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Weltrevolution Nr. 115

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Debatte: Die Ursachen des imperialistischen Krieges und die Gefahr des Vulgärmaterialismus

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Der drohende Militärschlag der USA gegen den Irak wirft die Frage der Kriegsmotive der kapitalistischen Staaten auf. Die IKS vertritt den Standpunkt, dass es den USA vornehmlich darum geht, die übrige “Staatengemeinschaft” ihrer eigenen imperialistischen Führung zu unterwerfen. Der Rest der Welt soll in ein eisernes Korsett der militärischen Kontrolle durch die einzig übriggebliebene Supermacht eingezwängt werden. Dabei soll insbesondere verhindert werden, dass ein neuer, in Ostasien, vor allem aber in Europa angesiedelter, gegen Amerika gerichteter imperialistischer Block führender Industriestaaten entsteht.

 

Dieser Standpunkt unserer Organisation ist in den Ruf geraten, idealistisch zu sein. Es wird von vielen Seiten behauptet, dass die Analyse der IKS - weil sie politischen, strategischen und militärischen Motiven den Vorrang gibt vor unmittelbaren wirtschaftlichen Beweggründen - die materiellen Grundlagen des imperialistischen Krieges verneine oder unterschätze. Es herrscht offenbar vielerorts die Auffassung vor, dass die IKS die Beweggründe des modernen Krieges im psychologischen Bereich suche - als ob wir meinen würden, es ginge Washington lediglich um die Befriedigung eines Geltungsbedürfnisses. Um zu beweisen, dass, wie Bush Jr. sich ausdrückt, Amerika nicht nur über die “besten Menschen” sondern auch über die beste Kriegstechnik verfügt.

Unter den politischen Gruppen und Strömungen, welche einen internationalistischen Standpunkt gegenüber dem imperialistischen Krieg vertreten, ist man hingegen bemüht, den modernen Krieg “materialistisch”, mitunter ausdrücklich “marxistisch” zu erklären. Das wird so ausgelegt. Da der Marxismus die materielle Grundlage der menschlichen Gesellschaft in den wirtschaftlichen Verhältnissen gefunden hat, und da die Triebkraft des Kapitalismus bekanntlich in der Jagd nach Profiten besteht, kann der kapitalistische Krieg logischerweise nichts anderes darstellen als die Suche nach unmittelbaren, materiellen, mit Händen greifbaren wirtschaftlichen Vorteilen. Doch bevor wir die Frage besprechen, ob diese Auslegung des Krieges tatsächlich marxistisch ist, betrachten wir zunächst, wie dieser Erklärungsansatz von verschiedenen mehr oder weniger internationalistischen Gruppierungen auf die heutige Weltlage angewandt wird.

Ein Krieg gegen das Proletariat?

Da gibt es beispielsweise den sog. “operaistischen” Ansatz. Diese Denk-richtung setzt bei dem bekannten Satz des Kommunistischen Manifestes an, demzufolge die gesamte bisherige Geschichte eine Geschichte des Klassenkampfes ist. Dieser Satz wird nun so ausgelegt, dass alles, was in der Klassengesellschaft geschieht, notwendigerweise eine direkte Folge der Interessenskonflikte zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten sein muss. So werden die heutigen imperialistischen Kriege von den politischen Kreisen um Karl-Heinz Roth, von den Gruppen Wildcat, Kolinko und anderen Stimmen des Operaismus ausgelegt entweder als unmittelbare Reaktion auf drohende oder bereits stattfindende Arbeiterkämpfe oder als Versuche, neue Bevölkerungsschichten zu proletarisieren. Im Wildcat-Zirkular 61 (Jan. 2002) erfahren wir, dass bereits der erste Golfkrieg kein imperialistisches Gemetzel, sondern einen Krieg gegen das Proletariat darstellte. “Spätestens seit dem Sturz im Iran 1979 wurde deutlich, wie zerbrechlich die Klassenverhältnisse in den erdölproduzierenden Ländern sind. Die Kriegsführung im Golfkrieg 1991 zielte auf die Eindämmung der Revolte in der Region” schreibt das Editorial. Und es fügt hinzu: “George Caffentris zeigt in ‚Warum diese Verzweifelung‘, (Beilage zum Zirkular) “dass die auf der Kippe stehende soziale Stabilität des wichtigsten Öl-Produzenten Saudiarabien für den Anschlag am 11.9 zentral war” (ibid). Auch die Afghanistankriege der letzten Jahrzehnte sollen mit der modernen Arbeiterfrage unmittelbar zusammenhängen und wundersam dazu beigetragen haben, die Schwierigkeiten der kapitalistischen Akkumulation zu mildern. “Dieser Krieg hat in zwanzig Jahren das bewirkt, was früheren Entwicklungsdiktaturen und Reformprogrammen nicht gelungen war. Der Krieg in Afghanistan läßt sich fast bilderbuchhaft als ein Prozess “ursprünglicher Akkumulation” d.h.. der Losreißung der Menschen aus ihren Subsistenzverhältnissen und der Etablierung kapitalistischer Verhältnisse beschreiben. Die Ethnisierung war nur ein Mittel, um den Krieg am Laufen zu halten.” (S.12)

Auch der jetzt drohende, zweite Golfkrieg sowie die blutigen Auseinandersetzungen im Kaukasus werden logischerweise in diese Perspektive gestellt: Da Saudi-Arabien angeblich seine Ölarbeiter nicht mehr im Griff hat, muss der Weltkapitalismus nach neuen, verlässlicheren Ölquellen Ausschau halten. “Seit Ende der 80er Jahre zeichnet sich ab, was dann Ende der 90er Jahre zur unabänderlichen Gewisstheit wurde: Saudi-Arabien wird diese Rolle aufgrund von veränderten Klassenverhältnissen nicht länger spielen können. Daher diese martialische Jagd nach anderen Ölquellen, die sich in der Bombardierung Afghanistan genauso ausdrückt wie zuvor in den Massakern des russischen Militärs in Tschetschenien.” (S. 22).

Die Genossen mögen sich auf einzelne Marx-Zitate berufen, so viel sie wollen. Ein Erklärungsansatz, der davon ausgeht, dass die bürgerlichen Staaten sich verabreden, so zu tun, als ob sie imperialistische Kriege gegeneinander führen würden, um angeblich jederzeit und überall drohenden sozialen Revolten entgegenzuwirken, und um neue Lohnarbeiter der kapitalistischen Ausbeutung zuzuführen, hat mit dem Marxismus nichts, aber auch gar nichts zu tun. Der operaistische Ansatz mag das Bedürfnis nach einfachen, “wirtschaftlichen” Erklärungen des Krieges befriedigen. Schließlich ist die Lohnarbeit die Quelle des kapitalistischen Mehrwerts! Doch dieser Ansatz wischt eine zentrale Erkenntnis des Marxismus über die kapitalistische Wirtschaft beiseite: die permanente, nie überwindbare Konkurrenz der Kapitalisten untereinander.

Ein Krieg ums Öl?

Doch es gibt einen anderen Ansatz, um ohne den angeblichen Idealismus der IKS den Krieg zu erklären – ihn nämlich als einen Krieg ums Öl aufzufassen. In einem internationalistischen Flugblatt “No War but Class War”, welches scheinbar von “Aufbrechen” und der “Gruppe Internationaler SozialistInnen” herausgegeben wurde, lesen wir: “Es geht um gegensätzliche Interessen. Und zwar darum, wer die Hand auf dem Ölhahn hat.” Auch historische Vertreter der Kommunistischen Linke wie das von Battaglia Comunista und der Communist Workers Organisation gebildete Internationale Büro für die revolutionäre Partei (IBRP) betonten bereits zur Zeit des Golfkrieges von 1991, dass ”...die Krise am Golf sich wirklich ums Öl und darum dreht, wer es kontrolliert. Ohne billiges Öl fallen die Profite. Die Profite des westlichen Kapitalismus sind bedroht, und aus diesem (und keinem anderen) Grund bereiten die USA ein Blutbad im Nahen Osten vor.” (aus einem damaligen Flugblatt der CWO).

Es hat vielleicht den Anschein, als ob diese Analyse im Gegensatz zu der der Operaisten eine wirklich marxistische sei, welche die imperialistischen Rivalitäten der Großmächte untereinander in den Mittelpunkt stellt. Doch diese beiden Ansätze schließen sich keineswegs so sehr gegenseitig aus wie es vielleicht den Anschein hat. Zunächst einmal, weil auch die Operaisten die Ölprofite als Kriegsmotiv keineswegs ausschließen. So gibt es in beiden Lagern einen munteren Streit darüber, weshalb das Öl Dreh- und Angelpunkt des Weltimperialismus sein soll. Während Wildcat meint: “Es geht nicht um diese oder jene Pipeline, sondern um Öl als Stoff” (Zirkular 61, S. 4), stellt das oben erwähnte Flugblatt fest: “Öl ist nicht nur der letzte nicht synthetisch ersetzbare Rohstoff, sondern durch seine zentrale Rolle in der Energiegewinnung geradezu das Schmiermittel der kapitalistischen Wirtschaft.” Auch darüber, zu welchem Preis der begehrte “Stoff” oder das “Schmiermittel” für den Kapitalismus am bekömmlichsten ist, gehen die Meinungen auseinander. Aufbrechen bzw. die GIS stimmen in ihrem Flugblatt der CWO (siehe oben) zu, indem sie behaupten: “Insofern entspricht ein niedriger Rohölpreis den Akkumulationsbedingungen des Kapitals, um die Profitrate hoch und die Reproduktionskosten des Proletariats in den Industrieländern niedrig zu halten.” Das Wildcat Zirkular stellt hingegen fest: “Die Bedeutung des Öls und seines Preises für die kapitalistische Entwicklung bewegt sich daher in Widersprüchen. Das Öl soll nicht “zu teuer” und “zu billig” sein, d.h. es soll den Bedürfnissen der konjunkturellen Zyklen der Weltwirtschaft angepasst werden können.” Wir können also feststellen - ob wegen der Arbeiterkämpfe, wie Wildcat meint, oder wegen der Profitrate und den Reproduktionskosten, wie bei Aufbrechen und der GIS - beide Denkrichtungen teilen die Vorstellung, dass Kapitalisten planmäßig Kriege vom Zaun brechen lassen, um die Ölpreise in eine bestimmte Richtung hin zu justieren. Ob diese nur scheinbar sehr “materialistische” Vorstellung mit der Sicht des Marxismus übereinstimmt, der zufolge der Krieg in erster Linie Ausdruck der Konkurrenz und somit der kapitalistischen Anarchie ist, bleibt noch sehr die Frage.

Die Vertreter der These eines Krieges, um den Ölpreis zu drücken, müssten uns außerdem noch erklären, weshalb diese unterstellte, kriegerische Preiskorrektur gerade jetzt notwendig geworden ist. Freuen sich die Kapitalisten der Industriestaaten denn nicht immer über niedrige Energiepreise? Um dieses Rätsel zu lösen, greift das Flugblatt von Aufbrechen und der GIS eben auf die Argumentationslinie der Operaisten zurück. “Denn gerade die Krise und Verschuldung des saudischen Sozialstaats, der weiten Teilen seines Staatsvolkes auf Kosten vor allem palästinensischer Arbeitsmigranten ein fast sorgen- und arbeitsloses Leben ermöglichte, haben seit 1999 zu einem von Saudi-Arabien initiierten Anstieg des Ölpreises geführt. Daneben liegt hier auch der Schlüssel zum Verständnis der politischen Destabilisierung des Nahen Ostens. Denn die Krise war auch Auslöser der Ankündigung der Freundschaft zu den USA seitens Teilen der arabischen Elite und somit des Aufkommens des Islamismus als Ideologie eines zu schaffenden panarabischen imperialistischen Blocks.” (vgl. dazu das Wildcat-Zirkular Nr. 61 und dessen Beilage).

Wir sehen hier, wie die Manie, den Krieg heute als etwas ökonomisch Vernünftiges, höchst Profitträchtiges hinstellen zu wollen, dazu führt, Zugeständnisse gegenüber der höchst unmarxistischen These eines “Krieges gegen das Proletariat” zu machen. Das ist nicht neu. Als die Linkskommunisten vom IBRP die Balkan-kriege ab Anfang der 90er Jahre erklären sollten - schließlich gibt es keine bedeutenden Ölvorräte auf dem Balkan - fielen sie auf den Erklärungsansatz zurück, dass die jugoslawische Bourgeoisie diese Kriege inszeniert hätte, um die Entwicklung von Arbeiterkämpfen abzuwürgen.

Idealismus und die Unterschätzung der imperialistischen Spannungen

Was hier außerdem auffällt ist, dass der pseudomaterialistische Ansatz von Aufbrechen und der GIS dazu führt, die jetzige Krise um den Irak hauptsächlich aufgrund der lokalen Gegebenheiten vor Ort, in der Region zu erklären. Die Genossen begreifen scheinbar ebenso wenig wie Wildcat, dass die Hauptursache der Krise in der Rivalität der imperialistischen Großmächte untereinander liegt. Zwar betont das Flugbatt - ganz im Gegensatz zu Wildcat - die Bedeutung dieser Rivalität. Doch diese Betonung findet keine theoretische Untermauerung auf der Ebene der von ihnen erstellten Analyse. Denn ginge es bei diesem von den USA vorbereiteten Krieg tatsächlich in erster Linie um niedrige Ölpreise, müssten die deutschen und französischen Kapitalisten eigentlich noch mehr für diesen Krieg sein als ihre amerikanischen oder britischen Konkurrenten, da sie im eigenen Lande ja kaum über eigene Ölquellen verfügen und somit noch mehr von Ölimporten abhängig sind.

In Wahrheit ist die These eines Krieges “ums Öl” letztendlich genauso dazu verdammt wie ihr operaistisches Gegenstück, die wirklichen Spannungen der Hauptmächte untereinander sowie den Ernst der Lage des Weltkapitalismus zu unterschätzen. Das Gespenst eines “panarabischen Blocks”, welches Wildcat, Aufbrechen und die GIS an die Wand malen, zeugt nur von dem Unvermögen, die bestimmende Rolle des Konfliktes zwischen den führenden imperialistischen Mächten zu erkennen. Einen solchen Block hat es in der Wirklichkeit niemals gegeben, kann es auch nicht geben - es sei denn, in den Phantasien eines Bin Ladens. Denn imperialistische Blöcke bilden sich, wenn überhaupt, um die weltweit zwei stärksten Mächte herum heraus, und nicht aufgrund kultureller Identitäten wie Panarabismus, Islamismus usw. Hier laufen die Genossen tatsächlich Gefahr, die materielle Geschichtsauffassung zugunsten des Idealismus aufzugeben.

Die Genossen leiden unter der falschen Vorstellung, dass eine Analyse der kriegerischen Spannungen der Bourgeoisie nur dann materialistisch sei, wenn es gelingt, die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit und damit Rationalität jedes einzelnen Konfliktes nachzuweisen. Wildcat drückt diese Sicht der Dinge in Bezug auf Afghanistan so aus: “Das ständige Wechseln der Koalitionen, Bündnisse und Frontverläufe in diesem Krieg - das genauso für die Warlords wie für die einflussnehmenden Staaten gilt, erscheint nur dem irrational und chaotisch, der die ethnischen, religiösen oder tribalistischen Mäntelchen der Warlords für bare Münze nimmt.” (Ibid S. 15) Dass die Operaisten die Ursache der modernen Kriege in der ständigen, erfolgreichen Ausdehnung der kapitalistischen Weltwirtschaft suchen, wundert uns keineswegs. Bis vor kurzem vertraten die meisten Operaisten die Ansicht, dass es eine objektive Krise des Kapitalismus gar nicht gebe. Bedenklich ist es allerdings, wenn sich ausdrücklich auf den Marxismus berufende Genossen, wenn sogar linkskommunistische Gruppen wie das IBRP nicht begreifen, dass die Kriege von heute Ausdruck nicht der Profitabilität, sondern der Krisenhaftigkeit, ja des historischen Bankrotts des Systems sind.

Der moderne Krieg: Ausdruck der Barbarei eines niedergehenden Systems

Offenbar haben viele Genossen Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass imperialistische Staaten neben wirtschaftlichen auch politische, strategische und militärische Interessen haben, und dass unter bestimmten Bedingungen “Fragen der nationalen Sicherheit” (wie die Bourgeoisie diese Interessen zu umschreiben pflegt), Vorrang haben können vor unmittelbar wirtschaftlichen Erwägungen. Doch haben die Marxisten stets solche politischen und strategischen Erwägungen bei der Erstellung ihre Analysen über kriegerische Auseinandersetzungen mit berücksichtigt. Zwar haben Marx und Engels anhand einer Vielzahl kolonialer Überoberungskriege, aber auch im Hinblick auf nationale Einigungskriege wie im Falle von Deutschland, Italien oder den USA nachgewiesen, dass kapitalistische Militärfeldzüge tatsächlich oft die Befriedigung unmittelbarer wirtschaftlicher Bedürfnisse dienen: der Zugang zu Märkten, Rohstoffen oder Arbeitskräften. Liest man aber ihre Analysen beispielsweise der britischen oder russischen Außenpolitik gegenüber Kontinentaleuropa im Laufe des 19. Jahrhunderts, so wird man feststellen, dass sie nicht minder langfristige, politische wie geo-strategische Faktoren unterstrichen haben, wie die Stützung feudalistischer Regime oder die Aufrechterhaltung eines “Gleichgewichts der Kräfte”. Anstatt pedantisch alles von der Seite der Wirtschaft abzuleiten, haben die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus stets das komplexe Zusammenwirken aller dieser Faktoren untersucht.

Diese grundsätzliche Methode des Marxismus gegenüber allen einseitigen Verflachungen zu verteidigen, ist heute um so wichtiger, da wir uns in einer Geschichtsepoche befinden, in der im Leben des Imperialismus die wirtschaftlichen Erwägungen gegenüber den Fragen der “nationalen Sicherheit” immer mehr zurücktreten. Das kommt daher, dass in der Niedergangsphase des Kapitalismus der Krieg nicht mehr in erster Linie gegen mehr oder weniger wehrlose, vorkapitalistische Gesellschaften geführt wird, um neue Ressourcen des Erdballs der kapitalistischen Ausbeutung zuzuführen, sondern zwischen den kapitalistischen Staaten selbst, und um die Neuaufteilung bereits im wesentlichen durchkapitalisierter Gebiete. Das hat zur Folge, dass die Kriege einerseits immer zerstörerischer werden, andererseits immer weniger wirtschaftliche Vorteile abwerfen. Doch die sinkende Gewinnträchtigkeit des imperialistischen Krieges führt keineswegs dazu, die militärischen Spannungen abzumildern. Genauso wenig, wie in der kapitalistischen Krise allgemein sinkende Profite die allgemeine Konkurrenz mindern. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall. Je enger der wirtschaftliche Spielraum der Konkurrenten, desto brutaler wird ihr Überlebenskampf mit militärischen Mitteln ausgetragen. Die Ursache des Krieges bleibt nach wie vor eine wirtschaftliche: der Konkurrenzkampf der kapitalistischen Staaten untereinander. Doch die Auswirkungen sind nicht mehr die gleichen. Diese Kriege füllen zwar die Kassen der Rüstungsindustrie und anderer Kriegsgewinnler. Doch sie führen nicht mehr dazu, die wirtschaftliche Lage des Kapitalismus zu verbessern. Sie führen immer weniger dazu, die wirtschaftliche Lage der am Krieg beteiligten Staaten zu verbessern. Anstatt ein Mittel zu sein, um die Krise zu lösen oder zumindest abzufedern, wird der imperialistische Krieg immer mehr zum bedeutenden Ausdruck dieser Krise, zum Ausdruck vor allem der Ausweglosigkeit der Krise. Das hat Konsequenzen auf der Ebene der Wechselbeziehungen zwischen wirtschaftlicher Basis und politisch-staatlichem Überbau der Gesellschaft. Denn die militärische Konkurrenz ist nicht bloß eine passive Wiederspiegelung der wirtschaftlichen Konkurrenz, sondern besitzt eine Eigendynamik, eine ganz eigene innere Logik. Die notwendig gewordene Priorität des Militarismus führt dazu, dass die Waffentechnik ein immer bedrohlicheres Zerstörungspotenzial entfaltet. Im Zeitalter von Kernwaffen und Interkontinentalraketen kommen die wirtschaftlichen Hauptrivalen immer mehr in die Lage, sich gegenseitig physisch zu vernichten. Der kapitalistische Staat, dessen Hauptaufgabe schon immer darin bestanden hat, das Eigentum der jeweiligen nationalen Bourgeoisie vor inneren und äußeren Feinden zu schützen, sieht sich gezwungen, immer mehr Ressourcen der Wirtschaft für die Erfüllung dieser Aufgabe zu opfern. Das Vereiteln und die Vernichtung der Zerstörungspotenziale der Gegner wird zur Hauptaufgabe des Staates nach Außen und somit zum Hauptzweck des Krieges. Wir können dem Pentagon also ausnahmsweise ruhig glauben, wenn es öffentlich verkündet, dass das Hauptziel amerikanischer Militärstrategie seit dem Ende des kalten Krieges darin besteht, die Bildung eines neuen, gegen die USA gerichteten Militärblocks zu verhindern.

Nach zwei Weltkriegen und Jahrzehnten eines barbarischen nuklearen “Gleichgewichts des Schreckens” drohen heute immer mehr Staaten - und an erster Stelle die Weltmacht USA selbst - mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen, um ihre strategischen Interessen durchzusetzen. Und die amerikanische Bourgeoisie scheint bereit zu sein, hunderte von Milliarden von Dollar herzugeben, um zu versuchen, sich vor Angriffen dieser Art zu schützen. Der moderne Krieg ist Ausdruck, nicht der Expansion und Profitabilität des Kapitalismus, sondern der bereits fortgeschrittenen Barbarei dieses Systems.

Das Problem des Vulgärmaterialismus

Das weitverbreitete Unvermögen, andere als unmittelbar wirtschaftliche Kriegsbeweggründe zu erkennen, hängt auch mit einer falschen, vulgär-materialistischen Auffassung vom Marxismus zusammen, der zufolge Politik immer nur das passive Abbild der wirtschaftlichen Notwendigkeiten sein kann.

Über die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft schreibt Engels: “Die neue, selbständige Macht hat zwar im ganzen und großen der Bewegung der Produktion zu folgen, reagiert aber auch, kraft der ihr innewohnenden, d.h. ihr einmal übertragenen und allmählich weiterentwickelten relativen Selbständigkeit, wiederum auf die Bedingungen und den Gang der Produktion. Es ist Wechselwirkung zweier ungleicher Kräfte, der ökonomischen Bewegung auf der einen, der nach möglichster Selbständigkeit strebenden und, weil einmal eingesetzten, auch mit einer Eigenbewegung begabten neuen politischen Macht; die ökonomische Bewegung setzt sich im ganzen und großen durch, aber sie muss auch Rückwirkung erleiden von der durch sie selbst eingesetzten und mit relativer Selbständigkeit begabten politischen Bewegung (...)

Die Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung kann dreierlei Art sein. Sie kann in derselben Richtung vorgehen, dann geht‘s rascher, sie kann dagegen angehen (...) oder sie kann der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen abschneiden und andre vorschreiben (...) Es ist aber klar, daß in den Fällen II und III die politische Macht der ökonomischen Entwicklung großen Schaden tun kann und Kraft- und Stoffvergeudung in Maßen erzeugen kann.” (1)

Die Annahme, dass die politische und überhaupt die “Überbau”faktoren lediglich Abbilder der wirtschaftlichen Basis sind, ist nicht nur gegenüber der Frage des Krieges falsch. Sie stellt vielmehr einen prinzipiellen Bruch mit der marxistischen Methode dar. (2)

So Engels. Und er schließt daraus: “Was den Herren allen fehlt, ist Dialektik. Sie sehn stets nur hier Ursache, dort Wirkung. Dass dies eine hohle Abstraktion ist, dass in der wirklichen Welt solche metaphysischen polaren Gegensätze nur in Krisen existieren, dass der ganze große Verlauf aber in der Form der Wechselwirkung - wenn auch sehr ungleicher Kräfte, wovon die ökonomische Bewegung weitaus die stärkste, ursprünglichste, entscheidendste - vor sich geht, dass hier nichts absolut und alles relativ ist, das sehn sie nun einmal nicht, für sie hat Hegel nicht existiert.” (3) “Auch die materialistische Geschichtsauffassung hat deren heute eine Menge, denen sie als Vorwand dient, Geschichte nicht zu studieren” schreibt Engels und erinnert dabei an einen Spruch von Marx gegenüber der Auslegung seiner Ansichten durch manche sein Anhänger, nach dem Motto, wenn das Marxismus sein soll, dann ist “Alles, was ich weiß, dass ich kein Marxist bin”. (4)

 

Fussnoten

(1) Engels an Conrad Schmidt, 27 Okt. 1890. Marx-Engels-Werke Bd. 37, S. 490.

(2) Engels an Joseph Bloch 21/22 Sept. 1890. MEW 37, S. 463.

(3) Engels an Conrad Schmidt, 27 Okt 1890. MEW 37, S. 494

(4) Engels an Conrad Schmidt, 5 Aug. 1890. MEW 37, S. 436.

 

Drohender Irak-Krieg:

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Gegen dieses System von Krieg und Terror

Täglich konkretisiert sich die Gefahr eines neuen Krieges gegen den Irak. Bush jun. beabsichtigt, einen Schritt weiter zu gehen als sein Vater 1991. Er möchte dem Irak nicht nur eine neue militärische Niederlage bereiten, sondern diesmal auch gleich das Regime von Saddam Hussein zerschlagen.

Ein Jahr nach den Attentaten vom 11. September und dem von den USA der ganzen Welt, insbesondere den als ”Achse des Bösen” bezeichneten Ländern, erklärten ”Krieg gegen den Terror” hat sich die Situation nur verschlimmert.

Seit einem Jahr kann man eine Zunahme von kriegerischen Spannungen in anderen Ländern beobachten. Z.B. zwischen Indien und Pakistan, zwischen Israel und den Palästinensern – wo Terroranschläge, Selbstmordkommandos, Vergeltungs- und Vernichtungsmaßnahmen zum Alltag geworden sind, oder in Tschetschenien.

Und jetzt wollen die USA knapp ein Dutzend Jahre nach dem ersten Golfkrieg einen zweiten Golfkrieg auslösen. ”Die Ära des Friedens”, die uns Bush sen. noch 1989 nach dem Zusammenbruch des Ostblocks versprochen hatte, offenbart sich nun als eine Ära einer seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellosen Intensivierung der kriegerischen Barbarei. Die Überlebensprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, das “Jeder-für-sich”, die Verschärfung der Konkurrenz zwischen den großen als auch kleinen imperialistischen Mächten, ein neuer Rüstungswettlauf, bringen für immer mehr Menschen nur noch Zerstörung, Misere und Elend.

Die USA kämpfen um ihre Vormachtstellung

Schauen wir zurück:Wie sich mittlerweile herausgestellt hat, haben die US-Behörden trotz vorhandener Geheimdiensterkenntnisse gegen die geplanten Attentate vom 11. September nichts unternommen. Im Gegenteil: die herrschende Klasse in den USA hat die Attentate ausgenutzt, um eine Offensive einzuleiten, mittels der die USA ihre Vormachtstellung auf der Welt ausbauen oder verstärken wollen. Mittlerweile haben die USA an wichtigen Positionen im Herzen Zentralasiens Stellung beziehen können: in Afghanistan, Tadschikistan, Usbekistan und auch in Georgien. Die USA steuern aber viel weiterreichende strategische Zielsetzungen an als nur das Herz Zentralasiens.

Das Ziel der amerikanischen Bourgeoisie ist die Sicherung der Kontrolle nicht nur über diese Region, die sich ehemals im Besitz Russlands befand, sondern über den Nahen und Mittleren Osten bis zum indischen Subkontinent. Mit Nordkorea auf der Liste der ”Achse des Bösen” wollen die USA auch China und Japan herausfordern. Dieses Vorgehen zielt letztendlich auf die Einkreisung der westeuropäischen Mächte und vor allem auf die Blockierung des deutschen Imperialismus ab, der der gefährlichste imperialistische Rivale ist und der über den Balkan nach Osten expandieren will. In diesem Kontext stehen die Kriegsdrohungen gegen den Irak.

Die Kriegsziele der USA

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Militärs stellt der Irak unter Saddam Hussein heute keine reale Gefahr dar. Während seine Armee noch vor 1991 als die fünftgrößte der Welt galt, wurde sie in der Folge stark dezimiert und hat seit dem Ende des Golfkrieges zwei Drittel ihres Bestandes verloren. Das bestehende Embargo hat nicht nur die Wiederaufrüstung der irakischen Armee sondern auch die Beschaffung von Ersatzteilen verhindert. Beinahe das gesamte militärische Material des Iraks stammt aus der Zeit vor dem Golfkrieg, was selbst die New York Times vom 26.8.2002 zugibt.

Offensichtlich ist die von der Regierung Bush zur Rechtfertigung einer Intervention beschworene allgegenwärtige Gefahr nichts als eine Propagandalüge.

Welche materiellen Interessen stecken hinter dem von den USA angestrebten Krieg?

Stimmt es, wie die bürgerlichen Linken aber auch verschiedene Gruppen im proletarischen Lager behaupten, die USA wollten die Kontrolle über die irakischen Ölreserven, die zweitgrößten der Welt, sicherstellen. Le Monde Diplomatique schrieb im Oktober 2002 dazu: ”Unter einem amerikanischen Protektorat könnte der Irak seine Produktion innert Kürze verdoppeln, was als unmittelbare Folge einen Preissturz nach sich ziehen würde und somit vielleicht zu einer Ankurbelung des Wachstums in den USA führen könnte.”

Zuerst muss man dazu sagen, dass die Idee, das irakische Öl könnte die amerikanische Wirtschaft ankurbeln, einige sehr wichtige Aspekte außer Betracht lässt: die heutige Ölförderung Iraks unterliegt bereits weitgehend einem amerikanischen Diktat: politisch durch die Exportkontrolle unter Führung der UNO; militärisch durch die amerikanischen Bomber, die die ganze Erdölindustrie des Irak im Visier haben; wirtschaftlich durch den Einfluss der großen amerikanischen Erdölfirmen. Zudem herrscht ein weltweites Überangebot an Öl.

Wie wir in einem anderen Artikel in dieser Zeitung erläutert haben, werden aus unserer Sicht heute Kriege nicht mehr einfach um die Eroberung oder Plünderung von Rohstoffen oder um die Eroberung von neuen Märkten usw. geführt. Auch wenn diese Aspekte eine wesentliche Rolle spielen, sind sie nicht ausreichend für die Erklärung der Kriegsstrategie der beteiligten Staaten. Vielmehr haben Krieg und Militarismus eine Eigendynamik angenommen, die typisch ist für eine niedergehende Produktionsform, genauso wie es schon in der niedergehenden Sklavengesellschaft und im Feudalismus der Fall war.

Die Tatsache, dass der Nahe Osten seit Jahrzehnten ein permanenter Kriegsschauplatz geworden ist, kann nicht allein auf Ölvorkommen reduziert werden. Vielmehr ist das Interesse aller großen Mächte am Nahen Osten hauptsächlich ein strategisches. Dieses Interesse ging selbst der Entdeckung des Erdöls in dieser Region voraus. Bereits im 19. Jahrhundert trugen Großbritannien, Russland und Deutschland um Irak, Iran und Afghanistan das seinerzeit so genannte ”Große Spiel” um Einfluss aus. Der Nahe Osten gewann mit dem Bau des Suezkanals, einer strategischen Verbindung Großbritanniens zu seiner Kronkolonie Indien, noch mehr an Bedeutung. Heute bleibt die geostrategische Bedeutung dieser Region bestehen, jedoch ist sie durch die strategische Bedeutung des Erdöls als unabdingbarer Rohstoff für die Wirtschaft und den Krieg erweitert worden. Wenn die USA zu einer absoluten Kontrolle über die Versorgungswege des Erdöls nach Europa und Japan gelangen würden, hieße dies, dass sie in der Lage wären, im Falle einer schweren internationalen Krise starken Druck auf ihre Kontrahenten ausüben zu können. Sie müssten nicht einmal mehr mit nackter Gewalt drohen, um diese Länder gefügig zu machen. Die USA streben einen verstärkten Einfluss nicht vorrangig wegen des Öls als Ware an (und daraus zu schlagender ökonomischer Vorteile aufgrund einer möglichen Monopolstellung), sondern um das Öl als Erpressungsmittel einzusetzen. Die Rohstoffe sind nicht mehr bloße Ware, sondern zu einer Waffe im Krieg geworden (siehe dazu den Artikel auf S. 2).

Die gegenwärtige Situation spiegelt aber die allgemeine Zuspitzung der imperialistischen Spannungen auf einer anderen Ebene wieder.

1991 konnten die USA noch versuchen, die ehemals im Westblock Verbündeten wieder hinter den USA aufzureihen – zudem konnten die USA ein UNO-Mandat für ihren Krieg gewinnen.

Heute müssen die USA in Kauf nehmen, dass sie gegen die Opposition einer Reihe von größeren Ländern (Russland, Frankreich, Deutschland, China) und mehrerer wichtiger arabischer Länder versuchen müssen, den Krieg auszulösen, der selbst das Risiko einer weiteren Destabilisierung der Situation in dieser Region mit sich bringt.

Der von den USA angestrebte Krieg bedeutet ein weiteres Abtauchen ins wachsende Chaos, das immer blutiger wird. Wie wir bereits vor mehr als zehn Jahren angekündigt haben, sind die USA zu einer Flucht nach vorn unter Anwendung ihrer militärischen Kraft genötigt, wenn sie ihre Führerschaft bewahren wollen.

Heute sind nicht nur die “Schwächeren”, die “Unterlegenen”, unter Einsatz aller Mittel (Terror usw.) zur gewaltsamen Herausforderung der anderen getrieben, sondern die einzig übrig gebliebene Supermacht - die USA - treibt die Militarisierung mit am stärksten voran.

Um ihre Gegner zu schwächen, müssen die USA einen taktischen Schachzug machen: sie haben die europäische Front gesprengt. Das ist ein exzellentes Mittel zur Spaltung der europäischen Mächte, wobei sie hauptsächlich Großbritannien auf der einen und Frankreich und vor allem Deutschland auf der anderen Seite gegeneinander ausspielen wollen. Großbritannien bleibt für die USA die Hauptstütze in einem Krieg gegen den Irak. Im Gegensatz dazu hat sich Frankreich immer gegen eine neue militärische Intervention auf irakischem Boden gestellt – und Deutschland hat sich seit einem Jahr zum heftigsten Kritiker der USA gemausert.

Die USA wollen deshalb den Keil zwischen den Europäern vergrößern.

Sind die Risiken des Krieges gegen den Irak nicht größer als die des Krieges gegen Afghanistan?

Auf jeden Fall!. Denn die USA können im Irak die Drecksarbeit vor Ort nicht anderen (wie der afghanischen Nordallianz) überlassen; zudem besteht noch immer die Gefahr des Wiedererweckens des Vietnamsyndroms. Vor Ort werden die USA auf größere Schwierigkeiten stoßen, Verbündete für ihre Ziele zu finden, da die lokale Bourgeoisie im Irak aber auch in der Region dem Druck mehrerer europäischer Mächte ausgesetzt ist. Zudem ist ein Interessenskonflikt mit der Türkei nicht auszuschließen. Das andere Risiko betrifft das Image der amerikanischen Bourgeoisie, deren Ruf als ”Wegbereiter des Friedens” im Nahen Osten in den gesamten arabischen Staaten definitiv getrübt wird und deren Position in dieser Region längerfristig geschwächt wird.

Während 1991 Saddam Husseins Intervention in Kuwait als Vorwand zur Entfesselung des Golfkriegs diente, gibt es heute keine völkerrechtliche Absicherung für einen Präventivkrieg. Mit dem neu von der amerikanischen Bourgeoisie gegen-über dem Irak verwendeten Begriff des ”potenziellen Angreifers” versuchen sie in der Tat, jeglichen rechtlichen Rahmen auf der Ebene internationaler Beziehungen abzuschaffen und neue Regeln durchzusetzen. Diese Regeln, falls geduldet, würden unterschiedslos jede Invasion in beliebige Territorien durch beliebige Nationen rechtfertigen und eine weitere Türe zur Verschärfung des Chaos öffnen. Diese Schwäche in der amerikanischen Strategie wird oft und ausgiebig von denjenigen Großmächten ideologisch ausgeschlachtet, die heute vorgeben, sich an die von der UNO erteilten ”legalen Mandate” zu halten.

Das Dilemma der US-Bourgeoisie

Wie kann man auf dem Hintergrund dieses Dilemmas die politische Landschaft in den USA begreifen, da es dort ziemlich heftige Reibereien innerhalb der US-Bourgeoisie über die Gefahren eines Krieges gegen den Irak gegeben hat?

Abgesehen davon, dass einige bürgerliche Politiker vor den immensen Kosten eines Krieges warnen, meinen andere, die USA würden dadurch zu sehr isoliert, stünden nachher allein da. Und “als einziger allen anderen gegenüberzustehen”, könne doch nicht das Ziel der US-Politik sein!

In der amerikanischen herrschenden Klasse existieren keine Zweifel über die Notwendigkeit, ihre weltweite imperialistische Vorherrschaft bewahren zu müssen, und dies zuallererst auf militärischem Terrain. Die divergierenden Beurteilungen betreffen vielmehr die folgende Frage: Müssen die Vereinigten Staaten die Dynamik akzeptieren, die sie zum Alleingang drängt, oder sollen sie sich um die Gunst anderer kümmern und Rücksicht nehmen auf eine gewisse Anzahl Verbündeter, wenngleich eine solche Allianz heute keinerlei Stabilität hat?

Dieses Dilemma ist unlösbar – es spiegelt in Wahrheit die historische Sackgasse des Kapitalismus wider.

”Gegenüber einer Welt, die von der Dynamik des ”Jeder-für-sich” beherrscht wird, und wo insbesondere die früheren Vasallen des amerikanischen Gendarms danach streben, sich so weit als möglich aus der er-drückenden Vorherrschaft dieses Gendarmen zu befreien, die sie wegen der Bedrohung durch den gegnerischen Block ertragen mussten, besteht für die USA das einzige Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität darin, sich auf das Instrument zu stützen, bei dem sie gegenüber allen andern Staaten eine haushohe Überlegenheit besitzen: die militärische Gewalt. Aber aufgrund dieses Einsatzes geraten die USA selber in einen Widerspruch:

- einerseits, falls sie auf den Einsatz oder die Zurschaustellung ihrer militärischen Überlegenheit verzichten, kann das die anderen, sie herausfordernden Staaten nur ermuntern, noch weiter vorzudrängen bei dieser Herausforderung;

- andererseits, falls sie diese rohe Gewalt anwenden, und selbst und vor allem wenn sie es dank dieses Mittels schaffen, die imperialistischen Appetite ihrer Gegner vorübergehend zurückzudrängen, werden diese aber danach streben, die erstbeste Gelegenheit zu ergreifen, um sich zu revanchieren und wieder versuchen, aus der US-Vorherrschaft auszubrechen.

Wenn die USA diese militärische Überlegenheit als Trumpfkarte ins Spiel bringen, erzielen sie damit sehr gegenteilige Wirkungen – je nachdem ob die Welt in Blöcke geteilt ist wie vor 1989, oder wenn die Blöcke nicht mehr bestehen. Als die Blöcke noch bestanden, neigte das Zur-Schau-Stellen dieser Überlegenheit dazu, das Vertrauen der Vasallen gegenüber ihrem Führer zu verstärken, da er die Fähigkeit besaß, sie wirkungsvoll zu verteidigen; deshalb stellt diese Karte dann einen Faktor des Zusammenhaltes um die USA dar. Wenn die Blöcke nicht mehr bestehen, bewirken die Demonstrationen der Stärke der einzig übrig gebliebenen Supermacht im Gegenteil nur, dass die Dynamik des ”Jeder-für-sich” nur noch verstärkt wird, solange es keine Macht gibt, die mit ihr auf dieser Ebene konkurrieren kann (”Resolution des 12. Kongresses der IKS”, Internationale Revue Nr. 19).

Die Politik des Weltpolizisten wirkt als aktiver Faktor des wachsenden Kriegschaos, des Versinkens in der Barbarei mit zunehmend unkontrollierbaren Konsequenzen. Sie bringt immer destabilisierendere Risiken mit sich, namentlich auf dem asiatischen Kontinent vom Nahen Osten bis Zentralasien, vom indischen Subkontinent bis Südostasien. Derartige Risiken enthüllen die tödliche Gefahr, der die gesamte Menschheit durch die kriegerischen Konfrontationen in der Zerfallsperiode des Kapitalismus ausgesetzt ist.

(für eine umfassendere und vertiefte Analyse der Entwicklung siehe unseren Artkel in Internationale Revue Nr. 30)

 

Ethik und Klassenkampf heute

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Vorwort der IKS

Anlässlich der jüngsten internen Organisationskrise der IKS haben wir eine Reihe von Diskussionen mit unseren engsten Kontakten geführt, um mit ihnen zusammen die politischen Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen und weiterzugeben. Dabei hat nicht nur die IKS Einleitungen zu den Diskussionen gemacht, sondern die Sympathisanten wurden auch ermuntert, Referate zu bestimmten Themen vorzutragen. Nachfolgend veröffentlichen wir eines der von den Sympathisanten der IKS gehaltenen Referate, das zum Thema ‘Ethik und historischer Materialismus’ gehalten wurde. Angesichts der in der letzten Zeit in der IKS aufgetretenen Probleme der Missachtung und Verletzung proletarischer Verhaltensweisen innerhalb einer revolutionären Organisation ist diese Frage von besonderer Relevanz für Revolutionäre gerade heute. Darüberhinaus aber ist die Frage einer proletarischen Moral, wie wir meinen, von sehr großer Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes insgesamt - und damit für die Zukunft der Menschheit.

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Angesichts der grausamen Dinge, die wir tagein, tagaus als erschreckende Realität des kapitalistischen Systems in den Nachrichten vernehmen, stellt sich einem die Frage, ob es so etwas wie Ethik gibt, und welche Bedeutung sie überhaupt hat. Während so manch einer resigniert den Kopf hängen lässt, mit dem Satz auf den Lippen, dass der Mensch an sich eben schlecht sei, ist dies alles andere als eine befriedigende Antwort. Besonders für die Arbeiterklasse, welche die Trägerin einer neuen, klassenlosen Gesellschaftsform ist, kann und darf eine solch resignative Haltung nicht die Antwort sein. Für den Kampf für den Kommunismus braucht die Arbeiterklasse ein wirkliches Verständnis der gegenwärtigen und vergangenen gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungen. Die Frage der Ethik hatte in der Geschichte der Arbeiterbewegung stets eine äußerst bedeutsame Rolle gespielt. Welche Bedeutung hat Ethik heute für Marxisten und die revolutionäre Arbeiterbewegung insgesamt? Um sich dieser Fragestellung anzunähern, soll eines der bedeutsamsten Werke zur Frage der Ethik in der Arbeiterbewegung zu Rate gezogen werden: Karl Kautskys “Ethik und die materialistische Geschichtsauffassung”. Die drei Leitfragen dieses Artikels sind: 1. Gibt es überhaupt so etwas wie Ethik und Moral? 2. Sind Ethik und Moral unveränderbar, immerzu gleich? 3. Gibt es eine proletarische Ethik, welche im Gegensatz zur bürgerlichen Ethik steht?

Das Wesen der Ethik

Die Ethik handelt vom Wollen und Sollen der Menschen. Seit Jahrtausenden schon suchten die Menschen nach Erklärungen, weshalb der Mensch im Inneren einen Regulator hat, der zwischen Gut und Böse unterscheiden, das Gute anstreben, das Böse verabscheuen kann. Die klassische idealistische Philosophie konnte das Sittengesetz nicht auf natürlichem Wege erklären (im Gegensatz zur materialistischen Sichtweise). Daher suchte sie die Erklärung darin, dass es zwei von einander getrennte Welten gebe, die materielle und die göttliche. Der Mensch aber vereine Teile von beiden Welten in sich und sei daher gut als auch böse. Die reale Welt erschien in diesem zweigeteilten Weltbild als Jammertal, dem Inbegriff des Bösen. Das Gute aber entspringe der übernatürlichen Welt Gottes, dem Paradies. Mit anderen Worten: die idealistische Philosophie versucht das Sittengesetz auf übermenschliche, göttliche Weise zu erklären. Aus dieser Auffassung heraus entstand auch der Monotheismus. Anders als bei der früheren Vielgötterei, wo die Götter Personifikationen der Naturkräfte bildeten, spielt Gott eine ganz andere Rolle. Er steht außerhalb der Natur, also außerhalb der materiellen Wirklichkeit, und hat im philosophischen Sinne keine andere Funktion als den Ursprung des Sittengesetzes zu erklären. Diese Weltauffassung wird z.B. im Christentum sehr deutlich. Erst mit der Durchsetzung dieser Auffassung verschmolzen Ethik und Religion.

Doch ab dem 18.Jahrhundert sah die aufstrebende Bourgeoisie die Welt nicht mehr als Jammertal an. Die Zuversicht, dass ihr die Zukunft gehörte, auf Grund der gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, spiegelte sich in einer neuen Auffassung von Ethik. Das rasche Aufkommen des Kapitalismus führte zu einer Umwertung aller Werte, einem eifrigen Forschen über das Wesen der Sittlichkeit, was gut und böse ist. Es entwickelte sich der bürgerliche Materialismus. Die bürgerliche Ethik ist die des Egoismus und des Nutzens. Der Grundgedanke ist, dass Individuen und Gruppen immer für ihr eigenes Interesse handeln. Die Philosophie Kants verkörpert am reinsten die bürgerliche Weltauffassung. Während in der christlichen Ethik der Gläubige sittlich handeln soll, weil es das Gebot Gottes ist, erkannte Kant, dass die Ethik unabhängig von der Religion besteht und der Erfahrungswelt entspringt. Doch Kant verließ die materialistische Grundlage seiner Lehre. Sein allseits bekannter Leitsatz: “Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte”, birgt eine idealistische Auffassung in sich. Es ist nämlich unmöglich, unabhängig von allen zur Sinneswelt gehörenden Bedingungen zu handeln. Nach Kant ist Sittlichkeit in der Gesellschaft also nur möglich, indem jeder selbst versucht, sittlich zu leben. Dies aber würde bedeuten, dass Handeln und Verändern nur auf rein individueller Ebene möglich seien. Ist die Sittlichkeit des Einzelnen unvollkommen, so darf man laut Kant die Schuld nicht bei Staat und Gesellschaft suchen, sondern in der Tatsache, dass der Mensch eben halb Engel, halb Tier sei. Kant sieht die Moral als etwas Übernatürliches, außerhalb der Welt stehendes und eröffnet dem Idealismus so wieder Tür und Tor.

Ethik und Materialismus

Erst Darwin machte der Zweiteilung des Menschen und der Welt durch die idealistische, göttliche Erklärung der Sittlichkeit ein Ende. Er entdeckte, dass selbstlose und uneigennützige Gefühle nicht nur bei Menschen, sondern auch im Tierreich zu finden sind. Die sozialen Triebe sind nämlich unerlässlich für Wesen, die am besten als gesellschaftliche Gruppen im Kampf ums Dasein bestehen. Der Kampf ums Dasein bedeutet aber nicht den Kampf mit Lebewesen derselben Art (z.B. Mensch gegen Mensch), sondern vielmehr den Kampf einer Art mit der gesamten Natur. Es ist also ein gemeinsamer Kampf innerhalb der sich ständig verändernden Natur, der es sich best möglich anzupassen gilt. Und eben jene sozialen Triebe sind für das Überleben jeder Art von Gesellschaft unerlässlich: a) Selbstlosigkeit (Hingabe zur Allgemeinheit), b) Tapferkeit (Verteidigung der gemeinsamen Interessen), c) Treue (gegenüber der Gemeinschaft), d) Gehorsam bzw. Disziplin (Unterordnung unter den Willen der Gesamtheit), e) Wahrhaftigkeit (gegenüber der Gemeinschaft), f) Ehrgeiz (die Empfänglichkeit für Lob und Tadel der Gemeinschaft). Somit ist das Sittengesetz seit Darwin endgültig aus der göttlichen Sphäre hinab in die materielle Wirklichkeit geholt worden. Nicht aus unserem Erkenntnisvermögen, sondern aus unserem Triebleben stammt mit dem Sittengesetz auch das sittliche Urteil, sowie das Gefühl der Pflicht und das Gewissen. Doch erklären die sozialen Triebe nicht die sittlichen Ideale der Menschen, die im Reich der Tiere nicht zu finden sind.

Ethik und Entwicklung der Produktivkräfte

Kautsky weist daraufhin, dass die herkömmliche Ethik vom Individuum, nicht aber von der Gesellschaft ausgeht. So übersieht sie jedoch vollständig, dass das Sittengesetz nicht den Verkehr aller Menschen untereinander regelt, sondern nur den Verkehr mit Menschen einer Gesellschaft. Als Beispiele wären zu nennen: Laut dem Christentum sind alle Menschen vor Gott gleich, doch genau genommen gilt dies nur für alle Christen. Den nichtchristlichen Menschen in Kreuz-zügen über Jahrhunderte das Leben auszulöschen, war nicht unsittlich, sondern geschah im Namen des Herrn. In der bürgerlichen Rechtsordnung heißt es, alle Menschen hätten die gleichen Rechte. Davon sehen z.B. die Flüchtlinge nichts, die das Pech haben in sehr armen und kriegsgebeutelten Regionen der Erde geboren zu werden und von den Industrienationen erbarmungslos abgeschoben werden.

Die Grundlage der menschlichen Moral bildet sich nämlich nicht durch die moralische Verbesserung des einzelnen Menschen (Kant), sondern durch die Entwicklung der Produktivkräfte. Diese neue Moral, die alle Menschen umfasst, ist bis heute die Moral des klassenbewussten Proletariats, welche es im Gegensatz zur Moral der Bourgeoisie gebildet hat.

“Erst das Proletariat, das an der kapitalistischen Ausbeutung keinen Anteil hat, [...] wird eine Gesellschaftsform schaffen, in der die Gleichheit aller Menschen vor dem Sittengesetz aus einem frommen Wunsche zur Wirklichkeit wird” (Kautsky, Ethik und die materialistische Geschichtsauffassung).

Die menschliche Gesellschaft war wohl nie geschlossener und einheitlicher als zur Zeit der urwüchsigen Gentilgenossenschaft, denn ein jeder musste seinen Anteil leisten zum Erhalt der gesamten Gruppe. In dem Maße, in dem die Entwicklung der Klassengegensätze fortschreitet, zerklüftet sich die Gesellschaft immer mehr und wird der Klassenkampf die vornehmste, allgemeinste, dauerndste Form des Daseinskampfes der Individuen in der menschlichen Gesellschaft.

Klassenmoral und Klassenbewusstsein

Nun kommen wir zum Schwachpunkt in Kautskys sonst sehr aufschlussreichem Argumentationsstrang. Kautsky legt nämlich dar, dass in demselben Maße, wie die sozialen Triebe gegenüber der Gesamtgesellschaft an Kraft verlieren, würden sie – quasi automatisch, weil ein Trieb – um so kräftiger innerhalb der ausgebeuteten Arbeiterklasse zum Ausdruck kommen, deren Wohl nun immer identischer mit dem Allgemeinwohl ist. Was Kautsky hier völlig übersieht, ist die Frage der Entwicklung des Bewusstseins.

Er übersieht die Notwendigkeit einer aktiven Bewusstwerdung. So erfolgt aus seiner Sicht der Übergang von der Steuerung des menschlichen Verhaltens durch die sozialen Triebe in den Reihen der Ausgebeuteten hin zum bewussten Handeln quasi automatisch. Das Bewusstwerden der eigenen Klasseninteressen und das aktive Verfolgen der sozialen Triebe ist jedoch ein komplexer Prozess im Ringen des Klassenkampfes.

Natürlich werden die sozialen Triebe und Tugenden der ausgebeuteten Klassen im Klassenkampf enorm gestärkt, weil sie vereint für ein gemeinsames Ziel kämpfen, doch muss auch ein (Selbst-) Bewusstsein für die eigenen Klasseninteressen und Ziele vorhanden sein. Aber dieses ist nicht immer vorhanden. Gerade heute, in Zeiten der rückläufigen Klassenkämpfe, und besonders seit 1989, wo nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die Bourgeoisie eine riesige Kampagne zum angeblichen Tod des Kommunismus startete, ist das Bewusstsein der arbeitenden Bevölkerung stark geschwunden. Doch damit einher geht auch ein Rückgang der Solidarität und der klasseneigenen Moral, welche von den klassenfremden Ideologien bedrängt werden wie etwa Konkurrenzdenken, die Mentalität des Jeder für sich, Egoismus usw..Dieser historische Kontext erklärt somit beispielsweise das Eindringen von kleinbürgerlichen und/oder lumpenproletarischen Verhaltensweisen in die Reihen der IKS. Dass solche fremden Ideologien die Arbeiterklasse insgesamt gefährden können, zeigt z.B. auch der Fremdenhass, der z.T. auch unter Arbeitern verbreitet ist, welcher in völligem Gegensatz zum internationalen Klassenkampf (‚Proletarier aller Länder vereinigt Euch‘) steht. Die sozialen Triebe des Menschen müssen bewusst gemacht werden, dadurch können sie verändert und verfeinert werden und so die Fähigkeit zur bewussten proletarischen Sicht und Handlung ermöglichen.

Moral und Klasseninteresse

Moralische Satzungen sind also keinesfalls unveränderbar, denn die Ethik entspringt den materiellen Lebensbedingungen. Daher bringt jede bestimmte Gesellschaftsform ihre eigene Ethik hervor. Eine Änderung der Gesellschaft muss auch eine Änderung der moralischen Satzungen nach sich ziehen. Die Arbeiterklasse ist eben die Trägerin einer neuen Gesellschaft, des Kommunismus, und damit auch die Trägerin der proletarischen Ethik. Denn nicht nur jede Gesellschaftsform hat ihre eigene Ethik, sondern auch die sich bekämpfenden Klassen haben ihre eigene, einander entgegengesetzte Ethik, da sie entgegengesetzte Interessen und Ziele haben. Die heute vorherrschenden moralischen Satzungen entsprechen nicht mehr den gesellschaftlichen Bedürfnissen und sind somit ein Hemmschuh des Fortschritts. Vielmehr nutzt die herrschende Klasse die bewusste Aufrechterhaltung überkommener moralischer Satzungen zur Sicherung ihrer Machtposition. Je länger aber diese moralischen Satzungen in Kraft bleiben, während die ökonomische Entwicklung voranschreitet, desto größer wird der Widerspruch zwischen herrschender Moral und Realität. Mit diesem Widerspruch einher geht auch die allgemeine Schwächung der sozialen Triebe, die sich äußert z.B. in einer Verrohung der Gesellschaft.

Je mehr sich die Arbeiterklasse ihres Gegensatzes zur herrschenden gesellschaftlichen Ordnung bewusst (!) wird, desto stärker wächst auch ihre sittliche Empörung. So entsteht ein sittliches Ideal, das zunächst die Negation der bestehenden Verhältnisse ist. Diese sittliche Empörung ist eine unersetzbar wichtige Waffe und Kraft im Klassenkampf. Doch es ist nicht die sittliche Empörung, die zum Kommunismus aufruft; soll heißen, nicht weil der Kommunismus ein hehres Ziel oder Ideal ist, muss die Arbeiterklasse dafür kämpfen (dem utopischen Sozialismus hat Marx längst ein Ende bereitet, indem er den wissenschaftlichen Sozialismus begründete). Nein, der Kampf der Arbeiterklasse für den Kommunismus ergibt sich aus den ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen. Der Kampf für eine klassenlose Gesellschaft durch die Arbeiterklasse ist heute eine materielle Notwendigkeit. Die Menschheit steht vor der Alternative: Sozialismus oder Barbarei. Das sittliche Ideal ist also nicht das Ziel des Klassenkampfes, sondern eine überaus wichtige Waffe in dem Kampf für eine Gesellschaftsform, in der Tugend und Glück kein Widerspruch mehr sein werden wie im Kapitalismus.

Ethik und die Verteidigung einer proletarischen Verhaltensweise

Der gemeinsame Kampf für die gemeinsamen Klasseninteressen kann nur auf der Basis von tiefem Vertrauen und Solidarität in die Klasse und deren Organisationen erfolgreich sein. Diese aber müssen sich auf die gemeinsam bewusst angewandte proletarische Ethik stützen. Die revolutionären Organisationen sind stark beeinflusst von den Höhen und Tiefen der Klassenkämpfe. Das Problem der Infragestellung proletarischer Funktionsweisen in Organisationen und die rückläufigen Arbeiterkämpfe stehen in einem engen Zusammenhang. In der Entwicklung klassenfremder Verhaltensweisen manifestiert sich ein Vertrauensverlust bestimmter Revolutionäre in die Arbeiterklasse. Im Gegensatz zur bürgerlichen Moral “Der Zweck heiligt die Mittel” bestehen die proletarischen Grundsätze aus: Ehrlichkeit, Offenheit, Treue, Mut, Disziplin, Selbstlosigkeit und Hingabe. Nur auf dieser Grundlage können revolutionäre Organe funktionieren. Die Ethik des Proletariats ist Waffe und Schutz gleichermaßen. Vertrauen entspringt theoretischer Klarheit. Die damit verbundene Solidarität entspringt diesem Vertrauen in die Klasse und manifestiert sich in dem bewussten Anwenden der proletarischen Ethik. Neben dem Einsatz gegenüber klassenfremden, schädlichen Einflüssen und Ideologien spielt die Ethik auch noch auf einer weiteren Ebene eine nicht zu verkennende Rolle: die eigene persönliche Verantwortung gegenüber sich und seiner Klasse zu verdeutlichen. Es gibt Situationen, wo sich das Gewissen meldet und Menschen manchmal gegen ihre persönlichen Interessen, für ein höheres Interesse (z.B. das der Klasse) zurückstecken. Die persönliche Verantwortung für die Klasseninteressen äußert sich auch in Selbstkritik, der Annahme von Kritik sowie Kritik an anderen, wenn Grundsätze verletzt werden. Neben dem politischen Programm kann der Klassenkampf, das Funktionieren proletarischer Organisationen und endlich das Erreichen des Kommunismus nur erfolgreich sein, wenn die Solidarität und die proletarische Ethik aktiv und bewusst im Kampf eingesetzt werden.

Proletarische Moral - bisher höchste Form der Ethik

Die proletarische Ethik ist die höchste Form der Ethik, weil sie die gesamte Menschheit umfasst. Die Arbeiterklasse ist darauf angewiesen gemeinsam für ihr Ziel zu kämpfen. Ohne eine gemeinsame Ethik und Moral ist dies aber unmöglich, da man sich gegenseitig vertrauen und sich aufeinander verlassen können muss.

Gerade in der Zerfallsphase des Kapitalismus ist die Gefahr groß, dass die Arbeiterklasse von feindlichen Moralvorstellungen der Bourgeoisie infiltriert wird. Dies ist eine große Gefahr, da sie den gemeinsamen Klassenkampf erheblich schwächen kann. Die proletarische Solidarität ist begründet auf den Erfordernissen des gemeinsamen Kampfes. Die Solidarität ist als Prinzip für das Erreichen des Kommunismus unverzichtbar. Die Frage der Ethik ist daher für die Arbeiterklasse von größter Wichtigkeit. Angesichts des fortschreitenden Zerfalls des Kapitalismus, dessen Folgen Werteverlust und Verrohung der Menschheit sind, ist es umso wichtiger, Fragen der proletarischen Ethik unter den Arbeitern zu diskutieren und auch bewusst im alltäglichen Leben und Arbeitskampf aktiv einzusetzen. Je bewusster man sich dieser Fragen ist, desto entschiedener kann man sich gegen die bürgerlichen Einflüsse zur Wehr setzen. Nur gemeinsam, unter aktiver, bewusster Anwendung der von Kautsky benannten sozialen Triebe, kann der Kampf und der entscheidende Sieg der Arbeiterklasse erfolgen, damit die Entscheidung zugunsten des Kommunismus und gegen die immer weiter fortschreitende Barbarei ausfällt.

Schweiz: Die Salami-Taktik der Gewerkschaften

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Nun hat ihn auch die Schweiz: den grössten Streik seit Jahrzehnten! Von allen bürgerlichen Medien wurde der Bauarbeiterstreik vom 4. November 2002 als Riesenerfolg gefeiert - und zwar schon eine Woche bevor er tatsächlich stattfand. Rund 15'000 Arbeiter streikten am angekündigten Tag und demonstrierten in verschiedenen Städten gleichzeitig. Die Branchengewerkschaft GBI hatte bereits im Frühjahr eine Demo in Bern organisiert (vgl. Weltrevolution Nr. 112) und mobilisierte dann im Herbst erneut für eine Demo in Zürich und verschiedene gestaffelte und regional verteilte Aktionstage mit Blockaden und Streiks, die v.a. die sogenannten Hardliner unter den Bauunternehmern treffen sollten. Ziel der Kampagne ist die Durchsetzung des Rentenalters 60 im Baugewerbe.

Was steckt hinter dem Streik?

Im Juni 2002 schrieben wir in der Weltrevolution (Nr. 112): "Wir müssen darauf gefasst sein, dass nicht nur die Angriffe der Bourgeoisie auf die Arbeits- und Lebensbedingungen weiterhin zunehmen, sondern auch die gewerkschaftlichen Aktionen, mit denen versucht wird, das Terrain zu besetzen und die Arbeiter daran zu hindern, selbst in den Kampf zu treten, diesen zu organisieren und auszuweiten." - Dies hat sich nun sehr rasch bewahrheitet. Mit der wohlwollenden Unterstützung der Medien von links bis rechts mobilisierten die Gewerkschaften GBI und Syna für diesen Tag und für die eine Forderung: Rentenalter 60 für das Baugewerbe. Wohl darauf bedacht, dass nicht etwa eine branchenübergreifende Forderung gestellt oder eine Ausweitung des Streiks auf andere Bereiche und Regionen propagiert würde.

Obwohl es jeden Tag neue Angriffe auf alle Teile der Arbeiterklasse gibt - bei der Post, bei den Lehrern, bei den Banken und Versicherungen, bei der Milchverarbeitung (SDF) und der Maschinenindustrie (ABB, NAW) - setzen die Gewerkschaften alles daran, dass die Arbeiter der verschiedenen Regionen, Branchen und Betriebe ja nicht zusammen kommen und gemeinsam Kampfmassnahmen ergreifen. Im September 2002 erklärt sich der Milchverarbeiter Swiss Dairy Food (SDF) für zahlungsunfähig und reicht ein Gesuch um Nachlassstundung ein. 1600 Arbeiter sind von der Entlassung bedroht. Die Gewerkschaften organisieren zwei einstündige Warnstreiks in zwei verschiedenen Betrieben - für einen Sozialplan. Am 18. Oktober demonstrieren in Arbon 800 Arbeiter gegen die Schliessung der Fahrzeugbaufirma und DaimlerChrysler-Tochter NAW und den drohenden Verlust von 250 Arbeitsplätzen. Gleichzeitig wird bei der Post ein Abbau von 8500 Stellen angekündigt. Die Gewerkschaft droht zuerst mit Streik und einigt sich dann mit der Post darauf, dass das Sparprojekt "personal- und regionalpolitisch überprüft" werden soll. Die Gewerkschaft empfiehlt "ihren Mitgliedern" einstweilen, keine Kampfmassnahmen zu ergreifen (aus dem Pressedienst des Gewerkschaftsbundes). Am 1. November demonstrieren im Kanton Bern 20'000 Angestellte des öffentlichen Dienstes gegen einen Sparplan der Regierung und Stellenabbau - alles schön portioniert in gut verdauliche Häppchen.

Der GBI-Streik vom 4. November wurde v.a. deshalb zum beinahe "Jahrhundertstreik” hochstilisiert, weil die Gewerkschaften von A bis Z alles fest im Griff hatten. Sie bestimmten das ganze Tagesprogramm, entschieden darüber, wo gestreikt wurde und wo nicht (im Wallis z.B. wurde nicht gestreikt, da die Bauunternehmer dort zugesagt hätten, eine gesamtschweizerische Vereinbarung zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften zu akzeptieren), sie verteilten die Trillerpfeifen und das Streikgeld (für die Gewerkschaftsmitglieder und diejenigen, die sich bei dieser Gelegenheit als solche einschreiben liessen), und sie fuhren einige Hundert Bauarbeiter in Bussen zum Nadelöhr Bareggtunnel, wo sie dann während anderthalb Stunden den Verkehr zu blockieren hatten.

Es ist keine Frage, dass die Arbeiter auch in der Schweiz unruhiger werden. Die Unzufriederheit wächst angesichts der Lohnsenkungen und Entlassungen in allen Bereichen. Aber diese Unruhe drückt sich heute noch nicht in einer offenen Wut oder gar in einer Bereitschaft aus, massenhaft den Kampf gegen die Angriffe auf- und in die eigenen Hände zu nehmen. Hier treten nun die Gewerkschaften auf den Plan, die ein doppeltes Ziel verfolgen:

- Kurzfristig geht es ihnen darum, die Arbeiter daran zu hindern, selbständig den Kampf zu beginnen. Sie sollen nach dem Willen der Bourgeoisie (und die Gewerkschaften gehören dazu) möglichst getrennt voneinander, in kleinen Tranchen und zeitlich gestaffelt etwas Luft ablassen, damit die Angriffe nicht etwa durch eine massiven und geeinten Widerstand be- oder gar verhindert werden.

- Längerfristig aber verfolgen die Gewerkschaften das Ziel, sich als die einzigen und wahren Verteidiger der Arbeiter darzustellen, d.h. eben das Terrain für die zukünftigen Kämpfe rechtzeitig zu besetzen.

Obwohl auch bei den Bauarbeitern die Unzufriedenheit wächst und hier und dort auch spontan Streiks v.a. wegen Lohnkürzungen und schlechten Arbeitsbedigungen ausbrechen (z.B. am 26. September auf der NEAT-Tunnelbaustelle in Amsteg), besteht heute nicht eine reale Kampfbereitschaft, eine Entschlossenheit, gemeinsam in den Kampf gegen die allgemeine Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu treten. So ist denn auch die erhobene Forderung nach der Senkung des Rentenalters in der Baubranche keine wirkliche Konzession, die von den Bauunternehmern verlangt wird. Eigentlich haben der Bauunternehmerverband und die Gewerkschaften GBI und Syna schon alles abgemacht: Die Bauarbeiter sollen mit 60 in die Pension gehen können. Finanziert werden ihre Renten vordergründig zu 4% durch die Unternehmer, zu 1% durch die Arbeiter. Effektiv beinhaltet aber der Deal, dass die Löhne in den Jahren 2003 und 2004 eingefroren werden (so Beat Kappeler, der frühere Boss des Gewerkscahftsbundes in der NZZ am Sonntag vom 10.11.02), was wiederum mindestens 3% Reallohn ausmacht. Diese Differenz wird nie mehr reingeholt, d.h. jedes Jahr bezahlen die Arbeiter zusätzlich mindestens 3% ihres Lohnes für die Rentenalterssenkung, also unter dem Strich mehr als die Unternehmer. Und als sich schliesslich nach durchgeführtem Streik am 12. November der Baumeisterverband und die Gewerkschaften erneut an den Tisch setzen und sich schon bald gegenseitig die Hände über die geglückte Einigung drücken, schaut für die Arbeiter noch einmal eine Verschlechterung heraus: Die Arbeitgeberbeiträge sollen bis 2011 nicht erhöht werden; wenn das Geld nach 2005 für die Pensionen nicht mehr reicht, müssen sie entweder gekürzt oder die Arbeitnehmerbeiträge erhöht werden. Aber die Gewerkschaften frohlocken: "Kampf hat sich gelohnt" (GBI) - "An diesem historischen Tag gibt es nur Sieger" (Syna).

Ein abgekartetes Spiel der Bourgeoisie

Die ganze Show um den Bauarbeiterstreik vom 4. November kann nicht verschleiern, dass nicht nur die linken Teile der Bourgeoisie, d.h. die Gewerkschaften, eine Strategie auf dem Buckel der Arbeiter und gegen sie durchzogen, sondern dass es sich um eine gut inszenierte Farce zwischen dem Bauunternehmerverband und den Gewerkschaften unter Mitwirkung der Medien und der Landesregierung handelte. Der so genannte Anlass des Streiks war nämlich eine "Provokation" der Bauunternehmer, die nach dem abgeschlossenen Deal erklärten, sie müssten sich die Finanzierung der Pensionen noch einmal überlegen. Darauf riefen GBI und Syna zum Streik auf, den Radio, TV und Presse aller Couleur sowohl im Vorfeld als auch während der Durchführung massiv begleiteten. Auch der so genannnte Revolutionäre Aufbau beteiligte sich an dieser Mobilisierung mit dem Aufruf: "Ein Sieg ist bedroht (...) nun weigern sich die Baumeister, das Abkommen auch umzusetzen (...) nur Streik kann jetzt den Baumeistern klar machen, dass sich Angriffe auf die Arbeiter nicht lohnen." Schliesslich erklärte der Wirtschaftsminister Couchepin ganz neutral, er werde sich in den Konflikt nicht einmischen, aber nötigenfalls und auf Anfrage schon für eine Vermittlung zur Verfügung stehen. Eine solche war dann erwartungsgemäss gar nicht nötig. So putzen sich alle heraus: der Baumeisterverband als der böse Kapitalist, die Gewerkschaft und andere linke Teile der Bourgeoisie als die Vertreter der Arbeiterinteressen und schliesslich die Regierung - als neutrale Schlichterin im Hintergrund.

Mit dieser Schlachtordnung sollen das Proletariat in die Irre geführt und die Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen durchgesetzt werden. So rüstet sich die Bourgeoisie für die Zukunft, die der Arbeiterklasse noch heftigere Angriffe bescheren wird. Diesen wird sie nur trotzen können, wenn sie sich geeint und selbstorganisiert zur Wehr setzt - gegen alle Feinde und die falschen Freunde!

Arnold, 14.11.02


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