Veröffentlicht auf Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Startseite > Weltrevolution - 2000s > Weltrevolution - 2000 > Weltrevolution Nr. 98

Weltrevolution Nr. 98

  • 2466 Aufrufe

Diskussionsveranstaltung der FAU-Frankfurt: Anarcho-syndikalistischer und linkskommunistischer Standpunkt zur Gewerkschaftsfrage

  • 2131 Aufrufe

Unsere Organisation, die IKS, wurde am 16. Oktober 1999 von der Frankfurter Ortsgruppe der anarcho-syndikalistischen FAU-IAA zu einer öffentlichen Veranstaltung nach Frankfurt eingeladen. Das Thema der Veranstaltung war die Gewerkschaftsfrage. Die IKS wurde gebeten, zu diesem Thema ein kurzes Einleitungsreferat zu halten, welches im wesentlichen die Hauptaussagen unserer Broschüre "Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse" zusammenfasste.

 

Zuvor hielten die Genossen der FAU-Frankfurt zwei einleitende Vorträge, deren Hauptaussagen wir hier kurz wiedergeben wollen, weil dort Fragen berührt werden, welche für die aktuelle Debatte zwischen dem Linkskommunismus und den Teilen unter den Anarchisten, welche proletarische Klassenpositionen vertreten, sehr wesentlich sind,.

 

Eine Verteidigungsrede zugunsten proletarischer Klassenpositionen

 

Das erste Referat fasste die politischen Positionen zusammen, welche der erste Referent der FAU persönlich vertritt, wobei er erklärte, dass diese Positionen teilweise von anderen Genossen der Ortsgruppe geteilt werden.

 

Die reformistischen Gewerkschaften – so das Referat - entsprachen einer bestimmten Phase in der Geschichte der Arbeiterbewegung, während der die Arbeiterklasse bedeutende Reformen mittels ökonomischer Kämpfe, aber auch im Parlament erringen konnte.

 

Obwohl die Gewerkschaften bereits damals keine revolutionären Organe waren, und sich den Sozialismus, wenn überhaupt, als ein staatliches Projekt vorstellten, erwiesen sie sich in dieser Phase des Kampfes der Arbeiterklasse immerhin als nützlich. Dies änderte sich grundlegend mit dem 1. Weltkrieg, der zur Integration der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staatsapparat führte. Deshalb habe auch die 1919 in Deutschland gegründete, anarcho-syndika-listisch gefärbte FAUD fortan nicht allein das Kapital und den Staat, sondern ebenfalls die traditionellen Parteien und Gewerkschaften als Klassenfeinde betrachtet und stellte ihnen die Vollversammlungen und Arbeiterräte des Proletariats entgegen.

 

Dies bedeutet: Aus der Sicht des Referates ist nicht die Gewerkschaftsform als solche reaktionär geworden, sondern lediglich die staatlich organisierten Gewerkschaften, welche aufgrund ihrer hierarchischen Struktur und der neuen Wirtschaftslage am Anfang des 20. Jahrhunderts vom bürgerlichen Staat aufgesogen werden. Wirklich unabhängige, anti-staatliche, von den Arbeitern selbst kontrollierte Gewerkschaften hingegen können weiterhin Organe des Arbeiterkampfes sein. Der Genosse fügte allerdings hinzu: für manche von uns stellt die Gewerkschaftsform per se, die permanente Organisation des ökonomischen Abwehrkampfes, ein Problem dar.

 

Des weiteren hob das Referat die Abschaffung des Staatskapitalismus und der Lohnarbeit als Fernziele hervor sowie die Ablehnung jeglicher Parteidiktatur und die Bekämpfung des Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie, so wie die Ablehnung aller Formen des Nationalismus (so auch der "nationalen Befreiungskämpfe") und des imperialistischen Krieges (so auch des 2. Weltkrieg). Zwischen Faschismus, Stalinismus und bürgerlicher Demokratie bestehen keine Wesensunterschiede. Zwar kämpft man auch gegen den Faschismus als Fraktion des Kapitals, aber auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes, nicht im Bündnis mit „bürgerlichen Demokraten“ oder zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie.

 

Die Frage der permanenten Organisation des Klassenkampfes

 

Das zweite Referat befasste sich vornehmlich mit der Struktur und dem Organisationsverständnis der FAU, und vertrat hier eher die klassischen Konzepte des Anarchismus und Anarchosyndikalismus: die Zentralität des ökonomischen Kampfes, die Verwerfung des Zentralismus als Ausdruck der Machtkonzentration, den internationalen Zusammenschluss weitgehend autonomer Betriebs- und Ortsgruppen, die Befürwortung von Streiks, Betriebsbesetzungen, Boykotte usw. bis hin zum Generalstreik (aber "ohne Barrikadenromantik").

 

Auch dieses Referat verteidigte die Notwendigkeit von permanenten, kämpferischen Gewerkschaften als Gegengewicht zur Vereinzelung, als Vehikel der Beteiligung an den Tageskämpfen und als Schule der Selbstorganisation. Die internationale, anarchosyndikalistische IAA, deren Mitglied die FAU ist, stelle eine solche branchenübergreifende, permanente, gewerkschaftliche Kampforganisation der Arbeiterklasse dar. Somit sei die FAU keine "Ideengemeinschaft", sondern ein potentielles Einheitsorgan des gesamten Proletariats, welches für andere Denkrichtungen – auch die marxistische – offen bleibe, vorausgesetzt man respektiere die Satzungen der IAA.

 

Zwar erkannte das zweite Referent durchaus die Gefahr, dass eine permanente Gewerkschaftsorganisation ins "reformistische Fahrwasser" gerate. Es sei aber möglich, diese Gefahr zu bekämpfen, indem man jegliche Stellvertreterpolitik, und sei es auch aus den eigenen Reihen, konsequent bekämpfe.

 

Ein hohes Niveau der politischen Debatte

 

Bereits diese Einleitungen lassen erkennen, welches hohe Niveau der politischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und den programmatischen Positionen des Proletariats innerhalb der Frankfurter Ortsgruppe der FAU anzutreffen ist. Aber auch die anschließende Diskussion entsprach durchaus diesen Vorgaben. Anstatt die üblichen Vorwürfe zu hören, welche immer wieder erhoben werden, sobald Anarchosyndikalisten und Marxisten zusammentreffen (beispielsweise dass der Marxismus zwangsweise zum Stalinismus führen müsse), erlebten wir hier eine sehr ernste Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Herangehensweisen unserer jeweiligen politischen Traditionen.

 

Diese fruchtbare Debatte hängt unsere Überzeugung nach auch damit zusammen, dass diese Genossen sich z.T. seit geraumer Zeit mit den Positionen und Traditionen des Linkskommunismus auseinandersetzen. So luden die Genossen den letzten grossen, noch lebenden Vertreter des "deutsch-holländischen" Linkskommunismus, Cajo Brendel nach Frankfurt ein, um dort eine Veranstaltung abzuhalten.

 

Diese Offenheit innerhalb Teile des anarchistischen Lagers gegenüber dem Linkskommunismus ist unserer Meinung nach kein Zufall. In Anbetracht der bürgerlichen Gleichsetzung des Kommunismus und des Marxismus mit dem Stalinismus, welche vor allem durch die Ereignisse seit 1989 noch immer einen großen Widerhall in der Klasse findet, schließen sich heute viele nach politischer Klarheit Ringende dem Anarchismus an, um sich deutlicher vom Stalinismus abgrenzen zu können. Dieses rein negative Abgrenzungsbedürfnis führt solche Genossen also dazu, sich außerhalb der Tradition des Marxismus zu stellen. Andererseits fühlen sie sich nicht unbedingt positiv zu den klassischen, oft stark kleinbürgerlich geprägten Thesen des Anarchismus hingezogen, dessen Ideale von absoluter Autonomie der lokalen Gruppen und absoluten  Freiheit des Einzelnen eher wie eine Karikatur der heutigen Gesellschaft erscheinen. Vor allem spüren solche Genossen, dass der Anarchismus keine wirkliche Orientierung für den proletarischen Klassenkampf von heute bieten kann, dass die anarchistischen Alternativen wie genossenschaftliche Wirtschaftsweise oder gewerkschaftlicher Zusammenschluss längst überholt sind.

 

Solche Genossen sind positiv überrascht zu entdecken, dass es innerhalb der Geschichte der marxistischen Strömung eine Tradition gibt, welche von Anfang an und mit nicht zu überbietender Entschlossenheit gegen die Degeneration der Russischen Revolution und gegen den Stalinismus gekämpft hat und dabei programmatische Thesen formulierte, welche dem heutigen Klassenkampf eine wirkliche Orientierung zu geben imstande sind: der Linkskommunismus.

 

Eine widersprüchliche Annäherung an die programmatischen Ergebnisse des Linkskommunismus

 

Da diese Genossen aber - unter dem Eindruck der Propaganda der Bourgeoisie - den Marxismus sprichwörtlich fürchten wie der Teufel das Weihwasser, versuchen sie, die programmatischen Positionen des Linkskommunismus in das anarchistische Weltbild zu integrieren. Wir stoßen heutzutage immer häufiger auf solche Versuche, eine anarchistische Weltauffassung und marxistische Klassenpositionen miteinander zu vermählen: nicht nur bei der FAU in Frankfurt, sondern ebenso bei den Genossen der KRAS-IAA in Moskau oder den "Gravediggers" ("Totengräber") des Kapitalismus in Budapest.

 

Wir begrüßen ausdrücklich die Bemühungen dieser Genossen, sich proletarische Klassenpositionen anzueignen und kämpferisch zu verteidigen. Dass sie sich dabei an die Traditionen des Linkskommunismus anlehnen, bewerten wir nicht als negativ sondern durchaus als positiv. Es handelt sich hierbei um Genossen, welche gegenüber der Frage des imperialistischen Krieges eine proletarisch-internationalistische Position eingenommen haben. Wir rufen diese Genossen vielmehr dazu auf, nicht umzukehren oder auf halbem Wege stehenzubleiben, sondern den begonnenen Prozess der programmatischen Klärung konsequent zu vollenden.

 

Wir sind unsererseits fest davon überzeugt, dass der Versuch, anarchistische Weltauffassung und programmatische Ergebnisse des Marxismus miteinander zu vermählen, zu einer Reihe unlösbarer Widersprüche führen wird. Einige dieser Widersprüche kamen auch bei der Diskussion auf der Veranstaltung in Frankfurt zur Sprache. Es ging hierbei vor allem darum, dass die Genossen der FAU sich eindrucksvoll für die Selbstorganisierung des Arbeiterkampfes durch Vollversammlung und gewählte, jederzeit abwählbare Streikkomitees ausgesprochen haben - also eine außergewerkschaftliche, ja antigewerkschaftliche Kampfführung -, während andererseits  die FAU sich selbst als eine Gewerkschaft, als bereitstehende Kampforganisation der Arbeiter betrachtet. Wozu brauchen die Arbeiter aber noch Gewerkschaften, wenn sie sich selbst, und zwar im Kampf, organisieren müssen? Darauf antworteten die Genossen: unsere Organisation – die FAU-  wird genau dazu benötigt, um diese Selbstorganisierung zu propagieren. Das ist natürlich richtig. Aber es handelt sich in dem Fall doch eher um eine politische Gruppe, um eine politische Überzeugungsgemeinschaft Gleichgesinnter, welche jeglicher "Stellvertreterpolitik" im Klassenkampf den Krieg erklärt, und nicht um eine Gewerkschaft, welche vom Prinzip her allen Arbeitern, unabhängig von ihrer politischen Gesinnung offensteht. Wir sind jedenfalls der Meinung, dass das Festhalten an der Gewerkschaftsform unweigerlich zur "Stellvertreterpolitik" führen muss. Weil eine Gewerkschaft eine permanente Struktur darstellt, welche auch außerhalb des Kampfes weiterbesteht, während die Arbeiterklasse sich nur noch im Kampf mobilisieren und selbst organisieren kann, stellt eine Gewerkschaft eine Organisationsform dar, welche für die Arbeiterklasse nicht mehr beherrschbar ist. Weil Gewerkschaften eine bürgerliche Organisationsform geworden sind, und weil der Anarchismus theoretisch-programmatisch nicht imstande ist, dem Druck der bürgerlichen Ideologie standzuhalten, konnte es dazu kommen, dass die CNT während des Spanischen Bürgerkriegs der bürgerlichen Regierung beitrat, wo sie neben den Stalinisten im Kabinett saß und damit in den bürgerlichen Staatsapparat integriert wurde. Wenn die Linkskommunisten hingegen schon damals in der Lage waren, den Verlockungen des bürgerlichen Antifaschismus in Spanien und im darauffolgenden 2.imperialistischen Weltkrieg zu widerstehen, dann, weil sie kleine, dafür programmatisch befestigte, auf theoretischer Klarheit basierende Gruppen bildeten, welche keinen Anspruch mehr erhoben, eine Massenorganisation zu sein oder den Klassenkampf zu organisieren.

 

Wir wissen, dass wir die Genossen der FAU-Frankfurt mit unseren Argumenten keinesfalls überzeugt haben. Viel wichtiger erscheint uns aber die Tatsache, dass wir uns darüber einig waren, eine proletarische Diskussionskultur miteinander zu pflegen. Dies bedeutet, dass wir die Debatte miteinander fortsetzen wollen, einander zuhören, anregen und ehrlich kritisieren wollen, als Bestandteil einer öffentlichen Debatte einer Klasse, welche nichts zu verlieren und damit auch nichts zu verbergen hat oder vor etwas ausweichen müsste. Die Frankfurter Genossen nahmen sich vor, weitere Veranstaltungen dieser Art abzuhalten, und dafür auch Anhänger der IWW-Tradition oder Leute aus dem Umfeld von Wildcat dafür zu gewinnen.

 

Wir begrüßen diese Einstellung. Weil sie die öffentliche politische Debatte in einer Zeit des gesellschaftlichen und politischen Autismus fördert, dient dies der Sache des proletarischen Klassenkampfes. Wir unsererseits werden diese Bemühungen weiterhin unterstützen.                                     IKS

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Revolutionärer Syndikalismus [1]

‚Manifest gegen die Arbeit‘ -Es geht nicht um Abschaffung der Arbeit, sondern um Abschaffung der Lohnarbeit

  • 4477 Aufrufe

Das von der Gruppe KRISIS im September 1999 herausgegebene „Manifest gegen die Arbeit"(1) hat bundesweit in politisierten Kreisen z.T. kontroverse Diskussionen ausgelöst. Dabei sind die Thesen des Manifests keineswegs neu. Es handelt sich um eine „Cover Version" der alten, beispielsweise von den Operaisten oder den Situationisten Ende der 60er Jahre wiederbelebten Grundvorstellung, dass der Klassenkampf gegen den Kapitalismus nicht der Kampf des Proletariats für die Überwindung der Lohnarbeit, sondern eine Art individueller oder kollektiver „Arbeitsverweigerung" sei. Damals blühten solche Vorstellungen gegen Ende der Nachkriegswiederaufbauphase auf, weil damals die klassische marxistische Vorstellung von der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und der Unvermeidbarkeit des proletarischen Klassenkampfes an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Als aber ab 1968 die weltweite Wiederbelebung des Arbeiterkampfes unübersehbar wurde, und ab Mitte der 70er Jahre die Wirtschaftskrise sich auch nicht mehr leugnen ließ, gerieten die modernistischen „Erneuerer" und „Überwinder" des Marxismus wieder ins Abseits. In der heutigen Zeit hingegen gedeiht die Vorstellung der Ablösung des „traditionellen" Klassenkampfes durch die Arbeitsverweigerung aufgrund des großen Erfolgs der bürgerlichen „der Kommunismus ist tot" Propaganda sowie aufgrund des heutzutage allgemein vorherrschenden mangelnden Selbstvertrauens der Arbeiterklasse. Der von Robert Kurz und seinen Jüngern um die Zeitschrift KRISIS neuaufgelegte „Kampf gegen die Arbeit" verneint im Gegensatz zu seinen Vorläufern aus den 60er Jahren keineswegs die Krise des Kapitalismus. Im Gegenteil: der Kapitalismus sei laut Kurz an seine „absolute Schranke" gestoßen. Und tatsächlich: Zu einem Zeitpunkt, wo selbst die eingefleischtesten Operaisten sich gezwungen sehen, die Wirklichkeit der Wirtschaftskrise anzuerkennen, rührt ein Teil des Einflusses und der „Glaubwürdigkeit" des „Manifestes gegen die Arbeit" daher, dass es die Krise des Kapitalismus voll berücksichtigt, dies aber außerhalb des Rahmens des aus der Mode geratenen Marxismus als „Krise der Arbeitsgesellschaft" umdeutet. Dennoch: die Kernaussage ist identisch mit der der „modernistischen" Totengräber des Marxismus aus der Nachkriegszeit. Diese Kernaussage lautet: die Arbeiterklasse ist keine revolutionäre Klasse, wie der Marxismus stets behauptet hat, sondern sie ist im System integriert. Während die „Frankfurter Schule" vor 40 Jahren den angeblich wachsenden Wohlstand für die „Verbürgerlichung" des Proletariats verantwortlich machte, sehen Kurz und Freunde heute im Proletariat nichts als arbeitsbesessene „Zombies der Warengesellschaft", im Klassenkampf nichts als die „Austragungsform gegensätzlicher Interessen auf dem gemeinsamen Boden des warenproduzierenden Systems".

Zwei lesenswerte Antworten auf das „Manifest gegen die Arbeit"

Positiv an der öffentlichen Debatte über das von KRISIS als Antwort auf Schröders „Bündnis für Arbeit" vorgeschlagene „Bündnis gegen die Arbeit" ist, dass sich mitunter proletarische Stimmen erhoben haben, um den Marxismus gegen die Thesen von Kurz zu verteidigen. Die bisher beste Antwort darauf haben wir im „Wildcat-Zirkular" Nr. 54 gelesen, der „Kritik am Manifest gegen die Arbeit", gez. H/Leipzig (2). Auch der Artikel „Das Manifest gegen die Arbeit: Eine Diskussionsgrundlage, die der radikalen Linken zur Muße verhelfen kann" in „Aufbrechen!" Nr. 3 verteidigt zentrale Eckpunkte des Marxismus. (3)

Zu recht weist die Wildcat Replik auf das fehlende materialistische Geschichtsverständnis des KRISIS Manifests hin: „Die Arbeit, die bei KRISIS als die massenhafte Anerkennung einer absurden Idee erscheint, sei mit Gewalt von oben durchgesetzt worden, um dem Geldhunger der absolutistischen Militärmaschinen Genüge zu tun [..] Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint bei KRISIS wie bei den deutschen Philosophen, mit denen Marx sich auseinandersetzt, als ein Kampf der Ideen, gesellschaftliche Prozesse oder Verhältnisse werden verdinglicht und gewinnen eine eigene Subjektivität."

Ebenso deutlich widerlegt H/Leipzig die Illusion des Manifests, dass die Reichtumsproduktion sich im Gefolge der mikroelektonischen Revolution „immer weiter von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt." H. schreibt: „Das aber ist grundsätzlich in Frage zu stellen. Generell kann die Reichtumsproduktion im Kapitalismus nicht von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt werden, das ist einer der Widersprüche, in denen sich das Kapital bewegen muss: während es fortwährend versucht ist, die menschliche Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess zu entfernen, setzt es die Anwendung derselben zum einzigen Maßstab des Wertes [...] Der Kapitalismus schafft nicht die Arbeit ab, in dem er die technische Möglichkeit produziert, CDs zu kopieren. Er schafft die Möglichkeit, gesellschaftlich zu produzieren, bewusst und kollektiv – aber es bedarf der Umwälzung der Verhältnisse und die Entscheidung darüber können nur die Produzenten selbst fällen."

Das zeigt, dass sowohl der WILDCAT- als auch der AUFBRECHEN-Artikel die Vorstellung von einer „absoluten Schranke des Kapitalismus" ablehnen, und den Irrglauben verwerfen, dass der Kapitalismus sich quasi von selbst abschaffen könne. Sie wiederholen damit eine alte Kernaussage des Marxismus, welche beispielsweise Trotzki und Lenin auf dem 3. Weltkongress der Komintern gegen die Vorstellung einer „Todeskrise des Kapitalismus" vertraten, indem sie darauf hinwiesen, dass es rein wirtschaftlich betrachtet niemals eine absolut ausweglose Lage des Kapitalismus geben wird, somit einzig die proletarische Weltrevolution der kapitalistischen Barbarei ein Ende setzen kann. Es gibt zwar keine Todeskrise des Kapitals, sehr wohl aber, wie auch die Komintern damals wusste, einen letztendlich wirtschaftlich bedingten Niedergang des Kapitalismus.

Beide Artikel verteidigen den revolutionären Charakter des proletarischen Klassenkampfes gegen die Angriffe der KRISIS Gruppe auf den Marxismus und die Arbeiterklasse.

AUFBRECHEN schreibt: „Der Klassencharakter des Kapitalismus löst sich nicht in Krisen auf, sondern muss aktiv beseitigt werden. In diesem Sinne irrt KRISIS, wenn die Genossen einschätzen ‚Der Klassenkampf ist zu Ende, weil die Arbeitsgesellschaft am Ende ist.‘" Der WILDCAT-Artikel geht weiter, indem er KRISIS zitiert - "Das Weltdeutungsmonopol des Arbeits-Lagers ist aufzubrechen. Der theoretischen Kritik der Arbeit kommt dabei die Rolle des Katalysators zu." Und darauf antwortet: „Hier finden die Intellektuellen einen Platz, die angesichts fehlender massenhafter praktischer Kritik der Arbeit meinen, es fehle an theoretischer Kritik. Besonders in Zeiten ausbleibender Kämpfe erlangt die Vorstellung Verbreitung, es ginge darum, die richtigen Ideen in die Köpfe zu pflanzen, statt den Kommunismus in der vor unseren Augen ablaufenden Bewegung zu suchen. [...] Sie sehen im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken. [...] In bester anarchistischer Manier gelingt es KRISIS, die Entscheidung für oder gegen die Arbeit zur individuellen Privatsache zu erklären."

Eine noch nicht zu Ende geführte marxistische Kritik

Wir begrüßen diese Antworten und unterstützen im großen und ganzen die hier vorgebrachten Argumentationslinien. Wir wollen dennoch in aller Kürze auf eine der Schwächen dieser Antworten hinweisen, die wir nicht verschweigen wollen.

Diese Schwäche äußert sich in der Schwierigkeit, die klassische marxistische Position zur Frage des „Kampfes gegen die Arbeit" anzueignen, welche der entschieden marxistische Flügel stets vertreten hat. Dies zeigt sich z.B. in einem undifferenzierten "Anti-Leninismus", welcher im übrigen wie ein roter Faden durch AUFBRECHEN Nr. 3 verläuft, und der dazu führt, dass man der historischen Arbeiterbewegung insgesamt unterstellt, stets einen unkritischen Arbeitsethos vertreten zu haben. Unserer Meinung nach muss man das differenzierter sehen.

Der Arbeitspathos der frühen Arbeiterbewegung war vor allem ein Produkt ihrer Unreife, d. h, der Tatsache, dass das Proletariat sich noch nicht vollständig von der Bourgeoisie gelöst hatte. So sah es Marx, der die Forderung der kämpfenden Arbeiter von Paris 1848 eines „Rechts auf Arbeit" verwarf, aber dahinter das noch sehr unsichere Herantasten an die eigenen Klassenziele erblicken konnte. „Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch, aber hinter dem Rechte auf Arbeit steht die Gewalt über das Kapital, hinter der Gewalt über das Kapital die Aneignung der Produktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also die Aufhebung der Lohnarbeit, des Kapitals und ihres Wechselverhältnisses."(2)

Der Arbeitsethos der späteren Phase der Arbeiterbewegung hingegen war vor allem das Produkt der Degeneration der 2. und dann der 3. Internationalen bzw. der russischen Revolution. Auch die Befürwortung der Einführung kapitalistischer Ausbeutungsmethoden in den Fabriken der belagerten Festung Sowjetrusslands durch Lenin war das Produkt dieser Degeneration – vornehmlich der Isolation Russlands durch das Ausbleiben der Weltrevolution sowie der tragischen Fusion der bolschewistischen Partei mit dem russischen Regierungs- und Staatsapparat. Und trotzdem war es Lenin, der in der Debatte mit Trotzki Anfang der 20er Jahre die allgemeine Militarisierung der Arbeit ablehnte und darauf bestand, dass die Arbeiter das Recht haben müssen, ihre Interessen auch gegenüber dem angeblich „eigenen" Staat zu verteidigen.

Worauf es uns hier ankommt ist vor allem der Hinweis, dass der revolutionäre, marxistische Flügel der Arbeiterbewegung die Verherrlichung der Arbeit stets abgelehnt und bekämpft hat. Hier eine Kostprobe von Rosa Luxemburg.

„Wie originell und tief die soziale Analyse Tolstois ist, zeigt z.B. der Vergleich seiner Ansicht über die Bedeutung und den sittlichen Wert der Arbeit mit der Ansicht Zolas. Während dieser die Arbeit als solche in echt kleinbürgerlichem Geiste auf das Piedestal erhebt, wofür er bei manchen hervorragenden französischen und anderen Sozialdemokraten in den Geruch eines Sozialisten von reinstem Wasser gekommen ist, bemerkt Tolstoi ruhig, indem er mit wenigen Worten den Nagel auf den Kopf trifft. ‚Herr Zola sagt, dass die Arbeit den Menschen gut mache; ich habe immer das Gegenteil bemerkt: die Arbeit macht nicht nur die Ameise, sondern auch die Menschen grausam – Aber wenn sogar die Arbeitsamkeit kein erklärtes Laster ist, so kann sie in keinem Fall eine Tugend sein [...[ Die Erhebung der Arbeit zu einer Tugend ist ebenso verkehrt wie die Erhebung des sich Ernährens des Menschen zu einer Würde und Tugend. Die Arbeit konnte die Bedeutung, die man ihr in unserer Gesellschaft zuschreibt, nur als eine Reaktion gegen den Müßiggang gewinnen, den man zum Merkmal des Adels erhoben hat [...] Die Arbeit ist nicht bloß keine Tugend, sondern sie ist in unserer falsch geordneten Gesellschaft zum größten Teil ein das sittliche Empfindungsvermögen ertötendes Mittel.‘

Wozu zwei Worte aus dem „Kapital" das knappe Gegenstück bilden: ‚Das Leben des Proletariers beginnt, wo seine Arbeit aufhört.‘"(3)

Diese Scheu, sich klar mit dieser großartigen marxistischen Tradition zu identifizieren, zeigt sich darin, dass beispielsweise der AUFBRECHEN-Artikel die Parole der „Abschaffung der Arbeit" mit dem Hinweis auf den doppelten Charakter der heutigen Arbeit als wertschaffende Lohnarbeit und als ewige Auseinandersetzung der Menschheit mit der Natur verwirft, und dennoch beide Artikel sich nicht durchringen können, die Parole vom „Kampf gegen die Arbeit", diese heilige Kuh aller Modernisten und Operaisten, in Frage zu stellen. Denn ebenso wie die Verherrlichung der Arbeit stellt die Parole „Kampf gegen die Arbeit" einen Bruch mit dem Marxismus dar. Und zwar deshalb, weil es eine klassenübergreifende oder „inter-klassistische" Parole ist, welche Arbeiter, Kleinbürger und Unternehmer gleichermaßen anspricht, die „Ekel vor dem eigenen Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt" empfindet, wie KRISIS es formuliert. Außerdem kämpft das Proletariat nicht gegen die Arbeit „an sich", sondern gegen die entfremdete Arbeit, spezifisch gegen die Lohnarbeit. Das Merkmal der Lohnarbeit allerdings ist die radikale und vollständige Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, was dazu führt, dass die Produzenten „arbeiten wollen müssen" und einen Arbeitslohn „wollen müssen", um auf einem gegebenen Kulturniveau überleben zu können. Der Motor des Klassenkampfes ist somit nicht das „nicht arbeiten wollen", sondern der Verteidigungskampf der Arbeiterklasse. Die Theoretiker von KRISIS haben sehr unrecht, wenn sie glauben, dass dieser Kampf, weil es auch ein Verteidigungskampf um Lohn und Arbeit sein wird, ein Kampf für die entfremdete Arbeit, für das Lohnsystem sei. Denn dieser Kampf kann nur erfolgreich geführt werden, wenn er bis zur letzten Konsequenz, bis zu Aufhebung der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln, bis zur Abschaffung der Lohnarbeit, wenn er bis zum Kommunismus geführt wird. Kr.

„Manifest gegen die Arbeit", Zeitschrift Krisis – Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft, Erlangen 1999.

Die Veröffentlichung dieser Antwort durch Wildcat, dem Sprachrohr des Operaismus in Deutschland, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Allerdings sind die „Wildcat-Zikulare" immer mehr zu einem Diskussionsbulletin geworden, worin Auffassungen veröffentlicht werden, welche mit dem traditionellen Operaismus nichts mehr zu tun haben.

Aufbrechen, c/o Lunte, Weisestr. 53, 12049 Berlin

Karl Marx. „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. MEW Bd. 7, S. 42.

Rosa Luxemburg Werke, Bd.2, Seite 249f, "Über Tolstoi"

 

 


Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/1088/weltrevolution-nr-98

Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/politische-stromungen-und-verweise/revolutionarer-syndikalismus