen Rahmen und wird zum gesellschaftlichen Kampf. Die Arbeiter stoßen direkt mit den staatlichen Organen zusammen und werden auf diesem Wege politisiert. Desgleichen erfordern diese Kämpfe die massive Beteiligung der gesamten Klasse. Rosa Luxemburg deckte dies in ihrer Schrift "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" vor dem Hintergrund der ersten russischen Revolution von 1906 auf. Den gleichen Gedanken findet man auch bei Lenin: "Hinter jedem Streik erhebt sich das Gespenst der Revolution."
6. Die Kämpfe in der dekadenten Phase können nicht von langer Hand organisatorisch vorbereitet werden. Sie brechen spontan aus und streben danach, sich auszuweiten. Sie finden eher auf lokaler oder territorialer denn auf beruflicher Ebene statt. Ihre Ausweitung verläuft eher horizontal als vertikal. Diese Merkmale sind Vorboten der revolutionären Konfrontation, in der die Arbeiter nicht nach Berufen oder Branchen getrennt oder als Arbeiter der einen oder anderen Fabrik auftreten, sondern als vereinigte Klasse, die sich auf geopolitischer Ebene (Provinzen, Länder) zusammengeschlossen hat. Auch ist es der Arbeiterklasse unmöglich, sich im Vorfeld eines Kampfes mit materiellen Hilfsmitteln zu versorgen. Angesichts der Art und Weise, wie das Kapital sich organisiert, wie die gesamte Kapitalistenklasse sich im Falle von Kämpfen gegenseitig hilft, wird ein Streik auf längere Zeit zu einer stumpfen Waffe. In diesem Sinn hängt der Erfolg eines Streiks nicht von finanziellen Mitteln ab, sondern im Wesentlichen von der Fähigkeit der Arbeiter, den Kampf auszudehnen, da nur dies eine reelle Bedrohung des gesamten nationalen Kapitals darstellt. Heutzutage besteht die Solidarität der Arbeiter nicht mehr in der finanziellen Unterstützung kämpfender Arbeiter (dabei handelt es sich nur um eine Scheinsolidarität, welche die Gewerkschaften anbieten, um die Arbeiter von einer wirklichen Unterstützung abzuhalten), sondern in der eigenen Aufnahme des Kampfes.
7. So wie die Organisation des Kampfes dem Kampf selbst nicht vorausgeht, sondern sich erst im Verlauf des Kampfes herausschält, so kann die Selbstverteidigung und Bewaffnung des Proletariats nicht im Voraus vorbereitet werden, indem man ein paar Gewehre bunkert (so wie sich dies einige Gruppen wie die GCI vorstellen).
 All dies sind Etappen in einem Prozess, den man nicht beenden kann,   ohne alle Etappen durchlaufen zu haben.

DIE ROLLE DER REVOLUTIONÄREN ORGANISATION

In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus
Die Organisation der Revolutionäre, Produkt der Klasse und ihres Kampfes, ist eine Minderheitsorganisation, die sich auf der Grundlage eines Programms konstituiert. Ihre Funktion besteht in der:
1. theoretischen Aufarbeitung der Kritik des Kapitalismus,
2. Erarbeitung des Programms, der historischen Ziele des Klassenkampfes,
3. Verbreitung dieses Programms in der Klasse,
4. aktiven Teilnahme an allen Phasen des unmittelbaren Kampfes der Klasse und ihrer Selbstverteidigung gegen die kapitalistische Ausbeutung.
So übernahmen die revolutionären Organisationen im 19. Jahrhundert die Aufgabe, ab einem bestimmten Entwicklungsstadium die ökonomischen Kämpfe der Klasse auf der Grundlage einer bereits im Keim bestehenden und in früheren Kämpfen erzeugten Organisation aktiv zu initiieren und zu organisieren.
Aufgrund dieser Funktion und angesichts der Begleitumstände dieser Periode - die Möglichkeit von Reformen und eine Neigung zur Propagierung reformistischer Illusionen in der Klasse - wurden auch die Organisationen der Revolutionäre (die Parteien der II. Internationalen) vom Bazillus eines Reformismus befallen, der letztendlich das revolutionäre Endziel zu Gunsten der unmittelbaren Reformen aufgab. Sie ließen sich dazu verleiten, die Entwicklung und den Erhalt der ökonomischen Organisationen (Gewerkschaften) zu ihrer einzigen praktischen Aufgabe zu machen (Entwicklung des Ökonomismus).
Nur eine Minderheit innerhalb der revolutionären Organisationen widerstand dieser Entwicklung und verteidigte die Integrität des historischen Programms der sozialistischen Revolution. Ein Teil dieser Minderheit wiederum neigte jedoch dazu, als Reaktion auf die reformistische Degeneration sich die dem Proletariat fremde Auffassung anzueignen, dass die Partei die einzige Quelle des Bewusstseins, die alleinige Inhaberin eines vollendeten Programms sei, deren Funktion mithin darin bestünde, ähnlich wie die Parteien der Bourgeoisie die Arbeiterklasse zu "vertreten", und die folglich das Recht habe, das Entscheidungsorgan der Klasse zu stellen, mit anderen Worten: im Namen der Arbeiterklasse die Macht zu übernehmen. Diese Auffassung, die wir Substitutionismus nennen, prägte eine Mehrheit der revolutionären Linken in der II. Internationalen, insbesondere ihren wichtigsten Theoretiker Lenin (s. Was tun?, Ein Schritt vorwärts,  zwei Schritte zurück).

In der dekadenten Phase des Kapitalismus
In dieser Phase behält die Organisation der Revolutionäre die allgemeinen Merkmale der vorherigen Periode bei. Hinzu kommt aber, dass die Verteidigung der unmittelbaren Interessen nicht mehr vom Endziel getrennt werden kann, welches auf der Tagesordnung der Geschichte steht. Dagegen verliert sie aufgrund dieser Tatsache die Funktion, die Klasse zu organisieren. Dies kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein, die in ihrem Kampf zu einer sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht neuartigen Organisation findet: den Arbeiterräten.
Indem sie sich die alte Parole der Arbeiterbewegung wieder zu Eigen macht, dass "die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst" ist, muss die Organisation jegliche substitutionistischen Tendenzen als bürgerliche Auffassung bekämpfen. Als revolutionäre Minderheit hat sie nicht die Aufgabe, a priori eine Plattform für die unmittelbaren Forderungen zu bilden, um die Klasse zu mobilisieren. Sie muss sich jedoch entschlossen an allen Kämpfen beteiligen und ihnen eine allgemeine Orientierung verleihen, wobei sie die Agenten und Ideologen der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse denunzieren muss. Im Kampf selbst muss sie die Notwendigkeit der Generalisierung als einzigen Weg zum Endziel, der Revolution, betonen. Sie ist weder unbeteiligter Zuschauer noch devoter Diener der Arbeiterklasse.
Die Organisation der Revolutionäre verfolgt das Ziel, die Entstehung von Arbeiter-Diskussionsgruppen oder Arbeitergruppen zu fördern und in ihnen mitzuarbeiten. Dabei muss sie diese als vorübergehende, unfertige Produkte eines tatsächlich in der Klasse bestehenden Bedürfnisses nach Umgruppierung und Diskussion betrachten, das angesichts der Unmöglichkeit, neue Gewerkschaften zu schaffen, allerdings erst dann völlig befriedigt werden kann, wenn die wirklichen Einheitsorgane de Arbeiterklasse, die Arbeiterräte, gebildet werden.
Entsprechend dem Charakter der Krise muss die Organisation der Revolutionäre jeden Versuch, solche Gruppen künstlich zu erzeugen, jeden Anspruch, sie zu Transmissionsriemen irgendwelcher Parteien oder gar zum Kern der künftigen Räte oder anderer politisch-ökonomischer Organe zu machen, ablehnen. Denn dies kann die Entwicklung des Reifungsprozesses im Bewusstsein und in den Einheitsorganen der Klasse nur lähmen. Solange sie es vermeiden, sich zum Selbstzweck zu machen, unausgegorene Plattformen zu verabschieden, solange sie ein Treffpunkt bleiben, der für alle Arbeiter offen ist, die sich mit den Problemen ihrer Klasse auseinandersetzen wollen, können solche Diskussionszirkel durchaus wertvoll sein und vorübergehend wichtige Aufgaben erfüllen.
In Anbetracht der Tatsache, dass nach einer Zeit lang andauernder und erdrückender Konterrevolution die Revolutionäre in alle Winde zerstreut sind, hat die revolutionäre Organisation die Aufgabe, die Entwicklung eines politischen Milieus auf internationaler Ebene zu fördern. Das bedeutet, Debatten und Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen über politische Positionen zu fördern, was schließlich den Prozess der Bildung der internationalen politischen Klassenpartei in Gang setzt.
Die schlimmste Konterrevolution in der Geschichte der Arbeiterbewegung war auch für die Organisation der Revolutionäre eine furchtbare Prüfung. Die einzigen Strömungen, die überlebten, waren diejenigen, die bei Wind und Wetter die wichtigsten Prinzipien des kommunistischen Programms hochgehalten hatten. Allerdings hat eine solch misstrauische Haltung gegenüber "neuen Konzepten", die unter dem Druck der triumphierenden bürgerlichen Ideologie im Allgemeinen zur Aufgabe von Klassenpositionen drängen - eine Haltung, die an sich völlig gerechtfertigt ist -, die Revolutionäre oft daran gehindert, die im Kapitalismus und in den Arbeiterkämpfen eingetretenen Veränderungen in ihrem vollen Umfang zu begreifen. Eine besonders karikaturistische Form dieses Phänomens findet sich in jener Auffassung wieder, welche die Klassenpositionen als "invariant" bezeichnet und meint, das kommunistische Programm sei 1848 ein für allemal formuliert worden und müsse nicht im Geringsten modifiziert werden.
Während sie sich einerseits gegenüber der modernistischen Ideologie abschirmen muss, die oft nur alten Wein in neuen Schläuchen anbietet, muss die Organisation der Revolutionäre, falls sie die Aufgaben erfüllen soll, derentwegen sie von der Klasse geschaffen worden war, andererseits auch in der Lage sein, diese Veränderung im gesellschaftlichen Leben sowie ihre Folgen auf die Aktivität der Klasse und ihrer kommunistischen Avantgarde zu begreifen.
Angesichts des offensichtlich reaktionären Charakters sämtlicher Nationen muss sie jegliche Unterstützung der so genannten nationalen Befreiungsbewegungen verweigern. Angesichts des imperialistischen Charakters aller Kriege muss sie jede angestrebte Beteiligung an ihnen, gleich, unter welchem Vorwand, demaskieren. Angesichts der Vereinnahmung der Gesellschaft durch den Staat und der Unmöglichkeit von Reformen muss sie jede Teilnahme am parlamentarischen Wahlzirkus bekämpfen. Angesichts der heutigen ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen des Klassenkampfes muss die Organisation der Revolutionäre jegliche Illusion in der Klasse über die Möglichkeit der Wiederbelebung von Organisationen wie die Gewerkschaften zerstören, da diese ihren Kampf nur behindern. Ebenso muss sie die Methoden und die Organisationsweisen, welche die Arbeiterklasse in der ersten revolutionären Welle dieses Jahrhunderts geschaffen hatte, in den Vordergrund stellen: den Massenstreik, die Vollversammlungen, die Einheit zwischen ökonomischem und politischem Kampf, die Arbeiterräte.
Um ihre Rolle in den Kämpfen wahrzunehmen, um sie zu unterstützen und auf eine revolutionäre Lösung zu orientieren, muss die Organisation der Kommunisten letztlich jene Rolle aufgeben, die sie im 19. Jahrhundert innehatte. Es ist nicht mehr ihre Aufgabe, die Klasse zu organisieren und zu vertreten.
Revolutionäre, die behaupten, dass sich seit dem letzten Jahrhundert nichts geändert habe, halten das Proletariat wohl für Babin, jener Figur aus einem Märchen Tolstois. Jedes Mal, wenn Babin einen Fremden traf, gab er ihm die Antwort, die eigentlich der letzten von ihm angetroffenen Person gegolten hatte. So widerfuhr es ihm, dass er häufig Prügel bezog. Denn gegenüber Kirchgängern benutzte er Worte, wie er sie besser im vorherigen Dialog mit dem Teufel angewendet hätte. Mit einem Bär sprach er, als sei dieser jener Einsiedler, mit dem er zuvor geredet hatte. Am Ende büßte der arme Babin für seine Dummheiten mit seinem Leben...
Die Neubewertung der Position und Rolle der Revolutionäre, die wir in diesem Text behandelt haben, stellt keineswegs eine Aufgabe oder "Revision" des Marxismus dar. Im Gegenteil, sie gibt das Wesentliche des Marxismus getreu wieder. Die Fähigkeit, die neuen Kampfbedingungen und ihre Auswirkungen auf das kommunistische Programm zu begreifen, ermöglichte es Lenin und den Bolschewiki, eine aktive und entscheidende Rolle in der Oktoberrevolution von 1917 zu spielen.
Rosa Luxemburg verteidigte den gleichen revolutionären Standpunkt, als sie 1906 gegen die "orthodoxen" Elemente ihrer Partei schrieb: "Wenn also die Russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunktes des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht, so ist es wieder nur der Marxismus, dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen." (R. Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Ges. Werke, Bd. 2, S. 97)

Partei, Arbeiterräte, Substitutionismus Teil 1

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In der jungen revolutionären Bewegung, die durch das Wiedererstarken des Klassenkampfes am Ende der 60er Jahre ins Leben gerufen wurde, war das erste und hartnäckigste Hindernis für den Wiederaufbau einer internationalen Organisation der Revolutionäre, was im allgemeinen als  Rätekommunismus beschrieben werden kann. Traumatisiert durch den Verfall der bolschewistischen Partei und durch die Erfahrung mit dem Stalinismus und Trotzkismus, erklärten die meisten dieser neuen revolu­tionären Strömungen, daß die Arbeiterklasse keine revolutionäre Partei benötige und einzig und allein die Ein­heitsorgane der Klasse, die Arbeiterräte, für die Verwirklichung der kommunistischen Revolution notwendig sind. Diesem Standpunkt zufolge sollten die Revolutionäre vermeiden, sich zu organisieren und als Avantgarde im Klassenkampf zu handeln. Einige Strömungen gingen sogar soweit, daß sie jegliche Form einer revolutionären Grup­pe als "Gaunerbande" ablehnten, die von den Bedürf­nissen des Kapitals und nicht vom Proletariat diktiert seien. Seit Anbeginn ihres Bestehens hat unsere inter­nationale Strömung diese Konfusionen abgelehnt und aktiv interveniert, um sie zu bekämpfen - z.B. auf der internationalen Konferenz, die 1969 von der franzö­sischen Gruppe INFORMATIONS CORRESPONDENCE OUVRIERES veranstaltet wurde. Wir ha­ben immer darauf bestanden, daß die Zurückweisung der kon­terrevolutionären Hypothek des Stalinismus und Trotz­kismus sowie die notwendige Kritik an den Irrtümern frühe­rer proletarischer Parteien nicht zur Absage an die Notwendigkeit einer vereinigten Organisation der Revolutionäre führen darf, und haben vor der Gefahr eines mangelnden Verständnisses der unverzichtbaren Rolle der kommunistischen Partei in der pro­letarischen Revolution gewarnt. Wenn diese kompromißlose Verteidigung der Notwendigkeit einer re­volutionären Organisation von den Rätekommunisten und den verschiedenen Libertären als "Leninismus" beschimpft wird, dann ist das um so schlimmer für sie! Die IKS hat sich immer auf die großen historischen Verdienste Lenins und der bolschewistischen Partei als ein Teil unserer eigenen Erbes berufen.
Die rätekommunistische Ideologie, die großen Wert auf ihre eigene, besondere Interpretation der "Massenspontaneität" der Arbeiterklasse legt, kann in Zeiten wachsender Klassenaktivitäten , wenn die Kreativität der Klasse ein hohes Niveau erreicht und die revolutionären Minderheiten in ihr Schlepptau nimmt, gelegentlich aufblühen. So war der Mai '68 die Hochphase zahlloser rätekommunistischer Tendenzen, von der Situationistischen Internationalen bis zur GLAT. Doch solchen Tendenzen erging es nicht so gut, wenn der Klassenkampf den Rückzug antrat. Nach dem Abebben der Welle von Kämpfen in den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern zwischen 1968 und 1972 zerbröselte die überwiegende Mehrheit dieser Tendenzen, die sich auf eine immediatistische und aktivistische Konzeption der revolutionären Arbeit stützten, oder entwickelte sich zu sterilen, akademischen Sekten. Die Liste der Verluste ist lang: die SI, Gauche Marxiste, Pouvoir Ouvrier, Noir et Rouge, die GLAT, Combate und die mannigfaltigen modernistischen, anti-organisatorischen Tendenzen: Invariance, Mouvement Communiste, Kommunismen, Internationell Arbeitarkampf, Negation, For Ourselves... In der schwierigen und manchmal entmutigenden Atmosphäre der letzten paar Jahre, in denen die Vertiefung der Krise nicht ein entsprechendes Niveau des Klassenkampfes bewirkt hat, hat nahezu die Hälfte aller kommunistischen Gruppierungen, die überlebten oder gar wuchsen, auf die eine oder andere Weise besonderen Wert auf die Notwendigkeit der Organisation gelegt: die IKS, die CWO, Battaglia Comunista und, trotz ihrer politischen Degenerierung, die bordigistische IKP. So wie auf einer größeren, historischen Ebene ihre Klarheit in der Organisationsfrage es der Italienischen Linken ermöglichte, sicherer in der Periode der Konterrevolution zu überleben als andere linkskommunistische Fraktionen, so waren die letztgenannten Gruppen besser gerüstet, um mit den Auswirkungen der heutigen Periode einer verhältnismäßigen Ruhe an der Klassenfront fertigzuwerden.
Doch wenn die rätekommunistischen und organisationsfeindlichen Abweichungen in Zeiten der wachsenden Akti­vitäten der Klasse Auftrieb erhalten können, so neigen die entgegengesetzten Abweichungen dazu, in Zeiten der Niederlage der Klasse oder der Zwangsruhe in den Vordergrund zu rücken, wenn Revo­lutionäre oft ihre Überzeugung in der Fähigkeit des Prole­tariats verlieren, autonom zu kämpfen und sein revolutionäres We­sen zu verwirklichen. Die substitionistischen Übertreibungen in Lenins Was tun? waren weitgehend das Produkt der Periode der internationalen Klassenruhe Ende des 19. Jahrhunderts gewesen. Als Folge von 1905 und insbesondere der Revolution von 1917 war Lenin in der Lage, diese Übertreibungen zu kritisieren und seine eigenen politischen Positionen mit der massenhaften Selbstaktivität der Klasse zu verknüpfen; der Niedergang der revolutionären Welle verleitete Lenin und die Bolschewiki jedoch dazu, zu den alten sozialdemokratischen Deformationen zurückzukehren. Auch der Preis, den die Italienische Linke für ihr Festhalten an Klassenpositionen in den langen Jahren der Konterrevolution entrichten mußte, war hoch: eine, besonders nach dem II. Weltkrieg, wachsende Überbetonung der Rolle der Partei, die in dem Partei-Größenwahn der Bordigisten kulminierte.
So wurde die IKS unter den gegenwärtigen Umständen - angesichts der Auflösungserscheinungen im Rätekommunismus und seines Bankrotts, der sich in  diesem Verfall manifestiert - immer mehr mit der entgegengesetzten Abweichung konfrontiert: dem Substitutionismus,  der Unterschätzung der Bedeutung der Selbstaktivität der Massen und einer Überschätzung der Rolle der Partei, was soweit ging, daß der Partei  Aufgaben zugeschrieben wurden, die nur die Klasse in ihrer Gesamtheit ausführen kann, insbesondere die Ergreifung und Ausübung der politischen Macht. Nachdem die IKS von den Rätekommunisten als leninistisch beschimpft wurde, wird sie nun von den Leninisten als rätekommunistisch denunziert... Hinzu kommt, daß Organisationen, die ursprünglich ein klareres Verständnis des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse hatten - wie z.B. die "Com­munist Workers' Organisation" (CWO) -, sich zu offen sub­stitutionistischen Positionen zurückentwickeln. So stellte die Plattform von REVOLUTIONARY PERSPECTIVE 1975 fest, daß die revolutionäre Organisation "nicht im Namen der Klasse handeln kann, sondern nur als ein Teil von ihr, unmißverständlich anerkennend, daß die Hauptlehre von 1917 in Rußland und Deutschland war, daß die Ausübung der Macht in der Diktatur des Proletariats und die Errichtung des Kommunismus die Aufgaben der Klasse selbst und ihrer klassen-weiten Organisationen (Räte, Fabrikkomitees, bewaffnete Milizen) sind."
Heute argumentiert die CWO, daß die Partei den Kampf um die Macht "anführt und organisiert" (CWO-Text für die Pariser Konferenz der revolutionären Gruppen) und:
"Im Moment seines Sieges wird der Aufstand in eine Revolution umgewandelt, und die mehrheitliche Unterstützung für den Kommunismus wird sich dadurch manifestieren, daß die Klasse - auf dem Wege der Partei in den Räten - die Macht innehält." (INTERNATIONAL REVIEW, Nr. 12, S. 23)
Selbst innerhalb der IKS sind ähnliche Gedanken entwickelt worden, was Genossen in Frankreich und Italien zu den beruhigenden Dogmen des Bordigismus geführt hat. Morgen, wenn das Proletariat entschlossen auf die Bühne zurückgekehrt ist, werden wir es möglicherweise wieder mit Rätekommunisten, Ouvrieristen und Autonomen aller Schattierungen zu tun haben. Die Resolution "Die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution", die auf dem Dritten Kongreß von WORLD REVOLUTION angenommen worden war, ist ein Versuch, beiden Garnituren von Abweichungen entgegenzutreten und einen allgemeinen Rahmen zur Entwicklung einer detaillierteren und genaueren Analyse der Rolle der Partei zu liefern - eine Analyse, die zwangsläufig unvollständig bleiben muß, bis der zukünftige revolutionäre Kampf der Klasse bislang ungelöste Fragen beantworten wird. Wenn wir uns in diesem Beitrag auf die Frage des Substitutionismus konzentrieren, so deshalb, weil wir denken, daß die Weiterexistenz dieser Ideologie in der gegenwärtigen Arbeiterbewegung ein Haupthindernis für die Entwicklung eines wirklichen Verständnisses der positiven Aufgaben der revolutionären Partei ist. Der Substitutionismus ist für uns etwas, das die historische Erfahrung bereits geklärt hat. Wenn die revolutionäre Avantgarde ihren Aufgaben in den Klassenschlachten von morgen gerecht werden will, so muss sie schonungslos all die Ladenhüter der Vergangenheit entsorgen.


GIBT ES EINEN SUBSTITUTIONISMUS?
Manche behaupten, der Substitutionismus sei kein Problem. Einige dieser Elemente suchen Zuflucht in solch philosophischen Tiefsinnigkeiten wie: "Wie kann sich eine Partei, die die historischen Interessen des Proletariats repräsentiert, an die Stelle der Klasse setzen?" Natürlich können die historischen Interessen der Klasse nicht die Klasse ersetzen, doch das Problem ist, daß proletarischen Parteien keine metaphysischen Einheiten sind, sondern das Erzeugnis der realen Welt des Klassenkampfes: Selbst die größte theoretische Klarheit immunisiert sie nicht völlig gegen die Auswirkungen der bürgerlichen Ideologie, befreit sie nicht automatisch vom sehr realen Druck der alten Welt, von den Gefahren des Konservatismus, der Bürokratisierung oder des unverhohlenen Verrats. Genug Parteien sind degeneriert. Es gibt genügend Bei­spiele von degenerierten Parteien oder von Par­teien, die die Arbeiterklasse verraten haben. Und selbst wenn sich Parteien weitab ab von jeglicher eindeutigen Degeneration befinden, können sie dennoch den historischen Interessen der Klasse zuwider handeln. Ein Blick auf die erste Reaktion der bolschewistischen Partei auf die Februarrevolution reicht aus, um das zu verstehen. Es gibt keine absolute Garantie dafür, daß die die Handlungen oder Positionen einer proletarischen Partei ausnahmslos mit den historischen Interessen der Klasse übereinstimmen; Handlungen, von denen Revolutionäre glauben, daß sie im besten Interesse der Klasse sind, haben häufig die katastrophalsten Konsequenzen sowohl für die Partei als auch für die Klasse.
Allerdings hat eine Gruppe wie die CWO ein weitaus handfesteres Argument gegen den Begriff des Substitutionismus. Sie gibt zu, Substitutionismus könne bedeuten, "daß eine Minderheit der Klasse versucht, die Aufgaben der gesamten Klasse auszuführen" ("(Some Questions for the ICC", Internationale Revue, engl, franz., spanische Aus­gabe, Nr. 12). Aus der Sicht der CWO ist dies eine gerechtfertigte Kritik an der Auffassung der blanquistischen Vorstellung einer Machtergreifung ohne aktive Unterstützung und Teilnahme der Mehrheit der Klasse; oder es handelt sich um eine bloße Beschreibung der objektiven Lage, in der sich die Bolschewiki nach der Isolierung der Revolution befanden. Die CWO findet nichts Substitutionistisches daran, daß die Partei "die Macht ergreift", sofern sie die Unter­stützung der Mehrheit der Arbeiterklasse gewonnen hat, und sieht auch keine Verbindung zwischen der Parteikonzeption der Bolschewiki im Jahre 1917 und ihren anschließenden Konfrontationen mit der russischen Arbeiterklasse. Doch dies läßt zu viele Fragen offen. Der Kern des Problems liegt nicht darin, die Theorien Blanquis abzulehnen; der Marxismus hat das schon vor langer Zeit getan, und selbst die Bordigisten würden zustimmen, daß Putsche und Komplotte uns nicht zum Kommunismus führen. Was wir hier herausstellen wollen, ist, daß schon die Vorstellung einer Machtergreifung durch die Partei, selbst wenn sie dazu demokratisch gewählt wäre, eine Spielart des Substitutionismus darstellt, weil sie bedeutet, daß "eine Minderheit der Klasse ver­sucht, die Aufgaben der gesamten Klasse auszuführen". Und wir werden versuchen aufzuzeigen, daß die Konfusion der Bolschewiki in dieser Frage ein zusätz­licher Faktor in ihrer anschließenden Degeneration war. Für uns ist das Problem des Substitutionismus keine clevere Erfindung der IKS, sondern eine tief greifende Frage, die in der gesamten Erfahrung der Geschichte der Arbeiterklasse verwurzelt ist.


DER HISTORISCHE KONTEXT DER IDEOLOGIE DES SUBSTITUTIONISMUS
Anders als jene, die glauben, daß das kommunisti­sche Programm und die Klassenpartei in einer Sphäre un­veränderlicher Abstraktionen existieren, sind das Pro­gramm und die Partei der Klasse nichts anderes als hi­storische Produkte der Erfahrung der Arbeiterklasse. Diese Erfahrung wird von den objektiven Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung zu einem gegebenen Zeitpunkt sowie vom allge­meinen Niveau des Klassenkampfes und der Klassenaktivitäten gebündelt und geprägt, welche im Rahmen dieser Entwicklung stattfin­den. So waren Marx und Engels schon 1848 in der Lage, eine klare, allgemeine Auffassung vom Charakter der pro­letarischen Revolution und von den Aufgaben der Kommu­nisten zu entwickeln, aber es war für sie objektiv unmöglich, ein präzises Verständnis der Art und Weise, wie das Proletariat die Macht ergreifen würde, sowie des Charakters der kommunistischen Partei und ihrer Rolle in der Diktatur des Proletariats zu erlangen. Ihre Illusionen über die Möglichkeit, daß die Arbeiterklasse den bestehenden bürgerlichen Staat kapern könnte, konnte nur durch die praktische Erfahrung der Kommune (und das auch nur teilweise) zerstreut werden. Auch ihre Unschärfe in der Frage des Charakters und der Rolle der Partei konnte erst durch die Entwicklung der orga­nisierten Arbeiterbewegung überwunden werden.
Es sei daran erinnert, daß der Marxismus zu einer Zeit entstand, als selbst bürgerliche politische Parteien gerade erst begonnen hatten, die ver­einigte und relativ kohärente Gestalt , die sie heute haben, anzunehmen - eine Entwicklung, die durch die Bewegung zum allgemeinen Wahlrecht bestimmt wurde, das die alten, losen parlamentarischen Koalitionen unhaltbar mach­te. Damals hatte die Arbeiterbewegung nicht einmal eine sehr klare Auffassung darüber, was der Begriff Partei bedeutete. Daher die extreme Vagheit, mit der Marx diesen Begriff verwendete: Er benutzte ihn zur Beschreibung einiger Individuen, die durch einen gemeinsamen Standpunkt vereint sind,  zur Beschreibung der gesamten Klasse, die in einem gemeinsamen politischen Kampf vereint ist, einer avantgardistischen kommunistischen Organisation oder einer losen Assoziation von verschiedenen Strömungen und Tendenzen. So muß die berühmte Formulierung aus dem Kommunistischen Manifest, die "Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei..." sowohl als eine grundsätzliche Aussage über den politischen Charakter des Klassenkamp­fes als auch als Ausdruck der Notwendigkeit einer politischen Partei des Proletariats wie auch der Unreife der Bewegung verstanden werden, die noch nicht zu einer klaren Definition der Partei als ein Teil der Klasse gelangt war.
Der gleiche Mangel an Klarheit machte sich zwangsläufig in den Auffassungen der Marxisten über die Auf­gaben der Partei in der proletarischen Revolution bemerkbar.
"Obgleich die Revolutionäre in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Schlachtruf der I. Internationalen: 'Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Ar­beiter selbst sein' aufgriffen, neigten sie dazu, die Eroberung der Macht durch das Proletariat mit der Über­nahme der Macht durch die proletarische Partei gleichzu­setzen. Die einzigen Beispiele von Revolutionen, die ihnen für ihre Untersuchung zur Verfügung standen, waren bürgerliche Revolutionen; Revolutionen, in denen die Macht einer politischen Partei übertragen werden konnte. Solange die Arbeiterklasse nicht ihre eigenen Er­fahrung gemacht hatte, konnten sich die Revolutionäre noch nicht sehr klar über diese Frage sein" ("Die gegenwärtigen Aufgaben der Revolutionäre", aus REVOLUTION INTERNATIONALE, Organ der IKS in Frankreich, Nr. 27).
Das ideologische Erbe der bürgerlichen Revolution wurde durch die allgemeinen Bedingungen verstärkt, unter denen der Klassenkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand. Nach dem Ende der auf­ständischen Kämpfe in den 1840er Jahren (die es Marx ermöglicht hatten, den kommunistischen Charakter der Arbeiterklasse und die enge Verbindung zwischen ihren "ökonomischen" und ihren "politischen" Kämpfen zu verstehen) trat die Arbeiterbewegung in eine lange Periode des Kampfes um Reformen inner­halb des kapitalistischen Systems ein. Diese Periode institutionalisierte mehr oder weniger die Trennung zwischen den ökonomischen und politischen Aspekten des Klassenkampfes. Insbesondere in der Zeit der Zweiten Internationalen wurde diese Trennung in den ver­schiedenen Massenorganisationen der Klasse kodifiziert: Die Gewerkschaften wurden als die Organe, die die ökonomischen Kämpfe der Klasse anführen, und die Partei als das Organ der politischen Kämpfe definiert.
Ob dieser politische Kampf nun unmittelbar demokratische Reformen anstrebte oder ober er langfristig die politische Macht der Arbeiterklasse anvisierte - er fand im wesentlichen auf der Ebene des Parlaments statt, diesem Terrain par excellence für die bürgerliche Po­litik. Die Arbeiterparteien, die auf diesem Terrain kämpf­ten, wurden unweigerlich von seinen Anmaßungen und Arbeitsmethoden durchtränkt.
Die parlamentarische Demokratie bedeutet, daß die Auto­rität in die Hände eines Körpers von Regierungs- und Parteispezialisten gelegt wird, deren Daseinsgrund im Streben nach eigener Macht besteht. In der bürgerlichen Gesellschaft, der Gesellschaft der "egoistischen Menschen, (der) vom Menschen und vom Gemeinwesen ge­trennten Menschen" (Marx, "Zur Judenfrage"), kann die politische Macht nur die Form der Macht über die In­dividuen und die Gemeinschaft hinaus annehmen. So wie der "Staat der Mittler zwischen dem Menschen und der Frei­heit der Menschen ist" (ebenda), so muß es in solch einer Gesellschaft einen Vermittler geben zwischen dem "Volk" und seiner eigenen Regie­rungsmacht.Die atomisierte Masse, die in den bürgerlichen Wahlen zur Wahlurne geht, findet lediglich den Anschein kollekti­ver Interessen und Führung durch das Medium einer politischen Partei vor, die die Massen repräsentiert, gerade weil diese sich selbst nicht repräsentieren können. Obgleich die Internationalistische  Kommunistische Partei aus Italien (BATTAGLIA COMUNISTA) nicht fähig ist, alle notwendigen Konsequenzen daraus für ihre Praxis zu ziehen, drückte sie diese Wirklichkeit der bürgerlichen Repräsentierung sehr gut aus:
Der bürgerliche Staat basierte auf "jenes fiktive und hinterlistige Merkmal einer Delegierung der Macht, einer Repräsentation durch die Vermittlung eines Abgeordneten, des Wahlzettels oder durch eine Partei. Delegierung bedeutet faktisch den Verzicht auf die Möglichkeit der direkten Aktion. Die vorgetäuschte 'Souveränität' der demokratischen Rechte ist nichts anderes als eine Entsagung, und in den meisten Fällen ist es eine Entsagung zugunsten eines Gauners." ("Proletarische Diktatur und Klassenpartei", aus: "Texte der Internationalen Kommunistischen Partei", S. 44)
Die proletarische Revolution schafft diese Art Repräsen­tierung ab, die in der Tat eine Art von Entsagung ist. Die Revolution einer Klasse, die organisch durch untrennbare Klasseninteressen vereinigt ist, bietet die Möglichkeit, daß der Mensch "seine 'forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und or­ganisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt" ("Zur Judenfrage"). Die Praxis des proletarischen Kampfes neigt dazu, die Trennung zwischen Denken und Handeln, zwischen Führenden und Ausführenden, zwischen gesellschaftlichen Kräften und politischer Macht zu beseitigen. Die proletarische Revolution benötigt somit keine permanente, spezialisierte Elite, die die gestaltlosen Massen "repräsentiert" und deren Aufgaben in deren Namen ausführt. Die Pariser Kommune, das erste Beispiel einer proletarischen Dik­tatur, begann diese Realität zu beleuchten, indem sie praktische Maßnahmen ergriff, um die Trennung zwi­schen den Massen und der politischen Macht aufzuheben: Abschaffung der parlamentarischen Trennung zwischen Le­gislative und Exekutive; Sicherstellung, daß alle Abgeordneten jederzeit gewählt und abgewählt werden können; Auflösung der Polizei und des stehenden Heeres. Aber die Erfahrung der Kommune kam verfrüht, war zu kurzle­big, um all die bürgerlichen demokratischen Auffassun­gen über den Staat und die Rolle der Partei aus dem Programm der Arbeiterbewegung zu eliminieren. Die Kommune zeigte, daß auch ohne eine kommunistische Partei an ihrer Spitze die Arbeiterklasse den Kampf auf das Niveau der politischen Machtergreifung heben kann; doch das rückgratlose Lavieren der proletarischen und kleinbürgerlichen Parteien, die den Aufstand anführten, bestä­tigte auch, daß die proletarische Revolution ohne die aktive Präsenz einer realen kommunistischen Partei von Anfang an verkrüppelt ist. Jedoch blieb das genauere Ver­hältnis, das solch eine Partei zum Kommune-Staat haben sollte, eine offene Frage.
Wichtiger ist vielleicht die Tatsache, daß die Erfahrung der Kommune den Illusionen der Revolutionäre über die demokratische Republik kein Ende setzte. 1917 schrieb Le­nin, daß die Kommune das Ergebnis einer Revolution gewesen sei, die den alten bürgerlichen Staat an Haupt und Gliedern zerschlagen habe. Aber im letzten Viertel des 19. Jahrhun­derts und zu Anfang dieses Jahrhunderts neigten die Mar­xisten dazu, sie als ein Modell des Kampfes der Ar­beiter um die Kontrolle über die demokratischen Republik zu verstehen, die die schlechtesten Eigenschaften "los geworden" sei und sich zu einem Instrument der proletarischen Macht gewandelt habe.
"Der internationale Sozialismus geht davon aus, daß die Republik die einzig mögliche Form der sozialistischen Befreiung ist - unter dieser Bedingung entreißt das Proletariat sie aus den Händen der Bourgeoisie und verwandelt sie von einer 'Maschinerie zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere' in eine Waffe für die sozialistische Befreiung der Menschheit." (Trotzki, "35 Jahre nach 1871-1906", veröffentlicht in: "L. Trotzki über die Pariser Kommune", Pathfinder Press)
Und in mancherlei Hinsicht behielt die Kommune, die auf territorialen, repräsentativen Einheiten, auf dem all­gemeinen Wahlrecht ruhte, viele Eigenschaften des bürgerlichen demokratischen Staates bei. Von daher ermöglichte sie es der Arbeiterbewegung nicht, über die Vorstellung hinauszugehen, daß die Macht des Proletariats durch eine Partei vermittelt wird. Die­ses Problem wurde erst durch das Auftauchen der Arbei­terräte am Ende der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs gelöst. In den Räten war die Klasse als Klasse organisiert; sie war in der Lage, ihre wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aufgaben zu vereinen, bewußt und ohne Vermittler zu entscheiden und zu handeln. Das Auftauchen der Räte ermöglichte es den Revolutionären, endgültig mit der Idee zu brechen, daß die demokratische Republik eine Staatsform ist, die irgendwie vom Pro­letariat benutzt werden kann. In Wirklichkeit war die demokratische Republik die letzte und heimtückisch­ste Schranke gegen die proletarische Revolution. Aber auch wenn die Revolutionäre 1917 imstande waren, sich all der parlamentarischen Illusionen in der Frage des Staates zu entledigen, lasteten die fortdauernden alten Gewohnheiten immer noch schwer auf ihrer Parteikonzeption.ENDE
Wir haben gesehen, daß in der sozialdemokratischen Weltanschauung die ökonomischen Kämpfe der Klasse von den Gewerkschaften ausgetragen werden, die politischen Kämpfe - bis hin zum Kampf um die Macht - von der Partei. Gerade weil es sich um eine Frage der "Eroberung" der bürgerlichen Staatsmacht handelte, existierte die Idee von politischen Massenorganen der Revolution der Arbeiterklasse nicht. Das einzige politische Organ des Proletariats war die Partei. Dem Staat wurde nur in dem Maße eine proletarische Funktion zugesprochen, wie er von der Partei des Proletariats kontrolliert wurde. Somit war es unvermeidbar, daß der Aufstand und die Machtergreifung von der Partei organisiert werden; kein anderes Organ konnte die Klasse auf politischer Ebene vereinen und mobilisieren. In der Theorie mußte daher die Partei zu einer Massenpartei werden, zu einer riesigen disziplinierten Armee, um ihre revolutionären Aufgaben auszuführen. In der Praxis dagegen spielte die Massenbasis der Partei eine Rolle in ihrem Kampf um Reformen und nicht für die Revolution. Das sozialdemokratische Modell der Revolution wurde und konnte nie in die Praxis umgesetzt werden. Doch seine Bedeutung lag in dem ideologischen Vermächtnis, das es den Revolutionären vermachte, die in den Schulen der Sozialdemokratie großgezogen worden waren. Und jenes Vermächtnis konnte nur ein substitutionistisches sein: auch wenn die Revolution von einer Massenpartei verwirklicht werden sollte, handelte es sich immer noch um eine Auffassung, die der Partei Aufgaben zuteilte, welche nur von der ganzen Klasse erfüllt werden konnten.
Sicherlich rührten diese Auffassungen nicht von irgend­einer moralischen Schwäche der Sozialdemokratie her. Die Vorstellung, daß die Partei im Namen der Klasse han­delt, war das Ergebnis der Praxis der Arbeiter­bewegung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus und  tief verwurzelt in der gesamten Klasse. In dieser Zeit konnten die Tageskämpfe der Klasse für Reformen sowohl auf ökonomischer als auch auf politischer Ebene zu einem großen Maße den ständigen "Repräsentanten", den Verhandlungsspeziali­sten der Gewerkschaften und den parlamentarischen Spre­chern anvertraut werden. Aber die Praxis und die Auffassungen, die in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus möglich waren, wurden beim Eintritt in die  Dekadenzphase, als die Epoche der Reformkämpfe zu Ende ging, unmöglich und reaktionär. Die revolutionären Aufgaben, vor denen das Proletariat heute steht, beinhalten ganz andere Methoden des Kampfes.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten Revolutio­näre wie Lenin, Trotzki, Pannekoek und Luxemburg das Verhältnis zwischen der Partei und der Klasse im Lichte der sich umwälzenden historischen Bedingungen und der Massenkämpfe zu klären, die diese insbesondere in Russland hervorbrachten. Wenn wir ihren reichen, aber oftmals widersprüchlichen Beiträgen die profundesten Gesichts­punkte entnehmen, können wir die Entwicklung ei­nes Bewußtseins erkennen, daß die sozialdemokratische Massenpartei nur für den Zeitraum der Kämpfe um Reformen geeignet war. Lenin erkannte am klarsten, daß die re­volutionäre Partei nur eine straff organisierte und gut ausgewählte kommunistische Avantgarde sein kann. Und namentlich Luxemburg hatte begriffen, daß die Aufgabe der Partei nicht in der "Organisierung" der Kämpfe der Klasse lag. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß der Kampf spontan ausbricht und die Klasse dazu zwingt, vom Teilkampf zum allgemeinen Kampf überzugehen. Die Organisation des Kampfes erwuchs aus dem Kampf selbst und erfaßte die gesamte Klasse. Die Rolle der kommunistischen Avant­garde innerhalb dieser Massenkämpfe war keine organisatorische in dem Sinne, daß sie der Klasse eine vorfabrizierte Organisationsstruk­tur für den Kampf liefert.
"Statt sich mit der technischen Seite, mit dem Mecha­nismus der Massenstreiks fremden Kopf zu zerbrechen, ist die Sozialdemokratie berufen, die politische Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu über­nehmen." (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke , Bd. 2, "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften", S. 133)
Mit anderen Worten, die Aufgabe der Partei bestand darin, in diesen spontanen Kämpfen aktiv mitzuwirken, um sie so bewußt und organisiert wie möglich zu gestalten; um die Aufgaben aufzuzeigen, die die gesamte Klasse, die in ihren Einheitsorganen organisiert ist, selbst erfüllen muß.
Aber es wäre unmöglich gewesen, daß all diese Konsequenzen von den damaligen Revolutionären sofort vollständig begriffen worden wären. Und hier kehren wir wieder zum Problem des Substitutionismus zurück. Das Fortbestehen von sozialdemokratischen Auffassungen nicht nur in der Klasse als Ganzes, sondern auch in Köpfen der besten Revolutionäre, der Mangel an tatsächlicher Erfahrung darin, was es in Wirklichkeit bedeutete, wenn die Arbeiterklasse die Macht ergreift, sollte zu einer schweren Hypothek für die Klasse werden, als sie sich in die revolutionäre Konfrontation von 1917-23 stürzte.
Die Überreste der sozialdemokratischen Ideologie können z.B. in der offiziellen Position der Kommunisten Internationalen zur Gewerkschaftsfrage gesehen werden. Im Gegensatz zur deutschen Linken, die zu erkennen begannen, daß der gewerkschaftliche Kampf in der Epoche der Dekadenz unmöglich geworden ist, blieb die KI immer noch der Idee von der Partei als dem Organisator der defensiven Kämpfe der Klasse verhaftet; die Gewerkschaften wurden als notwendige Brückenköpfe zwischen Partei und Klasse betrachtet. Somit konnte die KI die Bedeutung der autonomen Organe nicht begreifen, die die Massen während des Kampfes außerhalb und gegen die Gewerkschaften schufen.
Wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch, aufzuzeigen wie die alten Denkmuster das Verhältnis zwischen Partei und Räten im Verständnis der KI dominierten. Nachdem auf ihrem Ersten Kongreß Lenins "Thesen über bürgerliche Demokratie und der proletarischen Diktatur", wie "Staat und Revolution", noch ihre ganze Betonung auf die Sowjets als Organe der direkten proletarischen Herrschaft gelegt hatten, machten sich die Auswirkungen der Niederlage, die die Klasse 1919 hatte hinnehmen müssen, auf dem 2. Kongreß schon bemerkbar: Nun wurde das Schwergewicht von den Sowjets auf die Partei verlagert. Die KI-"Thesen über die Rolle der kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution" stellten ausdrücklich fest: "Die politische Macht kann eben nur durch die politische Partei erobert, organisiert und geleitet werden".
Diese Auffassung wurde mehr oder weniger von allen Strömungen der Arbeiterbewegung bis 1920 geteilt. Alle, Luxemburg eingeschlossen, die die Idee der "Diktatur der Partei" kritisierte, vertraten eine halb-parlamentarische Auffassung, wonach die Sowjets eine Partei an die Macht wählen. Nur die deutsche Linke begann sich von dieser Idee zu lösen; allerdings entwickelte sie nur eine Teilkritik, die schnell zu einem rein rätekommunistischen Standpunkt degenerierte. Doch wenn man behauptet, die politische Macht des Proletariats könne nur durch eine Partei ausgedrückt werden, sagt man, daß die Sowjets selbst unfähig sind, die Macht auszuüben. Es heißt, die Partei bei den wichtigsten Aufgaben an die Stelle der Sowjets zu setzen und sie somit ihres realen Inhalts zu entleeren.
1917 waren diese Fragen nicht besonders dringend gewe­sen. Wenn die Klasse sich in größerem Maße in Bewegung befindet, ist das Problem des Substitutionismus nicht besonders akut. In solchen Momenten ist es für die Partei unmöglich, sich um die "Organisierung" des Kampfes zu kümmern: Der Kampf ist bereits im Gange, die Organisationen des Kampfes sind bereits vorhanden. Das Problem für die Partei besteht darin, wie sie eine wirk­liche politische Präsenz innerhalb dieser Organisatio­nen etablieren und einen direkten Einfluß auf sie ausüben kann. Somit gehen jene, die fragen: "Hat sich die bolschewistische Partei  im Oktober  1917 an die Stelle der Klasse gesetzt?“, am Punkt vorbei. Nein, es gab keinen Substitutionismus in der Oktober-Erhebung. Der Aufstand wurde nicht von der bolschewistischen Partei organisiert oder ausgeführt, sondern von dem revolutionären Militärkomitee des Petrograder Sowjets unter der politischen Führung der bolschewistischen Partei. Jene, die denken, daß es sich um eine rein formale Unterscheidung handelt, sollten Trotzkis "Geschichte der Russischen Revolution" nachlesen, wo er die politische Bedeutung unterstreicht, die die Bolschewiki der Tatsache beimaßen, daß die Erhebung im Namen des Sowjets - dem Massenorgan der Klasse - durchgeführt wurde und nicht im Namen der kommunistischen Avantgarde. Es ist richtig, daß, wenn die Klasse vorwärts schreitet, das Verhältnis zwischen der Partei und den Massenorganen sehr eng und harmonisch ist, aber das ist kein Grund, den Unterschied zwischen der Partei und den Einheitsorganen zu verwischen. In der Tat kann solch eine Verwechslung der Rollen später fatale Auswirkungen haben, wenn die Klassenbewegung zurückweicht. So nahm das Problem des Substitutionismus in der Russischen Revolution sein volles Ausmaß erst nach der Machtübernahme an: in der Organisierung des Sowjet-Staates und während des Bürgerkriegs und der Isolierung der Revolution sowie den damit verbundenen Schwie­rigkeiten. Aber obgleich die objektiven Schwierigkeiten, vor denen die Russische Revolution und die Bolschewiki standen, die tieferliegende Erklärung für den Grund lieferten, weshalb sich die Bolschewiki schließlich an die Stelle der Arbeiterräte setzten und auf der Seite der Konterrevolution endeten, dürfen wir die Analyse hier nicht beenden. Andernfalls können wir keine Lehren aus der russischen Erfahrung ziehen, außer der offensichtlichen Tatsache, daß die Konterrevolution durch die ... Konterrevolution verursacht wird. Wenn die Revolutionäre die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen wollen, dann müssen wir untersuchen, wie die politischen Konfusionen der bolschewistischen Partei die Degeneration der Revolution und ihen eigenen Übergang ins Lager des Kapitals beschleunigten. Insbesonde­re müssen wir aufzeigen, warum die Konfusionen der Bolschewiki über das Verhältnis zwischen Par­tei, Klasse und Staat zu einer Situation führten, in der:              
-  die bolschewistische Partei fast unmittel­bar nachdem sie zur Regierungspartei geworden war und lange bevor die Massen der russischen Arbeiter vom Bürgerkrieg zerstreut und dezimiert worden waren und die internationale revolutionäre Welle abgeklungen und niedergeschlagen war, mit den Einheitsorganen der Klasse in Konflikt geriet;             
-  es die Partei, der am weitesten fortgeschrittene Ausdruck des russischen Proletariats, war, die zur Vorhut der Konterrevolution wurde. Dies zerstörte die Partei von innen heraus und führte zu der monströsen Geburt des Stalinismus; ein historischer Verrat, der mehr als jeder andere Verrat durch eine proletarische Or­ganisation die Arbeiterbewegung desorientierte.
Wenn wir vermeiden wollen, diese Tatsachen zu erklären, indem wir uns auf die naiven Theorien der Libertären zurückziehen ("Die Bolschewiki taten dies, weil sie autoritär waren", "Alle Parteien trachten nach der Macht", "Macht korrumpiert", etc), dann müssen wir die Probleme der Partei, der Räte und des Staates in der proletarischen Revolu­tion etwas näher untersuchen.


PARTEI UND RÄTE
Aus der Sicht mancher rätekommunistischer Strömungen ist der Interessengegensatz zwischen revolutionären politischen Organisationen und den Einheitsorganen der Klasse so groß, daß sie die Auflösung aller politischen Gruppen befürworten, sobald die Räte auftauchen. Oder sie haben Angst davor, von der Existenz einer Partei oder Parteien innerhalb der Räte zu sprechen, werden sie doch von der bürgerlichen Sichtweise heimgesucht, daß die Partei nichts anderes ist als ein Spezialistenkorps ist, dessen alleinige Funktion es ist, sich selbst an die Macht zu manövrieren. Für diese Strömungen haben sich politische Gruppierungen und Parteien irgendeine Ursünde zuschulden kommen lassen, die sie unweigerlich dazu bringt, Verrat an der Klasse zu begehen und deren Kampforgane zu manipulieren oder zu übernehmen. Wir brauchen kaum darauf eingehen, wie kindisch diese Auffassung ist und wie sehr sie die Autonomie der Klasse trifft. Die tragische Erfahrung der deutschen Revolution führte die Kommunistische Internationale zu folgender richtigen Schlussfolgerung:
"... die Existenz einer starken Kommunistischen Partei notwendig ist, die sich nicht einfach den Räten 'anpassen', sondern imstande sein muß, ihre Politik entsprechend zu beeinflussen; sie zu veranlassen, sich von der 'Anpas­sung' an die Bourgeoisie und die weiße Sozialdemokratie loszusagen" ("Leitsätze über die Rolle der kommunisti­schen Partei in der proletarischen Revolution" , II. Kongreß der Komintern im Juli 1920).
Doch das Beharren auf der Notwendigkeit, daß die Partei in den Räten intervenieren und all ihren Handlungen eine klare politische Orientierung geben muß, darf uns nicht dazu verleiten, die Erfahrungen aus der Ver­gangenheit zu ignorieren, insbesondere nicht die Erfahrungen aus der Russischen Revolution, und vorzutäu­schen, als gebe es keine Probleme im Verhältnis zwischen Partei und Räte, als sei die Gefahr der Ersetzung der Räte durch die Partei nur eine rätekommunistische Neu­rose. Tatsächlich konnten die Abweichungen des Räte­kommunismus nur solche Ausmaße annehmen, weil sie eine falsche Lösung für ein reales Problem waren.
Nach all den hitzigen Debatten, die in der revolutionä­ren Bewegung in den letzten fünfzig Jahren stattgefunden haben, ist es eher traurig zu sehen, wie eine Gruppe wie die CWO das ganze Problem mit einem spitzfindigen Argument zu vertuschen versucht. Laut CWO:
-  muß die Partei, damit eine revolutionäre Eroberung der Macht stattfinden kann, über eine Mehrheit der Delegierten in den Arbeiterräten verfügen. Andernfalls müßte man behaup­ten, daß "die Revolution erfolgreich sein könnte, auch wenn die Mehrheit der Klasse sich der Notwendigkeit des Kom­munismus nicht bewußt ist oder die Mehrheit der Delegierten in den Räten nicht kommunistisch ist" (Internationale Revue, Nr. 12, S. 24/ engl. Ausgabe).
-  ist die Partei, da sie die Mehrheit der Delegierte besitzt, faktisch an der Macht.
Hier haben wir's! Diese Logik ist makellos, aber sie ruht auf völlig falschen Prämissen. Erstens: sie enthüllt eine absurde formalistische und demokratistische Auffassung vom Klassenbewußtsein. Zweifellos ist die Entwicklung einer ausschlaggebenden Präsenz und eines entscheidenden Einflusses von kommunistischen Parteimilitanten in den Räten eine not­wendige Vorbedingung für den Erfolg der Revolution. Aber diesen Einfluß nur in Begriffen einer statistischen Mehr­heit der Delegierten zu definieren, ist absurd: Ein Rat könnte leicht für revolutionäre Positionen gewonnen werden, wenn nur eine Minderheit der Delegierten Par­teimitglied wäre. Die CWO scheint jedoch davon auszugehen, daß nur die Mitglieder der Partei zu revolutionärem Denken und Handeln fähig sind. Die anderen Delegierten in den Räten, ob Mitglieder anderer politischer Strömungen oder "unab­hängige" Arbeiter, werden als gänzlich unbewußt dargestellt, die von der bürgerlichen Ideologie vereinahmt sind. In Wirk­lichkeit entwickelt sich das Klassenbewußtsein nicht nach diesem sterilen Schema. Die Entwicklung dieses revolutio­nären Bewußtseins in der Klasse bedeutet nicht, daß eine bewußte Partei eine unbewußte Klasse dirigiert. Sie bedeutet, daß die gesamte Klasse, durch ihren Kampf, durch Massen­aktionen sich auf kommunistische Positionen zubewegt, wobei die Partei die Richtung aufzeigt, die die gesamte Klasse bereits zu folgen beginnt. In einer revolutionären Situation entwickelt sich das Klassenbewußtsein mit großer Geschwindigkeit, und die Dynamik der Bewegung führt viele Arbeiter dazu, Positionen zu vertreten, die ihrer formalen "Parteizugehörigkeit" weit voraus sind. Im Grunde zeigt bereits allein die Bildung der Arbeiterräte, auch wenn sie in sich selbst nicht ausreicht, um die Revolution auszuführen, daß der Klasse bereits ein revolutionäres Ausmaß an Aktivitäten aufgezwungen wurde. Wie die KAPD in ihren "Leitsätzen über die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution" (1921) schrieb:
"Die politischen Arbeiterräte (Sowjets) sind die hi­storisch gegebene breite Organisationsform der prole­tarischen Herrschaft und Verwaltung: sie tauchen jeweils auf bei Zuspitzung des Klassenkampfes zum Kampf um die ganze Macht."
In der proletarischen Bewegung kann es keine Trennung zwischen Bewußtsein und Organisation geben. Ein bestimm­tes Niveau von Selbstorganisation setzt ein bestimmtes Niveau von Klassenbewußtsein voraus. Die Räte sind nicht bloße Formen, in die die Partei einen revolutionären Inhalt hineingießt; sie sind selbst Pro­dukte eines entstehenden revolutionären Bewußtseins in der Klasse. Die Partei flößt dieses Bewußtsein nicht ein; sie entwickelt und verallgemeinert es bis zu seinem höchsten Potential.
Im Wissen um die Komplexität und Reichhaltigkeit des Prozesses, durch den die Klasse bewußt wird, kann die revolutionäre Avantgarde (gleichgültig, ob wir über die Partei oder über eine breitere Vorhut der Delegierten der zentralen Räteorgane sprechen) nie durch rein statistische Mittel das ganze Ausmaß der kommunistischen Massenbewegung ermessen, und sie kann ihre Handlungskriterien sicherlich nicht auf die Mechanismen einer formalen Abstimmung begrenzen. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre über die Russische Revolution schrieb:
"... haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der 'Mehrheit des Volkes' gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinimus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit aus der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: Zuerst werben wir eine 'Mehrheit'. Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamenta­rische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: Nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg." (R. Lu­xemburg, "Zur Russischen Revolution", Ges. Werke, Bd. 4, S. 341)
Die zweite falsche Prämisse des Argumentes der CWO lautet, daß das Gewinnen einer Mehrheit der Delegierten in den Räten gleichbedeutend mit der an der Macht befindlichen Partei ist. Dies war die große Konfusion der gesamten Arbeiterbewegung zur Zeit der russischen Revolution und sollte die schädlichsten Folgen haben. Heute kann solch eine Auffassung nicht mehr entschuldigt werden. REVOLUTION INTERNATIONALE (Sektion der IKS in Frankreich) schrieb 1969:­
"Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, daß in be­stimmten Augenblicken des Kampfes ein oder mehrere Rä­te mit den Positionen dieser oder jener revolutionären Organisation voll übereinstimmen. Dies bedeutet schlicht, daß zu einem beliebigen Zeitpunkt die jeweilige Gruppe vollkommen dem Bewußtseinsgrad des Proletariats ent­spricht; es heißt keinesfalls, daß die Räte ihre Macht dem 'Zentralkomitee' dieser Gruppe zu überlassen hätten. Es kann sogar sein, daß die Delegierten, die vom Rat gewählt werden, allesamt Mitglieder jener Gruppe sind. Das ist un­wichtig und heißt nicht, daß der Rat sich in einer untergeordneten Stellung gegenüber dieser Gruppe befindet, so lange der Rat seine Macht bewahrt, seine Dele­gierte abzuwählen." (Nr. 3, alte Serie, "Über die Organisation")
Dies ist kein demokratischer Formalismus, sondern eine lebenswichtige Frage, die vom tollen Schema der CWO nicht beantwortet wird. Die wirkliche Frage lautet: Wer trifft die Entscheidungen? Sind die Dele­gierte der Räte zu jeder Zeit abwählbar oder nur bis zur "Machtergreifung durch die Partei" ? Sind Wahl und die Abwahl der Delegierten nur ein Mittel für die Partei, um an die Macht zu gelangen - und können danach verdrängt werden - oder gehorchen sie nicht einem tieferen Bedürfnis im Proletariat? Und eine andere Frage, die von der CWO außer Acht gelassen wird, die für die Bordigisten aber offensichtlich ist, die nicht vorgeben, daß sie den demokratischen Regeln der Räte treu bleiben werden: Wenn die Partei eine Weltpartei ist, wie dies in der nächsten revolutionären Welle der Fall sein wird, bedeutet dann nicht die An­nahme der Macht durch die Partei selbst in einem einzigen Land, daß sich die Macht in den Händen des zen­tralen Organs der Weltpartei befinden muß? Und wie sollen die Arbeiter in einer Bastion ihre Kon­trolle über ein Organ aufrechterhalten, das auf Weltebene organisiert ist?
In Wirklichkeit kann man nicht gleichzeitig für die Macht der Partei und für die Macht der Räte sein. Wie wir an anderer Stelle gesehen haben, ist die Delegierung der Macht an eine Partei in bürgerlichen Parlamenten un­vermeidbar, wo die Wähler einen Apparat "wählen", der in einem gegebenen Zeitraum über sie herrscht. Ein solches Schema steht jedoch im totalen Widerspruch zur Funktionsweise der Räte, die die Trennung zwischen den Massen und ihrer politischen Macht, zwischen Legislative und Exekutive, zwischen "Regierung" und "Regierten" aufzuheben trachten. Die auf der Klasse beruhende, kollektive Struktur der Räte, ihre Mechanismen der Wahl und Abwahl ermöglichen es, daß die Macht, Entscheidungen zu treffen und auszuführen, zu jeder Zeit in den Händen der Massen bleibt. Die Delegierten, die der Partei angehö­ren, werden ihre politische Zugehörigkeit nicht verheimlichen: Gewiß werden sie aktiv die Positionen ihrer Organisation vertreten, aber das ändert nichts an der Tat­sache, daß sie von den Vollversammlungen oder den Räten ge­wählt werden, um die Entscheidungen dieser Versammlun­gen und Räte auszuführen, und daß sie abgewählt werden, wenn sie dies nicht tun. Selbst wenn eine große Harmonie zwischen den Positionen der Partei und den Entscheidun­gen der Räte herrscht, bedeutet das nicht, daß die Macht an die Partei delegiert wird. Die Macht zu delegieren bedeutet - wenn es überhaupt etwas bedeutet - die Delegierung der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und sie einem Apparat aufzuzwingen, der sich nicht mit den Räteorganen deckt und deshalb nicht unter ihrer Kontrolle bleiben kann. Sobald die Macht der Räte wirklich einer Partei übertragen wird, verlie­ren Wahlen und Abwählbarkeit ihren Sinn. Posten mit größter Verantwortung könnten von der Partei ernannt werden; wichtige Entscheidungen könnten ohne jegliche Berücksichtigung der Räte getrof­fen werden. Allmählich würden die Räte aufhören, im Fokus des Lebens der Revolution zu stehen, und in bloße Abnicker der Parteientscheidungen verwandelt werden.
Es ist wichtig, auf diesen Punkt zu bestehen, nicht weil wir aus demokratischen Formen einen Fetisch machten; wie wir schon gesagt haben, kann Klassenbewußtsein nicht an Stimmen allein gemessen werden. Doch dies ändert nichts an der Tatsache, daß die Räte nicht in der Lage sein werden, ihre grundlegende politische Rolle als lebendige Zentren der revolutionären Klärung und Handlung für die ganze Klasse auszuüben, wenn sie nicht ihre "demokratischen" Mechanismen erhalten (Wahl und Abwahl, kollektive Entscheidungs­findung usw.). Die demokratischen Formen sind unabding­bar, weil sie die Klasse dazu befähigen, selbst zu den­ken, zu entscheiden und zu handeln. Wenn der Sozialis­mus die selbstbewußte Kontrolle der Produzenten über ihr eigenes Schicksal ist, dann kann nur eine aktive und selbstbewußte Arbeiterklasse das sozialistische Projekt durchführen.
Einige Leute mögen einwenden, die offene Demokratie der Räte sei keine Garantie dafür, daß Letztere auf  revolutio­näre Manier handeln werden. Dies trifft selbstverständlich zu; genau diese Offenheit macht die Räte "offen" gegenüber dem Einfluß bürgerlicher Organisationen und der bürgerlichen Ideologie. Aber solche Einflüsse können durch kein Parteidekret aus­geschaltet werden: Die Partei kann ihnen nur ent­gegentreten, indem sie sie vor der Klasse bloßstellt, indem sie demonstriert, wie sie die wirklichen Bedürfnisse des Kampfes blockieren. Wenn die Arbeitermassen den Unterschied zwi­schen revolutionären und konterrevolutionären Positionen völlig verstehen sollen, dann können sie dies nur selbst herausfinden, indem sie die Konsequenzen ihrer Handlungen und Entscheidungen begreifen. Das Festhalten der Räte an der Entscheidungsbefugnis ist eine notwendige, jedoch nicht ausreichende Voraussetzung für die Entwicklung eines kommunistischen Bewußtseins. Andererseits kann, wie die Erfahrung der Russischen Revolution bestätigt, die Kontrolle der besten Partei der Welt über ein passives, gebändigtes Sowjetsystem nur gegen die Entwicklung dieses Bewußtseins arbeiten.  
Nun, im Gegensatz zu den Behauptungen der Rätekommunisten spielte sich der Prozeß, in dem die Entscheidungsbefug­nis von den Räten auf die Bolschewisten überging, nicht von heute auf morgen ab und war sicherlich nicht das Er­gebnis systematischer Bemühungen der Bolschewi­sten, die Macht der Räte zu untergraben. Die Theoretisie­rung der "Diktatur der Partei" durch Elemente wie Sinowjew und Trotzki setzte erst ein, nachdem der Bür­gerkrieg und die Zerstörungen durch die imperia­listische Blockade die Arbeiterklasse dezimiert und die materiellen Grundlagen der Aktivitäten der Sowjets ausgelaugt hatten. Zuvor (und im Grunde bis zum Ende seines Lebens) bestand Lenin unentwegt auf der Notwendigkeit, die Sowjets zu regenerieren und wieder an die zentrale Stelle zu rücken, die sie zu Beginn der Revolution besetzt hatten. Es wäre allerdings ein Fehler, davon auszuge­hen, daß die irrigen Auffassungen der Bolschewiki kei­ne Rolle in dem Prozeß gespielt haben, in dessen Verlauf die Par­tei an die Stelle der Räte trat; daß der Verlust an Macht und Einfluß der Räte ein rein automatisches Ergebnis der Iso­lierung der Revolution gewesen war. In Wirklichkeit begann die Umwandlung der bolschewistischen Partei in eine Regierungspartei, die Delegierung der Macht an die Partei die eigentliche Macht der Räte sofort zu schwächen. Ab 1917 wurden immer mehr Exekutivposten und -kommissionen von der Partei eingerichtet, die immer weniger Bezug zu den Räteversammlungen hatten. Sowjet-Delegierte wurden von der Partei, statt von den Sowjet-Organen, abgesetzt oder ernannt. Einheits­organe wie die Fabrikkomitees wurden von den Gewerkschaften, den Organen des Parteistaates, absorbiert; die Arbeitermili­zen wurden auf ähnliche Weise in die Rote Armee eingeglie­dert. All dies begann, bevor die großen Arbeiterkonzentrationen durch den Bürgerkrieg aufgebrochen wurden. Es geht hier nicht darum, einen Katalog der Fehler der Bolsche­wiki in dieser Frage aufzustellen, sondern darum, zu zeigen, wie ihre politischen Positionen, ihre Parteiauffassung die Tendenz beschleunigten, durch die die Einheitsorgane der Klasse dem Verwaltungs- und Unterdrüc­kungsapparat des Staates unterworfen wurden. Die politi­sche Rechtfertigung für diesen Prozeß werden in einer Stellungnahme Trotzkis aus dem Jahre 1920 deutlich:
"Heute haben wir von der polnischen Regierung Friedensvor­schläge erhalten. Wer entschied diese Frage? Da ist Sow­narkom, aber sie muß einer bestimmten Kontrolle unterwor­fen werden. Welcher Kontrolle? Der Kontrolle der Arbei­terklasse als einer formlosen, chaotischen Masse? Nein! Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ist zusam­mengerufen worden, um die Vorschläge zu diskutieren und zu entscheiden, ob darauf geantwortet werden soll. Das gleiche gilt für die Agrar- und Lebensmittelfragen wie für alle anderen Fragen." (Rede auf dem 2. Kongreß der Komintern)
Dieser Einstellung liegt die alte sozialdemokratische Idee zugrunde, daß der Staat automatisch im Interesse des Proletariats gelenkt wird, wenn die proletarische Partei erst die Staatsmacht übernommen hat. Die Klasse "vertraut" ihre Macht der Partei an, und das Bedürfnis der Sowjets, die eigent­lichen Entscheidungen zu treffen, wird aus der Welt geschafft. In Wirklichkeit konnte dies nur ein Verzicht auf die Verantwortlichkeit der Sowjets sein und diese immer unfähiger machen, sich den Tendenzen der Bürokratisierung, die sich so chronisch im Bürgerkrieg entwickel­ten, zu widersetzen. Um hier jegliches Mißverständnis zu vermeiden, wollen wir hier diesen Punkt anders formulieren. Wir sagen keineswegs, daß die Partei nicht versuchen sollte, Unterstützung für ihre Positionen zu gewinnen. Im Gegenteil, es ist für die Partei lebenswich­tig zu versuchen, einen entscheidenden Einfluß in den Rä­ten zu gewinnen. Aber dieser Einfluß kann nur ein politi­scher sein: Die Partei kann in dem Prozeß der Entschei­dungsfindung nur intervenieren, indem sie die Räte von der Richtigkeit ihrer Positionen politisch überzeugt. Statt sich die Entscheidungsbefugnis selbst anzumaßen, muß sie immer und immer wieder darauf bestehen, daß alle wichtigen Entscheidungen, die den Verlauf der Revolution betreffen, in den Räten vollinhaltlich diskutiert und verstanden werden und entsprechend gehandelt wird. Und deshalb ist es vollkommen falsch, von der "Machtübernahme durch die Partei" mit oder ohne formale Mehrheit in den Räten zu sprechen. In der realen Welt ist die Macht nicht eine Frage der Stimmen, sondern eine Frage der Kräfte. Die Partei kann nur "an der Macht" sein, wenn sie die Fähigkeit besitzt, ihre Positionen in der Klasse, im Rätesystem durchzusetzen. Dies beinhaltet, daß die Partei über einen Machtapparat verfügen muß, der von den Räten  getrennt ist. Parteien als solche besitzen im allgemei­nen nicht solch einen Apparat, und die bolschewistische Partei war keine Ausnahme. Tatsächlich bestand die ein­zige Möglichkeit einer Machtübernahme durch die bolsche­wistische Partei darin, sich mit dem Staat zu identifi­zieren. Aus diesem Grund ist es unmöglich, das Problem des Sub­stitutionismus ohne ein korrektes Verständnis des Problems des post-revolutionären Staates zu erfassen.
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir8/1982_parteiraete [2]

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [3]

Partei, Arbeiterräte, Substitutionismus Teil 2

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Für verschiedene Strömungen, die CWO sowie verschie­dene Rätekommunisten eingeschlossen, besteht das Prob­lem des Staates in der Übergangsgesellschaft überhaupt nicht. Der Staat, das sind die Arbeiterräte, und damit hat sich's. Daher ist jegliches Gerede über mögliche Kon­flikte zwischen den Einheitsorganen der Klasse und dem Übergangsstaat vollkommener Unfug. Leider handelt es sich hierbei um eine idealistische Auffassung der Revolution. Als Marxisten dürfen wir unsere Revolutionsauffassung nicht auf dem stützen, was wir wün­schen, sondern darauf, was die historische Notwendig­keit in der Vergangenheit erzwungen hat und was sie auch in der Zukunft erzwingen wird. Das einzige wirkliche Beispiel einer Arbeiterklasse, die die Macht auf Landesebene übernommen hatte - die Russische Revolution -, zwingt uns anzuerkennen, daß eine Gesellschaft im Revolutionsmodus zwangsläufig Formen der staatlichen Organisation hervorbringen wird, die sich nicht nur von den Einheitsorganen der Klasse unterscheiden, sondern die in tiefgreifende und gar gewalttätige Konflikte mit ihnen treten können.
Die unvermeidbare Notwendigkeit, eine Rote Armee, eine Staatspoli­zei, einen Verwaltungsapparates und eine Form der politi­schen Repräsentation für all die nicht-ausbeutenden Klassen und Schichten zu organisieren, ruft eine Staatsmaschinerie ins Leben, die - gleichgültig, ob sie als proletarisch bezeichnet wird oder nicht - nicht einfach mit den Arbei­terräten auf eine Stufe gestellt werden kann. Im Gegensatz zur Auffassung einiger Rätekommunisten schufen die Bolschewiki diese Staatsmaschinerie nicht ex nihilo, um ihre machiavellistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Obgleich wir verstehen müssen, wie die bolschewistische Auffassung über ihre Rolle als Regierungspartei aktiv das Tempo beschleunigte, mit dem der Staatsappa­rat der Kontrolle der Arbeiterräte entwich, gestalteten und passten sie nur ein Staatsorgan an, das schon vor der Oktoberrevolution aufzutauchen begann. Die Kongresse der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte entwickelten sich bereits vor dem Sturz des Kerenski-Regimes zu einer neuen Staatsform . Die Notwendigkeit, die Gesellschaft nach dem Aufstand zu organisieren, konsolidierte diesen Prozeß zum Sowjetstaat. Wie Marx  in seinen "Kritischen Randglossen zu dem Artikel 'Der König von Preußen und die Sozialreform'" schrieb: "Der Staat und die Einrichtung der Gesellschaft sind von dem politischen Standpunkt aus nicht zwei verschiedene Dinge. Der Staat ist die Einrichtung der Gesellschaft." (MEW, Bd. 1, S. 401)


PARTEI UND STAAT
Wenn die Russische Revolution uns etwas über die­sen Staat lehren kann, dann, daß die Isolation der Revolution, die Schwächung der Arbei­terräte dazu tendiert, den Staatsapparat auf Kosten der Arbeiterklasse zu stärken; daß dies der Beginn der Transformation jenes Staat in ein Instrument der Unterdrückung und Ausbeutung gegen die Klasse ist. Der Staat ist die Achillessehne der konterrevolutionären Kräfte. Er ist der Organismus, mit dem die unpersönliche Macht des Kapitals da­zu tendiert, seine Autorität wieder geltend zu machen, indem die proletarische Revolution zum bürokratischen Gespenst des Staatskapitalismus pervertiert. Wer behauptet, daß diese Gefahr nicht existiert, entwaffnet die Klasse vor den künftigen Kämpfen.
Einige Tendenzen, besonders jene, die mit dem immensen Beitrag der Italienischen Linken zu dieser Frage vertraut sind, begreifen durchaus, daß hier ein Problem besteht. So stellte BATTAGLIA COMUNISTA auf der jüngsten internationalen Konferenz in Paris fest, daß die Partei faktisch die Macht übernehmen müsse, während es in ihrer Plattform heißt, daß die Parteikader "den Staat auf dem Pfad der revolutionären Kontinuität halten" müssen, aber "keineswegs mit dem Staat verwechselt oder in ihn integriert werden" dürfen. Diese Tendenzen wollen wie BILAN in den 30er Jahren, daß die Partei die Macht übernimmt, die proletarische Diktatur ausübt und den Staatsapparat kontrolliert - aber nicht, daß die Partei mit dem Staat fusioniert wie die bolschewistische Partei, da sie erkannt haben, daß die Verstrickung der Bolschewiki im Apparat des Sowjetstaates zur Degeneration von Partei und Revolution beitrug. Aber diese Position ist widersprüchlich. Bei BILAN war dieser Widerspruch insofern fruchtbar, als sie sich in einem Prozeß der Klärung des richtigen Verhältnisses zwischen der Partei und der Klasse befanden; ein Prozeß, der nach unserer Meinung am fruchtbarsten in der Arbeit von Gauche Communiste de France nach dem Krieg und von der IKS heute fortgesetzt wird. Doch heute auf die widersprüchlichen Positionen BILANs zurück­zufallen, kann nur ein Rückschritt sein.
Diese Position ist widersprüchlich, weil die Partei den Staat nicht "kontrollieren" kann, ohne über Mittel zur Durchsetzung dieser Kontrolle zu verfügen. Die Partei muß über eigene Zwangsorgane verfügen, um sicherzustellen, daß der Staat ihren Anord­nungen folgt; oder - was wahrscheinlicher ist und auch in Rußland geschah- die Partei muß sich immer mehr mit den Kommandohöhen des Staates, mit dem Verwal­tungs- und Unterdrückungsapparat identifizieren. In beiden Fällen wird die Partei zu einem Staatsorgan. Wenn man behauptet, daß die Partei dies entweder allein durch ihre programmatische Klarheit oder durch organisatorische Maßnahmen vermeiden kann, wie die Errichtung einer speziellen Unterkommission, die die Staatsgeschäfte betreibt und vom Zentralkomitee überwacht wird, versteht man nicht, daß das, was in Rußland geschah, das Ergebnis von großen gesellschaftlichen Kräften war, und daß eine Wiederholung nur durch eine Intervention noch größerer gesellschaft­licher Kräfte verhindert werden kann, und nicht durch schlichte ideologische und organisatorische Sicherheitsmaßnahmen.
Der Übergangsstaat, obgleich eine absolute Notwendig­keit für die Verteidigung der Revolution, kann nicht das dynamische Subjekt der Bewegung zum Kommunismus sein. Im besten Fall kann er ein Instrument sein, das die Klasse verwendet, um die von der kommunisti­schen Gesellschaftsbewegung erzielten Fortschritte abzusichern und gesetzlich festzulegen. Aber die Bewegung selbst wird von den Einheitsorganen der Klasse, die aufs Engste das Leben und die Bedürfnisse der Klasse widerspiegeln, sowie von der kommunistischen Partei angeführt, die kontinuierlich die Gesamtziele der Bewe­gung hervorhebt. Die Einheitsorgane der Klasse dürfen nicht durch die Alltagsaufgaben des Staates erdrückt werden. Sie können nur in einem Zustand des ständigen Aufstands existieren, dabei pausenlos aus den en­gen Grenzen von Verfassungen, Gesetzen und der Ver­waltungsroutine ausbrechend, die alle jedoch den Kern des Staates ausmachen. Nur so können sie schöpferisch auf die ungeheuren Problemen antworten, die sich durch den Aufbau des Kommunis­mus stellen, und nur so können sie den Staat dazu zwingen, sich den globalen Bedürfnissen der Re­volution zu unterwerfen. Das gleiche trifft für die Partei zu, die sich sowohl vor als auch nach der Machtübernahme in den Massen und in deren Kampforganen verankern muß, indem sie sie unermüdlich nach vorn drängt und ihr Zögern und ihre Konfusionen kritisiert. Die Verschmelzung von Partei und Staat wird, wie bei den Bolschewiki, ihre dynamische Rolle untergraben und die Partei zu einer konservativen Kraft machen, die sich vor allem mit den unmittelbaren Bedürfnissen der Wirtschaft und mit reinen Verwaltungsaufgaben befaßt. Die Partei würde somit ihre grundlegende Funktion verlieren, eine politische Rich­tung zu liefern, der alle Verwaltungsaufgaben unterge­ordnet werden müssen.
Die Partei wird selbstverständlich in den repräsentativen Organen des Staates intervenieren, aber organisatori­sch wird sie vollkommen vom Staatsapparat ge­trennt sein. Welche Richtung sie dem Staat geben kann, hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Delegierten der terri­torialen Sowjets, der Soldatenkomitees, der Massen der Kleinbauern, der landlosen Bauern usw. politisch von der Richtigkeit ihrer Positionen zu überzeugen. Aber sie kann den Staat nicht kontrollieren, ohne selbst zu einem Staatsorgan zu werden. Nur die Arbeiterräte können den Staat wirklich kontrollieren, da sie den gesamten revolutionären Prozeß hindurch bewaffnet bleiben und ihre Anweisungen dem Staat durch Massenaktionen und Druck aufzwingen können. Und das "Haupt­feld' der Intervention der Partei werden die Arbeiter­räte sein, in denen sie beständig Agitation betreiben wird, um sicherzustellen, daß die wachsame Kontrolle der Räte über all die Staatsorgane keinen Augenblick nachläßt.


PARTEI UND KLASSE
Früher oder später werden alle Gruppen im revolutionären Lager die Unklarheiten und Widersprüche ihrer Position in der Parteifrage verarbeiten müssen. Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, wenn man sagt, daß die Partei die Macht ergreifen muß; und die logischsten Vertreter dieser Position innerhalb der proletarischen Bewegung sind unserer An­sicht nach die Bordigisten.
"Der proletarische Staat kann nur von einer einzigen Partei beseelt werden; es wäre völlig sinnlos und käme über die konkreten Bedingungen nicht hinaus von dieser Partei zu fordern, daß sie in ihren Reihen eine Mehr­zahl eingliedere, oder mit der alten Masche der Bour­geoisie, den 'Volksabstimmungen' die Genehmigung einer statistischen Mehrheit erlange (...) Die kommunistische Partei wird also allein regieren und nie ohne den physischen Kampf der Macht entsagen.Der mutige Beschluß, den trü­gerischen Zahlen nicht zu unterliegen und sie nicht zu gebrauchen, wird den Kampf gegen die Entartung der Re­volution erleichtern." ("Proletarische Diktatur und Klassenpartei", S. 41/42, Texte der Internationalen Kommunistischen Partei, geschrieben 1951).
Verglichen mit dem demokratischen Formalismus der CWO ist diese Position erfrischend eindeutig. Die kommuni­stische Partei, die die "historischen Interessen der Arbeiterklasse" unveränderlich vertritt, benutzt die demokratischen Mechanismen der Räte nur,um die Macht zu ergreifen. Sobald sie an der Macht ist, benutzt sie den Staat dazu, um den Massen ihre Entscheidungen aufzuzwingen. Falls die Massen gegen das, was die Partei als historische Interessen der Massen bezeichnet, handeln, wird sie Gewalt anwenden, den be­rühmten roten Terror, um die Klasse zu zwingen, sich in Einklang mit "ihren eigenen historischen Interessen" zu bringen. Jene, die wollen, daß die Partei die Macht übernimmt, aber zögern, dieser Logik bis zu ihrem Ende zu folgen, fliehen vor der historischen Wirklichkeit. Doch wie diese erbarmungslose Logik wirkt, wurde jüngst von der CWO auf der Pariser Konferenz anschaulich verdeutlicht, wo sie ausdrücklich feststellte, daß die Partei, sobald sie an der Macht sei, nicht zögern sollte, Gewalt gegen "rückstän­dige" oder "konterrevolutionäre" Ausdrücke der Klasse anzuwenden.
Es ist in der Tat ironisch, daß die CWO, die so lange darauf bestanden hat, daß das Massaker des Kronstädter Aufstandes den Übergang der Bolschewiki in das kapi­talistische Lager kennzeichnete, die die Interna­tionale Kommunistische Strömung gar als "Verfechter" des Massakers anprangerte, weil die IKS der Meinung ist, daß 1921 nicht das endgültige Ende der Bol­schewiki als proletarische Partei war - daß dieselbe CWO nun den ideologischen Boden für ein neues Kronstadt vorbereitet. Wir dürfen nicht verges­sen, daß Kronstadt nur der Höhepunkt eines Prozesses war, in dem die Partei immer mehr Zuflucht in Zwangsmaßnahmen gegen die Klasse suchte. Die Lehre aus diesem ganzen Prozeß, die durch das Massaker von Kron­stadt auf tragische Weise unterstrichen wird, ist, daß die proletarische Partei keine physische Unterdrückung gegen einen Teil der Klasse - ob mit oder ohne Un­terstützung der Mehrheit der Klasse -  ausüben darf, ohne damit zutiefst der Revolution zu schaden und ihren eigenen Kern zu pervertieren. Dies wurde 1938 sehr deut­lich von der Italienischen Linken ausgedrückt:
"Die Frage, vor der wir  stehen, ist diese. Es könnte eine Situation entstehen, in der ein Teil des Proletariats - und wir können sogar einräumen, daß dieser Teil das unbewußte Opfer von Manövern des Feindes ist - den Kampf gegen den proletarischen Staat aufnimmt. Was soll man in solch einer Lage tun? Wir müssen von dem Prinzip ausgehen, daß der Sozialismus dem Proletariat nicht durch Zwang oder Gewalt auferlegt werden kann. Es wäre besser gewesen, Kronstadt zu verlieren, wo doch das Festhalten an Kronstadt vom geographischen Stand­punkt aus nur eines zur Folge haben konnte: eine Deformierung der Kernsubstanz der Aktivität des Pro­letariats. Wir kennen die Einwände: Der Ver­lust Kronstadts wäre ein entscheidender Verlust für die Revolution gewesen, vielleicht sogar der Verlust der Revolution selbst. Hier kommen wir zum springenden Punkt. Auf welche Maßstäbe fußt diese Analyse? Auf jene, die von Klassenprinzipien abge­leitet sind, oder auf jene, die schlicht von einer gegebenen Lage ausgehen? Gehen wir von der Maxime, daß es für die Arbeiter besser ist, Fehler zu begehen - selbst fatale Fehler -, oder von der Idee aus, daß wir unsere Prinzipien zurückstellen sollten, weil die Arbeiter uns anschließend dankbar sein werden, weil wir sie selbst mit Gewalt verteidigt haben?
Jede Situation erzeugt zwei gegensätzliche Garnituren von Kriterien, die zu zwei gegensätzlichen taktischen Schlußfolgerungen führen. Wenn wir unsere Untersuchung nur auf die reine Form beschränken, dann gelangen wir zur Schlußfolgerung, die aus folgendem Vorschlag hervorgeht: Da dieses oder jenes Organ proletarisch ist, müssen wir es als solches verteidigen, selbst wenn dies auf die Niederschlagung einer Arbeiterbe­wegung hinausläuft. Wenn wir jedoch unsere Analyse auf die Frage der Substanz stützen, gelangen wir zu einer ganz anderen Schlußfolgerung: Eine politische Bewegung, die vom Feind manipuliert ist, beinhaltet in ihrem Innern einen organischen Widerspruch zwischen dem Pro­letariat und seinem Klassenfeind. Um diesen Widerspruch an die Oberfläche zu bringen, ist es notwendig, Propaganda unter den Arbeitern zu betreiben, die im Laufe der Ereignisse ihre Stärke als eine Klasse wiederentdecken und in der Lage sind, die Pläne des Feindes zu vereiteln. Doch wenn es zufällig wahr wäre, daß der Ausgang dieses oder jenes Ereignisses das Ende der Revolution bedeu­ten könnte, dann ist es sicher, daß ein Sieg nicht nur eine Verdrehung der Realität (historische Ereignisse wie die Russische Revolution hängen niemals wirklich von einer einzigen Episode ab, und nur ein kurzsich­tiger, oberflächlicher Geist könnte meinen, daß die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes die Revolu­tion gerettet hätte) wäre, sondern auch die Bedingungen für den wirklichen Verlust der Re­volution schaffen würde. Diese Untergrabung der Prin­zipien würde nicht lokal beschränkt bleiben, sondern sich zwangsläufig auf alle Aktivitäten des proletarischen Staates ausdehnen."
("Die Frage des Staates", OCTOBRE, 1938)
Obgleich OCTOBRE weiterhin die Diktatur der Partei ver­teidigte, bestand für die Gauche Communiste de France  und für die IKS heute der einzige Weg, diese kla­ren Einsichten konsequent umzusetzen, darin, zu bekräftigen, daß die proletarische Partei nicht nach der Macht trachtet, nicht danach strebt, ein Staatsorgan zu werden.
Andernfalls verlässt man sich allein auf den "Willen" oder auf die guten Absichten der Partei, die in der Lage sein wird zu vermeiden, daß sie mit der Klasse in einen gewaltsamen Konflikt gerät. Doch sobald die Partei zu einem Staatsorgan geworden ist, reicht selbst der stärkste Wille der besten kommunisti­schen Partei auf der Welt nicht aus, um sich gegen den unerbitt­lichen Druck des Staates zu wappnen. Deshalb kam die Gauche Communiste de France 1948 zu dem Schluß:
"In der Periode des revolutionären Aufstands besteht die Rolle der Partei nicht darin,die Macht für sich selbst zu beanspruchen, auch nicht von den Massen zu ver­langen, daß diese ihr das Vertrauen schenken. Die Inter­vention und die Aktivität der Partei zielen auf die Selbstmobilisierung der Klasse für den Sieg der revo­lutionären Prinzipien ab.
Die Mobilisierung einer Klasse um eine Partei, der sie Vertrauen schenkt oder - besser - der sie die Führung über­gibt, spiegelt den unreifen Zustand der Klasse wi­der. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Revolution unter solchen Bedin­gungen nicht siegen kann und daß dies schließlich zur Degeneration der Partei und zur Scheidung zwischen Partei und Klasse führt. Die Partei wäre schnell dazu gezwungen, immer mehr auf die Methoden des Zwangs zurückzugreifen, um sich gegenüber der Klasse durchzusetzen, und würde somit  zu einem erheblichen Widerstand für die Revolution werden."
("Sur la Nature et la Fonction du Parti Politique du Proletariat", siehe RI-Bulletin d'Etude et Discussion, aus: INTERNATIONALISME, Nr. 38, Okto­ber 1948).
Heute stehen die Revolutionäre vor einer Wahl. Entweder können sie Positionen annehmen, die zum Bordigismus führen, zu einer Verfechtung und Theoretisierung ­der Degeneration der bolschewistischen Partei,  zum Substitutionismus in seiner voll entwickelten Form. In diesem Sinn werden sie entdecken, daß der Substitutionismus in der Tat "unmöglich" in der proletarischen Bewegung ist, weil er zu Praktiken und Positionen führt, die direkt konterrevolutionär sind. Oder sie nehmen sich ein Beispiel am zutiefst revolutionären Geist Lenins und der Bolschewiki zur Zeit der Oktoberrevolution, ein Geist, der Lenin dazu veranlasste, in seinem Appell "An das Volk" einige Tage nach dem Aufstand zu sagen:
"Genossen, Werktätige! Denkt daran, daß ihr selber jetzt den Staat verwaltet! Niemand wird euch helfen, wenn ihr euch nicht selber vereinigt und nicht alle Angelegenheiten des Staates in eure Hände nehmt. Eure Sowjets sind von nun an die Organe der Staats­gewalt, bevollmächtigte, beschließende Organe." ("An die Bevölkerung", in: Ges. Werke II, S. 555)
Es ist dieser durch die Einsichten in das Verhältnis zwischen Partei und Klasse, Klasse und Staat geschärfte Geist, der uns heute leiten muß. Es ist ein Geist, der mit den Zielen und den Methoden der kommu­nistischen Revolution, mit dem revolutionären Wesen der Arbeiterklasse zutiefst übereinstimmt. Und wenn wir es tausend Mal sagen müssen: der Kommu­nismus kann nur durch die bewußte Selbstaktivität des ganzen Proletariats geschaffen werden, und die kommu­nistische Avantgarde darf niemals dieser grund­legenden Realität zuwiderhandeln. Die revolutionäre Partei darf nie den Mangel an Homogenität in der Klasse, das Gewicht der bürgerlichen Ideologie oder die Be­drohung durch die Konterrevolution als Rechtfertigung für den Gebrauch von Gewalt  verwenden, um die Klasse dazu zu "zwingen", revolutionär zu sein. Dies ist ein völliger Widerspruch in sich und drückt das Gewicht der bürgerlichen Ideologie auf die Partei aus. Die Arbeiterklasse kann das Gewicht der bürgerlichen Ideologie nur durch ihre eigene Massenaktivität, durch ihre eigene Erfahrung abschütteln. In bestimmten Augenblicken kann es für sie als leichter erscheinen, ihre schwierigsten Aufgaben auf eine revolutionäre Or­ganisation abzuwälzen, doch welche kurzfristigen "Gewinne" dies auch immer mit sich bringen mag, langfristig kann dies die Klasse nur schwächen. In der proletarischen Revolution darf es kein plötzliches Zurückschrecken geben: "Jene, die nur eine halbe Re­volution machen, graben ihr eigenes Grab" (St. Juste). Für die Arbeiterklasse bedeutet das einen unaufhörlichen Kampf, um all die passiven, konservativen Tendenzen in ihren Reihen zu überwinden; Tendenzen, die die bitteren Früchte einer generationlangen bürgerlichen Ideologie sind. Es bedeutet die unermüdliche Entwicklung und Ausbreitung ihrer eigenen Selbstorganisation und ihres eigenen Selbstbewusstseins vor, während und nach der Ergreifung der politischen Macht. Pannekoeks Polemik gegen die par­lamentarischen Taktiken der Kommunistischen Internationalen kann gleichermaßen gegen jene gerichtet werden, die der kommunisti­schen Partei eine im wesentlichen parlamen­tarische Rolle in den Sowjets zuschreiben:
"Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massive Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, daß sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporsprin­gen kann. Die Revolution erfordert, daß die großen Fra­gen der gesellschaftlichen Rekonstruktion in die Hand genommen, daß schwierige Entscheidungen getroffen wer­den, daß das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird - und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut, dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und müh­sam; solange daher die Arbeiterklasse glaubt, einen leichteren Weg zu sehen, indem andere für sie handeln. Heute stehen die Revolutionäre vor einer Wahl. Einerseits von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen - wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben." (Anton PANNEKOEK, "Weltrevolution und Kommunistische Taktik", Wien 1920, Kapitel IV)
Es gibt viele Menschen, die "Führer" der Arbeiterklasse sein wollen. Aber die meisten von ihnen verwechseln die bürgerliche Auffassung der Führung mit der Art und Weise, in der das Proletariat seine eigene Führung generiert. Jene, die im Namen der Führung die Klasse dazu aufrufen, ihre wichtigste Aufgabe an eine Minderheit abzugeben, führen das Proletariat nicht zum Kommunismus, sondern stärken den Einfluß der bürger­lichen Ideologie in der Klasse; einer Ideologie, die die Arbeiter von der Wiege bis zur Bahre davon zu überzeugen versucht, daß sie unfähig sind, sich selbst zu or­ganisieren, daß sie anderen die Aufgabe anvertrauen sollen, sie zu organisieren. Die revolutionäre Partei wird nur dann zu einem Vorankommen des Kommunismus beitragen, wenn sie ein Bewußtsein anregt und verallgemeinert, das der Ideo­logie der Bourgeoisie vollkommen entgegengesetzt ist: ein Bewußtsein über die unerschöpfliche Fähigkeit der Klasse, sich selbst zu organisieren und sich selbst der Rolle als Subjekt der Geschichte bewußt zu werden. Kommunisten, die von einer Klasse ausgeschieden werden, die keine neuen Ausbeutungsverhältnisse in sich trägt, sind insofern einzigartig in der Geschichte der revolutionä­ren Parteien, als sie alles unternehmen, um ihre eigene Funktion unnötig zu machen, sobald das Klassenbewußtsein und die Ak­tivität eine homogene Realität innerhalb der gesamten Klasse werden. Je mehr das Proletariat auf dem Weg zum Kommunismus voranschreitet, umso mehr wird die gesamte Klasse zum lebendigen Ausdruck des "positiven Selbst­-Bewusstwerdung des Menschen", einer befreiten und bewussten menschlichen Gemeinschaft werden.
C.D.Ward
(Frühjahr 1979)


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Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1980-massenstreik-polen [2] https://de.internationalism.org/ir8/1982_parteiraete [3] https://de.internationalism.org/en/tag/3/48/partei-und-fraktion