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Weltrevolution Nr. 122

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Bundesratswahlen in der Schweiz

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Die Parlaments- und Regierungswahlen in der Schweiz sind vorbei. Die Zauberformel (1) ist geknackt worden. Der Rauch und der Nebel des Medienspektakels verziehen sich langsam. Eines ist sicher: Mit dem Wahlzirkus hat es die Bourgeoisie einmal mehr geschafft, grosse Teile der Arbeiterklasse davon abzulenken, dass im vergangenen Jahr der verfügbare Teil der Löhne stark gesunken ist und der Wahlzettel kein Mittel ist, um diesen Angriffen entgegenzutreten. Es gab zwar einzelne Streiks im Herbst. Doch selbst die Neue Zürcher Zeitung stellt im Zusammenhang mit dem alljährlich von den Gewerkschaften angekündigten heissen Herbst fest: "Die hitzigen Diskussionen in den vergangenen Monaten konzentrierten sich vorab auf die (Bundesrats-)Wahlen. Die Gewerkschaften ihrerseits beschränkten ihre publizitätsträchtigen Aktionen auf Streiks im Zusammenhang mit einigen von der Schliessung bedrohten Traditionsunternehmen wie Zyliss und Allpack. Die Lohnverhandlungen hingegen fanden ganz entsprechend dem Schweizer Gusto im Stillen statt." (24.12.03)

Der revolutionäre Standpunkt

Kommunisten beteiligen sich nicht an den Geschäften des bürgerlichen Staates, weder in Regierungen noch in Parlamenten. Die Demokratie ist eine besonders heuchlerische Herrschaftsform der Bourgeoisie. Jeder Aufruf zur Beteiligung am Wahlzirkus kann nur die Wirkung der Verschleierung verstärken, die diese Kampagnen der bürgerlichen Parteien (Sozialdemokraten, Grüne, Partei der Arbeit, Solidarités, etc. inbegriffen) bezwecken. Nachdem selbst die NZZ kein Hehl daraus macht, dass die Wahlen vom Klassenkampf abgelenkt haben, könnte man vom revolutionären Standpunkt aus geneigt sein, das Thema Wahlen für erledigt zu erklären. Doch das wäre eine oberflächliche Sichtweise.

Die Marxisten haben immer wieder unterstrichen, dass die Manöver des Klassenfeindes genau zu analysieren sind. Gerade in Zeiten, in denen die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse niedrig ist und nur selten Streiks oder Arbeiterdemonstrationen stattfinden, kann oft nur aus den Schachzügen der Bourgeoisie auf das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen den beiden Hauptklassen im Kapitalismus geschlossen werden. Je nachdem, wie die Bourgeoisie ihr Arsenal bereitstellt (rechte und linke Parteien, Parlament, Regierung, Gewerkschaften, Medien), wird klar, ob sie mit offenen Konfrontationen rechnet oder ob sie eher die Sabotage der Bewusstseinsreifung im Auge hat. Wenn die herrschende Klasse die Sozialdemokratie mit den Regierungsgeschäften betraut, verfolgt sie andere Ziele, als wenn sie die Linke in die Opposition schickt. Wir haben dies an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt (vgl. "Die Linke an der Regierung" in Internationale Revue Nr. 24; "Mit linken oder rechten Rezepten - die Arbeiterklasse wird immer angegriffen" in Weltrevolution Nr. 120). Im vorliegenden Artikel wollen wir auf diesem Hintergrund den Ausgang der letzten Wahlen in der Schweiz analysieren.

Einige Fakten

Aus den Parlamentswahlen im Oktober 03 sind einerseits die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) von Blocher, andererseits die Linken (SPS und Grüne) als Sieger hervorgegangen. Sitze verloren v.a. die Mitte-Rechts-Parteien Freisinnig-Demokratische Partei (FDP, liberal) und Christliche Volkspartei (CVP, katholisch). Im Vergleich zu den letzten eidgenössischen Wahlen konnte die SVP um rund 20% zulegen und wurde mit 63 von total 246 Sitzen zur stärksten Partei in der Bundesversammlung (Nationalrat und Ständerat).

Die aus sieben Bundesräten bestehende Regierung wird durch das Parlament gewählt. Da dem Nationalstaat Schweiz mit seiner Viersprachigkeit und dem grossen Gewicht der verschiedenen Regionen starke Zentrifugalkräfte innewohnen, ist die Bourgeoisie im Laufe des Zweiten Weltkriegs dazu übergegangen, alle gewichtigen politischen Parteien in die Regierung zu integrieren. Damals wählte sie zum ersten Mal einen Sozialdemokraten in den Bundesrat. Ende der 1950er Jahre wurde diese Regel noch verfeinert mit der so genannten Zauberformel: Von nun an sollten die grössten vier Parteien ungefähr entsprechend ihrem Wähleranteil im Bundesrat vertreten sein. Dies erwies sich deshalb als sinnvoll, weil in der Schweiz ein (ursprünglich zum Schutz der regionalen, sprachlichen und konfessionellen Minderheiten geschaffenes) Referendumsrecht besteht, das einer starken Lobby die Möglichkeit gibt, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zur Volksabstimmung zu bringen. Dies kommt faktisch einem Vetorecht der grossen Interessenverbände gleich. Also drängte es sich auf, die grössten Parteien so an der Regierung zu beteiligen, dass eine Blockierung durch eine starke Opposition, die gegen jedes Gesetz zum Referendum greifen könnte, verhindert wird.

Bis zu den letzten Wahlen galt, dass SP, FDP und CVP je zwei und die SVP einen Sitz im Bundesrat haben sollten. Dies war die Zauberformel. Aufgrund des massiven Stimmenzuwachses in den letzten Jahren erhob die SVP nun einen Anspruch auf einen zusätzlichen Sitz, und zwar auf Kosten der CVP, die zur schwächsten dieser vier Parteien geworden war.

Grundsätzlich bestand in der Bourgeoisie Einigkeit über diesen Anspruch. Die Situation schien lediglich dadurch kompliziert zu werden, dass die SVP nach den Parlamentswahlen das Ultimatum stellte: Entweder wird das Aushängeschild der Partei, Christoph Blocher, in den Bundesrat gewählt, oder die SVP zieht auch ihren bisherigen Vertreter aus der Regierung zurück und geht in die Opposition. Denn die Bundesratswahlen liefen bisher oft so ab, dass zwar der Anspruch der vier grossen Parteien auf ihre Sitze, nicht aber der jeweilige Wunschkandidat der betreffenden Partei berücksichtigt wurden. Mit ihrem Ultimatum verringerte also die SVP den Spielraum, den das Parlament bei der Regierungsbildung normalerweise hat.

Probe bestanden

Die Bundesratswahlen vom 10. Dezember verliefen dann so, wie es die SVP gefordert hatte. Blocher wurde auf Kosten der bisherigen CVP-Bundesrätin Ruth Metzler gewählt. Dies ist aber nicht nur ein Sieg für die SVP (oder die Männer bzw. die Rechten, wie die Linken gegenwärtig lamentieren), sondern für den schweizerischen Staatskapitalismus insgesamt.Angesichts der gegenwärtigen historischen Lage stand die herrschende Klasse in der Schweiz vor einer doppelten Herausforderung:

a) Wie in anderen Ländern gewannen die Rechtspopulisten in den letzten Jahren immer mehr Wählerstimmen. Ihre isolationistische und fremdenfeindliche Politik ist zwar von einem nationalstaatlichen Standpunkt aus nicht vernünftig. Sie entspricht aber dem kapitalistischen Gesetz des "Jeder-gegen-jeden", das in der gegenwärtigen Zerfallsphase auf die Spitze getrieben wird. Die Bourgeoisie in jedem Land hat Schwierigkeiten mit Zersetzungstendenzen, wie sie sich in den letzten Jahren z.B. in anderen mittel- und westeuropäischen Ländern wie in Österreich (Haider), Holland (Pim Fortuyn) oder Italien (Bossi) breit gemacht haben. Die Gefahr für die jeweilige nationale Bourgeoisie besteht dabei nicht in einer angeblichen Tendenz zum Faschismus, sondern im Ausbruch gewisser Fraktionen der Bourgeoisie aus der staatskapitalistischen Disziplin, im Aufkommen von Parteien, die den nationalen Zusammenhalt durch Verfolgung von "unvernünftigen" Sonderinteressen untergraben. Von diesem Gesichtswinkel aus ging es also für die Schweizer Bourgeoisie darum, die SVP, die diese Tendenz verkörpert (3) verstärkt in die Regierungsverantwortung einzubinden, um sie einerseits der Narrenfreiheit einer Oppositionspartei zu berauben und andererseits gerade dadurch tendenziell zu diskreditieren und wieder auf eine "vernünftige" Grösse zurückzuwerfen.

b) Gleichzeitig stand die herrschende Klasse aber auch vor der Herausforderung, die Linke nicht in die Opposition zu drängen (4). Die Sozialdemokraten müssen die Oppositionsrolle vor allem dann spielen, wenn die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse relativ gross ist. Zu diesen Zeiten ist jene klassische Arbeitsteilung vorteilhaft, bei der die Rechten eine harte Regierungspolitik durchziehen und die Linken mit den Gewerkschaften den Kampf der Arbeiter von innen zu sabotieren versuchen. In der heutigen Zeit aber ist die Kampfkraft des Proletariats noch gering. Die Linken sollen aus staatskapitalistischer Sicht durchaus in der Regierung bleiben und als soziale Bundesräte die Botschaft vermitteln, dass die Sparmassnahmen zwar hart, aber halt unvermeidlich seien. So erfüllen sie am besten die heute wichtige Rolle, den Ausbruch der Kämpfe möglichst lange hinauszuschieben.

Schon vor den Bundesratswahlen im Herbst war klar, dass die Bourgeoisie diesen beiden Anforderungen gerecht werden muss. Von den beiden Erfordernissen war aber das erste prioritär: Die Beispiele der oben erwähnten Länder, die mit einem starken Rechtspopulismus konfrontiert waren, hatte bereits gezeigt, dass die Bourgeoisie in der gegenwärtigen Phase durchaus mit einer linken Opposition leben kann, während aber die fehlende Einbindung der Rechtspopulisten zu einem Kontrollverlust führt. Die herrschende Klasse hat es geschafft, beide Aufgaben zu erfüllen. Dies ist ein Zeichen der relativen Stärke: Obwohl sie mit Zerfallstendenzen wie dem Aufkommen der Rechtspopulisten zu kämpfen hat, gelingt es ihr, trotz der schwerfälligen Zauberformel die Kontrolle zu behalten.

Gegen demokratische Illusionen

Der demokratische Medienrummel ist nach den Bundesratswahlen nicht verstummt, er ist lediglich in neue Fahrwasser gelenkt worden. Während vor den Wahlen der Kampf für oder gegen Blocher als Show-down inszeniert wurde, stehen nun die Linken und Feministinnen im Rampenlicht, die zetern, dass jetzt nicht nur eine Frau weniger im Bundesrat, sondern mit Hans-Rudolf Merz, dem Nachfolger des zurückgetretenen FDP-Bundesrates Kaspar Villiger, neben Blocher ein weiterer "Konservativer" gewählt worden sei. Am Samstag nach der Wahl gab es aus diesem Anlass eine für schweizerische Verhältnisse grosse Protestdemonstration in Bern. Dabei wird Blocher als das Hauptproblem dargestellt und davon abgelenkt, dass die Linke nach wie vor massgeblich an der Regierung beteiligt ist und alle vergangenen, laufenden und zukünftigen Angriffe auf unsere Lebensbedingungen mitträgt, wenn nicht gar initiiert. So ist beispielsweise die geplante Rentenreform des freisinnigen Bundesrates Couchepin bereits von seiner sozialdemokratischen Vorgängerin Dreifuss vorbereitet worden. Die Bourgeoisie ist also nicht dazu übergegangen, die Linke in die Opposition zu versetzen. Vielmehr spielt die herrschende Klasse nach wie vor die Karte der "Linken an der Regierung" mit dem Ziel, das Anwachsen der noch schwachen Kampfbereitschaft so lange wie möglich hinauszuzögern. Die zur Schau getragene Empörung der Linken und der Frauenverbände über die Wahl Blochers und Merz' ist nur ein weiterer Versuch, das Interesse der Leute und vorab der Arbeiterklasse auf das demokratische Spiel zu lenken und die entsprechenden Illusionen zu schüren. Bei diesem Spiel sind aber die Karten schon vorher verteilt, und die Arbeiterklasse ist und bleibt Zuschauerin, wenn sie nicht selber kämpft. FSN 21.01.04

1 Mit der Zauberformel meint man das 1959 eingeführte zahlenmässige Verhältnis zwischen den vier grossen Parteien in der siebenköpfigen Exekutive (Bundesrat). Dieses Verhältnis hat bis in die 1990er Jahre ungefähr dem Wähleranteil dieser Parteien entsprochen (SP: 2, CVP: 2, FDP: 2, SVP: 1).

2 Mit der Zauberformel vermied die Schweizer Bourgeoisie eine Blockierung im Verhältnis zwischen Regierung und Gesetzgebung, indem sie eine formelle Opposition durch eine grosse Partei ausschloss. Im Gegensatz zum System in anderen Ländern, wo es einerseits eine Regierungspartei oder -koalition und andererseits eine Opposition gibt, die an der Regierung nicht beteiligt ist, sitzen in der Schweiz alle grossen Parteien in der Exekutive. Dies heisst aber nicht, dass dem schweizerischen System eine Arbeitsteilung zwischen Regierung und Opposition völlig fremd wäre, es funktioniert lediglich anders: Wenn international die Bourgeoisie die Karte der Rechten an der Regierung spielt und die linken Parteien in die Opposition versetzt, so wird diese Oppositionsrolle in der Schweiz in der Regel von linken Teilen der Sozialdemokratie (sowie Gewerkschaften und linksextremen Parteien) gespielt. Wenn umgekehrt eine linke Regierung mit einer rechten Opposition ansteht, so wird die Rolle der Letzteren z.B. durch Teile der SVP übernommen, während die formelle Regierungskoalition eine allgemein links gefärbte Politik betreibt.

3 Im Gegensatz zu einer Lega Nord von Umberto Bossi vertritt Blochers SVP keine Forderungen, die die Abtrennung von Teilen der Schweiz zum Inhalt hätten. Was die SVP bisher auszeichnete, war eine insbesondere gegenüber der EU verfolgte Abschottungspolitik, die angesichts der geographischen Lage und Grösse des Landes und der wirtschaftlichen Verflechtungen nicht den Interessen der "vernünftigen", massgebenden Teile der Bourgeoisie entspricht. Diese haben vielmehr die Devise, keine Türen zuzuschlagen und möglichst lange alle Optionen offen zu halten. So ist die offizielle Haltung der Regierung immer noch, langfristig der EU beizutreten.

4 Und zwar weder in eine formelle Opposition (im Sinne anderer Länder) noch in eine nach Schweizer Art (wie sie beispielsweise in den 1980er Jahren bestand).

Ein Wendepunkt im internationalen Klassenkampf

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In den ersten zehn Monaten des Jahres 2003 gab es größere Kämpfe, an denen eine ganze Reihe von Branchen beteiligt waren und die mit einer Entschlossenheit geführt wurden, wie sie seit 1980 unbekannt war. Im Mai und Juni demonstrierten in Frankreich Millionen Arbeiter gegen die Angriffe auf die Renten. In Österreich gab es ebenfalls eine Reihe von Demonstrationen gegen die Rentenangriffe. Den Höhepunkt bildete die Demonstration am 3. Juni, die größte seit dem 2. Weltkrieg. Eine Million Menschen waren auf den Straßen, und das in einem Land mit einer Bevölkerung von weniger als zehn Millionen.

Daneben hat es weitere bedeutende, inoffizielle, noch isolierte und spontane Kämpfe gegeben: Ein wilder Streik bei British Airways auf dem Flughafen London-Heathrow, der wilde Streik von bis zu 1.000 Arbeitern bei Alcatel-Espace in Toulouse im Juni. Im August streikten 2.000 festangestellte Arbeiter der Erdölraffinerie in Puertollano in Spanien nach einem Unfall, bei dem sieben Arbeiter getötet wurden. Im September traten bis zu 2.000 Arbeiter von drei verschiedenen Firmen auf der Humberside-Schiffswerft in England in einen wilden Streik, um 98 Zeitarbeiter zu unterstützen, die entlassen werden sollten, als sie eine Lohnerhöhung von 1,95 Pfund forderten. Es gibt zudem einen Streik unter den Postangestellten in England, der gegenwärtig mindestens 20.000 Arbeiter umfasst.

Es hat also eine wachsende Anzahl von Kämpfen in den meisten europäischen Ländern und in den USA gegeben, wo es z. B. Streiks bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben in Los Angeles (Kalifornien) gab. Durch Solidaritätsaktionen waren Buslinien, die U-Bahn und die S-Bahn (Light Rail Transport) geschlossen. Ein Streik – der erste dieser Art seit 25 Jahren - von 70.000 Arbeitern einer Supermarktkette zog fast 900 Läden in Kalifornien in Mitleidenschaft.

In Griechenland gab es eine Streikwelle im öffentlichen Dienst mit Tausenden von Angestellten einschließlich der Lehrer, von Beschäftigten im Gesundheitswesen, Feuerwehrleuten und bei der Küstenwache. Auch andere Bereiche, wie die 15.000 Taxifahrer in Athen, haben gestreikt und demonstriert.

Nach 14 Jahren ohne größere Mobilisierung, mit einer rekordverdächtig geringen Zahl von Streiks in den kapitalistischen Hauptländern, und nach der Ankündigung des Endes des Klassenkampfes durch die herrschende Klasse sind die jüngsten Streiks ein Zeichen dafür, dass sich die soziale Situation geändert hat.

Was bedeuten diese Kämpfe?

Um die Bedeutung und die Folgen dieser Kämpfe voll zu begreifen, ist es notwendig, sie in ihren historischen Zusammenhang zu stellen. Auf der unmittelbaren Ebene unterscheiden sich die Kämpfe dieses Jahres nicht sehr von denen in anderen Perioden seit 1989. 1993 gab es in Italien große Demonstrationen gegen Angriffe auf die Renten. 1995 gab es in Frankreich eine größere Klassenbewegung als Antwort gegen ähnliche Angriffe. In diesem Jahr haben wir jedoch simultane Bewegungen, aufeinander folgende Kämpfe und eine Zunahme von kleinen, aber bedeutenden nicht-offiziellen Kämpfen gesehen. Vor allem haben sich diese Kämpfe im Zusammenhang mit einem wachsenden Unbehagen in der Arbeiterklasse über die Zukunft entwickelt, die der Kapitalismus ihr zu bieten hat.

Zur Zeit der Kämpfe in Frankreich im Mai/Juni wurden Vergleiche mit den Ereignissen vom Mai 1968 angestellt. Wir haben die Kämpfe dieses Jahres nicht als ein neues ‘68 eingeschätzt, aber ein Vergleich beleuchtet die Bedeutung des beginnenden Infragestellens des Kapitalismus.

”Einer der Hauptfaktoren beim internationalen Wiederauftauchen der Arbeiterklasse auf der Bühne der Geschichte und beim Wiederaufleben seines Kampfes 1968 war das abrupte Ende von Illusionen, die gedeihen konnten während der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg, in der einer ganzen Generation von Arbeitern Vollbeschäftigung, eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nach der Arbeitslosigkeit in den 30er Jahren, den Lebensmittelrationierungen und dem Hunger während des Krieges und der Zeit unmittelbar danach ermöglicht wurde. Beim ersten Anzeichen einer neuen offenen Krise fühlte sich die Arbeiterklasse nicht nur in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen angegriffen, sondern auch hinsichtlich der Blockierung einer Zukunftsperspektive, einer neuen Periode der wachsenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stagnation als Ergebnis der globalen Krise. Das Ausmaß der Arbeiterkämpfe, die dem Mai 1968 folgten, und das Wiedererscheinen einer revolutionären Perspektive zeigten klar, dass die Mystifikationen der Bourgeoisie über die Konsumgesellschaft und die Verbürgerlichung der Arbeiterklasse verschlissen waren. Obgleich wir die Dinge im richtigen Verhältnis sehen sollten, gibt es trotzdem Ähnlichkeiten zwischen den gegenwärtigen Angriffen und der damaligen Lage. Natürlich sind die beiden Perioden nicht identisch. 1968 war ein größeres historisches Ereignis, das das Wiederauftauchen der Arbeiterklasse nach mehr als vier Jahrzehnten der Konterrevolution anzeigte. Dieses Ereignis hatte einen viel größeren Einfluss auf das internationale Proletariat als die jetzige Situation.

Nichtsdestoweniger sind wir heute Zeuge des Zusammenbruchs dessen, was in gewissen Sinne einen Trost darstellte nach Jahren unter dem Joch der Lohnarbeit und was einer der Pfeiler gewesen war, auf den das System 20 Jahre lang bauen konnte: Verrentung mit 60 und die Möglichkeit, sich nach der Verrentung eines Lebens frei von größeren materiellen Einschränkungen zu erfreuen. Heute werden die Arbeiter gezwungen, Abschied von der Illusion zu nehmen, in den letzten Jahren ihres Lebens dem zu entfliehen, was zunehmend als Hölle erfahren wird: nämlich die Arbeitswelt, wo es immer weniger Beschäftigte gibt, die eine immer größere Menge an Arbeit verrichten müssen, und wo die Arbeitshetze dauernd steigt. Entweder sie müssen länger arbeiten, was eine Verkürzung der Zeit bedeutet, in der sie hoffen können, schließlich der Lohnarbeit zu entfliehen, oder sie werden, weil sie nicht genügend Beiträge eingezahlt haben, in die Armut herabgedrückt, wo die Not die Stelle der Überarbeitung einnimmt. Für jeden Arbeiter stellt sich angesichts dieser neuen Lage die Frage nach der Zukunft.” (‚Die massiven Angriffe des Kapitals erfordern eine massive Antwort der Arbeiterklasse’ aus International Review Nr. 114)

Diese Infragestellung wird verstärkt durch die Erfahrung der Arbeiterklasse in den letzten 14 Jahren. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks hat das Proletariat einen herben Rückschlag erlitten. Der Zusammenbruch hinterließ unter den Arbeitern ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der veränderten internationalen Situation, die die Welt ins Chaos stürzte. Gleichzeitig gebrauchte die herrschende Klasse den Zusammenbruch und den Wirtschaftsboom der 90er Jahre, um die Idee zu verbreiten, dass die Arbeiterklasse tot sei und die Arbeiter sich selbst als Bürger sehen, die ein Interesse am Wohlergehen dieser Gesellschaft haben. Diese Propagandakampagnen zerschellten an der Wirklichkeit der Rezession zu Beginn des neuen Jahrhunderts, dem darauf folgenden Platzen der Internet-Blase und der Flutwelle von Entlassungen, die die USA, Europa und den Rest der Welt überschwemmte. Gleichzeitig greifen in ganz Europa, in den USA und mehr die kapitalistischen Staaten den Sozialstaat an: Kürzungen in der Arbeitslosenunterstützung und im Anspruch darauf, Senkung der Renten, Einschnitte im Gesundheitswesen, im Erziehungswesen usw. All das zeigt der Arbeiterklasse, was der Kapitalismus zu bieten hat, und erzeugt die Entschlossenheit unter den Arbeitern, den Angriffen auf die Renten und andere Teile des Soziallohns die Stirn zu bieten.

Diese kleineren, isolierten, inoffiziellen Kämpfe drücken einen wachsenden Unwillen im Proletariat aus, die Angriffe zu akzeptieren, die ihnen von den Bossen und Gewerkschaften aufgezwungen werden. Das Heathrower Flughafenpersonal, nicht gerade bekannt für seine Kampfbereitschaft, konnte einfach keinen weiteren Angriff und die Komplizenschaft der Gewerkschaften ertragen, so dass es auf die Straße ging. Die Tatsache, dass eine so kleine Anzahl von Arbeitern den Chefs, den Gewerkschaften und den Medien derart zu schaffen machte, war ein anschauliches Beispiel dafür, das die herrschende Klasse weiß, dass sich die soziale Lage geändert hat.

Die Perspektive

Das Potenzial, das in der gegenwärtigen Situation enthalten ist, ist von historischer Bedeutung. Heute ist nicht dieselbe Situation wie 1968, die Klasse taucht nicht aus einer Phase der historischen Niederlage auf, die Jahrzehnte angedauert hat, sondern vielmehr aus einer mehr als zehnjährigen Phase des Rückzugs. Und vor 1989 gab es 20 Jahre lang immer wiederkehrende Streikwellen. Deshalb hat die jetzige Generation von Arbeitern potenziell eine Erfahrung von über 30 Jahren, in denen sie mit Angriffen und Manövern der herrschenden Klasse konfrontiert war. Zusammen mit der Infragestellung des Systems, die hervorgerufen wird durch die wachsenden weltweiten Angriffe, könnte dies die Bedingungen dafür schaffen, dass bedeutende Schritte zu vielleicht entscheidenden Klassenauseinandersetzungen zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie gemacht werden, die Aufschluss darüber geben, ob das Proletariat die Fähigkeit hat, die revolutionäre Offensive zu ergreifen.

Klassenidentität - die Schlüsselfrage für die Arbeiterklasse

Zentral für diese Perspektive wird die Fähigkeit des Proletariats sein, seine Klassenidentität wieder zu gewinnen und zu stärken. Unter Klassenidentität verstehen wir, Teil einer Klasse zu sein, die gemeinsame Interessen zu verteidigen hat. Dieses Klassengefühl wird die Grundlage dafür sein, um schließlich die Kämpfe durch Ausdehnung und Selbstorganisation auf ein anderes Niveau zu heben.

Die Natur der jetzigen Angriffe liefert die Grundlage dafür, damit es dazu kommt. Die Demontage der sozialen Puffer des Wohlfahrtsstaates zusammen mit der Verschärfung der Ausbeutung in den Betrieben, Büros, Krankenhäusern usw. und die wachsende Arbeitslosigkeit (über fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland, 10% der Bevölkerung; ein seit Jahrzehnten unbekanntes Ausmaß von Entlassungen in den USA; ein Verlust von 800.000 Industriearbeitsplätzen in Großbritannien seit 1997) konfrontieren die Arbeiter mit der brutalen Wirklichkeit des Kapitalismus: entweder wie blöd schuften, um Mehrwert zu produzieren, oder in Armut versinken.

Jahrzehntelang versuchte die herrschende Klasse, den Wohlfahrtsstaat dafür zu benutzen, um die Auswirkungen des Kapitalismus auf die Arbeiterklasse zu mildern, aber nun wird die Wahrheit dessen immer deutlicher, was Marx im ‚Kapital’ gesagt hat: ”Die kapitalistische Produktionsweise ist deshalb die erste in der Geschichte der Menschheit, in der Arbeitslosigkeit und Elend einer großen und wachsenden Schicht der Bevölkerung und direkte hilflose Armut einer anderen ebenfalls wachsenden Schicht nicht nur das Ergebnis, sondern eine Notwendigkeit, eine Bedingung für die Existenz der Wirtschaft sind. Unsicherheit der Existenz der ganzen arbeitenden Bevölkerung und chronischer Mangel [...] sind zum ersten Mal ein normales gesellschaftliches Phänomen geworden.”

Gegenangriff der Bourgeoisie

Die herrschende Klasse ist sich der Gefahr sehr wohl bewusst, die von der Arbeiterklasse ausgeht. Der kapitalistische Staat hat einen ganzen Apparat, der sich mit den Aktionen der Arbeiter befasst: die Gewerkschaften, die Demokratie, die Linken, die Gerichte, die Polizei usw. Die größte Angst hat die Bourgeoisie davor, dass die Arbeiter ihre eigene Klassenidentität entwickeln und auf dieser Grundlage beginnen, sich politische Fragen über das Wesen des Kapitalismus und über die Notwendigkeit einer Alternative zu stellen.

Wenn die französische Bourgeoisie also einen Frontalangriff auf die Arbeiterklasse ausführen musste, dann tat sie dies, um zu verhindern, dass ein Sinn für die Klassenidentität entsteht. Die Gewerkschaften und die Linken stellten den Kampf als einen Kampf gegen die Hardliner der rechten Regierung dar und verbargen, dass der Kapitalismus die Ursache ist. Alle Sektoren der Bevölkerung wurden mobilisiert. Und sie statuierten ein Exempel an den Lehrern, deren Kampf eine arge Niederlage erlitt. Auch in Österreich waren die Gewerkschaften in der Lage, den Unmut innerhalb von Demonstrationen und begrenzten Streiks im Griff zu behalten. In Deutschland war die herrschende Klasse fähig, die Kämpfe in Frankreich und Österreich zu benutzen, um einen Kampf der Metallarbeiter in Ostdeutschland anzustacheln, der durch die Forderung nach gleicher Bezahlung wie die Arbeiter in Westdeutschland Spaltungen hervorrief. Sie war fähig, die Wut der Arbeiter gegen andere Arbeiter zu kehren, die nicht streiken wollten.

Letzterer Kampf war Ausdruck eines größeren Problems in der Zerfallsphase, mit dem das Proletariat in seinen Kämpfen konfrontiert sein wird. Das wachsende Auseinanderbrechen des sozialen Gefüges arbeitet gegen die Entwicklung einer Klassenidentität, weil es das ‘Jeder gegen Jeden’ begünstigt. Jeder Einzelne und jede Branche wird angehalten, sich nur um das eigene tägliche Überleben zu kümmern, auch wenn das bedeutet, seinen eigenen Arbeitskollegen übers Ohr zu hauen. Während der Lehrerkämpfe in Frankreich förderten die radikalen Gewerkschaften die Idee, dass die kämpferischsten Arbeiter versuchen sollten, die anderen Arbeiter zu zwingen, sich am Kampf zu beteiligen, indem sie Schulen, Straßen usw. blockierten, was zu Feindseligkeiten unter den Arbeitern und zu beträchtlichen Demoralisierungen führte. In Puertollano in Spanien hielten die Gewerkschaften den Kampf der Zeitarbeiter von den festangestellten Arbeitern fern, was ebenfalls zu Feindseligkeiten und Demoralisierung führte.

Die herrschende Klasse ist sehr raffiniert und hat viel Erfahrung in ihrem Kampf gegen das Proletariat. Es ist wichtig zu verstehen, warum eine Unterschätzung der Fähigkeiten des Klassenfeindes die Arbeiterklasse entwaffnet. Die heutigen Kämpfe sind die ersten unsicheren Schritte, um eine Periode der potenziellen Entwicklung des Klassenkampfes zu eröffnen. Die Bourgeoisie tut alles in ihrer Macht Stehende, um die Kampfbereitschaft und ein sich vertiefenden Bewusstsein zu unterminieren, zu zersplittern und zu korrumpieren.

Die Arbeiterklasse steht also vor einer enormen Herausforderung. Es wird eine lange und quälende Entwicklung von Kämpfen geben, die von Niederlagen und Rückschlägen gekennzeichnet sein werden. Die Arbeiter werden sich gegen die verheerenden Auswirkungen der zunehmenden Krise, gegen Arbeitslosigkeit und Armut zur Wehr setzen müssen. Der Eintritt in den Kampf ist ein sehr schwieriger Prozess, aber das ernsthafte Nachdenken, das die Entwicklung der Kämpfe begleiten muss, gibt ihnen eine politischere Bedeutung. Die Entwicklung des Kampfes wird das Proletariat auch in die Lage versetzen, sich die Lehren anzueignen, die es schon in den 80er Jahren zu ziehen begonnen hat, insbesondere über die Rolle der Gewerkschaften und über die Notwendigkeit, den Kampf über die eigene Branche hinaus auszudehnen. Dieser ganze Prozess wird genährt und angefacht werden durch die weitergehende Infragestellung des kapitalistischen Systems. Der Wechsel in der sozialen Lage ist eine große historische Herausforderung, und es gibt keine Garantie dafür, dass die Klasse und ihre revolutionären Minderheiten fähig sein werden, diese Herausforderung zu bestehen. Dies wird vielmehr von der Entschlossenheit und dem Willen der Klasse und ihrer Minderheiten abhängen.

Krise, Krieg, Verarmung

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Die Notwendigkeit der Infragestellung des Kapitalismus

Das neue Jahr begann mit einem Erfolg der Rot-Grünen Bundesregierung. Die unter dem Schlagwort "Agenda 2010" bekannt gewordenen Gesetzesvorlagen sind in Kraft getreten. Bundeskanzler Schröder nannte dieses Maßnahmenpaket das kühnste und radikalste "Reformwerk" in der Geschichte der Bundesrepublik. Tatsächlich stellt 2010 einen äußerst radikalen Angriff gegen die Arbeiterklasse dar. Er beinhaltet unter anderem die Abschaffung des Kündigungsschutzes für Millionen Beschäftigte, die faktische Streichung der Arbeitslosenhilfe, die massive Verteuerung und Verschlechterung der Gesundheitsfürsorge für die große Bevölkerungsmehrheit, die Verelendung der breiten Masse der Rentner.

Deshalb bestand der Haupterfolg der Bundesregierung auch nicht darin, ihr Gesetzespaket durch Bundestag und Bundesrat gebracht zu haben, sondern in der Tatsache, dass diese Beschlüsse ohne nennenswerten Widerstand der arbeitenden Bevölkerung durchgesetzt werden konnten.

Nachdem Schröder im Frühjahr das erste Mal dem Bundestag seine Agenda vorgestellt hatte, wurde er auf einer anschließenden Pressekonferenz gefragt, ob er nicht in Sorge sei wegen der Drohung der parlamentarischen Oppositionsparteien, sein Vorhaben im Bundesrat zu blockieren. Nachdem der Kanzler mit dem Hinweis auf die gemeinsamen Interessen der Hauptverantwortlichen der Nation (sprich die herrschende Klasse) diese Drohung beiseite gewischt hatte, wies er statt dessen auf eine andere, realere Gefahr hin. Nicht alles, was ökonomisch notwendig wäre, sei auch sofort und ohne weiteres durchsetzbar. Die "politische Klasse" insgesamt dürfe - so Schröder - nicht vergessen, dass das "Reformwerk" nicht nur von ihren Beschlüssen, sondern auch davon abhänge, die Bevölkerung von deren "Notwendigkeit" zu überzeugen.

Es zeichnet einen linken, aus dem Lager der Sozialdemokratie stammenden Staatschef aus, dass er ein besonderes Augenmerk darauf richtet, wie die Arbeiterklasse auf die Angriffe des Kapitals reagieren könnte, und besonders viel davon versteht, deren Widerstand zu verhindern oder zu erschweren. Denn seitdem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften im 1. Weltkrieg auf der Seite des Kapitals übergewechselt und in den bürgerlichen Staatsapparat integriert worden sind, besteht deren besondere Aufgabe im Auftrag des Kapitals darin, das Proletariat zu kontrollieren und politisch zu entwaffnen.

Nachdem also ‚2010' eine überwältigende Zustimmung nicht nur aus den Reihen der Regierungsparteien selbst, sondern auch von Seiten der Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsinstitute, der Kirchen sowie (hinter vorgehaltener Hand) der Gewerkschaften erfahren hatte, ging die SPD dazu über, Maßnahmen zu ergreifen, um die lohnabhängige Bevölkerung als eigentliches Opfer der "Reformen" zu täuschen und zu lähmen. Zwar wusste die Regierung, dass in der gegenwärtigen Phase ein eventueller Arbeiterwiderstand relativ leicht durch die Gewerkschaften zu kontrollieren und zu brechen wäre, da das Selbstvertrauen und Klassenidentität des Proletariats v.a. seit 1989 angeschlagen sind. Und dennoch drohte ein solcher Widerstand, bei den Arbeitern das Gefühl wieder zu erwecken, zu einer gemeinsamen Klasse zu gehören. So wollte die Bourgeoisie die Angriffe nach Möglichkeit ohne Gegenwehr durchgesetzt sehen.

Zu diesem Zweck setzte die Regierung in der zweiten Jahreshälfte 2003 zwei Kriegslisten ein. Die erste List war das Versprechen einer radikalen Steuerentlastung. Nicht nur wurden im Zuge der Einschnitte in den Sozialleistungen "spürbare" Beitragssenkungen in Aussicht gestellt. Darüber hinaus sollte ab dem 1. Januar 2004 das Masseneinkommen um 25 Milliarden Euro steuerlich begünstigt werden. Das zweite Manöver bestand darin, die Folgen der staatlichen "Einsparungen" für die Hochschulen medial hochzuspielen, um damit einerseits die drastischen Folgen der Angriffe für die Arbeiterklasse aus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu verdrängen, und andererseits die Unzufriedenheit der Bevölkerung wegzulenken in Richtung einer rein kapitalistischen Diskussion darüber, welche Reformen "sinnvoll" sind. In diesem Sinne wurde die Frage mit Hilfe der Studentenproteste thematisiert, ob die Interessen des "Standort Deutschlands" (d.h. die Interessen des nationalen Kapitals) nicht besser bedient wären, wenn man mehr statt weniger Mittel für Bildung ausgibt. Denn wenn man den Blickwinkel der Interessen des Kapitals übernimmt, um die "Berechtigung" der "Agenda 2010" zu beurteilen - wie die Studenten in der Hoffnung auf mehr staatliche Finanzmittel bereitwillig taten - so können die Ansprüche der Arbeiter, Erwerbslosen und Rentner auf ihr Auskommen um so leichter als unberechtigte und egoistische Sonderwünsche abgetan werden.

Die Illusion einer Steuerentlastung der breiten Bevölkerung

Die Ankündigung der Bundesregierung, die Agenda 2010 mit einer Steuersenkung zu koppeln, erwischte die Oppositionsparteien im Bundestag zunächst auf dem falschen Fuß. Da die Agenda 2010 gerade in der Notwendigkeit, die ausufernde Staatsverschuldung einzudämmen, ihre politische Rechtfertigung fand, verstand v. a. die Führung von CDU/CSU nicht, weshalb die öffentliche Hand plötzlich auf soviel Steuereinnahmen verzichten sollte. So liefen sie zunächst Sturm gegen das Vorhaben, verlangten eine solide Gegenfinanzierung usw. Erst als sie sich davon überzeugt hatten, dass es sich hierbei nicht um ein parteipolitisches Manöver, sondern um eine Täuschung der Arbeiterklasse handelte, schwenkten sie auf Schröders Linie ein und eröffneten das Wettrennen mit der SPD um die radikalere Steuerreform.

Als Regierung und Opposition schließlich kurz vor Jahresende in Berlin sich zu einem sorgfältig inszenierten "Reformgipfel" trafen, war von Leistungskürzungen oder anderen Zumutungen gar nichts mehr zu hören, sondern nur noch von den fabelhaftesten Steuerentlastungen die Rede. Die Medien kannten ebenfalls nur noch ein Thema: um wieviel und wie schnell würden die Bürger ihren angeblich milliardenschweren Einkommenszugewinn erhalten und ausgeben.

Die angebliche Entlastung, die am Ende ohnehin nicht 25, sondern lediglich 15 Milliarden Euro betrug, und v.a. den Beziehern höherer Einkommen unter die Arme greift, wird dem Durchschnittsarbeiter sofort wieder weggenommen, indem allerhand andere "Begünstigungen" wie Eigenheimzulagen oder Pendlerpauschalen eingeschränkt werden. Darüber hinaus beträgt die Mehrbelastung der Versicherten allein im Gesundheitswesen mit bislang veranschlagten 7,3 Mrd. Euro bereits die Hälfte des Volumens der Steuerreform.

Jeder weiss, dass unter totalitären Diktaturen die Bevölkerung einer systematischen, staatlich gelenkten Propaganda unterworfen wird, damit Maßnahmen zugunsten der herrschende Klasse als Wohltaten für die große Masse erscheinen. Bekannt ist beispielsweise, wie das Hitlerregime die Arbeiter in Deutschland Geld sparen ließ für den Erwerb eines PKW, dieses Mittel aber für die Rüstung verwendete, wohl wissend, dass vor der fälligen Übergabe eines neuen Volkswagens der Weltkrieg ausbrechen würde.

Angeblich verhindere heutzutage die Demokratie - sprich die "freie" Konkurrenz der Parteien um Wähler, der Firmen um Marktanteile und der Medien um Leser und Zuschauer -eine totalitäre Anwendung staatlich gelenkter Propaganda gegen die "eigene" Bevölkerung. Jedoch ruht der derzeitige Medienrummel um die Stärkung des Masseneinkommens auf dem alten Goebbelschen Prinzip, dass eine Lüge, wenn oft genug wiederholt, glaubwürdig erscheinen kann. Denn während die gesamte arbeitende Bevölkerung verarmt, wird von allen Seiten das genaue Gegenteil behauptet.

Der Unterschied zu Hitler-Deutschland oder zu Stalins Russland besteht aber darin, dass in der Demokratie diese Propaganda subtiler und wirksamer ist, da sie arbeitsteilig den "Pluralismus" der Konkurrenzgesellschaft ausschöpft, um das Proletariat nicht nur mit einer, sondern gleich mit mehreren, alternativen Täuschungen zu konfrontieren.

Eine dieser betrügerischen Perspektiven ist die wieder hervorgezauberte liberale Steuerrevolution. Je näher die Stunde der Verabschiedung des Gesetzespakets 2010 rückte, desto mehr überboten sich die Parteien in der Radikalität der eingeforderten Steuerentlastungen, damit die Arbeiterklasse bloß nicht auf Gedanken an einen aktiven Widerstand komme. So forderte der CDU "Steuerexperte" Merz die Einführung von nur drei Steuersätzen, welche lediglich 12, 24 und 36% betragen sollten. Auf einmal wurden sämtliche Subventionen des Staates gegenüber der Wirtschaft als streichungswürdige Hemmnisse der ökonomischen Entwicklung dargestellt. In Talkshows wurde darüber gefachsimpelt, dass man die Funktion des Staates wie im 19. Jahrhundert auf die einfache Rolle eines Ordnungshüters stutzen müsse. Ein paar Polizisten hier, einige Soldaten da, mehr brauche man nicht; schließlich "weiß" der "Bürger" selbst am besten, wofür er sein Geld ausgeben soll. Märchenhafte Aussichten eines kühn vereinfachten Steuersystems wurden ausgemalt, wo Facharbeiter spielend leicht ihre Steuererklärung selbst ausfüllen würden.

Erst nachdem das Gesetzpaket gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt worden war, wichen diese Steuersenkungsutopien einer realistischeren Besprechungen der Lage der Staatsfinanzen. Da die Finanzlage von Bund, Länder und Kommunen "prekärer" sei - so CDU Chefin Merkel Anfang 2004 -, müsse man sich auf eine "kostenneutrale" Steuerreform einigen, welche vielleicht keine Entlastung, dafür aber eine "Vereinfachung" bringen solle. Doch nicht mal damit ist zu rechnen, denn das bürgerliche Steuerrecht ist nicht umsonst so undurchsichtig! Und bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die sogenannten "Subventionen", welche die Bourgeoisie streichen will, allesamt auf Kosten der Arbeiter gehen: Pendlerpauschale, Eigenheimzulage, die steuerliche Besserstellung der Nacht- Feiertags- und Wochenendzuschläge!

Die Rolle der Studentenproteste und der Ruf nach dem Ausbeuterstaat

Doch nicht nur mittels der Farce einer angeblichen Steuerentlastung hat die Bourgeoisie den Widerstand der Arbeiterklasse zu lähmen verstanden. Auch die Studentenproteste wurden herangezogen, um den Ruf nach dem "aktiven Sozialstaat" wieder zu aktivieren. Dienten die Steuersenkungsmärchen dazu, Illusionen in einen staatlich geförderten Einkommensausgleich für die beschlossenen Einschnitte und Verteuerungen zu schüren, so dient der Ruf nach mehr Staatsausgaben für Bildung u.a. dazu, im Nachhinein die Tatsache zu rechtfertigen, dass die Steuer- und Abgabenlast der arbeitenden Bevölkerung gegenüber dem Staat gar nicht gesunken ist und sogar steigen wird.

In den letzten Monaten des Jahres 2003, als es darum ging, die Agenda der Regierung gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, ließ man die Studenten protestieren. Man tat dies, indem man provokante Maßnahmen gegen die Studierenden beschloss, dann aber den dadurch hervorgerufenen Protesten große Medienaufmerksamkeit und unverhohlene Sympathie schenkte. Nicht nur die Jugend- und Hochschulorganisationen der Sozialdemokratie, sondern selbst SPD Parteigrößen wie Generalsekretär Müntefering oder der regierende Bürgermeister von Berlin Wowereit zeigten Verständnis für die Einwände der Studenten gegen die Beschlüsse der eigenen Regierungsparteien. So wurde an den Hochschulen bewusst die falsche Hoffnung geschürt, mit der öffentlichen Meinung im Rücken die Maßnahmen der Bundes- und Länderregierungen relativ leicht und rasch rückgängig machen zu können.

Ohne Zweifel gehören viele Studenten - von ihrer Herkunft wie ihrer beruflichen Zukunft etwa als Lehrer oder akademisch gebildete Erwerbslose her gesehen - zur Arbeiterklasse. Wenn die Kämpfe des Proletariats sich entwickeln, werden viele dieser Studenten sich dieser anschließen, wie das z.T. in 1968 geschah. Auch heute schon gibt es, auch unter den Studenten, kleine politisierte Minderheiten, welche sich an dem "unterirdischen" Nachdenken über das Wesen des kapitalistischen Systems beteiligen.

Doch heute werden sie nicht als Proletarier, sondern als Studenten mobilisiert d.h. als Teil einer klassenmäßig undifferenzierten Masse - zu der auch die kapitalistische Elite der Zukunft gehört - innerhalb welcher der einzig gemeinsame Nenner der der Interessen als Studierende ist.

Deswegen ist jede Studentenbewegung naturgemäß systemkonform, reformistisch und klassenversöhnlerisch ausgerichtet. Es ist ein Kampf um eine "bessere Bildung" und nicht ein Kampf gegen Ausbeutung wie die der Arbeiterklasse.

Die Bourgeoisie hat es auch immer wieder verstanden, die Studenten dann zu mobilisieren, wenn die Arbeiterklasse nach einer längeren Abwesenheit erste Anzeichen gibt, den eigenen Kampf wieder aufzunehmen. Indem er die klassenübergreifende Atmosphäre des demokratischen Protests verbreitet, verdrängt der Studentenprotest zunächst das wieder aufkeimende Gefühl unter den Arbeitern, zu einer eigenen, gesonderten Klasse zu gehören. Dieses Gefühl ist notwendig, damit das Proletariat sein Selbstvertrauen, Kampfgeist und seine Haltung der Solidarität wieder gewinnen kann.

Darüber hinaus instrumentalisiert die Bourgeoisie die Studenten gerade heute, um die Ideologie der Staatsintervention zu verbreiten. Denn die Studenten lassen sich ohne weiteres zum Sprachrohr der Forderung nach einem größeren finanziellen Engagement des Staates für die Bildung machen, um die nationalen Interessen des Standortes langfristig zu sichern. Sie schlagen damit in dieselbe Kerbe wie die "Globalisierungsgegner", welche gegen den "Neoliberalismus" wettern, oder die "gewendeten" Stalinisten, welche europaweit anlässlich der Demonstration am Todestag von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Anfang Januar medienwirksam in Berlin ihren "Zusammenschluss" verkündeten.

Es ist lehrreich zu sehen, wie die SPD derzeit sich dieser nur scheinbar sich ausschließenden Ideologien des Neoliberalismus und des Sozialstaates bedient. Nachdem gegen Ende 2003 die Regierung den Steuersenkungsbetrug ausgespielt hatte, eröffnete die Sozialdemokratie das neue Jahr mit einem "Weimarer Bildungsgipfel", welcher anstelle von Steuersenkungen die Bildung als neue nationale Priorität setzte. Damit lassen sich gegenüber der Arbeiterklasse die Kosten des weiter verstärkten Eingreifens des Staates zugunsten des Kapitals rechtfertigen, welches angesichts der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise immer unerlässlicher wird. Darüber hinaus kann die SPD im Wahlkampfjahr 04 sich damit wieder ideologischen Themen zuwenden, womit sie die eigene traditionelle Wählerklientel eher mobilisieren kann.

Die Verlust der Illusionen hilft der Arbeiterklasse weiter

Die Bourgeoisie hat nicht zuletzt dank einer außerordentlich erfahrenen und gescheit vorgehenden Regierung ihre massiven Angriffe ohne weiteres durchsetzen und damit einen Sieg erringen können. Damit hat sie aber nur eine Schlacht gewonnen. Der soziale Krieg wird weitergehen. Die Klassengraben werden sich vertiefen. Die Agenda 2010 hat selbstverständlich die historische, weltweite Krise des Kapitalismus nicht gelöst. Zwar hat das Kapital sich vorübergehende Vorteile geschaffen. So fiel beispielsweise das Haushaltsdefizit des Bundes für das Jahr 2003 geringer als erwartet aus aufgrund von Einschnitten von 4,4 Mrd. Euro zu Lasten der Arbeitslosen und bestimmter Steuermehreinnahmen auf Kosten der Beschäftigten und Rentner. Dennoch verrennt sich das System immer mehr in die Sackgasse seiner chronischen Überproduktionskrise. Das Wirtschaftswachstum (offiziell -0,2 %) war im verflossenen Jahr das niedrigste, der Stand der Arbeitslosigkeit der höchste seit einem Jahrzehnt.

Auch der politische Sieg der Bourgeoisie wird nicht von Dauer sein. Die unerbittliche Verschärfung der Krise des Kapitals ist ein mächtiger Faktor der Zerstörung der Illusionen der Arbeiterklasse. Auch die geschicktesten Lügen der Herrschenden werden nach und nach entlarvt.

Schon jetzt ist diese Desillusionierung mit Händen zu greifen. Die versprochenen Krankenkassenbeitragssenkungen etwa sind nirgends eingetreten. Statt dessen sehen sich z.B. viele Rentner mit einer Verdoppelung ihrer Beiträge konfrontiert. Seit Jahresanfang müssen die Rentner allein und im vollen Umfang für die Pflegeversicherung aufkommen. Auch müssen sie neuerdings auf alle Pensionen - auch zusätzliche Privatvorsorge oder eine Betriebsrente - Beiträge zahlen. Auf der anderen Seite müssen etwa chronisch Kranke mit bis zu 100 % mehr für ihre Behandlung selbst aufkommen. Und was es mit der "Verstärkung des Masseneinkommens" auf sich hat, erfuhren die Beschäftigten der Kommerzbank, des Gerlingkonzerns u.a. bereits in den ersten Wochen des neuen Jahres, als ihre Betriebsrente gestrichen oder radikal gekürzt wurden! Auch die vielen Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die eine Streichung bzw. Kürzung ihres Weihnachtsgeldes bzw. des 13. Monatsgehalts erfahren müssen, können ein Lied davon singen. Und vielen Beschäftigten wird jetzt auch noch zugemutet, mehrere Stunden wöchentlich gratis mehr zu arbeiten.

Die Bourgeoisie hat den Prozess der Wiederbelebung des Arbeiterkampfes und der Wiedereroberung einer eigene Klassenidentität aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Die Zukunft gehört den Klassenkampf.

23.01.04

Nieder mit allen Pogromen

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Vor 100 Jahren wurde auf dem 2. Kongress der sozialdemokratischen Partei Russlands, jenem historischen Kongress, der zur Spaltung zwischen Bolschewiken und Menschewiken führte, als Antwort auf eine Welle von Pogromen in Russland eine Resolution angenommen. Darin hieß es : "In Anbetracht der Tatsache, dass Vorkommnisse wie das hier bekannte, fürchterliche Pogrom von Kishinev, abgesehen von der abscheulichen Grausamkeit, mit der es begangen wurde, in den Händen der Polizei als Mittel dient, mit dem letztendlich das Anwachsen des Klassenbewusstseins unter den Arbeitern zurückgehalten werden soll, empfiehlt der Kongress allen Genossen: Unternehmt jede nur mögliche Anstrengung, um diese Ereignisse zu bekämpfen und den Arbeitern den reaktionären Antrieb und den Klassencharakter der antisemitischen sowie all der anderen nationalchauvinistischen Beweggründe zu erklären."

Das Kishinevprogrom wurde ausgelöst durch Gerüchte, wonach Juden einen christlichen Jugendlichen ermordet haben sollen, um mit seinem Blut ihr Passatfest zu feiern. Dies ist eine völlig absurde Idee, wenn man berücksichtigt, dass es gläubigen Juden verboten ist, überhaupt irgendeine Art von Blut zu sich zu nehmen. Nichtsdestotrotz wurde diese alte "Blutlüge" aus dem Mittelalter wieder aufgefrischt und die RSDAP (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei) hatte schon ganz recht damit, hinter den antisemitischen Unruhen die finstere Hand der herrschenden Klasse zu vermuten, wie es schon sooft bei den Pogromen des Mittelalters gewesen war.

Einmal mehr wurden die Juden als Sündenbock für die Probleme der Klassengesellschaft missbraucht. Hierdurch soll die unterdrückte Klasse daran gehindert werden zu erkennen, wer ihre wirklichen Feinde sind. Darum bezeichnete der deutsche Marxist A. Bebel den Antisemitismus als den Sozialismus der Dummköpfe.

100 Jahre kapitalistischen "Fortschritts" später, ein Jahrhundert, das den Holocaust an den europäischen Juden im 2. Weltkrieg einschließt, ist die Zahl derer, die sich von den alten, antijüdischen Mythen verdummen lässt, nicht geringer geworden, auch wenn sich der Focus zu einem großen Teil auf die "muslimische" Welt gerichtet hat. Die Rücktrittsrede des malaysischen Premierministers Mahathir Mohamad`s im Oktober 2003 zeigt dies deutlich. Darin zeichnet er ein Bild, wonach die Muslime der Welt durch eine kleine Minderheit, - die Juden- unterdrückt werden, die ihrerseits die Kontrolle über das amerikanische Empire errichtet haben.

Mahathir versuchte sich von den radikal islamischen Terroristen abzugrenzen, aber seine Sprache ist die gleiche wie die eines Bin Laden und seiner Konsorten, wenn er sagt:

"Es ist die Pflicht der Muslime, die Juden überall auf der Welt zu bekämpfen."Das ist genau der ideologische Hintergrund, mit dem die wahllosen und blinden Bomben-anschläge auf Juden in Israel, Tunesien, Marokko und sogar in Argentinien rechtfertigt werden. Das bildet den Hintergrund für die Neuauflage der notorischen Fälschung der zaristischen Geheimpolizei - die Protokolle der "Elders of Zion", die auf irgendeiner ‚islamischen' Webseite frei zugänglich sind - die vorgibt, uns über die die innere Arbeitsweise der weltweit agierenden jüdischen Konspiration zu informieren. All dies beweist, dass diese 100 Jahre nicht Jahre des Fortschritts, sondern Jahre der kapitalistischen Fäulnis waren, die die absurdesten und irrationalsten Hasstiraden über den Planeten verstreut haben. Vor allem in den beiden letzten Dekaden ist der Geist des Pogroms überall anzutreffen. .

Der zerfallende Kapitalismus verbreitet das Gift des Pogroms

Zu Anfang des 20.Jahrhunderts gab es natürlich auch Pogrome an anderen Minderheiten - wobei das Abschlachten von nahezu einer Million Armenier durch die türkische Armee in der Zeit des 1. Weltkrieges das Abscheulichste war - und zudem schon ein deutlicher Ausdruck der Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft war. Aber heute, in der Phase des beschleunigten Zerfalls wächst die Zahl solcher Massaker täglich.

Heute haben die Juden ihre eigene "Pogromfraktion". Die so genannte Kachgruppe in Israel, gegründet von dem amerikanischen Rabbi Meir Kahane, begrüßt ausdrücklich die Aktion von Baruch Goldstein, einem mit Kach verbundenen amerikanisch-jüdischen Siedler, der im März 1994 das Feuer auf Gläubige an der Il Jibrihimi Moschee in Hebron eröffnete, 29 Menschen tötete und 125 verletzte. Die Ideologie der Kachgruppe ermunterte 3 jüdische Siedler im September dieses Jahres dazu, palästinensische Kinder in ihrer Schule durch gezielte Bomben abzuschlachten. Sie propagiert ähnlich wie die Nazis eine "Endlösung" des palästinensischen Problems, weiter ihre Vertreibung aus dem "großisraelischen" Reich. Offiziell sind Kach und seine Splittergruppe Kahane Chai als terroristische Gruppe von der Knesset, dem israelischen Parlament, verboten worden. Aber sie werden begünstigt durch die allgemeine, politische Atmosphäre in Israel. Ariel Sharon, der israelische Premierminister hat selbst eine dunkle Vergangenheit, was ethnische Massenmorde betrifft. 1953 leitete er den Angriff eines Kommandounternehmens gegen die Palästinenserstadt Kibya, als er die Mörder von 3 jüdischen Siedlern verfolgte. 69 Einwohner, die Hälfte Frauen und Kinder wurden ermordet, und 45 Häuser wurden zerstört. 1982 spielte Sharon eine Schlüsselrolle bei den Massakern in den libanesischen Flüchtlingslagern von Sabra und Shatila: mit aktiver Unterstützung der israelischen Armee wurden während eines 3 Tage dauernden Massakers tausende von Palästinensern durch den rechten Flügel der christlichen Milizen ermordet. Sharon, seinerzeit Verteidigungsminister, wurde später durch ein hohes israelisches Untersuchungskomitee scharf gerügt wegen seiner "indirekten Verantwortung" für dieses abscheuliche Verbrechen. Und heute regiert Sharon einen Staat, der Fakten schafft für ein "Großisrael", so eine Kette von jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, ebenso die so genannte "antiterroristische Mauer", die sich an der israelischen Grenze entlang zieht, wie eine Schlinge über einem Flickenteppich auf besetztem Land.

<<>>Kurzum, Sharons Regime ist ein Regime der ethnischen Säuberung, ein System des Pogroms. >

"Ethnische Säuberung" ist ein Begriff, der während des 7jährigen Balkankrieges in den 90er Jahren geprägt wurde. Er bezeichnet die Ermordung, Einschüchterung und gewaltsame Vertreibung von verschiedenen Minderheiten in dieser Region.Ob es nun serbische Truppen waren, die die kroatische, bosnische oder albanische Bevölkerung angriffen oder aber der serbischen Bevölkerung dasselbe durch kroatische, bosnische oder albanische Truppen widerfuhr, die Auswirkung war stets die gleiche: Es wurden die schlimmsten Exzesse rassistischer Barbarei seit dem 2. Weltkrieg nach Europa zurückgebracht. Noch schlimmer war 1994 der Völkermord an hunderttausenden von Tutsis durch die Todesschwadrone der Hutus innerhalb von wenigen Wochen in Ruanda. Diese Mörderorgien wurden unter verschiedenen Fahnen und Ideologien durchgeführt: Auf dem Balkan war es der serbische, kroatische und albanische Nationalismus, gemischt mit alten, religiösen Differenzen zwischen Muslimen, Orthodoxen oder römisch-katholischen Christen. In Ruanda und anderen afrikanischen Staaten wie heute im Kongo, stehen Stammesfehden im Vordergrund, obwohl im Sudan, Uganda oder Algerien die Abschlachterei von Unschuldigen eine religiöse Rechtfertigung bekam. In Indien richtet sich die Aggression des hinduistischen Mobs gegen die Moslems, in Indonesien haben muslimische Schlägertrupps Christen angegriffen und ermordet.Des Öfteren wurden diese Horrorszenarien in der so genannten "zivilisierten Welt" als unverständlicher Ausdruck uralter Stammesfehden und religiöser Hasstiraden verkauft. Oft genug wird uns erzählt, diese Greueltaten könnten nur durch humanitäre Interventionen der aufgeklärteren Truppen der ‚Demokratie' gestoppt werden. Unter diesem Vorwand griffen die NATO-Truppen Serbien 1999 an.

Aber ebenso wie sich die zaristische Herrschaft der schwarzen Hundertschaften bedienten, die die Pogrome in Russland vor annähernd 100 Jahren verübten, so steckt der Staat hinter den Pogromen von heute.

Auf dem Balkan verübten Banden wie Arkans "faschistische Tiger" mit die schlimmsten Grausamkeiten. Aber sie agierten mit dem Segen des serbischen Präsidenten Milosevic. Und hinter ihm standen jahrelang Frankreich und England, die darauf erpicht sind, ihren Einfluss in diesem Teil der Welt gegen das Vordringen von Deutschland und den USA aufrecht zu erhalten. In Ruanda war der Genozid kein spontaner Ausbruch von Wahnsinn. Er wurde staatlicherseits seit Monaten dadurch vorbereitet, dass er die Todesschwadrone der Hutus ins Leben rief. Und eben diese Todesschwadrone wurden von keinem geringeren als von der französischen Armee ausgebildet, einer Armee, die nach den erfolgten Massakern selbst im Namen der Humanität eingriff.

Es stimmt, die moralische Stimmung einer Gesellschaft, die im Zerfall begriffen ist, erzeugt Verzweiflung und Irrationalität in einem wahrlich erschreckenden Maße. Diese Flucht in die reaktionärsten Ideologien vergiften Herz und Verstand aller gesellschaftlichen Klassen. Dies betrifft auch die herrschende Klasse in den höchstentwickelten Ländern. Das Maß, in dem die gegenwärtige Bush-Administration bereits infiziert ist, zeigt sich anhand der Enthüllungen, wonach der frisch ernannte Staatssekretär, im Verteidigungsministerium für Aufklärung zuständig, Generalleutnant William Boykim glaubt, dass der Islam eine Religion ist, die alle Christen im Namen Jesu bekämpfen müssen. Die Furcht vor dem Islam ist im Westen genau das Spiegelbild dessen, was wir in der islamischen Welt in Form des Antisemitismus und Antiamerikanismus wieder finden. Aber während der Phase des Abstiegs in den apokalyptischen Wahnsinn ist die herrschende Klasse in den "liberalen Demokratien" im Stande, die dunklen Leidenschaften, Kälte und Zynismus, bis hin zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufzuwühlen. Sie tut dies, um ihre imperialistischen Ziele zu fördern, wie auf dem Balkan oder in Afrika oder um Spaltungen in den Reihen ihres Todfeindes der Arbeiterklasse zu säen.

Ein deutliches Beispiel hierfür ist die widerwärtige Schmutzkampagne gegen die Asyl-suchenden in der englischen Sensationspresse. Diese Kampagne bildet den ideologischen Hintergrund für die Zunahme körperlicher Angriffe auf die Flüchtlinge in diesem Land. Eine kleine Anzahl Asylsuchender für die allgemeine Verschlechterung des Lebensstandards der Arbeiterklasse verantwortlich zu machen, ist ein klassisches Beispiel, eine rassistische Sündenbockstimmung zu schaffen, die ganz bewusst darauf abzielt, Klassenidentität und Solidarität zu untergraben.

Das Hochkochen des Geistes des Pogroms stellt die Arbeiterklasse vor die Frage von Leben und Tod. Wenn die Arbeiterklasse diese Spaltung zulässt, wenn sie dieser schändliche Atmosphäre kapitalistischen Zerfalls unterliegt, dann ist sie verloren und mit ihr die gesamte Menschheit. Denn diese Arbeiterklasse, die die Klasse der Solidarität ist, die als internationalistische Klasse weltweit die gleichen materiellen Interessen hat, ist die einzige Kraft, die sich einem blindwütigem Sturm der Selbstzerstörung entgegenstemmen kann, der so typisch ist für die sich ausbreitende Krankheit von ethnischen und religiösen Hasstiraden. .

Klassensolidarität gegen Rassentrennung

1903 konnten wir sehen, dass die russischen Sozialisten Pogrome gegen die Juden nicht zuletzt deshalb denunzierten, weil diese Pogrome die Entwicklung von proletarischem, revolutionärem Klassenbewusstsein behinderten. 1905 brach sich dieses unterirdische Klassenbewusstsein Bahn in Form von Massenstreiks und der Bildung der ersten Räte. Und wie definierte Trotzki, jener Revolutionär, der wie kein anderer zu jener Zeit die Bedeutung dieser ersten Organe proletarischer Macht sah, die unmittelbare Rolle der Räte: "Was ist das Wesen dieser Institution, die innerhalb kürzester Zeit einen so wichtigen Platz in der Revolution einnahm und diese Periode als Periode besonderer Stärke kennzeichnete? Die Räte organisierten die arbeitenden Massen, lenkten die politischen Streiks und Demonstrationen, bewaffneten die Arbeiter und schützten die Bevölkerung vor Pogromen."Trotzki 1905 in ‚ Summing up'. Heute ist die Arbeiterklasse im Weltmaßstab betrachtet die einzige soziale Macht, die die Bevölkerung der Welt gegenüber der neuen Welle von Pogromen schützen kann. Nicht weil die Arbeiterklasse eine Klasse ist, die nur für hehre Ideale kämpft, sondern weil sie ein lebendiges, materielles Interesse daran hat, so zu handeln. Das Proletariat kann sich nicht verteidigen, wenn es gespalten ist. Jede Form von Rassismus, oder Nationalismus spaltet und schwächt die Arbeiter.

Die Arbeiterklasse kann nur dadurch ihre revolutionäre Rolle wahrnehmen, dass sie jede Form der Spaltung, die der Kapitalismus ihr auferlegt, sowohl theoretisch wie auch praktisch entschieden bekämpft. Dies bewahrheitet sich in Israel ebenso wie sonst irgendwo auf der Welt. Die enorm hohen Kosten des israelischen "Verteidigungshaushaltes" in Verbindung mit der weltweiten Wirtschaftskrise lassen die Obdachlosigkeit und Armut innerhalb der israelischen Arbeiterklasse stark anwachsen. Aber sie begünstigen auch die Faktoren für eine Rückkehr des Klassenkampfes: So haben wir erst kürzlich beispielsweise Proteste gegen Rentenkürzungen und Einschnitte in der Arbeitslosenunterstützung sowie einen wilden Streik der Gepäckabfertiger im Flughafen in Tel Aviv erlebt.

Diese kleinen aber durchaus wichtigen Reaktionen zeigen, dass die israelischen Arbeiter keineswegs eine privilegierte Elite sind. Im Gegenteil, mehr und mehr bewegen sie sich auf das gleiche Level an Elend und Unsicherheit, in der palästinensische Arbeiterklasse steckt.

Und natürlich soll der unbarmherzige Terror von Gruppen wie der Hamas und dem islamischen Jihad dazu dienen, die Mehrheit der israelischen Arbeiter davon zu überzeugen, dass ihr "Schutz" nur durch die Identifikation mit den brutalen, paramilitärischen Polizeitruppen des israelischen Staates zu gewährleisten sei. Ebenso sollen die unterdrückten und ausgebeuteten Teile des palästinensischen Volkes durch den israelischen Staatsterror dazu gebracht werden, die PLO und die Islamisten als ihre Verteidiger anzuerkennen. Vergessen wir nicht, dass es auch Proteste arbeitsloser, palästinensischer Arbeiter gegen die gebrochenen Versprechen der Palästinenserführer gab.

Es wäre sicher töricht, das ganze Ausmaß von Furcht und Rachsucht zu unterschätzen, das durch die Spirale von Terror und Gegenterror in dieser Region hervorgebracht worden ist. Aber der einzige Weg, diese Spirale zu durchbrechen ist, die Lüge der "nationalen Solidarität" zu durchschauen und auf den Weg der Klassensolidarität zurückzukehren. Die Arbeiter in den höherentwickelten kapitalistischen Ländern, die im Großen und Ganzen weniger von Rassenspaltung vergiftet sind, haben eine grundlegende Antwort darauf zu geben, was in der Praxis Klassensolidarität bedeutet: Nämlich gegen die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen zum Einen Abwehrkämpfe zu entwickeln, zum Anderen die Türe aufzustoßen zum Massenstreik und zur revolutionären Offensive gegen den kapitalistischen Staat. Nur ein solches Fanal kann endgültig die Pogromstimmung verbannen und eine Perspektive für die Arbeiter eröffnen, denn sie sind es, die am härtesten von den Pogromen betroffen sind. Amos


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